Der Graf von Monte Christo

Alexander Dumas





















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Erster Band

Marseille. — Die Ankunft

Am 25. Februar 1815 fuhr der Dreimaster Pharao langsam und wie zögernd in den Hafen von Marseille. Eine Trauerwolke schien das Schiff zu umschweben. Gespannt folgte eine schaulustige Menge allenBewegungen des Fahrzeugs undbemerktebei dessen Näherkommen, daß es von einem auffallend jungen und wohlgestalten, dabei aber anscheinend ebenso tatkräftigen wie geschickten Manne gelenkt wurde.
Das Volk von Marseille, dem schon seit Gründung der Stadt einiges Griechenblut durch die Adern rollt, ist von Natur lebhaft und neugierig. In jenen Tagen kam dazu einebesondere Unruhe, die vor allem die Herzen der heißblütigen Provençalen erfüllte. Seit neun Monaten weilte Napoleon nach jähem Sturz von halbgottähnlicher Machthöhe als Verbannter auf dem unfernen Eiseneiland Elba. Die Royalisten triumphierten in Frankreich, und nichts war gefährlicher, alsbonapartistischer Umtriebe oder auch nurbonapartistischer Gesinnung verdächtig zu sein. Nichtsdestoweniger raunte sich die immer wachsende Zahl der Wohlunterrichteten zu, der kleine Korse mit dem großen Zäsarenkopfbereite sich vor, die ihm aufgedrängte Maske des gebändigten Löwen abzuwerfen. DieBeschränktheit der Anhänger des neuen Königs, Ludwigs XVIII., die alle Errungenschaften der Revolution zurückzuschrauben wünschten, die Uneinigkeit der in Wien um das Erbe des Verbannten sich streitenden Mächte, der noch frische Ruhmesglanz desblendenden napoleonischen Namens ließen die Augen vieler Franzosen sich immer aufgeregter und erwartungsvoller nach dem Süden richten.
Unter derbewegten des Pharao harrenden Menge fiel ein Mann auf, der, wie es schien, vor Unruhe die Einfahrt des Schiffes gar nicht erwarten konnte. Er sprang in eine kleineBarke undbefahl, dem Pharao entgegenzurudern, den er auchbald erreichte. Als der junge Leiter des Fahrzeugs dieBarke sich nähern sah, verließ er seinen Posten neben dem Lotsen, dessenBefehle er mit rascher Gebärde und lebhaftemBlick für die Mannschaft wiederholt hatte, nahm den Hut in die Hand und lehnte sich über dieBrüstung des Schiffes.
Es war ein Jüngling von achtzehnbis zwanzig Jahren mit schwarzen Augen und schwarzen Haaren. In seiner ganzen Person drückte sich Ruhe und Entschlossenheit aus, wie sie den Menschen eigentümlich sind, die von Kindheit an mit der Gefahr zu kämpfen haben.
Ah, Sie sind es, Dantes, rief der Mann in derBarke; was ist geschehen, und wasbedeutet das traurige Aussehen des Schiffes?
Ein großes Unglück, Herr Morel, antwortete der junge Mann. Auf der Höhe von Civita Vecchia haben wir denbraven Kapitän Leclère verloren.
Und die Ladung? fragte lebhaft der Reeder.
Ist glücklich geborgen, Herr Morel, und ich glaube, Sie werden in dieser Hinsicht zufrieden sein; aber der arme Kapitän…
Was ist ihm denn geschehen? fragte der Reeder, sichtbar erleichtert, was ist ihm denn geschehen, dembraven Kapitän?
Er ist tot. — In das Meer gefallen?
Nein, er starban einer Hirnentzündung. Dann wandte sich der junge Seemann seinen Leuten zu, rief: Holla, he! Jeder an seinen Posten zum Ankern! und erst als er sah, daß seineBefehle vollführt wurden, kehrte er zu Herrn Morel zurück.
Und wie ist das Unglück gekommen? fragte der Reeder.
Mein Gott, ganz überraschend. Nach einer langen Unterredung mit dem Hafenkommandanten verließ der Kapitän Neapel in sehr aufgeregtem Zustande. Nach 24 Stunden faßte ihn das Fieber, drei Tage nachher war er tot… Er ruht in einer Hängematte, eine Kugel an den Füßen und eine am Kopf, auf der Höhe der Insel Giglio. Wirbringen der Witwe sein Ehrenkreuz und seinen Degen zurück. Warum mußte er, fuhr der junge Mann schwermütig fort, zehn Jahre gegen die Engländer kämpfen, um nun einen solchen Strohtod zu sterben?
Verdammt! Wir sind alle sterblich, und die Alten müssen den Jungen Platz machen, und von dem Augenblicke an, wo ich sicherbin, daß die Ladung…
Siebefindet sich in gutem Zustande, Herr Morel, dafür stehe ich. Das ist eine Ladung, die ich Ihnen nicht für 25000 Franken Nutzen aus der Hand zu geben rate. Dann, als man um den Leuchtturm am Hafeneingang fuhr, rief er: Alle Segel gestrichen!
DerBefehl wurde mit derselben Geschwindigkeit ausgeführt, wie auf einem Kriegsschiffe, und das Schiff rückte nur noch langsam vorwärts.
Wenn Sie heraufkommen wollen, Herr Morel, sagte Dantes, die Unruhe des Reeders wahrnehmend, hier ist Ihr Rechnungsführer, Herr Danglars, der wird Ihnen jede Auskunft geben. Ich meinesteils muß für die Ankerung sorgen. — Der Reeder ließ sich das nicht zweimal sagen und erstiegbehende das Schiff, wo ihm, während Dantes auf seinen Posten zurückkehrte, Danglars entgegenkam.
Danglars war ein Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, unterwürfig gegen seine Obern undbarsch gegen seine Untergebenen, Eigenschaften, die ihn allgemeinbei der Mannschaft ebenso verhaßt machten, wie Edmond Dantesbei ihrbeliebt war. Nun, Herr Morel, sagte Danglars, Sie wissenbereits das Unglück, nicht wahr?
Ja, ja, der arme Leclère! Einbraver, ehrlicher Mann!
Und ein trefflicher Seemann, ergraut zwischen Himmel und Wasser, wie es sich für einen Mann geziemt, dem die Interessen eines so wichtigen Hauses wie Morel und Sohn anvertraut sind.
Aber, versetzte der Reeder, mit den Augen dem geschäftigen Dantes folgend, es scheint mir, manbraucht nicht gerade ein so alter Seemann zu sein, um sein Handwerk zu kennen, und unser Freund Edmond hier treibt das seinige, meine ich, wie ein Mensch, der niemandes Rat nötig hat.
Ja, antwortete Danglars, auf Dantes einenBlick des Hasses werfend, ja, der ist jung und fürchtet nichts. Kaum war der Kapitän tot, so übernahm er das Kommando, ohne jemand um Rat zu fragen, und ließ uns anderthalbTage auf der Insel Elba verlieren, statt unmittelbar nach Marseille zurückzukehren.
Was die Übernahme des Kommandosbetrifft, sagte der Reeder, so war dies seine Pflicht als Sekond; was aber das Verlieren von anderthalbTagen auf der Insel Elbabetrifft, so hatte er unrecht, wenn nicht das Schiff Haverei ausbessern mußte.
Das Schiffbefand sich so wohl, wie ich michbefinde, und diese anderthalbTage dientenbloß dem Vergnügen, ans Land zu steigen.
Dantes, sagte der Reeder, sich nach dem jungen Mann umwendend, kommen Sie hierher!
Ichbitte um Entschuldigung, erwiderte Dantes, ich stehe sogleich zu Diensten; dann rief er der Mannschaft zu: Anker geworfen!

