Im Bann der Finsternis

 

Mercure - der Bote des Lichts

 

 

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Roman von Marc Short

 

 

 

 

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Die Namen und Handlungen sind frei erfunden.

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Erste Auflage 2016

© Coverbilder: Bigstockphoto

Covergestaltung: Bookdresses

© Bilder: Clipdealer (Engelsflügel, Fledermausflügel, Symbol Merkur, Symbol Mars, Würfel),

Bigstockphoto (Mercurius-Stab)

Lektorat: Verlag der Schatten

© Verlag der Schatten, 74594 Kressberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-946381-04-4

 

 

 

Lange konnte der Krieg zwischen Vampyren und Göttern verhindert werden. Jetzt, da die Menschheit nahezu ausgerottet ist, scheint eine Auseinandersetzung unvermeidbar.

Mercure, der Götterbote, will als Vermittler auftreten und mit den Halb-Vampyren ein Bündnis gegen die Vollblut-Vampyre schmieden.

Dabei kommt er der Vampyrin Serenety, die ihm nicht nur seine Grenzen aufzeigt, sondern auch ein längst vergessen geglaubtes Feuer in ihm entfacht, gefährlich nahe.

Kann der Bote sich darauf einlassen, ohne seine Aufgabe aus den Augen zu verlieren? Ohne den Krieg damit erst recht zu provozieren? Ohne eine Verbannung aus der Götterkuppel zu riskieren?

Und wird Serenety sich auf seine Seite und damit gegen ihren Vater, den Vampyr-König, stellen?

 

 

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Danke an alle, die mich unterstützten und unterstützen, die an mich glaubten und glauben. Ihr habt mir die Kraft gegeben, die ich brauchte. Ihr habt mir Mut gemacht – gerade dann, wenn ich ein Tief durchlebte. Durch und mit euch ist mein Traum vom eigenen Buch wahr geworden. Daher nochmals mein DANK! Und hier ist es nun: mein erstes Buch, der Startschuss ins Autorenleben.

 

– Marc Short –

 

 

Inhalt

Prolog

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

Epilog

Vorschau

Autorenvorstellung

Buchempfehlungen

 

 

 

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Prolog

 

 

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Die nymphischen Fälle. Gewaltige Wassermassen stürzten dort inmitten des Dschungels über die Abbruchkante tosend in die Tiefe. Ich kniete am Rand einer Landzunge – wenige Meter davon entfernt – und sah nach oben. Nur ein Geduldeter durfte sie sehen, konnte ihre Kraft und Faszination erahnen. Und ein von einer Nymphe Gesegneter wie ich konnte sogar unter den Fällen stehen, ohne zertrümmert zu werden.

Ein Hauch von Ehrfurcht streifte mich. Das stetige Rauschen, der Sog und die Kälte des Wassers im Kontrast zur hinter dem Felsmassiv hervorstrahlenden Sonne ließen mich innehalten. Und vergessen.

Ich zog die Hand aus dem Nass, stand auf, löste mein Gewand, verbarg meinen Caduceus – einen Kurzstab – darunter und legte die Jagdstiefel ab. Nackt stieg ich in den klaren, nicht sehr tiefen See und ging auf den Wasserfall zu. Das kühle Element jagte ein Kribbeln über meinen Körper.

Kurz vor der Kaskade blieb ich stehen und schloss die Augen. Zuvor verweilten sie auf einem Punkt in der Ferne. Mir war nicht entgangen, dass mich eine Schar Nymphen beobachtete. Sie kicherten, hielten aber respektvollen Abstand. Nur eine nicht.

Kaltes Wasser ergoss sich auf mein Haar, trommelte auf meine Schultern und lief meinen Körper hinab, als ich unter den Katarakt trat.

Eine der Nymphen begann, zu singen. Ihre Stimme vermischte sich mit dem Rauschen des Wassers. Sie war so sanft, so leise und doch so stark, um dagegen zu bestehen. Ein zweites dieser nahezu unsterblichen Wesen stimmte mit ein.

Der Gesang entlockte mir ein Seufzen, und ich hatte das Gefühl, dass sie von Ankunft sangen, von Verführung und von der einen unter ihnen, die einen Lichten so sehr begehrte und doch Abstand von ihm halten musste.

Eigentlich ist nymphischer Gesang wie ein Gewebe aus Traum und Realität, aus Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Dieser war anders. Er handelte von etwas Persönlichem – von der Nymphe, die den Splitter der Liebe in sich trug.

