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Informationen zum Buch
Ein Polit-Krimi über das Massaker von Celle
Informationen zur Autorin
Cornelia Kuhnert, Jahrgang 1956, hat in Hannover studiert und viele Jahre in Burgdorf als Lehrerin gearbeitet. Mittlerweile wohnt sie in Isernhagen. Seit 2005 veröffentlicht sie Kriminalgeschichten und Kriminalromane. Bei zu Klampen veröffentlichte sie zuletzt in der Anthologie »Der Ring der Niedersachsen« (2010).
Cornelia Kuhnert
Tödliche Offenbarung
Kriminalroman
zuKlampen!
©2011 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe
info@zuklampen.de · www.zuklampen.de
Herausgegeben von Susanne Mischke
Umschlaggestaltung: Stefan Hilden, München
www.hildendesign.de
Umschlagmotiv: © HildenDesign, tilla eulenspiegel / photocase.com
Konvertierung: Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
ISBN 978-3-86674-128-7
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.
»… bislang war das ja mehr ein Spaß, wenn es auch manch einem nicht so vorkam, dem wir das Luftholen abgewöhnten; jetzt aber hört sich die Gemütlichkeit auf. Wehrwölfe waren wir; jetzt müssen wir Beißwölfe werden. Der Wulfsbauer denkt genauso, Drewes. Wer heute nicht zubeißt, der wird gebissen.«
Hermann Löns,
Der Wehrwolf, S. 122
Gespenstische Stille liegt über dem Staatsforst Lohne, nur von der Schneise, die die Autobahn durch den Wald schlägt, steigt der monotone Singsang der Reifen hoch. Die Rehe haben sich längst daran gewöhnt. Unbeeindruckt stehen sie am Wegesrand und äsen. Plötzlich hebt ein Rehbock sein Haupt. Jede Faser seines Körpers spürt die sich nähernde Bedrohung. Ohne zu zögern, flüchtet das Tier mit hohen Sprüngen ins Dickicht hinter dem Schlagbaum. Noch bevor das Motorrad die Stelle erreicht, wo der Bock gestanden hat, ist auch von den anderen Rehen nichts mehr zu sehen.
Henry Broderich hat es nicht eilig. Mit geringer Geschwindigkeit tuckert er über das holperige Kopfsteinpflaster des Alten Postwegs, das speckig im Licht des Vollmondes glänzt. Vor der Wegkreuzung zum Golfclub Isernhagen wird er noch langsamer und hält schließlich. Broderich steigt ab und sieht sich nach allen Seiten um. Es ist niemand zu sehen. Ein zufriedenes Lächeln umspielt seine schmalen Lippen. Heute ist sein Tag – das hat er schon beim Aufwachen gewusst.
Das ins fahle Mondlicht getauchte Mausoleum aus der Gründerzeit steht zurückgesetzt auf der anderen Straßenseite, die floralen Verzierungen der Vorderfront schimmern hell im nachtschwarzen Wald. Broderich mag den steinernen Fremdkörper. Vielleicht, weil es mit seinem abgerundeten |8|Kupferdach genauso wenig hierher passt wie er in das Leben, das er führt. Bisher geführt hat.
Entschlossen überquert er den Vorplatz der Grabstätte. Erst auf der Rückseite des Mausoleums bleibt er stehen. Er lauscht. Alles ist ruhig, nur ab und zu hört man den Schrei eines Käuzchens. Broderichs Blick streift die quadratischen Sandsteine, die im unteren Teil zu einem Bogen geformt sind. Er beugt sich vor und tastet sie mit den Fingerspitzen ab. Sie sind glatt, nur einer hat eine Aufrauung. Als er den losen Stein aus dem Mauerwerk zieht, tritt ein Schatten hinter der dickstämmigen Eiche hervor.
»Unser lieber Herr Herzog, den Gott erhalten möge, hat uns wissen lassen, wir sollen zusehen, daß wir uns wehren sollen, wie wir irgend können, und alle Hundsfötter, die hier nicht hergehören, totschießen wie tolle Hunde.«
Der Wehrwolf, S. 49
Samstagmorgen gegen acht wacht die Eilenriede auf. Die Menschen strömen in Sportschuhen und Trainingshosen auf Hannovers Stadtwald zu, stehen unruhig dribbelnd am Straßenrand und warten darauf, dass die Fußgängerampel auf Grün schaltet und sie losspurten können. Einer von ihnen ist Hauptkommissar Max Beckmann. Gestern Morgen hatte er lange suchen müssen, bis er seine Laufschuhe schließlich in einer der Umzugskisten fand, die er bei der letzten Versetzung erst gar nicht ausgepackt hatte. Zerdrückt und vergessen lagen sie ganz unten im Karton. Beckmann zog sie dort erst heraus und dann an. Er kam nicht weit. Zwei Etagen tiefer begannen die Schaumsohlen auf der Treppe zu bröseln, im Hauseingang lösten sich bereits Teile der Sohle vom Schuh. Statt zu joggen, machte sich Beckmann vorm Dienst noch in ein nahe gelegenes Sportgeschäft auf.
»Supernova Cushion«, raunte ihm der Verkäufer zu. »Super Dämpfung, perfekt für längere Asphaltläufe und hohes Lauftempo. Kann ich nur empfehlen, es sei denn, Sie haben Platt- oder Senkfüße.«
Die hat er nicht – und längere Läufe und höheres Tempo strebt er an. Also bewegt sich Beckmann jetzt im Pulk der Jogger, erhöht sein Schritttempo in Höhe der Hohenzollernstraße und steuert auf den Lister Turm zu. Kurz davor geht ihm die Luft aus, schnaufend lehnt er sich an einen Baum. Seine Lunge sticht. Ob das wirklich gesund ist? Er beugt |12|sich vor, atmet ein und aus, sein Pulsschlag beruhigt sich nur langsam. Mit gleichmäßigen Schritten geht er den breiten Asphaltweg zurück, dann beschleunigt er erneut sein Tempo. Die nächsten hundert Meter hat er schnaufend hinter sich gebracht, als eine Gruppe von Joggern in bunter Kleidung auf ihn zurollt. Wer ausweicht, hat verloren. Beckmann gibt trotzdem nach und macht einen Schritt zur Seite. Der Jogger im pinkfarbenen Nylon auch, doch von hinten prescht ein Inlinefahrer heran und schlägt einen Haken. Ein spitzer Ellenbogen rammt Beckmann, er strauchelt und reibt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Rippen. Wie hat er bloß glauben können, dass er der Einzige sei, der mit einer Joggingrunde in diesen strahlenden Sommertag startet? Noch dazu, wo es tagsüber so heiß werden soll, dass man am liebsten in der kühlen Wohnung bleiben würde – wenn man denn eine hätte.