 

Sogleich fiel der Anker, und die Kette rasselte geräuschvoll hinterdrein. Dantesbliebtrotz der Gegenwart des Lotsen an seinem Posten, bis dieses letzte Manöverbeendigt war. Dann rief er: Hißt die Flagge Halbmast! Kreuzt die Segelstangen! Sie sehen, sagte Danglars, auf mein Wort, er hält sichbereits für den Kapitän.
Gott verdamme mich, warum sollen wir ihn nicht an diesem Posten lassen? entgegnete der Reeder; ich weiß wohl, er ist jung, aber er scheint mir ganzbei der Sache undbereits recht erfahren zu sein.
Eine Zorneswolke trübte Danglars' Miene.
Um Vergebung, Herr Morel, sagte Dantes nähertretend; nun, da das Schiff geankert hat, stehe ich zuBefehl.
Danglars machte einen Schritt rückwärts.
Ich wollte Sie fragen, warum Sie an der Insel Elba angehalten haben, begann der Reeder.
Es geschah in Vollzug eines letztenBefehls des Kapitäns Leclère, der mir sterbend ein Paket für den GroßmarschallBertrand übergab.
Sie haben ihn also gesehen, Edmond?
Wen? — Den Großmarschall. — Ja.
Morel schaute um sich her, zog Dantesbeiseite und fragte lebhaft: Wie geht es dem Kaiser?
Gut, soviel ich mit meinen eigenen Augen sehen konnte.
Haben Sie mit ihm gesprochen? Was sagte er?
Er stellte Fragen an mich über das Schiff, über Zeit und Weg unserer Fahrt nach Marseille und über die Ladung. Ich glaube, wäre ich der Herr des Schiffes gewesen, so hätte er es kaufen wollen. Aber ich sagte ihm, ich sei nur Sekond, und das Schiff gehöre dem Hause Morel und Sohn. Ah, erwiderte er, ich kenne das Haus. Die Morel sind ein altes Reedergeschlecht, und ein Morel stand in demselben Regimente mit mir in Valence in Garnison.
Das istbei Gott wahr! rief der Reeder ganz freudig, es war Policar Morel, mein Oheim, der später Kapitän geworden ist. Dantes, Sie werden meinem Oheim sagen, daß der Kaiser sich seiner erinnert hat, und der alte Murrkopf wird weinen. Gut, gut, fuhr der Reeder, dem jungen Menschen vertraulich auf die Schulter klopfend, fort, Sie haben wohl daran getan, Dantes, den Auftrag des Kapitäns Leclère zu erfüllen und an der Insel Elba anzuhalten. Doch wenn man wüßte, daß Sie dem Marschall ein Paket übergeben und mit dem Kaiser gesprochen haben… es könnte Sie gefährden.
Wie sollte mich dies gefährden? entgegnete Dantes. Ich weiß nicht einmal, was ich überbrachte, und der Kaiser richtete nur die nächstliegenden Fragen an mich. Doch um Vergebung, hier sind die Zollbeamten. Sie erlauben… nicht wahr?
Gewiß, mein lieber Dantes. Der junge Mann entfernte sich, und je weiter er sich entfernte, desto näher kam Danglars.
Nun, fragte er, er scheint Ihnen gute Gründe für seinen Aufenthalt in Elba angegeben zu haben?
Vortreffliche Gründe, antwortete der Reeder, und es läßt sich nichts dagegen einwenden. Kapitän Leclère selbst hatte ihm denBefehl erteilt.
Ah! was den Kapitän Leclèrebetrifft… hat Dantes Ihnen nicht einenBrief von ihm zugestellt?
Nein! Hatte er denn einen?
Ich glaubte, der Kapitän Leclère hätte ihm außer dem Paket auch einenBrief anvertraut.
Von welchem Paket sprechen Sie, Danglars?
Von dem, das Dantes auf Elba abzugeben hatte.
Woher wissen Sie, daß er ein Paket abzugeben hatte?
Danglars errötete und sagte: Ich ging an der halbgeöffneten Tür der Kapitänskabine vorüber und sah, wie Leclère denBrief und das Paket Dantes einhändigte.
Er hat mir nichts davon gesagt, entgegnete der Reeder, wird mir aber wohl denBrief noch übergeben.
Danglars überlegte einen Augenblick und erwiderte: Ichbitte Sie, Herr Morel, nicht mit Dantes davon zu sprechen; ich werde mich getäuscht haben.
In diesem Augenblick kehrte der junge Mann zurück, während Danglars sich entfernte.
Nun, mein lieber Dantes, sind Sie frei? fragte der Reeder. — Jawohl, alles ist in Ordnung. — Sie können mit mir zu Mittag speisen. — Ichbitte, entschuldigen Sie mich, Herr Morel; mein ersterBesuch gehört meinem Vater. Doch ichbin darum nicht minder dankbar für die Ehre, die Sie mir erzeigen. — Recht, Dantes, ganz recht. Ich weiß, daß Sie ein guter Sohn sind; aber nach diesem erstenBesuche zählen wir auf Sie. — Entschuldigen Sie abermals, nach diesem erstenBesuche habe ich einen zweiten zu machen, der mir nicht minder am Herzen liegt. — Ah! das ist wahr, Dantes, ich vergaß, daß es unter den Kataloniern jemand gibt, der mit nicht geringerer Ungeduld auf Sie wartet, als Ihr Vater. Es ist die schöne Mercedes.
Dantes errötete.
Ah! ah! sagte der Reeder, ich wundere mich gar nicht mehr, daß sie dreimal zu mir gekommen ist und mich um Nachricht über den Pharao gebeten hat. Edmond, Sie sind nicht zubeklagen, Sie haben eine hübscheBraut. Doch da fällt mir ein, hat Ihnen nicht der Kapitän Leclère sterbend einenBrief für mich gegeben?
Es war ihm unmöglich, zu schreiben. Nun möchte ich mir aber noch auf einige Tage Urlauberbitten.
Um zu heiraten?
Einmal und dann, um nach Paris zu gehen.
Gut, gut, Sie nehmen sich so viel Zeit, als Sie wollen, Dantes. Zum Löschen des Schiffesbrauchen wir an sechs Wochen, und vor drei Monaten gehen wir nicht wieder in See. Sie müssen also erst in drei Monaten hier sein. Der Pharao, fuhr der Reeder, den jungen Mann auf die Schulter klopfend, fort, könnte nicht ohne seinen Kapitän abgehen.
Ohne seinen Kapitän? rief Dantes mit funkelnden Augen, Sie entsprechen den geheimsten Hoffnungen meines Herzens. Es wäre also wirklich Ihre Absicht, mich zum Kapitän des Pharao zu ernennen?
Wenn ich allein wäre, würde ich Ihnen die Hand reichen, lieber Dantes, und sagen: Es ist abgemacht! Aber ich habe einen Associe, und Sie kennen das italienische Sprichwort: Che ha compagno ha padrone. (Wer einen Kompagnon hat, hat auch einen Herrn.) Doch zur Hälfte ist das Geschäft wenigstens abgeschlossen, denn von zwei Stimmen haben Siebereits eine. Überlassen Sie es mir, Ihnen die andere zu verschaffen; ich werde mein möglichstes tun!
Oh, Herr Morel! rief der junge Seemann und ergriff, mit Tränen in den Augen, die Hände des Reeders, Herr Morel, ich danke Ihnen in meines Vaters und in Mercedes' Namen.
Es ist gut, Edmond, es gibt einen Gott im Himmel für diebraven Leute! Besuchen Sie Ihren Vater und Mercedes, und kommen Sie dann zu mir zurück!
Soll ich Sie nicht an das Land führen?
Nein, ich danke, ichbleibe hier, um meine Rechnung mit Danglars zu ordnen. Sind Sie während der Reise mit ihm zufrieden gewesen?
Das kommt auf den Sinn an, in dem Sie diese Frage an mich richten. InBezug auf gute Kameradschaft, nein; denn ich glaube, er liebt mich nicht mehr, seitdem ichbei einem kleinen Streit die Dummheitbeging, ihm vorzuschlagen, zehn Minuten an der Insel Monte Christo anzuhalten, um den Streit auszumachen, ein Vorschlag, den er mit Recht zurückwies. Fragen Sie mich aber nach dem Rechnungsführer, so glaube ich, daß Sie mit der Art und Weise, wie er sein Geschäftbesorgt hat, zufrieden sein werden.
Wie aber? sagte der Reeder; wenn Sie Kapitän des Pharao wären, würden Sie Danglars gernbehalten?
Kapitän oder Sekond, antwortete Dantes, ich werde stets die größte Achtung vor denen haben, die das Vertrauen meiner Reederbesitzen.
Schön, schön, Dantes, ich sehe, daß Sie in jederBeziehung einbraverBursche sind; ich will Sie nicht länger aufhalten, denn Sie stehen gewiß wie auf glühenden Kohlen.
Auf Wiedersehen, Herr Morel, und tausend Dank! Der junge Seemann sprang in den Kahn und gabBefehl, an der Cannebière zu landen. Der Reeder folgte ihm lächelnd mit den Augenbis zum Kai, sah ihn aussteigen und sich unter derbunten Menge verlieren, die von neun Uhr morgensbis neun Uhr abends dieberühmte Rue de la Cannebière durchströmt, auf welche die Marseiller so stolz sind, daß sie mit dem größten Ernste von der Welt sagen: Wenn Paris die Cannebière hätte, so wäre es ein kleines Marseille.
Als er sich umwandte, erblickte der Reeder Danglars hinter sich, der dem Anscheine nach seineBefehle erwartete, in Wirklichkeit aber dem jungen Seemanne mit demBlicke folgte. Nur war ein großer Unterschied in dem Ausdruck dieserbeidenBlicke, die demselben Menschen folgten.