Ich kannte diese Nymphe. Ich kannte sie gut. Vor vielen Jahren hatte ich wegen ihr unvorsichtig gehandelt. Weil ich verliebt gewesen war? Wollte ich ihr in meinem jugendlichen Wahn etwas beweisen? Ich kann es nicht mehr sagen.

Der Gesang brach ab. Selbst das Brausen des Wassers schien für einen Augenblick zu verstummen. Verwirrt schlug ich die Augen auf. Der Wind wehte seltsam unnatürlich. Über die Wasseroberfläche zogen Wellen, als würde ein Schiff langsam dahingleiten. Der Duft von Zitrone erfüllte die Luft.

»Cardea.« Meine Stimme war nur ein Hauchen.

Eine Nymphe, größer als die anderen und in voller Grazie aufgerichtet, kam auf mich zu. Je näher sie kam, desto mehr gab sie von sich preis. Ihr Körper glitt aus dem Wasser, als wären dort Stufen verborgen, die sie erklomm. Gischt regnete wie bei leichtem Schneetreiben auf die Oberfläche zurück.

Nackt wie die anderen war Cardea. Ihre zarten Rundungen lockten wie Nektarinen und erhitzten mein Gemüt. Mein Verstand drohte, in die Richtung meiner Lenden zu sinken.

Inzwischen schritt die Nymphe auf dem Wasser. Ihre Füße hinterließen schimmernde Schatten, und mit jedem Schritt schwang sie aufreizend ihre Hüfte. Eine Hitzewelle erfasste mich, während mir das dritte Gebot der Götter durch den Kopf ging: Ein Lichter schaut nie zu Nymphen auf.

»Du bist zurück?«, rief ich ihr mit rauer Stimme zu und trat einen Schritt nach vorn – heraus aus dem Schatten des Wasserfalls.

In einer fließenden Bewegung tauchte ihr Körper ins Wasser und wieder auf. Wie eine Meerjungfrau legte sie so die wenigen Meter, die uns noch trennten, zurück.

»Dich trifft keine Schuld an dem, was damals passiert ist, Mercure«, hauchte sie, bevor sie lächelte: »Komm! Was wir damals nicht tun konnten, wollen wir jetzt machen. Mein Körper sehnt sich schon so lange nach dir. Noch immer bin ich erfüllt von diesem Begehren.« Sie umfasste meinen Arm und führte ihn um ihren Rücken.

Ich ließ es geschehen. Meine Augen folgten ihrer Hand wie einer Filmaufnahme. Ich fühlte mich mehr als Zuschauer denn als Handelnder. War es wirklich kein Traum?

»Das Wasser ist unser Element. Wir formen es und spielen damit, wie wir wollen«, erklärte Cardea und ließ sich langsam in die Höhe steigen.

»Ihr spielt nicht nur mit dem Wasser«, erwiderte ich.

Sie lächelte wissend und schlang ihre Beine um meinen Kopf, dass meine Wangen ihre Oberschenkel streiften. Mir schwanden zunehmend die Sinne. Ein Kribbeln durchzog meinen Bauch, gefolgt von einer sanften Woge.

»Küss mich dort«, hauchte Cardea. »Küss mich erst dort, und dann lass uns eins werden. Lass uns für diesen Augenblick einfach nur sein.« Sie verhakte ihre Beine in meinem Nacken und zog mich immer näher zu sich heran. Ich spürte den Druck ihrer straffen, trainierten Schenkel, die meinen Kopf genau dorthin lenkten, wo sie ihn haben wollte.

Ich atmete tief in die Brust und schloss die Augen. Dieses eine Mal würde ich meiner Leidenschaft wirklich freien Lauf lassen, sie erst verwöhnen und dann meinen Körper mit ihrem vereinen.

Ich tat es, und sie genoss es. Sie genoss es sichtlich, bis ihre Leidenschaft nach unserem Höhepunkt jäh nachließ.

Es hätte noch so schön sein können, doch zwischen uns war auf einmal eine merkliche Distanz entstanden. Das traf mich wie ein Schlag, den ich nicht erwartet hatte. Eine unsichtbare Mauer baute sich zwischen uns auf. Mit einem Ruck entfernte sie sich von mir. Sie sah mich nicht einmal mehr an.

»Was ist? Wir haben …«

»Nichts«, unterbrach sie mich. »Es ist nur, ich …« Sie hielt inne und ließ sich weiter von mir wegtreiben.

Mit ihr verschwand die Wärme ihres Körpers, und ich bemerkte, dass ich in dem kalten Wasser zu frieren begann.