Beckmanns neues Zuhause ist ein in den siebziger Jahren ausgebauter Wäscheboden in der Wedekindstraße. Dass die Wärmedämmung eines Daches nicht nur im Winter von Nutzen ist, daran hatte beim Ausbau niemand gedacht; er selbst bei der Besichtigung der Wohnung auch nicht. Die redegewandte Maklerin überzeugte ihn schnell von den unübersehbaren Vorteilen: »Ein so großzügiges Loft mitten in der List müssen Sie mit der Lupe suchen.«
Loft? Na ja. Die Wände zwischen den Zimmern und zur Küche fehlen, einzig das Badezimmer ist mit einer dünnen Sperrholzwand abgetrennt, durch die man alle Geräusche hört, sogar die, die man am Küchentisch nicht hören möchte. Vor sechs Wochen hatte ihn das nicht weiter gestört, da wollte er nur noch weg aus Burgdorf, dieser Kleinstadt, wo |13|jeder jeden kennt und ihm die Luft zum Atmen fehlte. Nein, das stimmt nicht. Er fängt schon wieder an, sich etwas vorzumachen, die Dinge so zu verdrehen, wie sie ihm passen. Eigentlich hatte Beckmann sich zum Schluss ganz wohl dort gefühlt. Mit seinen Kollegen Borgfeld und Streuwald war er bestens klargekommen – und auch sonst: der Biergarten auf dem Spittaplatz, die Abende mit Martha im Dorfkrug. Martha. Genau das war der Haken.
Sofort sieht er sie vor sich: Dunkle, halblange Haare, volle, geschwungene Lippen, grüne Augen, ihr Grübchen in der rechten Wange, wenn sie lacht. Dieses Lächeln, diese Stimme. Schluss. Er hat es vermasselt. Keine Entschuldigung, die hat er nicht verdient. Aber ein bisschen Nachsicht. Er zieht das Handy aus der Hosentasche und tippt unter Favoriten auf »M«.
Nach dem dritten Klingeln springt die Mailbox an.
Uwe Zwingel sieht auf die Uhr. Viertel nach acht. Gleich hat er diese Schnupperkursstunde hinter sich gebracht.
»Ganz locker schwingen. Die Augen sind nach unten gerichtet. Die Füße stehen fest, die Schulter dreht sich, dann die Hüfte … und nun mit Schwung durch den Ball ziehen.«
Marthas Arm schwingt mit dem siebener Eisen nach oben, verweilt einen Augenblick in Schulterhöhe, saust kraftvoll nach unten und – bleibt in der Grasnarbe stecken. Verdammt. Sie reibt sich das schmerzende Schultergelenk. Wäre sie bloß im Bett geblieben.
|14|Der Golftrainer verzieht angesichts des Golfschlags den Mund und rümpft seine gerötete Nase.
»Schwingen, nicht hacken.« Anfänger zu unterrichten, ist eine Strafe Gottes. Kaum können es die einen, werden sie durch Neue ersetzt. Am schlimmsten sind die völlig Untalentierten wie diese hier.
»Und jetzt Sie.« Er wirft Beatrix Wacker, von allen nur Trixi genannt, einen deutlich wohlwollenderen Blick zu. Trixi, heute in kurzem weißen Rock und engem Poloshirt, holt aus und schwingt mit Hüftdrehung nach vorne. Ihr Ball fliegt gerade und weit.
»Das ist Golf.« Der Hauch eines Lächelns huscht über das Gesicht des Trainers.
Auch die Dritte im Anfängerkurs macht ihre Sache ordentlich, obwohl Roswitha Neumann alles andere als sportlich aussieht. Die kräftige Mittdreißigerin steht mit leicht gebeugten Knien vor Martha, holt aus und befördert den Golfball mit Schwung in die Luft, allerdings landet er weit rechts im undurchdringlichen Buschwerk.
»Das wird schon.« Zwingel wirft einen Blick auf die Uhr. Noch fünf Minuten, dann hat er es geschafft.
»So, nächster Versuch.«
Zum hundertsten Mal fragt Martha sich, warum sie sich von ihrer Kollegin Trixi zu diesem Golfkurs hat überreden lassen und findet nur stereotype Antworten: Sport bringt auf andere Gedanken, Bewegung vertreibt Trübsinn. Kraft durch Freude.
Martha spannt ihren Körper an und fixiert den Golfball zwischen ihren Füßen. Wie von alleine heben und senken sich ihre Arme, gleitet der Schläger mit sattem Schmatzen |15|über den Rasen und nimmt den Ball mit. Als Martha nach der Drehung den Kopf hebt, sieht sie ihn nach wie vor in der Luft, erst an der 100 Meter Marke landet er und hoppelt auf der mit weißen Übungsbällen übersäten Driving Range noch ein Stück weiter.
»Na, geht doch.« Zwingel pfeift durch die Zähne. »Den Schlag speichern Sie jetzt im Gedächtnis ab. Wir machen Schluss für heute.«
»Ich geh schon vor.« Trixi hat es eilig, ihre Blase drückt.
Die beiden anderen packen in aller Ruhe ihre Eisen ein, danach schieben auch sie die Golfbags über den schmalen Weg zum Clubhaus.
»Was für ein herrliches Wetter. Ich glaube, ich gehe noch eine Runde schwimmen«, verkündet Roswitha. »Hast du Lust mitzukommen?«
Martha schüttelt den Kopf. Ihre weitere Tagesplanung steht fest: Noch eine Tasse Kaffee und dann ab an den Schreibtisch.
»Gestern hatte ich Besuch von einem etwas verhuschten Typen aus Celle. Seine Großmutter ist vor Kurzem gestorben und er löst zurzeit ihren Haushalt auf. Dabei hat er eine Interviewsammlung aus den fünfziger Jahren gefunden. Er meint, dass der Text Sprengstoff enthält. Vielleicht könntest du mal einen Blick …«
Weiter kommt Martha nicht. Kreidebleich stolpert ihnen Trixi entgegen. Die Hand vor den Mund gepresst, stottert sie: »Ddda … «
Trixi dreht sich um und zeigt zu dem Holzhaus, in dem die Golfgerätschaften abgestellt und eingeschlossen werden.