Vater und Sohn

Überlassen wir es dem gehässigen Danglars, dem Reeder einenboshaften Argwohn gegen Dantes ins Ohr zu flüstern, und folgen wir diesem, der den Weg in die Rue de Noilles einschlägt, in ein kleines auf der rechten Seite der Allee de Meillan gelegenes Haus tritt, rasch die vier Stockwerke einer dunkeln Treppe hinaussteigt und, sich mit der einen Hand am Geländer haltend, mit der andern die Schläge seines Herzens zurückdrängend, vor einer halbgeöffneten Tür stehenbleibt.
Hier wohnte sein Vater. Die Nachricht von der Ankunft des Pharao war noch nichtbis zu dem Greise gedrungen, der, auf einem Stuhle sitzend, mit zitternder Hand Kapuzinerkresse, vermischt mit Rebwinden, die sich am Gitter seines Fensters hinaufrankten, durch Stäbe zusammenzuhalten suchte. Plötzlich fühlte er sich von Armen umfaßt, und eine wohlbekannte Stimme rief hinter ihm: Mein Vater, mein guter Vater!
Mit einem Schrei wandte sich der Alte um, und als er seinen Sohn erblickte, warf er sichbebend undbleich in seine Arme. Was hast du denn Vater? rief der junge Mannbeunruhigt, dubist doch nicht krank?
Nein, nein, mein lieber Edmond, mein Sohn, mein Kind, nein, ich erwartete dich nicht, und die Freudebei deinem unvorhergesehenen Anblick… ach! mein Gott, ich glaube, ich sterbe.
Beruhige dich doch, mein Vater, ichbin es, ich! Man sagt, die Freude könne nicht schaden, und darumbin ich hier ohne Vorbereitung eingetreten. Ich komme zurück, Vater, und wir werden nun glücklich sein.
Ah, destobesser, mein Junge, versetzte der Greis; aber wie werden wir glücklich sein? Du verläßt mich also nicht mehr? Erzähle mir von deinem Glücke!
Der Herr verzeihe mir, erwiderte der junge Mann, daß ich mich über ein Glück freue, das mit der Trauer einer andern Familie erkauft ist, aber Gott weiß, daß ich dieses Glück nicht gewünscht habe. Derbrave Kapitän Leclère ist gestorben, und durch Herrn Morels Fürsprachebekomme ich wahrscheinlich seinen Platz. Begreifst du, Vater, mit zwanzig Jahren Kapitän… mit hundert Louisd'or Gehalt und einem Anteil am Gewinn! Ist das nicht mehr, als ein armer Matrose wie ich hoffen durfte?
Ja, mein Sohn, ja, das ist ein großes Glück.
Von dem ersten Gelde, das ich verdiene, sollst du auch ein Häuschen mit einem Gartenbekommen, um deine Reben und deine Kapuzinerkresse zu pflanzen. Aber was hast du denn, Vater? Man könnte glauben, du seiest unwohl.
Geduld, Geduld, das hat nichts zu sagen.
Aber schon schwanden dem Greise die Kräfte, und er sank rückwärts nieder.
Rasch, rasch, ein Glas Wein wird dich wiederbeleben; wo verwahrst du deinen Wein? sagte der junge Mann und öffnete zwei, drei Schränke.
Ach, sprach der Greis matt, es ist kein Wein mehr da.
Wie, kein Wein mehr da? rief, jetzt ebenfalls erbleichend, Dantes, indem er abwechselnd die hohlen Wangen des Greises und die leeren Schränke anschaute. Kein Wein mehr hier? Hat es dir etwa an Geld gefehlt?
Es fehlt mir an nichts, da du hierbist.
Ich habe dir dochbei meiner Abreise vor drei Monaten zweihundert Franken zurückgelassen, stammelte Dantes, sich den Schweiß abtrocknend, der von seiner Stirn lief.
Ja, ja, Edmond, das ist wahr; aber du hattestbei deinem Abgang eine kleine Schuldbei dem Nachbar Caderousse vergessen. Er erinnerte mich daran und sagte, wenn ich nicht für dichbezahlte, so würde er sich von Herrn Morelbezahlen lassen; dubegreifst, aus Furcht, es könnte dir schaden…
Aber ich war ihm 140 Franken schuldig! rief Dantes. Und du hast sie ihm von den 200 Franken gegeben, die ich dir zurückließ?
Der Greis machte ein Zeichen mit dem Kopfe.
Du hast also drei Monate lang von sechzig Franken gelebt?
Du weißt, wie wenig ichbedarf, sagte der Greis.
Oh! mein Gott, mein Gott! vergibmir, rief Edmond und warf sich vor dem alten Mann auf die Knie.
Bah! Dubist hier, erwiderte lächelnd der Greis, und nun ist alles vergessen, alles ist nun gut.
Ja, ichbin hier, versetzte der junge Mann, ichbin hier mit einer schönen Zukunft vor mir und mit einigem Geld; hier, Vater, nimm, nimm und laß sogleich etwas holen!
Und er leerte auf den Tisch seine Taschen aus, die ein Dutzend Goldstücke und etwas kleinere Münze enthielten.
Sachte, sachte, sagte der Greis lächelnd, mit deiner Erlaubnis werde ich deineBörse nurbescheidenbenützen; wenn man mich zu viele Dinge auf einmal kaufen sehen würde, könnte man glauben, ich hätte auf deine Ankunft warten müssen.
Ja, wie du willst; aber vor allem nimm eine Magd an! Du sollst nicht länger alleinbleiben. Ich habe geschmuggelten Kaffee und vortrefflichen Tabak in einem Kistchen im Schiffsraum; morgen erhältst dubeides. Doch still, hier kommt jemand.
Es ist Caderousse, der wohl deine Ankunft erfahren hat.