Cardeas Gestalt verlor sich zusehends in der Ferne. »Ich muss gehen, Mercure.«

Meine Hand streckte sich ihr entgegen. »Warum? Wir könnten doch …«

»Nein! Das war eine einmalige Sache. Es tut mir leid, Götterbote. Erinnere dich an dein Amt und an deine Aufgabe. Das ist alles, was zählt.«

»Cardea? Was auch immer deinen Sinneswandel ausgelöst hat, ich kann dir helfen. Ich kenne viele Götter und habe Kontakte in allen Himmelsrichtungen. Lass uns darüber sprechen.«

»Nein, Mercure, mir kann niemand helfen. Es tut mir leid. Ich muss gehen. Und ich komme nicht wieder.« Zögernd sah sie mich noch einmal an. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie fing sie mit den Händen auf.

Konnten Nymphen weinen? »Cardea, wir müssen darüber sprechen. Komm …«

Energisch schüttelte sie den Kopf. »Zu spät. Flieh, mein Lieber, flieh jetzt! Noch kannst du entkommen.« Während sie mir dies zurief, begann ihr Abbild, unscharf zu werden. Dann verflüchtigte es sich wie ein Traum nach dem Erwachen.

Allein stand ich da und starrte auf die Stelle, an der Cardea verschwunden war. Ein funkelnder Kristall schwamm dort auf der Oberfläche.

»Ihre Tränen – erstarrt zu einem Diamanten«, murmelte ich, ging drauf zu, nahm den Stein und stieg aus dem See. Gedanklich weit entfernt legte ich meine Kleidung an und verstaute auch den Stab wieder unter dem Gewand. Was war hier eben geschehen? War es nur ein Traum gewesen?

Nein. Ich wischte den Gedanken beiseite und drückte die Faust zusammen, in der ihr Stein ruhte. Es war real gewesen. Ganz sicher. Dennoch beschloss ich in diesen Sekunden, niemandem von diesem Ereignis zu erzählen. Dieser Moment sollte für immer mir und Cardea gehören. Er ging nur sie und mich etwas an.

Dann hörte ich die Wesen der Nacht. Zahlreich und hungrig schlichen sie durchs Unterholz, waberten über den Boden wie eine zähe Masse und kreisten mich ein.

»Flieh!«, hörte ich Cardea nochmals wie von weit her rufen.

Ich ließ mir bewusst Zeit. Jetzt erst recht! Sie sollten mich sehen und dabei lernen, mich zu fürchten.

Äste knackten. Das Fauchen der Kreaturen schwoll zu einem Stakkato an, das mich wütend machte. Automatisch ballte sich auch meine andere Hand zur Faust.

Ihr werdet es nicht wagen, dachte ich, ließ aber offen, was ich meinte. Der eine oder andere Dunkle würde es schon verstehen.

Ich holte meinen Caduceus hervor, dessen oberes Ende von Flügeln beherrscht und dessen Stab von zwei Schlangen gesäumt wurde. Die Hand mit Cardeas Stein legte ich auf den Kopf, in dem ein Saphir eingefasst war. Dann schrie ich und ließ eine blaue Energiekugel entstehen, die immer größer wurde und mich schon bald umschloss. Der Stab in meiner Hand bebte, während er auf den Diamanten zugriff. Mein Schrei schwoll immer weiter an. Sie sollten mich hören. Sie alle.

Der Edelstein verschmolz mit dem anderen. Die Energiekugel zerbarst, eine Druckwelle breitete sich aus, und ich schloss die Lider.

Als ich die Augen wieder öffnete, hatte der Dschungel um mich herum Blätter gelassen.

Die Druckwelle hat bestimmt einige der Wesen erwischt, schoss es mir durch den Kopf, bevor ich endlich den distanzlosen Schritt tat, zu dem allein der Bote imstande war. Er würde mich zurückbringen, direkt in die Götterkuppel, die unter den Ozeanen dieser Welt verborgen lag.

 

I

 

 

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»Gut gemacht, kleine Nymphe. Nur am Abgang müssen wir noch arbeiten«, höhnte der Blut-Monarch. »Dein junger Freund ist erwachsen geworden. Und er ist stark. Wenn wir ihn auch nicht stellen konnten, wissen wir jetzt ein paar Dinge mehr über die Götter und ihre Macht.«

Cardea sagte nichts. Ihre Augen waren wässrig. Ihr Blick war verschleiert. Noch immer war sie in Gedanken bei Mercure und ihrem Liebesakt.

