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»Hier ist es.«
Der Junge verharrte und hob seine Angel wie einen spitzen Speer.
Der Sommer reichte heiß und hoch bis in den blauen Himmel. Drei dicke, weiße Wolken segelten faul im flauen Wind, der vom anderen Ufer des Flusses her dann und wann über das Wasser sprang. Der träge Strom erzitterte leise und schob seine krause Gänsehaut weit in die Bucht hinein. Die Weiden regten sich und fächelten müde mit ihren lanzenschmalen Blättern, und ihr Bild im Spiegel des Wassers hüpfte und glitzerte im prallen Licht der Sonne.
Konrad beugte sich über das Ufer und stand steif und starr. Er kniff die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen. Der Schatten zeichnete eine schwarze Falte in die Stirn. Sein Blick flog über die stille Wasserfläche bis zur Strömung hin. »Hier war es«, bestätigte er leise. Er spähte zum niedrigen Erlengebüsch hinüber. Dort im tiefen Wasser hatte er ihn springen sehen. Hoch hinaus schoss er. Der schwere Leib glänzte in der roten Abendsonne auf und zerriss platschend die Wasserfläche. Das klang hart und spritzte, als hätte er mit seiner Holzpantine in den Schlamm geschlagen. Die Wellenkreise leckten bis ans Ufer. »Mein Karpfen«, sagte Konrad seitdem. Er zitterte, sooft er an den Fisch dachte. Und heute wusste er: Er würde ihn fangen.
Er wandte sich um und rollte die Angelschnur von der Rute.
»Die Gerte ist richtig für dich«, lächelte er und bog ihre Spitze.
»Kein Bambus, kein Pfefferrohr. Aber zäh. Das hat der alte Janosch gesagt. Zäh bis in die Spitze. Sechs Jahre alt und im Dickicht gewachsen. Leicht und schlank und zäh. Fichten, die sechs Jahre im Dickicht hochschießen, sind zähe Angelruten. Zäh genug für dich, mein Karpfen. Und erst meine Schnur!«
Er prüfte sie zwischen den Fingerspitzen.
»Von Kostrachs Schimmel. Einzeln aus dem Schweif gezupft mit spitzen Fingern. Neununddreißig lange, silbrige Pferdehaare. Bei jedem Haar hat das Tier die Ohren an den Kopf gepresst und viermal nach mir geschlagen, mein Karpfen, alles für dich. Es schmerzt den Schimmel nicht mehr, als wenn ich mir selbst das Haar auszupfe, hat Janosch gesagt. Es ist fast nichts, weißt du. Ich habe es vorher bei mir versucht. Neununddreißig schimmernde, seidendünne Haare zu einer Schnur gedreht, wie Großvater es mir verraten hat. Es ist eine geheime Kunst. Aber Großvater versteht sich auf Künste. Er hat mir gezeigt, wie die Haare geschlungen werden. Für dich, mein Karpfen, alles für dich.«
Konrad legte die Rute ins hohe Gras und schob sich das Ende der Schnur zwischen die Lippen.
Mit einem leisen Wind flog ferner, dumpfer Donner über den Fluss. Die Russen? Hört man sie schon? Oder zieht ein Gewitter herauf? Scharf blickte er zum großen Wald hinüber. Keine dunkle Wolke war zu sehen. Also doch die Russen?
Er griff in die Tasche und schrie leise auf. Der Haken hatte sich in seine Fingerkuppe gespießt. Vorsichtig zog er ihn heraus und sah neugierig auf die Kuppel roten Blutes, die sich durch die Haut drängte.
»Tut weh, so ein Haken. Sehr weh.«
Behände schlug er die Schnur durch die Öse. Aus der ledernen Patronentasche an seinem Gürtel nahm er eine gekochte Kartoffel, schob die Schale ab und zog geschickt den Haken in den gelben Köder, bis keine Spur mehr vom blanken Eisen zu sehen war.
»Die wird dir schmecken.«
Er fasste die Gerte mit der rechten Hand und hielt den weichen Köder in der linken. Vorsichtig hob er die Spitze an. Sie bog sich ein wenig. Wie ein dicker Regentropfen schlug der Köder auf das Wasser und versank. Der lange Schwimmer, den Großvater ihm aus brauner Rinde geschnitzt hatte, stellte sich auf.
Die Wellen hatten sich verlaufen. Konrad stand noch eine Weile regungslos. Dann setzte er sich ins Gras. Er stellte die Füße mit den Holzpantinen ins brackige Uferwasser. Die Sohlen sanken ein wenig in den Schlamm und das braune Deckleder sog sich voll Wasser. Es wurde schwer und schwarz. Locker hielt er die Rute in den Händen. Nur seine Augen verrieten Spannung und Achtsamkeit. Unablässig waren sie auf den Schwimmer gerichtet.