Gut, abermals Lippen, die etwas sagen, während das Herz etwas ganz anderes denkt! murmelte Edmond. Doch gleichviel, es ist ein Nachbar, der uns einst Dienste geleistet hat, darum soll er willkommen sein.
In dem Augenblick, wo Edmond seinen Satz mit leiser Stimme vollendete, sah man einen schwarzenbärtigen Kopf in der Tür erscheinen; es war Caderousse, ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, seines Standes ein Schneider.
Ah! Dubist endlich zurückgekehrt, Edmond? sagte er in echt Marseiller Mundart und mitbreitem Lächeln.
Wie Sie sehen, Meister Caderousse, undbereit, Ihnen gefällig zu sein, antwortete Dantes, seine Kälte nur schlecht unter dieser höflichen Anrede verbergend.
Danke, danke, zum Glückbrauche ich nichts, und zuweilen können mich sogar anderebrauchen. Ich sage das nicht deinetwegen, fuhr er fort, als Dantes eine unwillkürlicheBewegung machte. Ich habe dir Geld geliehen; du hast michbezahlt; das kommt unter guten Nachbarn vor, und wir sind quitt.
Wir sind nie quitt gegen die, welche uns Dienste geleistet haben, antwortete Dantes, denn wenn man ihnen sonst nichts mehr schuldet, so ist man ihnen doch Dank schuldig.
Wozu davon reden? Was geschehen ist, ist geschehen. Reden wir von deiner glücklichen Rückkehr, mein Junge. Ich war an den Hafen hinausgegangen und traf dort Danglars, der mir erzählte, daß ihr gut angekommen seid; und dann eilte ich hierher, um dir die Hand zu drücken. Nun, du stehst also aufsbeste mit Herrn Morel, du Schlaukopf?
Herr Morel hat mir stets viel Güte erwiesen, und ich hoffe, sein Kapitän zu werden, antwortete Dantes.
Destobesser, destobesser! Das wird allen alten Freunden Freude machen, und ich kenne jemand da unten hinter der Zitadelle Saint-Nicolas, der nicht ärgerlich darüber sein wird. Mercedes? sagte der Greis.
Ja, Vater, versetzte Dantes, und jetzt, da ich gesehen habe, daß du dich wohlbefindest und alles hast, was dubrauchst, bitte ich dich um Erlaubnis, bei den Kataloniern meinenBesuch zu machen.
Geh, mein Sohn, geh, sagte der alte Dantes, und Gott segne deine Frau, wie er mich in meinem Sohne gesegnet hat.
Seine Frau! rief Caderousse, wie Ihr rasch zu Werke geht. Es scheint mir, sie ist es noch nicht.
Nein, aber aller Wahrscheinlichkeit nach, antwortete Edmond, wird sie esbald werden.
Gleichviel, gleichviel, sagte Caderousse, du hast wohl daran getan, dich zubeeilen, mein Sohn.
Warum?
Weil Mercedes ein hübsches Mädchen ist, und es den hübschen Mädchen nicht an Liebhabern fehlt. Ihrbesonders laufen sie zu Dutzenden nach.
Wirklich? sagte Edmond mit einem Lächeln, unter dem sich ein leichter Schatten von Unruhe verbarg.
Oh ja, antwortete Caderousse, und sogar schöne Partien; aber dubegreifst, du sollst Kapitän werden, und man wird sich wohl hüten, deine Hand auszuschlagen.
Still, sagte der junge Mann, ich habe einebessere Meinung als Ihr von den Frauen im allgemeinen und von Mercedes insbesondere, ichbin überzeugt, daß sie mir, mag ich Kapitän sein oder nicht, treubleiben wird.
Destobesser, destobesser, versetzte Caderousse, wenn man sich verheiraten will, tut man immer gut, zu glauben. Doch, wie gesagt, folge mir, mein Junge, verliere keine Zeit, melde ihr deine Ankunft und teile ihr deine Hoffnungen mit!
Ich gehe, sagte Edmond, umarmte seinen Vater, grüßte Caderousse und entfernte sich.
Caderoussebliebnoch einen Augenblick, nahm dann von dem alten Dantes Abschied, ging ebenfalls die Treppe hinabund suchte Danglars wieder auf, der ihn an der Ecke der Rue Senac erwartete.
Nun, sagte Danglars, hast du ihn gesehen? Hat er von seiner Hoffnung, Kapitän zu werden, gesprochen?
Er spricht davon, als ober esbereits wäre.
Geduld! Geduld! sagte Danglars, mir scheint, er hat's gar zu eilig. Und er ist immer noch in die Katalonierin verliebt?
Wie toll; soeben ist er zu ihr gegangen. Doch wenn ich mich nicht sehr täusche, wird er hier auf Schwierigkeiten stoßen.
Sag einmal, du liebst Dantes nicht, wie? — Ich liebe die Anmaßenden nie. — Nun also, was weißt du von der Katalonierin? — NichtsBestimmtes; nur habe ich gesehen, daß Mercedes, so oft sie in die Stadt kommt, von einem großen schwarzen Katalonier, den sie Vetter nennt, begleitet wird. — Ah, wirklich? Und glaubst du, dieser Vetter mache ihr den Hof? — Ich denke wohl. Was zum Teufel kann einBursche von einundzwanzig Jahren mit einem hübschen Mädchen von siebzehn weiter machen?
Und du sagst, Dantes sei zu den Kataloniern gegangen?
Ja, wenn wir ihm folgen, so können wir im Garten der Reservebei einem Glase Wein das weitere abwarten.
Beidebegaben sich mit raschen Schritten nach dembezeichneten Orte und ließen sich eine Flasche Weinbringen. Der Vater Pamphile, der sie ihnen vorsetzte, hatte Dantes vor kaum zehn Minuten vorübergehen sehen.