Der Vampyr klopfte mit seinem Stab mehrmals auf den nahezu schwarzen Marmorboden.

»Eure Dunkle Eminenz, was können wir tun?«, fauchte es aus mehreren Kehlen.

»Bringt meine kleine Nymphe zurück ins Eisbecken. Wir frieren sie ein, bis sie uns erneut von Nutzen ist. Entnehmt ihr aber zuvor den Göttersamen.«

Ein Räuspern ertönte aus der Dunkelheit. Eine weibliche Gestalt löste sich aus dem Schatten.

»Eines Tages werden alle Götter wie die Nymphe in Eisblöcken zu unseren Füßen liegen. Wir werden uns ihrer Macht bedienen. Und wir werden die Planeten und Sonnen beherrschen. Vielleicht sogar die schwarzen Löcher. Ewige Finsternis, Tochter, wird die Zukunft bestimmen.« Vulcano hielt kurz inne. »Jetzt bist du dran.« Die Vampyrin verhielt sich still, während ihr Vater durch den Raum wanderte. »Schaff du, was die Nymphe nicht schaffte. Bring den Boten zu mir! Nein, ich werde kommen, sobald du ihn hast. Ich weiß immer, wo du bist.« Wieder sagte die Vampyrin nichts. »Schweigsamkeit ist eine Tugend. Von dir werden noch viele lernen. Und jetzt geh!«

Ein Luftzug begleitete den Hall hoher Absätze.

»Mädchen und ihr Schuhwerk. Hoffentlich hat es auch einen Nutzen und sieht nicht nur gut aus«, brummte Vulcano, bevor seine Gestalt immer durchscheinender wurde, bis er nicht mehr zu sehen war.

 

Einige Jahre später …

 

Die Hafenstadt schimmerte im Dämmerlicht. In der Luft lag der unverkennbare Duft von brennenden Fackeln, vermischt mit dem von Meerwasser. Während von den Docks das Klatschen der Wellen widerhallte, die gegen den Steg und die Kaimauer rauschten, drang aus den Siedlungen nur ein Fauchen und Krächzen.

Allein das Klappern von Serenetys Absätzen war lauter als die Umgebung. Es wurde als Echo hin und her geworfen, als würde eine Armee aufmarschieren.

Mit ihren Vampyr-Sinnen nahm Serenety den Geruch von Schweiß gepaart mit Rauschmitteln und Begierde wahr – störende Nebensächlichkeiten. Ihre Konzentration war auf das wogende Blau gerichtet. Sie durchmaß das kühle Nass, bis sie an ihre Grenzen stieß.

Serenety knurrte und sah in den Nachthimmel. Über ihr leuchtete der Vollmond. Ein gutes Zeichen.

Die Stimmen von zwei jungen Vampyr-Männern drängten sich in ihren Kopf.

»Unwissendes Jungvolk!«, rief sie und lachte verächtlich. »Ihr verschwendet eure Zeit.«

Die beiden Vampyre traten aus dem Schatten. Mit einem Satz waren sie bei ihr.

Serenety blieb entspannt. »Ich schlage keine Kinder. Noch weniger treibe ich es mit ihnen.« Was die zwei wollten, war von Anfang an klar gewesen. Sie roch es regelrecht.

Einer ging noch einen Schritt auf sie zu. »Ich bin Jack. Wir mögen jung sein, dafür sind wir spritzig. Wir können dir geben, was du willst, Hübsche.« Seine Fangzähne fuhren aus. Speichel tropfte an ihnen herab.

»Erfahrung gegen Jugend«, sagte der andere und trat mit geöffnetem Mund ebenfalls näher. Die Zunge fuhr langsam über seine Lippen.

»Ich suche nichts. Schon gar nicht euch Amateure.«

»Wir …«

Sie seufzte. Und während ihr Geist noch immer das Wasser abtastete, verselbstständigte sich ihr Körper. Ihre Hände fuhren nach hinten. Dort hatte sie ihr Katana am Lederkostüm befestigt. Schnell zog sie es hervor, wirbelte durch die Luft wie eine Tänzerin und landete zwischen den verdutzten Jung-Vampyren. In einer fließenden Bewegung setzte sie die beiden schachmatt und wirbelte erneut durch die Luft. Serenety landete drei Schritte entfernt auf den Knien, das Haupt gesenkt. Mit einem spitzen Lächeln auf den Lippen sagte sie: »Amateure eben. Ihr könnt froh sein, dass ich euch keine tödlichen Wunden zugefügt habe. Und nun haut ab! Ich bin nicht immer so liebenswürdig.«

Humpelnd, sich gegenseitig stützend und vor Schmerz stöhnend verschwanden die Männer zwischen Containerblöcken.