»Da hinten«, bringt sie endlich heraus.
|16|Martha kann dort nichts Besonderes entdecken. Der steinerne Waschtrog zum Säubern der Schläger ist mit Wasser gefüllt, die robusten Bürsten zum Abputzen der Schuhe stehen daneben. Alles ist wie immer. Die Luftdruckpistole hängt ordnungsgemäß an der Wand, nur Trixis umgefallenes Golfbag stört die normale Ordnung – ihre Golfbälle sind in alle Richtungen gerollt.
»Was soll da sein?« Martha verdreht die Augen. Typisch Trixi, nie zieht sie die Reißverschlüsse ihrer Taschen zu.
»Um die Ecke«, presst Trixi hervor. Ihr ausgestreckter Zeigefinger weist zum Caddyhaus.
Martha geht zu dem mit feinem Grasschnitt übersäten Reinigungsplatz. Von dort aus kann sie um die Ecke gucken. Vor dem Schuppen steht eine Holzbank. Darauf lümmelt ein Mann in schwarzer Lederjacke, den Kopf in den Nacken gelegt. Aus einem unerfindlichen Grund bleiben Marthas Augen an seinen Cowboystiefeln hängen, weiße, spitze Exemplare mit schwarzen Streifen und breitem Absatz. Martha starrt die Stiefel an, als wenn die ihr die Antwort geben könnten, warum der Mann mit den weit von sich gestreckten Beinen auf der Bank sitzt. Vielleicht kann sie den Blick auch nicht von ihnen lösen, weil die Füße so weit weg sind von dem Gesicht, vor dem sie Angst hat, es näher zu betrachten.
»Ist da was?« Roswithas Ruf rüttelt sie aus ihrer Starre.
Marthas Augen wandern hoch. Sie registriert die dunkel verfärbte Gesichtshaut, sieht die leblosen Pupillen, die anklagend Richtung Himmel starren und den weit geöffneten Mund.
Die Stille des Großen Moors wird durch einen klagenden Schrei eines Raben durchbrochen. Felix Rinsing zuckt erschrocken zusammen. Sein Herz schlägt vor Angst bis zum Hals. Er hätte nicht allein kommen sollen, das spürt er genau. Was ist, wenn sie ihn entdecken?
Über ihm raschelt das Laub der Birken, einzelne gelbe Blätter segeln im sanften Luftzug auf ihn herab. Die anhaltende Trockenheit im August setzt den Bäumen zu. Erneutes Kreischen. Er lauscht. Das ist direkt über ihm. Felix hebt langsam den Kopf und entdeckt den Greifvogel, der seine Bahnen oben am Himmel zieht. Erleichtert atmet er auf und starrt wieder an der Seite des Schlehengebüschs vorbei zum Haus. Langsam beruhigt sich sein Herzschlag.
Das ehemalige Landschulheim der Region Hannover ist ein rechteckiges Fachwerkgebäude mit zwei Etagen. Das Ziegeldach sieht marode aus. Die Wände könnten einen Anstrich vertragen, genau wie die quadratischen Fenster, vor denen vergilbte Gardinen hängen. Die hölzerne Eingangstür wird von zwei beflaggten Masten eingerahmt.
Rechts neben dem Hauptgebäude steht ein eingeschossiger, lang gezogener Flachbau aus den dreißiger Jahren, erstellt in einfachster Bauweise.
Ein durchtrainierter junger Mann um die zwanzig mit Springerstiefeln und rasiertem Schädel lehnt sich in seiner wattierten Fliegerjacke an eine der Fahnenstangen und raucht eine Zigarette. Auf dem Rücken seines Blousons prangt ein Totenkopf aus dem grellrotes Blut läuft. Immer wieder wischt sich das Muskelpaket den Schweiß von der |18|Stirn. Kein Wunder, dass er schwitzt, es sind schon jetzt mindestens zwanzig Grad im Schatten.
Die schwere Holztür quietscht. Zwei Jungen kommen heraus. Beide haben blonde, nicht allzu kurze Haare mit Seitenscheitel. Über schwarzen Jeans tragen sie dunkle T-Shirts. Bei dem einen ist die Zahl 88 groß auf den Rücken gedruckt, bei dem anderen die 18.
Ein weiterer Druck auf den Auslöser der Digitalkamera und Felix hat alle auf seinem Chip festgehalten.
Gut gelaunt öffnet Walter Streuwald die Tür seines Dienstzimmers, das er sich seit ewigen Zeiten mit Dieter Borgfeld teilt.
»Mahlzeit!«
»Morgen.« Borgfeld hebt kurz den Kopf und blinzelt mürrisch. Mit einem Bleistift zieht er eine gerade Linie in sein Notizbuch. Dann fischt er sich eine Karotte aus der Plastiktüte und legt sie quer über die aufgeschlagene Seite.
»Das ist jetzt schon eine Hitze draußen. Sollen heute mehr als 30 °C werden.« Streuwald zieht seine blaue Uniformjacke aus und hängt sie an den Haken neben der Tür, ohne einen Blick auf seinen Kollegen zu werfen.
»Wird bestimmt ein ruhiges Wochenende. Um zwei habe ich Anpfiff, da musst du dann mal auf mich verzichten. Ist zwar nur ein Freundschaftsspiel, aber gegen Heeßel.« Streuwald wirft Borgfeld einen viel sagenden Blick zu. »Du weißt |19|ja, wie wichtig das für mich ist. Die Jungs aus Heeßel hätten uns letztes Jahr fast geputzt.«
»Hmm«, kommt es grummelnd aus der anderen Ecke des Raums. Borgfeld starrt immer noch auf das Notizbuch. Schließlich nimmt er seinen Kugelschreiber und schreibt unter die akkurat gezogene Linie: Frühstück 0 Punkte.