Die Katalonier

Hundert Schritte von der Laube, wo diebeiden Freunde den sprudelnden Lamalgue-Wein tranken, erhobsich hinter einem nackten, sonnigen Hügel die kleine Ansiedlung der Katalonier. Eines Tages wanderte eine Anzahl Katalonier aus dem Mutterland aus und landete hier, wo sie sich noch heutebefindet. Man wußte nicht, woher sie kam, und kannte nicht einmal ihre Sprache. Einer von den Führern, der Provençalisch verstand, bat die Gemeinde Marseille, ihnen dieses nackte, unfruchtbare Vorgebirge zu geben, auf das sie ihre Schiffe gezogen hatten. DieBitte wurde gewährt, und drei Monate nachher erhobsich um ihre fünfzehn Fahrzeuge ein kleines Dorf. Seit dreibis vier Jahrhunderten sind sie ihrem Vorgebirge treu geblieben, ohne sich mit derBevölkerung von Marseille zu vermischen, denn sie heirateten unter sich undbehielten Sitten, Tracht und Sprache ihres Mutterlandesbei.
In einer der einfachen Hütten stand ein junges Mädchen mit rabenschwarzen Haaren und Augen an der Wand. Ihrebis an den Ellbogen entblößten Arme, die zwar gebräunt, aber schön geformt waren, bebten wie von fieberhafter Ungeduld, und sie stampfte mit ihrem geschmeidigen, schön gebogenen Fuße auf die Erde, so daß die reine, stolze, kühne Form ihres mit einembaumwollenen StrumpfbekleidetenBeines ein wenig sichtbar wurde.
Drei Schritte von ihr saß auf einem Stuhle ein großer etwa zwanzigjährigerBursche undbetrachtete sie mit einer Miene, in der sich Unruhe und Trotzbekämpften. Seine Augen sahen fragend und verlangend aus, aber der feste, entschiedeneBlick des jungen Mädchensbeherrschte den Jüngling.
Wie steht's, Mercedes, sagte der junge Mann, Ostern naht; ist's da nicht Zeit, Hochzeit zu machen? Antwortet mir!
Ich habe Euch hundertmal geantwortet, Fernand, und Ihr müßt in der Tat Euer eigener Feind sein, daß Ihr mich noch einmal fragt!
Wiederholt es, ichbitte Euch, noch einmal, daß ich es endlich glauben kann! Sagt mir zum hundertstenmale, daß Ihr eine Liebe ausschlagt, die Eure Mutterbilligte! Macht mir'sbegreiflich, daß Ihr mit meinem Glücke Euer Spiel treibt, daß mein Leben und mein Tod nichts für Euch sind. Ach, mein Gott, zehn Jahre lang habe ich geträumt. Euer Gatte zu werden, und soll nun diese Hoffnung verlieren, die der einzige Zweck meines Lebens war!
Ichbin es wenigstens nicht gewesen, die Euch in dieser Hoffnung ermutigt hat, Fernand, antwortete Mercedes. Ihr könnt mir in dieser Hinsicht nichts vorwerfen. Stets sagte ich Euch: Ich liebe Euch wie meinenBruder, fordert aber nie mehr von mir, denn mein Herz gehört einem andern. Das habe ich Euch immer gesagt, Fernand.
Ich weiß es wohl, Mercedes, antwortete der junge Mann. Ja, Ihr habt mir gegenüber das grausame Verdienst der Offenherzigkeit. Aber vergeßt Ihr, daßbei den Kataloniern das heilige Gesetzbesteht, sich nur untereinander zu heiraten?
Ihr täuscht Euch, Fernand, das ist kein Gesetz, es ist eine Gewohnheit und nichts weiter. Führt diese Gewohnheit nicht zu Euren Gunsten an! Ihr seid zur Aushebung vorgemerkt; jeden Augenblick könnt Ihr zur Fahne einberufen werden. Seid Ihr aber Soldat, was sollte dann aus mir werden, dem verlassenen, vermögenslosen Mädchen, das als einzige Habe nur einebaufällige Hüttebesitzt, in der ein paar abgenutzte Netze hängen… die elende Erbschaft von meinem Vater und meiner Mutter? Seit sie im vorigen Jahre starb, lebe ich fast nur von der öffentlichen Wohltätigkeit. Zuweilen tut Ihr, als wäre ich Euch nützlich, um das Recht zu haben, Euren Fischfang mit mir zu teilen. Ich nehme es an, Fernand, weil Ihr mein Vetter seid, weil wir miteinander erzogen worden sind, und mehr noch, weil es Euch zu viel Kummer machen würde, wenn ich es ausschlüge; aber ich fühle wohl, daß der Fisch ein Almosen ist.
Wenn Ihr aber, die arme und verlassene Mercedes, mirbesser gefallt als die Tochter des stolzesten Reeders und des reichstenBankiers von Marseille? Wasbraucht ein Mann aus dem Volk wie ich? Ein ehrliches Weib, eine gute Wirtschafterin. Und wo kann ich da etwasBesseres finden, als Ihr seid?
Fernand, antwortete Mercedes, den Kopf schüttelnd, man ist eine schlechte Wirtschafterin und kann nicht dafür stehen, daß man eine ehrliche Fraubleibt, wenn man einen andern Mann liebt, als seinen Gatten. Begnügt Euch mit meiner Freundschaft, denn ich wiederhole Euch, das ist alles, was ich Euch versprechen kann, und ich verspreche nur, was ich halten kann.
Ja, ichbegreife, sagte Fernand, Ihr ertragt geduldig Eure Armut, aber Ihr habt Furcht vor der meinen. Nun wohl, Mercedes, von Euch geliebt, werde ich mich aufzuschwingen suchen. Ihrbringt mir Glück, und ich werde reich. Ich kann mein Fischergewerbe ausdehnen, ich kann als Kommis in ein Kontor eintreten, ich kann sogar Kaufmann werden!
Ihr könnt das alles nicht, Fernand, Ihr seid als Soldat vorgemerkt, und wenn Ihr noch hier weilt, so ist dies nur der Fall, weil gegenwärtig kein Krieg geführt wird. Bleibt also Fischer und — begnügt Euch mit meiner Freundschaft, da ich Euch nichts anderes geben kann.
Oh, Mercedes, Ihr seid nur so grausam und hart gegen mich, weil Ihr einen andern erwartet; aber der ist vielleicht unbeständig wie das Meer.
Fernand, rief Mercedes, ich hielt Euch für gut, aber ich täuschte mich! Ihr habt ein schlechtes Herz, daß Ihr mit Eurer Eifersucht den Zorn des Himmels herabruft. Nun wohl, ichbekenne es offen: Ich erwarte und liebe den, welchen Ihr meint.
Der junge Katalonier machte eine wütende Gebärde.
Ich verstehe Euch, Fernand, Ihr werdet Euch dafür rächen, daß ich Euch nicht liebe, Ihr werdet Euer katalonisches Messer mit seinem Dolche kreuzen! Wohin wird Euch das führen? Dahin, daß Ihr meine Freundschaft verliert, wenn Ihrbesiegt werdet; daß Ihr meine Freundschaft in Haß verwandelt, wenn Ihr Sieger seid. Glaubt mir, Streit mit einem Manne suchen, ist ein schlechtes Mittel, der Frau zu gefallen, die diesen Mann liebt. Nein, Fernand, Ihr werdet Euch nicht so durch Eure schlimmen Gedanken hinreißen lassen. Da Ihr mich nicht als Fraubesitzen könnt, so werdet Ihr Euchbegnügen, mich zur Freundin und zur Schwester zu haben. Und überdies, fügte sie mit unruhigen, tränenfeuchten Augen hinzu, Ihr habt soeben gesagt, das Meer sei treulos. Schon seit vier Monaten ist er abgereist, und seit vier Monaten habe ich viele Stürme gezählt.
Fernandbliebunempfindlich. Er suchte nicht die Tränen zu trocknen, die über Mercedes' Wangen herabrollten, und dennoch hätte er für jede ihrer Tränen einenBecher seinesBlutes gegeben; aber diese Tränen flossen nicht für ihn. Er stand auf, ging in der Hütte umher, kehrte zurück, bliebmit düsterem Auge und geballten Fäusten vor Mercedes stehen und sagte: Laßt hören, Mercedes, noch einmal, antwortet: Steht Euer Entschluß fest?
Ich liebe Edmond Dantes, antwortete kalt das junge Mädchen, und kein anderer als Edmond soll mein Gatte werden.
Und Ihr werdet ihn immer lieben?
Solange ich lebe.
Fernand ließ ganz entmutigt das Haupt sinken und stieß einen Seufzer aus. Dann, plötzlich die Stirn wieder erhebend, rief er: Aber wenn er tot ist?
Wenn er tot ist, sterbe ich.
Aber wenn er Euch vergißt?
Mercedes! rief eine freudige Stimme vor dem Hause, Mercedes!
Ah, rief das junge Mädchen, vor Entzücken errötend und ausspringend, Ihr seht, daß er mich nicht vergessen hat, denn er ist da!
Eilig lief sie zur Tür, öffnete sie und rief mit jubelndem Tone: Herein, Edmond, hierbin ich!
Fernand wichbleich undbebend zurück, wie ein Reisender in den Tropen, der sich plötzlich einer giftigen Schlange mit gähnendem Rachen gegenüber sieht, stieß an seinen Stuhl und sank zitternd darauf nieder.