Serenety schnaubte, verstaute ihr Katana und stöckelte weiter in Richtung Umladeplatz.

Niemand war auf dem Hafengelände zu sehen. Sie trat an den Rand der Kaimauer und blickte hinaus auf die im Sternenlicht glitzernde See. Zu ihren Füßen lagen altertümliche Jagdstiefel und ein Umhang. Serenety lächelte, umfasste ihren Zopf und löste die Spange, um das ungebändigte, auberginenfarbene Haar im Wind wehen zu lassen.

Hab ich dich, dachte sie erfreut. Ihre Augen schlossen sich. Tief atmete sie ein. In ihrer Brust spürte sie das eigentlich stumme Herz schlagen, und sie fragte sich einmal mehr, ob sie zu den Lebenden oder zu den Toten gehörte.

Ihre Haut war kühl. In ihren Adern floss Blut, wenn es auch einen violetten Ton hatte, und sie konnte die Luft dieser Welt atmen. »Ich bin unsterblich, und ich lebe«, fauchte sie katzenhaft. »Ich bin.«

Serenety schlug die Augen wieder auf. Ein Knurren entstieg ihrer Kehle. Die Fangzähne fuhren aus. Ihre Pupillen verengten sich zu Schlitzen, die silbergrau funkelten. Das untrügliche Zeichen. Ein Lichter war unterwegs hierher.

Zeig, dass du gut bist! Zeig, dass du mein Blut hast, Kleines! Dann werde ich dir unser Familiengeheimnis verraten, hörte sie Vulcanos Worte in ihrem Kopf, bevor sie ihre Gestalt mit der Dunkelheit verschmelzen ließ.

 

Mit festen Schwimmzügen hielt Ganymed auf den Hafen zu. Er war nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Seinen Umhang und die Kothurne, seine geschnürten, bis zur Wade reichenden Stiefel, hatte er auf der Kaimauer abgelegt, um das blaue Element bis in die Zehenspitzen fühlen zu können.

Vor einigen hundert Jahren, als die Menschen noch die Oberhand hatten, war dieser Ort nicht so dunkel und bedrohlich gewesen. Zu dieser Zeit hatte es in St. Pauli zwar auch leichte Frauen gegeben, Gewalt und Drogen, doch war es ebenso ein Ort der Zuflucht für die Menschen gewesen. Was war nur in den letzten Dekaden daraus geworden? Alles wurde vernichtet, ausgelöscht. Die Wesen der Nacht, die nun hier herrschten, wollten ihre eigene Geschichte schreiben.

Sein Herz begann, schneller zu pumpen. Seine Züge wurden kürzer, fließender. Mit der zehnfachen Leistung eines Olympiasiegers glitt Ganymed durch das Wasser.

Zu dem gewohnt salzigen Aroma, das in der Luft hing, gesellte sich plötzlich der süße Duft von Aprikosen. Unwillkürlich reagierte sein Körper darauf. Schwer pochte sein Glied gegen den Lendenschurz und drohte, ihn zu sprengen. Er spürte, wie sich seine Männlichkeit verhärtete. Die vernünftige Seite in ihm – die menschliche – warnte sogleich vor Gefahr. Sie forderte ihn auf, zu verschwinden und sich in die schützende Götterkuppel am Grund der See zu begeben. Die stärkere Seite war die des Gottes. Sie war es, die bestimmte, die ihm riet, das Abenteuer einzugehen. Was sollte die Gestalt der Nacht ihm anhaben? Er war ein Kind der Götter, war vor Jahrhunderten die Muse von Eros und der Mundschenk von Zeus gewesen. Manch andere bedienten sich seiner zu diesem Zweck noch heute.

Ein Lächeln öffnete seinen Mund. Kaltes Wasser drang in seine Kehle. Er spuckte es aus und richtete den Blick intensiver nach vorn. Das Hafenbecken wirkte ruhig. Keine Seele schien sich dort aufzuhalten. Bis auf eine. Obwohl sie sich vor ihm verbarg, nahm er sie als Schatten wahr. Seine Augen fokussierten das unklare Bild und zoomten es heran.

Mir können nicht einmal die Götter widerstehen, dachte er. Warum solltest du es?