»Beiß nur. Ich werde dich schon zwingen. Albert meint ja, ich schaffe es nie. Karpfen seien misstrauisch und erfahren. Ohne Käscher und Netz gelinge es nicht, selbst wenn du beißen würdest. Aber beiß nur erst. Ich weiß schon, wie ich es dann mache. Ich habe doch die pfündige Plötze gezogen und auch den Blei von fast einem Kilo. Ich werde dich schon ans Ufer bringen. Beiß nur fest zu.«
Eine Libelle sirrte vor dem Schwimmer. Ihr Hinterleib glänzte blauschwarz. Die dicken Stielaugen prüften das Rindenstück lange, bevor das Insekt es mit den Beinen fasste. Einen Augenblick ruhten die Flügel gläsern in der Luft. Schon schoss sie wieder davon.
»Ob sie von deinem Zupfen verscheucht wurde, mein Karpfen?«
Doch kein Wellenkräuseln bestätigte Konrads Hoffnung. Fernes Grollen rollte wieder über das Wasser, lauter jetzt und heller.
»Doch ein Gewitter. Gewitter machen die Fische toll. Also komm, lass mich nicht so lange warten. Beiß zu.«
Wenn Konrad schärfer in die Ferne lauschte, dann vernahm er hinter dem Donnerrollen des Wetters, das sich jenseits des großen Waldes zusammenbraute, ein tiefes, unbestimmtes Gemurmel. Das schwand nur selten.
»Die Russen werden kommen«, hatte der Großvater gesagt. Aber Konrad glaubte ihm nicht recht. Olbrischt musste es besser wissen. Der kannte den Gauleiter aus Königsberg persönlich und hatte drei Söhne an der Front.
Großvater war alt. Was wusste der?
Und wenn sie doch kommen? Dröhnen die Kanonen schon bis hierher? Konrad hob vorsichtig den Köder aus dem Wasser. Die Kartoffel pendelte unberührt. Lediglich die Hakenspitze hatte sich ein wenig herausgehoben.
»Du bist erfahren und misstrauisch. Wart nur.«
Er zog den Haken zurück und drehte ihn halb. Genau an der Stelle sank der Köder in die Tiefe, an der der Karpfen sich im Sprung gezeigt hatte, golden und schwer.
Über die Wipfel der hohen Fichten schob sich ein schweflig gelber Wolkenrand.
»Beiß, mein Karpfen. Es sind zwanzig Minuten bis ins Dorf. Beiß. Ich habe keine Angst vor Blitz und Donner. Ich kenne doch ein Stoßgebet. Das hilft immer, sagt Janosch. Ich habe keine Angst.«
Die Libelle war wieder da und stand in der Luft vor dem Schwimmer. Plötzlich versank er schnell und gerade in das schwarze Wasser. Konrads Muskeln strafften sich.
»Mein Karpfen!« Er wusste es, noch bevor er anschlug. »So beißen nur große Fische, ruhig und fest. Ich warte noch. Ich kenne dich. Du hältst die Kartoffel nur lose im Maul. Ich kenne dich.«
Ruhig wanderte die Schnur eine Armlänge dem offenen Strom zu.
»Jetzt gilt es.«
Konrad schnellte den Stab empor. Die Spitze bog sich. Die Schnur sirrte. Heftig ruckte der Fisch. »Reiß nur. Ich gebe nach. Jetzt habe ich Zeit. Ich weiß schon, wie ich es schaffe.«
Konrad war aufgesprungen. Er hielt die Schnur stramm, folgte aber weich jedem Ruck.
»Ja, meine Schnur ist gut. Zieh nur. Neununddreißig Schimmelhaare. Und ich bin auf der Hut! Nicht unter die Erlen ins Gestrüpp, mein Karpfen. Dort verwickelt sich die Schnur. Hüh!« Konrad verstärkte den Zug und brachte den Fisch wieder in die Mitte der Bucht.
»Komm an die Oberfläche. Ich schleudere dich ans Ufer wie die pfündige Plötze oder, wenn du es lieber willst, schleife ich dich durch den Schlick her zu mir wie den schweren Blei. Oder ich mache es noch ganz anders. Komm nur, komm.«
Doch vorerst schien der Karpfen nicht daran zu denken, das tiefe Wasser zu verlassen. Er ruckte und zuckte. Der Haken saß tief in seinem Gaumen und war neu und aus gehärtetem Stahl.