 

Edmond und Mercedes lagen einander in den Armen. Die glühende Sonne von Marseille drang durch die Öffnung der Tür herein und übergoß sie mit einer Woge von Licht. Anfangs sahen sie nichts von dem, was sie umgab. Ein unermeßliches Glück erhobsie über die Welt, und sie sprachen nur in abgebrochenen Worten, wie sie sowohl der lebhaftesten Freude wie nicht minder dem quälenden Schmerze zum Ausdruck dienen können.
Plötzlich erblickte Edmond Fernands düsteres Antlitz, dasbleich und drohend aus dem Schatten hervortrat. Durch eineBewegung, von der er sich vielleicht selbst nicht Rechenschaft gab, fuhr der junge Katalonier mit der Hand an das Messer, das in seinem Gürtel stak.
Ah! um Vergebung, sagte Dantes, ebenfalls die Stirn faltend, ich hatte nichtbemerkt, daß wir zu dritt sind! Sich sodann an Mercedes wendend, fragte er: Wer ist dieser Herr?
Dieser Herr wird deinbester Freund sein, Dantes, denn es ist auch mein Freund; es ist mein Vetter, es ist meinBruder, es ist Fernand, der Mann, den ich nach dir, Edmond, am meisten in der Welt liebe. Erkennst du Fernand nicht wieder?
Ah, gewiß! sagte Edmond, und ohne Mercedes zu verlassen, deren Hand er in der seinigen hielt, reichte er mit einer herzlichenBewegung seine andere Hand dem Katalonier.
Aber Fernand, weit entfernt, diese freundschaftliche Gebärde zu erwidern, bliebstumm und unbeweglich wie eine Statue. Da ließ Edmond seinen forschendenBlick über diebewegte, zitternde Mercedes und dann über den düsteren, drohenden Fernand gleiten, und dieser eineBlick sagte ihm alles. — Der Zorn stieg ihm zu Kopfe.
Als ich mit so großer Eile zu Euch lief, Mercedes, wußte ich nicht, daß ich einen Feind hier finden würde, sagte er.
Einen Feind! rief Mercedes, mit einem zornigenBlicke auf ihren Vetter; einen Feindbei mir, sagst du, Edmond? Wenn ich das glaubte, so nähme ich dichbeim Arme, ginge nach Marseille und würde dieses Haus verlassen, um nie mehr dahin zurückzukehren.
Fernands Auge schleuderte einenBlitz.
Und wenn dir ein Unglück widerführe, Edmond, fügte sie mit eisiger Stimme hinzu, die Fernandbewies, daß sie in der Tiefe seiner finsteren Gedanken gelesen hatte, wenn dir ein Unglück widerführe, so stiege ich auf das Kap Morgion und stürzte mich über die Felsen hinab.
Fernand wurde furchtbarbleich.
Aber du hast dich getäuscht, Edmond, fuhr sie fort, du hast keinen Feind hier, denn hier sehe ich nur Fernand, meinenBruder, der dir die Hand wie ein ergebener Freund drücken wird.
Undbei diesen Worten heftete Mercedes ihren gebieterischenBlick auf den Katalonier, der, von diesemBlicke wiebezaubert, sich langsam Edmond näherte und ihm die Hand reichte. Aber kaum hatte er die Handberührt, als er fühlte, daß er etwas getan, das über seine Kräfte ging, und aus dem Hause stürzte.
Oh! rief er, wie ein Wahnsinniger fortrennend und mit den Händen in seinen Haaren wühlend, wer wird mich von diesem Menschenbefreien! Wehe mir! wehe mir!
He, Katalonier! he, Fernand! wohin läufst du? rief eine Stimme.
Der junge Mannbliebstehen, schaute umher und sah Caderousse, der mit Danglars unter einer Laube an einem Tische saß.
He! sagte Caderousse, warum kommst du nicht zu uns? Hast du so große Eile, daß du nicht einmal deinen Freunden einen guten Morgen wünschen kannst?
Fernand schaute die Männer mit einfältiger Miene an und antwortete nicht.
Er scheint ganz verblüfft, sagte Danglars leise und stieß dabei Caderousse mit dem Knie. Sollten wir uns getäuscht haben und keinenBundesgenossen in ihm finden?
Verdammt! Wollen doch sehen! erwiderte Caderousse und fügte, zu dem jungen Mann gewendet, hinzu: Nun, Katalonier, willst du nicht kommen?
Fernand trocknete den Schweiß von seiner Stirn und trat langsam unter die schattige Laube, deren Frische seinem erhitzten Körper wohlzutun schien.
Guten Morgen, sagte er, Ihr habt mich gerufen, nicht wahr? Und dabei ließ er sich erschöpft auf einen Stuhl fallen.
Ich rief dich, weil du wie ein Narr liefst, und weil ichbefürchtete, du könntest dich ins Meer stürzen, erwiderte lachend Caderousse. Was zum Teufel, wenn man Freunde hat, so muß man ihnen nicht nur ein Glas Wein anbieten, sondern sie auch verhindern, drei oder vier Pinten Wasser zu schlucken.
Fernand stieß einen Seufzer aus, der einem Schluchzen ähnlich klang, und ließ seinen Kopf auf seine Fäuste sinken, die er kreuzweise auf den Tisch gelegt hatte.
Wie geht's, Fernand? Soll ich dir was sagen, versetzte Caderousse mit plumper Offenheit, du siehst aus wie ein aus dem Felde geschlagener Liebhaber.
Und erbegleitete diesen Spaß mit schwerfälligem Lachen.
Bah! sagte Danglars, ein junger Mann von diesem Schnitte kann unmöglich in der Liebe unglücklich sein. Du scherzest, Caderousse.
Oh nein, erwiderte dieser, höre nur, wie er seufzt. Ruhig, Fernand, fügte Caderousse hinzu, die Nase hochgehalten und geantwortet! Es ist nicht liebenswürdig. Freunden nicht zu antworten, die sich nach unsrer Gesundheit erkundigen.
Meine Gesundheit ist gut, antwortete Fernand, seine Fäuste krampfhaft zusammenziehend, aber ohne den Kopf zu heben.
Oh, siehst du, Danglars, sagte Caderousse und machte dabei seinem Freunde aus einem Augenwinkel ein Zeichen, das ist die Sache: Fernand, den du hier siehst, ein guter, braver Katalonier, einer derbesten Fischer von Marseille, ist in ein schönes Mädchen, namens Mercedes, verliebt. Doch leider scheint das junge Mädchen seinerseits in den Sekond des Pharao verliebt zu sein. Und da der Pharao heute in den Hafen eingelaufen ist, so verstehst du…
Nein, ich verstehe nicht, erwiderte Danglars.
Der arme Fernand wird seinen Abschiedbekommen haben, fuhr Caderousse fort.
Wohl und was ist dabei? sagte Fernand, das Haupt erhebend, und schaute Caderousse wie ein Mensch an, der einen sucht, auf den er seinen Zorn fallen lassen kann. Mercedes hängt von niemand ab, nicht wahr? Es steht ihr frei, zu lieben, wen sie will!
Ah! wenn du es so nimmst, entgegnete Caderousse, so ist es etwas anderes. Ich hielt dich für einen Katalonier, und man hat mir gesagt, die Katalonier wären nicht die Männer, die sich von andern ausstechen lassen; man sagte mir weiter, Fernand seibesonders furchtbar in seiner Rache.
Fernand lächelte mitleidig und erwiderte: Ein Verliebter ist nie furchtbar.