Er sah das schwarze, ins lila übergehende Haar, mit dem der Wind verführerisch spielte. Die Frau, zu der es gehörte und die den Kopf in den Nacken gelegt hatte, steckte in einer nachtschwarzen, ledernen Montur. Silbern glänzende Stiefel mit Absätzen, die man besser nicht auf dem Körper zu spüren bekam, gingen ihr bis zu den Knien. Immer wieder verschwand ihr Abbild, als wäre sie nur eine Projektion.

Ganymed stellte sich vor, wie der Körper dieser Schwester der Nacht unter seinen Berührungen zuckte, und er wusste, sie würde ihm gehören. Ihm allein. Der Macht der Schönheit konnte niemand widerstehen.

Der Wellengang ließ nach. In der Ferne tönte das Nebelhorn eines Frachters. Aus der Richtung der Unterkünfte für die Hafenmannschaft vernahm er schluchzende und schlürfende Geräusche. Er wollte sich nicht ausmalen, was dort geschah. Und doch sollte er. Er müsste hingehen, sehen, was Sache ist, und eingreifen, wenn es sich beim Opfer um einen der letzten Normalsterblichen handeln würde.

Als er daran dachte, wie die Vampyre Blut tranken, stellten sich ihm sogar im Wasser die Nackenhaare auf.

Rette mich, Inkarnation der Nacht! Befreie mich von diesem Gedankengut und bring mich an einen anderen Ort, schoss es ihm durch den Kopf. Er verwarf den Gedanken, noch ehe er die Worte weiterspann. Es war ein Ticket in die Hölle ohne Rückkehr. Verdammter Schwachsinn!

Ganymed streckte die Hände nach oben, umfasste einen der hölzernen Pfähle der Uferbefestigung, spannte die Bauchmuskulatur an und zog sich ein Stück aus dem Nass. Mit Schwung katapultierte er sich nach oben, bekam einen der vorderen Querbalken zu fassen und zog sich aus dem Wasser.

Als er auf der Pier stand, schüttelte er den Kopf, um das restliche Wasser aus seinem kurzen Haar zu schleudern. Letzte Tropfen fanden auf seinem Körper zusammen, verbanden sich und zogen feucht glänzende Linien.

Seine Augen suchten das Schuhwerk und seinen Umhang.

Weg! Alles war verschwunden.

Ein Ablenkungsmanöver. Längst hatte er erkannt, dass die Vampyrin damit zu tun hatte. »Du willst spielen? Gut, lass uns spielen!«, murmelte er laut genug, damit sie es verstand.

Ein glockenhelles Lachen, das eine Gänsehaut über seinen Körper jagte, erschallte, und er vergaß für einen Moment, zu atmen.

»Genau so habe ich dich mir vorgestellt.«

Er hob eine Augenbraue – wissend, dass sie es sah, als ob Tageslicht herrschen würde.

»Ihr Götter mögt das Spiel, und ihr seid überzeugt von euch. In uns habt ihr eure Gegner gefunden. Manchmal kommt ihr her, um euch zu messen oder zu amüsieren. Die Frage ist, ob es unsere Anziehungskraft ist, die einen wie dich dazu verleitet, oder eure Überheblichkeit? Glaubt ihr – glaubst du – auf Dauer der Unsterblichkeit näher zu sein als wir? Ihr mögt das ältere Geschlecht sein, aber auch ihr könntet einst nahezu aussterben wie die Menschen, die hier vor vielen Jahren so zahlreich angesiedelt waren.«

Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Das werden wir hier und jetzt nicht herausfinden«, antwortete er. »Heute ist nicht die Nacht dafür. Heute steht anderes in den Sternen.« Er hob eine Hand und deutete nach oben. »Wir haben Vollmond, und wir stehen im Bann des Planeten Merkur. Man sagt …«

»Man sagt, es ist die Nacht, in der Wunder geschehen können. Die Zeit, in der Leidenschaft und Lust sich am intensivsten entfalten. Ich weiß, ich habe es erlebt. Nur …« Sie zögerte, und er ahnte nicht nur, dass sie ihn die folgenden Worte sagen lassen wollte, sondern auch, dass dies längst der Beginn eines Spiels war, das ihn in den Wahnsinn treiben würde.

»… nicht mit einem Gott«, vollendete er den Satz mit angeschwollener Stimme nach einer genau abgestimmten Pause. Der raue Unterton ließ die Luft und selbst die Pier vibrieren.

Der Schatten der Nachtgestalt manifestierte sich. Die Silhouette einer Frau, die ihren Körper über Jahrhunderte hinweg perfekt trainiert haben musste, wurde erkennbar. Ihre Arme waren vor der vollen Brust verschränkt. Die Beine waren leicht gespreizt. Ihr Stand war sicher.