»Auch ohne Käscher, komm!«
Konrad zog jetzt. Die Fichtenspitze war stark und geschmeidig und bog sich. Der Schwimmer, schon einen halben Meter über dem Wasser, kreiste um die straffe Schnur.
Jetzt ließ das Reißen plötzlich nach. Die Schnur wurde schlaff und die Spitze schnellte zurück.
»Vorsicht! Was hast du vor? Ich werde dir keinen Gefallen tun. Ich ahne, was du willst!«
Konrad nahm nur zögernd den Stock höher, bereit, beim ersten Anzeichen eines harten Schlages nachzugeben. Kaum spürte der Fisch den Widerstand, da quirlte seine breite Schwanzflosse das Wasser, und er schoss kopfüber in die Tiefe. Konrad folgte mit der Gerte, bis sie mit der Spitze fast die Wasserfläche berührte.
Wind war aufgesprungen und warf höhere Wellen in die Bucht.
»Siehst du, mein Karpfen. Ich werde dich ans Ufer bringen. Du bist schon müde. Hab Acht!«
Er zog stärker an der Schnur. Schon musste der Fisch der größeren Kraft ermattet folgen.
»Pass auf, wenn er nahe am Ufer ist«, hatte Albert gewarnt. »Dann wird er noch einmal wild.«
»Ist nicht Paul Funk vor ein paar Wochen ein Hecht kurz vor dem Ufer durchgebrannt? Aber ich werde dich nicht mehr loslassen. Komm endlich, komm.«
Schweißperlen rannen Konrad aus den Haaren, verfingen sich in den Brauen und krochen über die Nase. Seine Pantinen waren ganz im Schlamm versunken. Hoch zeigte die Rute jetzt in die schwarzen Wolken, die den Himmel mehr als halb überzogen hatten und den Wald finster und das Grün der Fichten dunkler machten.
Da sah Konrad den Karpfen deutlicher als beim Sprung. Er erschrak vor dem großen Fisch, der mit offenem Maul, ein wenig auf der Seite, dicht unter der Oberfläche dahergezogen wurde. Zittern schoss ihm in die Knie. Fester krampften sich seine Hände um den Angelstock.
»Pass auf, wenn er nah am Ufer ist, pass auf!«, hämmerte Alberts Warnung in seinem Kopf.
»Hätte ich doch nur einen Käscher. Aber wart nur!«
Noch zwei Meter.
»Soll ich dich schleudern? Nein, du bist zu schwer. Neununddreißig Pferdehaare können auch reißen.«
Da schwamm der Karpfen dicht unter dem Ufer, seitwärts von Konrad. Jetzt berührte er mit dem goldenen Leib den Grund, ein letztes Aufbäumen. Weiße Gischt peitschte auf.
»Jetzt ziehe ich durch!«
Nur halb hob er den Fischleib aus dem seichten Wasser, dann riss die Schnur. Konrad warf sich auf den Fisch und bekam ihn zu fassen. Wasser und Fisch! Endlich spürte er seinen Kopf. Konrad wollte ans Ufer, doch die Pantinen, festgesaugt vom zähen Schlamm, blieben stecken. Er stürzte, schluckte schmutziges Wasser, aber er hielt die Beute fest; kam auf die Knie, rutschte ans Ufer, ins Gras. Hoch hinauf.
Er keuchte. Der Fisch wehrte sich nicht mehr. Konrad öffnete sein Taschenmesser, senkte die blanke Klinge hinter die Kiemenklappe und stieß zu. Rot quoll das Blut heraus und lief dem Jungen über die Hand. Er ließ den Fisch sinken. Der Gegner war tot.
Freude und Mattigkeit, Trauer und Tränen stiegen in Konrad auf. Er sah auf den Fisch, auf seine blutbesudelte Hand und wusch sie schließlich im Fluss. Seine Pantinen zog er aus dem Schlamm und überspülte auch sie.
Da klatschten die ersten, schweren Tropfen ins Wasser. Schnell versteckte er die Angel im Ufergebüsch, wog den toten Fisch in der Hand und schätzte ihn auf fünf Pfund. Ein Blitz zuckte und gleich darauf krachte der Donner.
»Steh mir bei, heilige Jungfrau, hilf mir und halt mich heil«, betete Konrad, wie Janosch ihn gelehrt hatte. Er rannte das Ufer hinauf und den Pfad entlang dem Dorf zu. Er spürte das Gewicht des Fisches bald in den Schultern. Doch das freute ihn. Was würde die Mutter sagen? Wie würde Albert staunen! Und Hedwig erst! Helle blendete ihn. Prasselnd schlug der Blitz irgendwo in die Erde.