Streuwald will noch etwas sagen, hält aber den Mund, als er Borgfeld Auge in Auge mit der Mohrrübe sieht. Seit Borgfeld diese Diät macht, hat er zwar fünf Kilo abgenommen – sein sonst unerschütterlicher Humor ist dabei jedoch auf der Strecke geblieben. Selbst für ein Feierabendbier fehlt ihm die Lust. Das könnte Streuwald nie passieren. Ein Bier nach dem Training am Freitagabend ist Pflicht. Zwei sind die Kür. Bei dreien möchte er seine Kollegen von der Verkehrspolizei lieber nicht mehr treffen. Schon gar nicht nach vieren wie gestern Abend, als er an der Theke zum wiederholten Mal alle Höhepunkte des Spiels der ersten Herren gegen Hannover 96 zum Saisonauftakt mit dem Platzwart hat Revue passieren lassen. Zwei Tore von Mike Hanke – das hat man lange nicht gesehen. Dann der Anschlusstreffer von Maxime Menges zum 1: 2. Super Schuss. Gut, danach überrumpelten die Spieler aus Hannover den RSE. Stindl, Haggui, Schlaudraff, Forsell: Alle trafen. Selbst die, die sonst immer daneben schießen. Zum Glück war Alexander Homann zur Stelle. Der Torhüter des RSE parierte den Foulelfmeter von Hanke. Wenn man ehrlich ist, hatte er sich den allerdings selbst eingebrockt. Aber alles in allem war das Spiel gut. Und mit dem Endstand von 1: 6 kann man leben. Mal sehen, wie es in dieser Saison weitergeht. Der Trainer ist zuversichtlich. Der Vereinsvorsitzende auch. Was kann da noch schief gehen? |20|Versöhnt mit diesen Gedanken, stützt Streuwald sich mit den Armen auf Borgfelds Tisch ab.
»Was gibt’s Neues?«
»Neues?«, brummt Borgfeld und starrt weiter auf sein Notizbuch.
Streuwald kneift die Augen zusammen und poltert los: »Was ist eigentlich mit dir los? Du muffelst mich hier am frühen Morgen an, als wenn ich dir sonst was getan hätte. Ich hab doch nur gesagt, dass ich heute Nachmittag mal kurz weg muss.«
Borgfeld schaut auf. »Nichts ist los.«
Streuwald glaubt ihm kein Wort. Er schaut auf die Uhr. Kurz vor halb neun. Der ganze Tag liegt noch vor ihnen – und dann diese miese Laune.
»Haben sie dir das Knäckebrot etwa auch noch gestrichen?«, stichelt er in einem Tonfall, von dem er genau weiß, dass Borgfeld ihn nicht ausstehen kann.
»Wieso?«, blafft dieser auch sofort zurück.
»Weil du die Mohrrübe so böse anstarrst. Die hat dir doch nichts getan.«
Kommissar Dieter Borgfeld blinzelt seinem Kollegen missmutig zu. »Ist ja schon gut, Walter. Du hast gewonnen. Ich muss heute sechs Punkte einsparen, noch besser acht oder zehn.« Er seufzt laut. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte. Aber Maria meint, dass ich jetzt nicht aufgeben darf. Der Anfang ist immer …«
Nicht schon wieder, stöhnt Streuwald auf. Seit Wochen geht das nun schon so. Er kann dieses Diätgequatsche über Punkte nicht mehr hören. Natürlich hat Borgfeld einen Bauch, aber so dick ist er nun auch wieder nicht, dass seine |21|Frau ihn jede Woche zu den Weight Watchers auf die Waage schleppen muss.
»Maria meint, dass ich …«
»Und sonst?«, unterbricht Streuwald ihn.
»Wie sonst?«, muffelt Borgfeld ihn an. »Ich habe dir doch gerade erklärt, dass Maria …«
»Ich meine, was ist sonst so? Wie läuft’s zum Beispiel mit deinen Kindern?«
»Wie soll’s schon laufen? Zuhause ist Nahkampf angesagt. Alexander ist mitten in der Pubertät. Seit der sechzehn ist, ist der überhaupt nicht mehr ansprechbar. Furchtbar ist das mit dem. Sonja ist zwar mittlerweile achtzehn und man sollte glauben, die sei damit durch, aber von wegen. Die ist nach wie vor unberechenbar. Wegen jeder Kleinigkeit zickt sie rum. Maria und sie streiten ständig. Über alles.« Borgfeld knabbert mit langen Zähnen an der Spitze seiner Möhre und wirft Streuwald einen nach Mitleid heischenden Blick zu. »Erst gestern Morgen gab es wieder Streit am Frühstückstisch. Das musst du dir mal vorstellen: Alexander sitzt schon vor dem Frühstück am Computer. Hat nicht mal Zeit, in Ruhe seinen Kakao zu trinken. Angeblich muss er was ernten.« Borgfeld tippt sich mit dem Finger an die Stirn. »Ernten am Computer? Und so einen Schwachsinn muss ich mir vorm Dienst anhören! Wo soll das noch hinführen? Überhaupt hängt der Bengel nur noch am Computer und …«
Es folgt eine lange Tirade von Borgfeld über die Probleme mit seinen heranwachsenden Kindern. Streuwald verflucht sich, dass er seinen Kollegen danach gefragt hat. Wie blöd ist er heute Morgen eigentlich? Pubertät ist das zweite Lieblingsjammerthema |22|von Borgfeld – und ein weiteres Problem, für das Streuwald kein Verständnis hat. Für ihn ist die Sache ganz einfach. In dem Alter wissen die Burschen einfach nicht wohin mit ihrer Kraft. Das sieht er doch ständig auf dem Fußballplatz.
Streuwald verschränkt die Arme vor seinem Bauch.
»Jetzt hör mir mal zu, Dieter. Die Sache ist doch ganz einfach: Deine beiden müssen mehr Sport treiben. Bewegung bringt die Hormone ins Gleichgewicht – und schon ist alles im Lot.« Streuwald geht zu seinem Schreibtisch, öffnet die oberste Schublade und holt einen Block heraus. »Ali war ewig nicht beim Fußballtraining. Darüber solltest du dir Gedanken machen.« Der Vorwurf in seiner Stimme ist nicht zu überhören.
»Keine Zeit. Q 1«, nuschelt Borgfeld, der sich den Rest der Möhre in den Mund geschoben hat. Er kaut zu Ende und schluckt dann alles auf einmal herunter.
»Erster Jahrgang in der Qualifikationsphase. Abitur nach acht Jahren«, erklärt er, als er Streuwalds fragenden Blick auffängt. »Er hat an drei Tagen bis Viertel vor vier Schule, und an den anderen bis halb drei. Danach noch Hausaufgaben. Da bleibt keine Zeit für andere Sachen. So sieht das aus.«
»Überall das Gleiche«, stöhnt Streuwald. »Wenn das so weiter geht, kriege ich meine Mannschaft nicht mehr voll. Letzte Woche waren bloß acht Jungs beim Training. Wie sollen wir da gegen Heeßel gewinnen?« Er rückt den Vereinswimpel des RSE liebevoll zur Seite, als das Telefon klingelt.