»Gut erkannt, mein Lieber.«

Die Ausgeburt der Dunkelheit trat an ihn heran. Schon konnte er ihren Atem an seiner Halsbeuge fühlen. Das Klappern ihrer Absätze hallte noch in seinen Ohren, obwohl sie längst stillstand. Er spürte, wie eines ihrer Beine zwischen seine fuhr. Ihr Knie streifte seinen Lederschurz. Es verlieh seinem Geschlecht einen Schub und ließ es wie ein Schwert gegen diese letzte Festung stoßen. Ein Stöhnen entfuhr seinen Lippen. Ganymed hatte nur noch einen Wunsch, und er sprach ihn aus: »Ich will dich!« Keine Sekunde später begannen seine Hände, über ihren Körper zu wandern und die verheißungsvollen Wölbungen zu spüren. Sein Glied wurde hart wie geschliffener Marmor und pochte mit einer Wildheit, die er lange nicht mehr gespürt hatte. Dann fühlte er, wie sein letztes Kleidungsstück von geschickten Frauenhänden gelöst wurde.

Gegen seinen Rücken drückte der Wind. Wassertropfen der peitschenden See regneten auf ihn herab. Von vorne drängte sich der aufreizende Körper der Vampyrin an ihn. Die Lederkleidung erzeugte zusätzliche Spannung. Alles in ihm verlangte nach ihr.

Als hätte sie seinen Gedanken geahnt, fuhr der Reißverschluss ihres hautengen Anzugs ohne ihr Zutun vom Hals abwärts.

Wenn sie mich mit diesen Mentalkräften auch bereits unter Kontrolle hat, droht der Festung der Götter große Gefahr.

Egal, das war jetzt nebensächlich. Diese Nachtgestalt wollte bestimmt nur, wie so viele, ihre ungezügelte Lust mit einem ihr ebenbürtigen Wesen ausleben. Sie wollte Sex. Sex mit einem Gott. Sie wollte sich mit ihm vergnügen und sich mit ihm vereinigen, um in der Nacht aufzugehen wie ein Feuerwerk.

Lange Nägel krallten sich in die Haut seiner Unterarme, packten diese und führten seine Hände zielstrebig zwischen ihre Brüste und Oberschenkel.

»Fühle mich, fühle meinen Körper und nimm ihn dir!« Der Lederanzug löste sich endgültig und fiel von ihr ab. Sie trug nur noch die Stiefel.

Ein Stöhnen entrang sich ihm, während er in sie eindrang, und er musste Gesäß und Beine anspannen, um den Halt nicht zu verlieren. Ein Grollen entwich seiner Kehle, als er den unsterblichen Teil in sich zu Hilfe rief.

Die Vampyrin hob den Kopf zum Nachthimmel und öffnete ihren Mund. Ein Fauchen stieg aus ihrem Rachen. Es jagte ihm ein Kribbeln über seine Haut. Ihre Zunge leckte über die Zähne, und die silbern leuchtenden Augen begannen, zu irisieren.

Ganymed wusste, dass jetzt alles Menschenähnliche oder Sterbliche verschwunden war. Dieses Weib war in dem Moment wilder als ein Tier und bedrohlicher als jede Waffe der Menschen. Er wusste, dass er in Gefahr schwebte. Seine innere Stimme warnte ihn immer eindringlicher.

Dann kam der Biss.

Ganymed zuckte wie unter einem Elektroschock. Schwärze umhüllte ihn. Eine Art Enge wurde spürbar. Und er bemerkte, wie der unsterbliche Teil in ihm immer mehr schwand.

Mit einem Mal fühlte er sich unnütz – wie ein Nichts. Nicht mehr wert als ein Kieselstein am Wegrand. Er war nur noch eine sterbende Hülle, weil sein Blut aus ihm herausgesaugt wurde. Eben noch schwebte er mit dieser Bestie in höheren Sphären, jetzt war er zu ihrem willenlosen Sklaven mutiert.

»Hab ich dich!«

Der Sog an seiner Halsschlagader hörte auf.

»Wie ist dein Name? Sag ihn mir!«, zischte die Vampyrin. Ihre Stimme hatte jeglichen erotischen Klang verloren.

»G…« Mehr brachte er nicht heraus. Die Buchstaben gingen in einem Röcheln unter.