Armer Junge! versetzte Danglars, der sich den Anschein gab, alsbeklagte er den jungen Mann aus der Tiefe seines Herzens. Was willst du? Er war nicht darauf gefaßt, Dantes so plötzlich zurückkommen zu sehen. Er hielt ihn vielleicht für tot, für ungetreu, wer weiß? Man ist in solchen Fällen um so empfindlicher, je unerwarteter sie eintreten.
In jedem Fall, sagte Caderousse, auf den der Wein seine Wirkung auszuüben anfing, ist Fernand nicht der einzige, den Dantes' glückliche Ankunft ärgert! Nicht wahr, Danglars?
Du sprichst die Wahrheit, und ich glaube fast, behaupten zu können, daß ihm dies Unglückbringen wird.
Doch gleichviel, versetzte Caderousse, goß Fernand ein Glas Wein ein und füllte zum zehntenmale sein eigenes Glas, während Danglars nur an dem seinigen genippt hatte, gleichviel, inzwischen heiratet er Mercedes, die schöne Mercedes; er kommt wenigstens deshalbzurück.
Während dieser Wortebetrachtete Danglars mit durchdringendemBlick den jungen Mann, auf dessen Herz Caderousses Worte wie geschmolzenesBlei fielen.
Und wann soll die Hochzeit sein? fragte er.
Oh! so weit ist's noch nicht, murmelte Fernand.
Nein, aber es wirdbald so weit sein, entgegnete Caderousse; so gewiß, als Dantes Kapitän sein wird, nicht wahr, Danglars?
Danglarsbebtebei diesem unerwarteten Streiche und wandte sich zu Caderousse, um auf dessen Gesicht zu lesen, obihm der Stich mit Vorbedacht versetzt worden sei. Aber er sah nichts, als den Neid aus dem infolge der Trunkenheitbereits albern aussehenden Gesichte.
Nun gut, sagte er, die Gläser wieder füllend, trinken wir also auf die Gesundheit des Kapitäns Edmond Dantes, des Gatten der schönen Katalonierin!
Caderousse setzte mit einer schweren Hand sein Glas an den Mund und leerte es auf einen Zug. Fernand nahm das seinige und schleuderte es auf die Erde.
He, he, he! rief Caderousse, was erblicke ich da oben auf dem Hügel in der Richtung der Katalonier! Sieh doch, Fernand, du hast einbesseres Gesicht, als ich. Ich glaube, ich fange an, doppelt zu sehen, und du weißt, der Wein ist ein Verräter. Man sollte glauben, es seien zwei Liebende, die Hand in Hand nebeneinander gehen. Gott vergebe mir! Sie vermuten nicht, daß wir sie sehen, und umarmen sich sogar.
Danglars folgte lauernd allen schmerzlichenBewegungen in Fernands sich sichtlich entstellendem Gesichte.
Oho, Dantes! oho, schönes Mädchen! rief jetzt Caderousse, kommt doch mal her und sagt uns, wann die Hochzeit sein wird.
Willst du wohl schweigen, sagte Danglars, der sich den Anschein gab, als wollte er Caderousse zurückhalten, der sich mit der Halsstarrigkeit eines Trunkenen aus der Laube hervorneigte. Mach, daß du nicht von derBank fällst, und laß die Verliebten sich ruhig lieben! Sieh Herrn Fernand an, und nimm dir einBeispiel an ihm! Er ist vernünftig.
Vielleicht wäre Fernand, außer sich und von Danglars ausgestachelt wie der Stier durch dieBandilleros, hinausgestürzt, denn er hatte sichbereits erhoben und schien sich auf seinen Nebenbuhler stürzen zu wollen; aber lachend und mutig erhobMercedes ihr schönes Haupt und ließ ihren klarenBlick strahlen. Da erinnerte sich Fernand ihrer Drohung, sich den Tod zu geben, wenn Edmond umkäme, und er fiel völlig entmutigt auf seinen Stuhl zurück.
Danglars schaute achselzuckend diebeiden andern an und murmelte: Was soll man mit solchen Einfaltspinseln machen? Was nützt mir derblöde Neid, der sich im Weine statt in Galleberauscht, und die kindische Verliebtheit, die sich, statt zu handeln, in Klagen und Winseln verzehrt? — Der Anmaßende wird triumphieren, wenn ich nicht die Karten mische, fügte er mit düsterm Lächeln hinzu.
Holla, schrie Cadcrousse, sich halbaufrichtend und mit den Fäusten auf den Tisch stützend, holla, Edmond! Siehst du die Freunde nicht, oderbist dubereits zu stolz, um mit ihnen zu sprechen?
Nein, mein lieber Caderousse, antwortete Dantes, ichbin nicht zu stolz, ichbin glücklich, und das Glückblendet, glaube ich, noch mehr als der Stolz.
Das lasse ich mir gefallen; das ist eine Erklärung, sagte Caderousse. Ei, guten Morgen, Frau Dantes.
Mercedes grüßte ernst und erwiderte: Das ist noch nicht mein Name, und in meinem Lande sagt man, esbringe Unglück, wenn man ein Mädchen mit dem Namen ihresBräutigams anredet, ehe dieser ihr Gatte geworden ist; ichbitte Sie also, nennen Sie mich Mercedes.
Die Hochzeit soll also ungesäumt stattfinden, Herr Dantes? fragte Danglars undbegrüßte das junge Paar.
Sobald als möglich, Herr Danglars. Heute die Verträgebei meinem Vater, und spätestens übermorgen das Hochzeitsmahl hier in der Reserve. Die Freunde werden sich hoffentlich einfinden; das heißt, Sie sind eingeladen, Herr Danglars, und du ebenfalls, Caderousse.
Und Fernand? versetzte Caderousse mit einem ekelhaften Gelächter; Fernand auch?
DerBruder meiner Frau ist meinBruder, und wir könnten es nur mit tiefemBedauern sehen, Mercedes und ich, wenn er sich in einem solchen Augenblicke von uns fernhielte.
Fernand öffnete den Mund, um zu antworten; aber seine Stimme versagte, und er vermochte nicht ein Wort hervorzubringen.
Heute Vertrag, übermorgen Hochzeit! Teufel, Sie sind sehr eilig, Kapitän! Was! wir haben Zeit; der Pharao geht nicht vor drei Monaten in See.
Man soll das Glück nie versäumen, Herr Danglars, und wenn man lange gelitten hat, scheut man sich, an das Glück zu glauben. Es ist jedoch diesmal nicht die Selbstsucht, die mich treibt; ich muß nach Paris reisen.
Ah, wirklich, nach Paris, und Sie kommen zum erstenmal dahin, Dantes? — Ja.
Sie haben Geschäfte dort?
Nicht für meine Rechnung; es ist ein letzter Auftrag von unserm armen Kapitän Leclère, den ich zu erfüllen habe. Seien Sie übrigens unbesorgt, ich werde mir nur so viel Zeit nehmen, als ich zur Hin- und Herreisebrauche.
Ja, ja, ich verstehe, sagte Danglars laut; dann fügte er leise hinzu: Nach Paris, ohne Zweifel, um denBrief, den ihm der Großmarschall gegeben hat, an seine Adresse abzuliefern. Bei Gott, dieserBriefbringt mich auf einen vortrefflichen Gedanken. Ha, Dantes, mein Freund! Du stehst in der Liste des Pharao noch nicht unter Nr. 1.
Dann rief er dem sichbereits entfernenden Edmond zu: Glückliche Reise!
Ich danke, antwortete Edmond, drehte den Kopf um undbegleitete dieseBewegung mit einer freundschaftlichen Gebärde. Hieraus setzten die Liebenden ihren Weg fort, ruhig und freudig, wie zwei über die Maßen Glückliche.