»Polizeiinspektion Burgdorf, Kommissar Streuwald«, bellt er in den Hörer. Schweigend hört er eine Weile zu, dann räuspert er sich: »Wir kommen.«
Martha starrt ihr Handy an. Ihre Hand zittert. Die Minuten kriechen dahin, ohne dass eine der Frauen einen Ton sagt. Selbst Trixi, die sonst immer vor sich hin brabbelt, wenn sie nervös ist, hält den Mund. Hoffentlich kommt die Polizei bald, ist das Einzige, was Martha durch den Kopf geht. Jemand soll kommen und die Verantwortung für den Mann auf der Bank übernehmen. Soll alles regeln.
Martha schaut ungeduldig zur Einfahrt des Golfclubs. Immer noch kein Polizeifahrzeug in Sicht. Wie lange brauchen die denn?
Von der Zufahrtsstraße hört Martha Motorengeräusche. Endlich. Doch statt eines Polizeifahrzeuges fährt ein älteres Mercedesmodell auf den Parkplatz. Ein Mann in kurzer Hose und Polohemd steigt aus. Fröhlich pfeifend nähert er sich mit zügigem Schritt den drei Frauen, die immer noch betreten schweigend vor dem kleinen Holzhaus stehen.
Wilfried Dreyer, besser gesagt, der emeritierte Professor Doktor Wilfried Dreyer, freut sich auf eine entspannte Golfrunde, bevor es voll wird auf dem Platz. Er ist schon spät dran, obwohl er unter dem Protest seiner Gattin auf das gemeinsame Frühstück im Garten verzichtet hat. Das wird sie ihm noch heute Abend unter die Nase reiben. Sei’s drum. Für eine Golfrunde bei herrlichstem Wetter nimmt er das in Kauf.
»Guten Morgen, die Damen. Ist das nicht ein herrliches Golfwetter. Nichts, wie schnell auf den Platz.«
»Das geht nicht«, presst Martha zitternd heraus.
|24|Wilfried Dreyer starrt sie ungläubig an und geht weiter.
Martha breitet ihre Arme aus wie das Berliner Ampelmännchen bei Rot und verbaut ihm den Weg.
»Na, hören Sie! Lassen Sie mich jetzt bitte in den Caddyraum. Ich möchte meine Sachen holen.« Sein Tonfall hat die freundliche Sonntagsstimmung verloren. Er ist gekommen, um Golf zu spielen und davon lässt er sich nicht abhalten.
»Das geht nicht.« Martha sieht sich hilfesuchend nach Trixi und Roswitha um, doch die starren nur zum Schuppen, ohne sich zu regen.
»Was soll der Blödsinn? Ich will jetzt in den Caddyraum …«
»Bleiben Sie stehen!« Martha stellt sich ihm erneut in den Weg. »Da hinten …«
»Erlauben Sie mal, junge Frau, was ist das für ein Ton?«, unterbricht er sie aufgebracht. »Ich bin seit Jahren Mitglied in diesem Club, aber so etwas ist mir noch nie passiert.«
»Das geht nicht. Bitte bleiben Sie stehen bis die …«
»Was reden Sie da für einen Unsinn!« Wutschnaubend macht Dreyer einen Schritt auf das Caddyhaus zu, aber Martha stellt sich ihm erneut in den Weg.
»Stopp! Die Spuren dürfen nicht verwischt werden.«
In diesem Moment kommt Uwe Zwingel von der Driving Range und nähert sich gemächlich der Gruppe.
»Was gibt es denn?« Sein jovialer Ton beruhigt Dreyers Gemüt augenblicklich.
»Uwe, gut, dass du da bist. Diese Frau da, die redet wirres Zeug.«
Der Trainer verzieht das Gesicht. Schon wieder die Landeck. Hoffnungsloser Fall. Der erste gute Golfschlag ihres |25|Lebens – und schon ist er ihr zu Kopf gestiegen. Manche sollten es einfach sein lassen.
»Frau Landeck, nun machen Sie bitte Platz. Bei diesem herrlichen Sommerwetter …«
In diesem Moment fährt der Einsatzwagen mit Blaulicht über den Fußweg zum Caddyhaus.
Ein Blick hinter den Schuppen reicht Streuwald, um zu wissen, dass sie keinen Notarzt mehr zu rufen brauchen. Der Mann auf der Bank ist tot, und nicht erst seit ein paar Minuten. Ohne eine Gefühlsregung zu zeigen, mustert Streuwald das Gesicht des Mannes. Er ist mindestens vierzig, vielleicht sogar fünfzig Jahre alt. Seine groben Gesichtszüge sind bläulich verfärbt. Blut ist nicht zu sehen, aber die dunklen Flecken am Hals sprechen eine deutliche Sprache.
Streuwald dreht sich zu Borgfeld um und ruft: »Dieter, ruf in Hannover an. Das hier übersteigt unsere Zuständigkeit.«
Sonja Borgfeld öffnet die Tür des backsteinernen Reihenhauses in Burgdorf.
»Du?«
Überrascht mustert sie Felix. Die beiden sehen sich sonst nur selten. In der Pausenhalle des Gymnasiums, im Politikkurs oder bei den Treffen im Dorfkrug. Dort sitzt er stets in der letzten Reihe und sagt nichts. Trotzdem ist er mit seinen dunklen Locken nicht zu übersehen.
|26|»Die haben schon ihre Fahne gehisst«, sagt Felix, außer Atem vom Sprint auf dem Fahrrad.
»Woher weißt du das?«
»Ich war draußen.« Felix lächelt Sonja stolz an. Mein Name ist Bond, Felix Bond. Er hatte getan, was getan werden musste. Seine Angst ist längst vergessen.
»Komm ins Haus«, murmelt Sonja. Ich habe gerade einen Tee gekocht.
Zufrieden hält Felix wenig später eine heiße Tasse Tee in der Hand, obwohl er lieber eine kalte Cola getrunken hätte. Immerhin steht er neben Sonja in der Küche, kann sie ansehen, mit ihr reden.
»Mit wem warst du da?« Sonja trinkt den grünen Tee in kleinen Schlucken
»Mit keinem.«
»Du warst da allein?« Beunruhigt flattern Sonjas Augen hin und her. »Wir haben gestern gesagt, dass niemand alleine zu denen gehen soll.«
Felix sieht sie überrascht an. »Wir haben aber auch gesagt, dass wir irgendwas unternehmen müssen, dass man nicht immer nur reden und lamentieren kann. Du vorneweg.«
Stimmt. Sie ist es gewesen, die alle angestachelt hat, endlich etwas zu tun. Seit zwei Monaten gibt es jeden Freitag im Nebenzimmer des Dorfkruges diese Treffen: Einziges Thema ist das ehemalige Landschulheim hinter dem Segelflughafen, das in ein Schulungszentrum für die Partei der »Aufrechten Deutschen« umgewandelt werden soll. Sonja selbst geht die Idee mit den Mahnwachen nicht weit genug, aber immerhin soll der Protestauflauf schon Sonntag losgehen.
»Hier.« Felix schaltet seine Digitalkamera an und hält sie |27|Sonja hin. »Überspiel das auf deinen Rechner, vielleicht können wir damit etwas anfangen.«
»Komm mit in mein Zimmer.«
Bücher stapeln sich in der einen Ecke von Sonjas Zimmer, getragene Anziehsachen in der anderen. An den Wänden hängen Fotomontagen mit Bildern ihrer Freundinnen, Werbezettel und alte Eintrittskarten. Das Bett ist nicht gemacht, der Papierkorb quillt über. Auf dem verstaubten Schreibtisch stapeln sich Hefte, CDs und DVDs. Sonjas Zimmer besticht wie immer durch Chaos. Alle Versuche ihrer Mutter, eine Ordnung herzustellen, sind in den letzten Jahren gescheitert. »Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen.« Mit solchen Antworten treibt Sonja ihre Mutter an den Rand des Wahnsinns. »Manches wächst sich von alleine aus«, ist deshalb seit Monaten die stumme Durchhalteparole von Maria Borgfeld.
Sonja drückt auf den Startknopf ihres Rechners und schiebt einen zweiten Stuhl vor den Schreibtisch.
»Das dauert noch einen Moment, der Computer braucht immer ewig.«
»Ich hab Zeit.« Felix sieht Sonja direkt in die Augen. »Sind ja Ferien.«
Sonja senkt verlegen den Blick und sucht in der Schreibtischschublade nach dem Überspielkabel, von dem sie genau weiß, dass es hinter dem Stapel alter Zeitungen liegt. Als die Röte in ihrem Gesicht verflogen ist, zieht sie es dort hervor.
»Da ist es.«
Sie hält das Kabel mit einer triumphierenden Geste hoch.
»Dann leg mal los.« Ihre Stimme strahlt wieder ihre gewohnte Selbstsicherheit aus.
Auf dem Monitor erscheint kurz darauf das erste Bild. Vor |28|dem Flachdachgebäude flattern zwei Reichskriegsfahnen mit schwarzem Kreuz, in der Mitte ein Kreis mit Reichsadler, in der linken oberen Ecke das Eiserne Kreuz auf schwarz-weißrotem Hintergrund. Das nächste Bild zeigt den Blonden mit der 18 auf dem Rücken. Er spritzt mit einem Hochdruckreiniger die offene Ladefläche eines dunkelgrünen Autos ab. Ein Klick und der Blonde steht mit einem anderen rauchend vor der Tür.
»Die haben die ganze Zeit miteinander geredet. Sah fast aus wie ein Streit.«
»Konntest du was verstehen?«
»Nein, so dicht habe ich mich nicht herangetraut.«
Nicht herangetraut. Schon als Felix die ersten Worte sagt, würde er sich am liebsten ohrfeigen.
»So gegen halb zehn kam dieser Wörstein heraus und sagte etwas zu denen. Sah aus wie ein Befehl. Plötzlich hatten sie es ganz eilig. Die beiden sprangen in den Wagen und fuhren davon.«
»Schade, dass du nicht mehr verstanden hast.« Ihr Mundwinkel zuckt enttäuscht. »Vielleicht wüssten wir dann, was die vorhaben.«
Felix zoomt den Jungen heran, der das Auto gewaschen hat. Die Ärmel seines Sweatshirts sind hochgeschoben, auf dem Unterarm kann man eine Tätowierung erkennen. Ein roter gerader Strich von ungefähr zehn Zentimetern Länge mit jeweils einem Haken oben und unten.
»Sieht aus wie ein Angelhaken«, murmelt Felix und betrachtet das Foto genauer. »Siehst du das?«
Sein Zeigefinger deutet auf das Gesicht des einen Jungen.
Sonja kommt dichter an den Monitor heran und ihre |29|Köpfe berühren sich fast. Beide sehen auf die breite Nase des etwa Gleichaltrigen, die von kräftigen Augenbrauen eingerahmt wird.
»Hier.« Sonjas Finger schnellt hervor und streift Felix’ Arm. »Bei dem einen Schneidezahn fehlt die Ecke.«
Felix zuckt bei der Berührung zusammen. »An irgendwen erinnert der mich.« Er starrt auf den Monitor. »Wenn ich nur wüsste an wen.«
»Mir sagt das Gesicht nichts. Aber vielleicht wissen die anderen ja mehr. Wir bringen die Fotos mit den Fahnen ins Netz, dann werden wir ja sehen.« Sonja gießt Felix Tee nach. »Außerdem mobilisieren wir damit garantiert noch mehr.«
»Und wie stellst du dir das vor?«
»Was ist mit facebook?«
»Glaubst du ernsthaft, dass einer von denen zur Mahnwache kommt? Die hocken doch nur vorm Computer und chatten rum.«
»Täusch dich da nicht, Felix. Ali hat eine große Anhängerschar. Bei farmville ist er auf level 32. Er ist der erfolgreichste farmer unserer Schule.« Sonja geht auf den Flur und ruft: »Ali, komm mal. Wir brauchen dich.«
Nichts rührt sich.
»Ali«, schreit Sonja aus Leibeskräften.
Endlich öffnet sich in der oberen Etage eine Tür. Alexander Borgfeld, genannt Ali, steckt den Kopf heraus.