Das Komplott

Danglars folgte Edmond und Mercedes mit den Augen, bis sie an einer Ecke des Forts Saint-Nicolas verschwanden. Dannbemerkte er, daß Fernandbleich und zitternd auf seinen Stuhl gesunken war, während Caderousse die Worte eines Trinkliedes stammelte.
Ah! mein lieber Herr, sagte Danglars zu Fernand, das ist eine Heirat, die mir nicht alle Leute glücklich zu machen scheint.
Siebringt mich in Verzweiflung, erwiderte Fernand.
Sie liebten also Mercedes?
Solange wir uns kennen, habe ich sie stets geliebt.
Und Sie reißen sich die Haare aus, statt etwas dagegen zu unternehmen? Zum Teufel, ich glaubte nicht, daß die Leute Ihrer Nation so handelten!
Was soll ich tun? fragte Fernand.
Was weiß ich! Geht es mich an? Ichbin nicht in Fräulein Mercedes verliebt, denk' ich, sondern Sie. Suchet, so werdet ihr finden, sagt das Evangelium.
Ich wollte den Menschen erdolchen; aber sie sagte mir, wenn ihremBräutigam ein Unglück widerführe, so würde sie sich töten.
Dummkopf! murmelte Danglars, sie mag sich umbringen oder nicht, wenn nur Dantes nicht Kapitän wird.
Und ehe Mercedes stirbt, versetzte Fernand mit dem Tone unerschütterlicher Entschlossenheit, würde ich mir selbst den Tod geben.
Das nenne ich Liebe, sagte Caderousse mit einer immer mehr weinschweren Zunge, oder ich verstehe mich nicht darauf.
Sie scheinen mir einbraverBursche zu sein, sagte Danglars, und der Teufel soll mich holen, ich wüßte etwas, Ihre Pein zu enden, denn…
Was meinen Sie? sagte Fernand, begierig, weiteres zu hören.
Was sagte ich? Ich weiß es nicht mehr! Durch diesen Trunkenbold von Caderousse habe ich den Faden meiner Gedanken verloren. Caderousse hatte den letzten Vers eines damals sehrbeliebten Liedes zu singen angefangen:
Alle Sünder trinken Wasser, Wie die Sündflut unsbeweist…
Sie sagten, mein Herr, versetzte Fernand, Sie wüßten etwas, meine Pein zu enden; dann fügten Sie hinzu…

 

Ja, denn es genügt dazu, scheint mir, daß Dantes nicht die heiratet, die Sie lieben, und die Heirat kann, denke ich, wohl unterbleiben, ohne daß Dantes stirbt.
Der Tod allein wird sie trennen, erwiderte Fernand.
Sie urteilen wie eine Schnecke, mein Freund, sagte Caderousse, und Danglars hier, der ein feinerBursche, ein Schlaukopf, ein wahrer Grieche ist, wird Ihnenbeweisen, daß Sie unrecht haben. Beweise es ihm, Danglars, ich habe mich für dich verbürgt. Sage ihm, es sei nicht nötig, daß Dantes sterbe, Überdies wär' es schade, wenn Dantes stürbe, er ist ein guter Kerl… ich liebe ihn… auf Dantes' Gesundheit!
Fernand erhobsich ungeduldig.