»Was ist? Will Papa was von mir oder ist Mama schon zurück?«
»Papa hat Dienst und ist früh aus dem Haus – und Mama sitzt bis heute Nachmittag bei Edeka an der Kasse.«
Die Tür fällt schon vor dem Ende des Satzes krachend ins |30|Schloss. Wie der Blitz schießt Sonja die Treppe zum Zimmer ihres Bruders hoch, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Mit einem Ruck reißt sie die Tür auf.
»Du musst uns mit dem Internet helfen. Wir haben da so eine Idee für facebook.«
»Sag das doch gleich.«
Eine Stunde später sind der Parkplatz und das Caddyhaus des Isernhagener Golfclubs nicht wiederzuerkennen. Überall stehen Polizeifahrzeuge. Rotweiße Flatterbänder sperren das Gelände großflächig ab. Borgfeld, Streuwald und die Kollegen aus Hannover haben alles routiniert gesichert. Die Leute von der Kriminaltechnik sind bereits eingetroffen und packen ihre Sachen aus. Borgfeld wundert sich über den Apparat, den einer vorsichtig vor dem Bauch trägt.
»Was ist das?«
»Unsere neueste Anschaffung. Nennt sich Spheronkamera. Teures Stück, wir behandeln sie wie ein rohes Ei.«
Stolz deutet Thomas Harms auf das Gerät, das Streuwald an die Flutlichtanlage eines modernen Fußballplatzes in Miniaturform erinnert.
»Und wozu ist die gut?«
»Während der Aufnahme dreht sich die Kamera um 360°. Jedes kleine Detail wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln erfasst, ohne dass dabei eine Spur verloren geht. Am Computer bauen wir aus Tausenden von Bildern anschließend den Tatort virtuell nach.«
|31|»Dann kann ja nichts mehr schief gehen.« Borgfeld mustert die Kamera misstrauisch. Virtueller Tatort! Die kommen auf immer neue Sachen in Hannover. Er dreht sich achselzuckend um. Sollen sie doch. Ein Anflug von Trotz macht sich in ihm breit. Er bleibt bei den alten Methoden und lässt den Platz auf sich selbst wirken, versucht ihn mit allen Sinnen zu erfassen. Manchmal spricht ein Tatort, hat ihm Hauptkommissar Max Beckmann bei der Untersuchung ihres letzten Falles erklärt, als eine Tote hinter dem Isernhagenhof gefunden wurde.
Borgfeld sieht sich um. Der Platz zwischen Schuppen, Geräteunterstand und Buschwerk wirkt freundlich, ausladende Äste werfen Schatten auf den Rasen. Vögel zwitschern, Amseln, vielleicht auch Spatzen. Borgfelds Blick wandert zur Bank. Der Tote trägt eine gepolsterte Lederjacke, Jeans und Cowboystiefel. Ziemlich warme Sachen für die heißesten Tage dieses Sommers. Eigentlich sogar ungewöhnlich warme Kleidung für dieses Wetter. Borgfeld wartet darauf, dass ihm etwas auffällt, dass er eine Schwingung wahrnimmt. Nichts. Er schließt die Augen, konzentriert sich und startet den zweiten Versuch. Wieder spricht nichts zu ihm. Vielleicht ist die Sache mit der Kamera doch gar nicht so schlecht.
Plötzlich tippt ihm jemand auf die Schulter.
»Gestatten: Goldmann, ich bin der Präsident dieses Golfclubs.«
Die näselnde Stimme lässt Borgfeld zusammenzucken. Er dreht sich um und sieht in ein fleischiges Gesicht mit grauer Haartolle.
»Kommissar Borgfeld, Polizeiinspektion Burgdorf. Wir ermitteln in einem Todesfall.«
|32|»Todesfall? Bei uns?« Die Mundwinkel des grauhaarigen Mannes sinken herab.
»Genau. Hinter dem Schuppen liegt ein Mann. Vermutlich handelt es sich um Mord. Unser Rechtsmediziner kommt gleich, dann wissen wir mehr.«
»Mord?«, echot Goldmann und seine Augen wandern unruhig hin und her.
»Sieht so aus, aber Doktor Schmidt wird Genaueres dazu sagen können, wenn er sich den Toten angeschaut hat.«
»Wissen Sie schon, wer … es ist?«
Borgfeld schüttelt den Kopf und wundert sich über die blauen Kniestrümpfe des Mannes. »So weit sind wir noch nicht.«
»Kann ich ihn mir ansehen? Vielleicht ist es ein …«, Goldmanns Mund zuckt nervös, »ein Clubmitglied.«
»Ich darf niemanden näher heranlassen, bis alle verwertbaren Spuren gesichert sind. Dafür haben Sie bitte Verständnis.« Borgfeld holt sein Notizbuch heraus.
»Ich notiere mir schon einmal Ihren Namen. Goltmer, sagten Sie?«
»Nein, Goldmann, Georg Goldmann, wenn Sie mich brauchen, dann …«
Weiter kommt er nicht, denn in diesem Moment wird Borgfeld von dem Kollegen der Spurensicherung gerufen.
»Kommen Sie, das müssen Sie sich ansehen.«
Max Beckmann holt die Milchtüte aus dem Kühlschrank. In der Doppeltür des amerikanischen Modells spiegeln sich die offene Küche und der Wohnraum. Im kühlen blauen Licht des verchromten Edelstahls verdoppelt sich das lang gestreckte Zimmer. Manchmal glaubt Beckmann, sich in dem großen Raum zu verlieren. Auch die Kochinsel und die breite Sitzlandschaft, die der Vormieter ihm gegen ein geringes Entgelt überlassen hat, ändern nichts daran, im Gegenteil, sie betonen seine Einsamkeit noch. Seine Gesichtszüge verhärten. Er hat die Freiheit gewollt, jetzt hat er die Freiheit, einsam zu sein. Selbst Schuld.
Unschlüssig greift Beckmann zum Handy, dreht es hin und her. Ein Fingerdruck und die Wahlwiederholung baut die Verbindung auf. Es klingelt dreimal, bevor es in der Leitung knackt. Erneut meldet sich Marthas Mailbox.
Beckmann wärmt mit dem heißen Wasser seiner Espressomaschine die Cappuccinotasse vor, während die elektrische Kaffeemühle die Bohnen mahlt. Er schäumt die Milch auf und drückt den Kaffee in den Siebträger. Als der Sud endlich in die Tasse tropft, steigt der Geruch von Espresso in seine Nase. Martha hat es geliebt, wenn er ihr morgens den Kaffee ans Bett gebracht hat und der Duft ihm ein paar Meter vorauseilte. Martha. Er seufzt und setzt sich mit seiner Tasse in den abgewetzten Ledersessel, der vor dem Fenster steht. Wieder einmal hat er es vermasselt.
Kaum hat er ausgetrunken, startet er einen neuen Versuch mit dem Telefon. Es geht immerhin auf neun zu, so lange schläft Martha sonst nie. Wieder nichts. Vielleicht lässt sie |34|das Telefon einfach klingeln und nimmt nicht ab, weil sein Name auf dem Display erscheint. Oder sie ist nicht allein.
Beckmann starrt aus dem Fenster und beobachtet die auf dem Fußweg vorbei eilenden Menschen. Eine tiefe Traurigkeit überfällt ihn. Nicht das erste Mal in den letzten Tagen.
Er seufzt. Es hilft alles nichts. Langsam muss er den Tatsachen ins Gesicht sehen, dass Martha nichts mehr von ihm wissen will. Sie hat ihn aussortiert wie den abgetragenen Schuh vom letzten Sommer.
Beckmann geht zu seiner Musikanlage und bedient die Starttaste. Element of Crime. Er dreht die Lautstärke auf. Richtig schön war’s nur mit dir. Nein, das braucht er jetzt nicht. Ein Druck auf die Stopptaste und Sven Regener schweigt.
Beckmann hasst diese einsamen Wochenenden. Früher galten die freien Tage als der Höhepunkt der Woche. Er liebte es, die Zeit mit seinem Sohn zu verbringen, Hand in Hand mit Christopher durch den Zoo zu schlendern, seinem Geplapper zu lauschen und den kindlichen Gedankengängen zu folgen. Nach der Trennung von seiner Frau Miriam hat er ihn regelmäßig besucht. Doch dann ist sie mit Christopher nach München gezogen. Seitdem ist es vorbei mit diesen spontanen Ausflügen. Zuletzt hat er seinen Sohn vor einem halben Jahr gesehen. Der Kleine nennt den Neuen seiner Ex jetzt Paps. Das hat Beckmann mehr getroffen, als er zugibt. Hat er sich deshalb entschlossen, den Jungen nicht weiter mit seinen Besuchen zu verwirren?
In stillen Stunden stellt er diesen Entschluss jedoch genauso in Frage wie vieles andere. Wie kann es angehen, dass jemand die vierzig überschritten und immer noch keine Linie |35|für sein Leben gefunden hat? Darüber wundert er sich nicht zum ersten Mal. Im Gegenteil. Die Abstände werden immer kürzer. Liegt es an seinem Beruf? Die Scheidungsrate bei Polizisten soll besonders hoch sein, genau wie die Selbstmordrate. Vielleicht hätte er einen anderen beruflichen Weg einschlagen sollen. Sein Kunstlehrer hat ihn in der Oberstufe immer aufgezogen: Junge, mit diesem Namen solltest du Maler werden. Nomen est Omen. Von wegen. Mit künstlerischer Kreativität ist es bei ihm nie weit her gewesen. Quer und anders zu denken, Dinge, die scheinbar nicht zusammen gehören, in Verbindung zu bringen, sie wie ein Puzzle miteinander zu verknüpfen, dazu hat er Talent. Er ist ein neugieriger Mensch, ein hartnäckiger Schnüffler. Penetrant verfolgt er aufgenommene Spuren. Er ist gerne Ermittler – das wird ihm immer klarer, je älter er wird. Die Arbeit gibt seinem Leben einen Sinn. Arbeit als Sinn des Lebens. So weit ist es schon mit ihm gekommen. Sein Vater, Arbeiter in einer Gummifabrik, hat immer gesagt: Ich arbeite, um zu leben. Bei ihm ist es umgekehrt. Er lebt, um zu arbeiten. Sei’s drum. Dann stürzt er sich eben in diese Arbeit. Davon hat er schließlich genug. Beckmann zieht den USB-Stick aus seiner Jackentasche. Darauf sind ein paar Dateien und heruntergeladene Seiten aus dem Internet, die er schon längst bearbeitet haben wollte. Doch gestern hatte ihm die Hitze die letzten klaren Gedanken aus dem Gehirn getrieben – oder besser gesagt, sein Kollege. Frank Rischmüller, mit dem er sich das Zimmer im Landeskriminalamt teilt, pries den ganzen Nachmittag über Hannovers Maschseefest in den höchsten Tönen an.
»Der erste Abend ist immer der Beste«, hatte er nicht nur |36|einmal behauptet und Beckmann schließlich zum Mitkommen überredet.
Neben der Bühne des NDR am Nordufer tranken Rischmüller und er das erste Bier. Die Musik schallte zu ihnen herüber und sie waren froh, als die wild herumhüpfende Sängerin einer Nachwuchsband endlich Pause machte.
»Was für eine Hitze. Ich hol uns noch ein Becks«, bot Rischmüller an. Nach der dritten Flasche an einem ruhiger gelegenen Bierstand gestand Rischmüller ihm, dass er den ganzen Haufen beim Landeskriminalamt seltsam findet.
»Die hätten unendliche Möglichkeiten und machen nichts draus.«
»Wie meinst du das?«
»Ach nur so.« Rischmüller warf ihm einen verschwörerischen Blick zu und strich sich mit einer langsamen, fast lasziven Bewegung die dunkelbraune Haarsträhne zurück, die ihm im nächsten Moment wieder vor die Augen fiel.
Mit jedem Bier, das dem ersten folgte, wurde das Treiben rund um den See lauter und ihr Gespräch offener. Es stieg an, schwoll ab, war ruhig und dann wieder unvermutet ernst. Die dröhnende Musik störte Beckmann zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr.
»Willst du kriminelle Machenschaften im Netz aufdecken, musst du den Gegnern eine Nasenlänge voraus sein – besser zwei«, philosophierte Rischmüller.
»Und was sagt der Datenschutz dazu?«, entgegnete Beckmann.
»Datenschutz?« Rischmüller kräuselte die Lippen, strich die widerspenstige Haarsträhne zurück und zuckte mit den Schultern. »Manchmal eröffnen sich interessante Perspektiven, |37|wenn man sich Zutritt zu fremden Systemen …«, er zögerte einen Moment, »… auf die eine oder andere nicht ganz legale Art verschafft. Außerhalb der Dienstzeit – versteht sich.«