»Ich weiß, dass du ein Gott bist. Also, wie nennt man dich?«

»G…«

»Schluss!«

Eine Art Stromschlag jagte erneut durch seine Glieder. Er stöhnte und spuckte Blut. Wenn er nur wüsste, was sie meinte und wie er sich aus dieser verdammten Umklammerung befreien sollte.

»Du stehst durch den Biss unter meiner mentalen Kontrolle. Wenn ich will, gehst du zugrunde wie ein Käfer, der noch eine Weile qualvoll auf dem Rücken zappeln muss, Gott. Das darfst du mir glauben. Sag mir endlich deinen Namen!«

»G…« Er spürte, wie Schmerzen ihn überrollten. Sein Herz krampfte sich zusammen. Er fühlte sich nur noch elend, und er wünschte sich, sterben zu können, um endlich erlöst zu werden. Die Sinne drohten ihm, zu schwinden. Vor seinen Augen tanzten bunte Punkte. Nur am Rande bekam er mit, wie sich ein Schatten, der die Vampyrin um zwei Köpfe überragte, manifestierte.

»Vater!«, hörte er seine Ex-Gespielin mit einer Stimme sagen, die deutlich transportierte, dass sie nicht begeistert von seinem Auftauchen war.

Der Vampyr maß ihn mit Blicken, die durch und durch gingen. »Er ist es nicht!« Seine Stimme war dunkel und wirkte bedrohlich.

»Aber …«

»Er ist es nicht, hörst du! Ich habe Mercure gesehen. Du hast den Falschen erwischt. Du hast deinen Körper mit einem Nichts vereinigt. Mit einem elenden Wurm. Er ist – wenn überhaupt – nur sein Diener. Töte ihn! Oder … nein, mir fällt etwas Besseres ein. Nehmen wir ihn mit. Vielleicht wird er uns noch nützlich sein. Du aber hast versagt, Kleines. Ich werde diese Aufgabe jemand anders übertragen müssen. Und jetzt komm, und vergiss dein Spielzeug nicht!«

Die Vampyrin klappte den Mund auf, um etwas zu erwidern. Er unterband es mit einer unwirschen Handbewegung. »Lass es! Dass du den Falschen erwischt hast, ist schlimm genug. Weitaus schlimmer war dieser Biss. Er ist nur Königen wie mir an rein göttlichem Fleisch gestattet. Ich sehe von einer Strafe ab, weil die Prägung bei Mercure tatsächlich sinnvoll gewesen wäre. Solltest du je die Chance dazu haben, wisse, dass du nun das einmalige Einverständnis eines Königs hast.«

Dann löste sich die Umgebung um Ganymed auf. Er wusste, wohin man ihn bringen würde, und er wäre lieber hier gestorben, als in ihrer Festung zu landen.

Meine innere Stimme hat mich gewarnt, dachte er, aber ich habe nicht hören wollen. Seinen Auftrag, auszukundschaften, woher die ständigen Angriffe kamen, welche Gruppierungen es gab und wie nahe die Vampyre dem heiligen Domizil der Götter waren, hatte er gehörig in den Sand gesetzt. Niemals hätte er erwartet, auf eine Hauptakteurin zu treffen und in eine Falle zu geraten.

Doch sie wollten nicht ihn. Diese Vampyre suchten Mercure. Sie wollten den Götterboten.

Ich muss eine Warnung aussenden. Irgendwie! Ganymed schaffte es nicht. Er kam gegen das mentale Band, mit dem die Vampyrin ihn gefangen hielt, nicht an. Jeder Versuch war mit Schmerzen verbunden.

Er durfte aber nicht aufgeben. Wenn er aufgab oder starb, würde Mercure der Nächste sein. Und alle anderen würden folgen. Ihre letzte Festung würde fallen und die Götter und ihre Geschichten in Vergessenheit geraten. Das durfte nicht geschehen.

Ganymed klammerte sich an diesen Gedanken wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm, der hoffentlich lange und stark genug war.

 

II

 

 

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Orangerot leuchtete die Abendsonne, als Mercure auf dem steil aus dem Meer ragenden Kalksteinfelsen stand, dem Felsen von Gibraltar, der als eine der zwei Säulen von Herakles galt. Mit der zweiten Säule auf dem Berg Monte Hacho, markierte sie das Ende der irdischen Welt. Der Götterbote atmete die salzige Luft ein. Er genoss das sandig-raue Klima und die letzten Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Im Licht der untergehenden Sonne lagen die Häuser friedlich da, und ihre Bewohner dämmerten dahin. Noch.

Wenn die Helligkeit versiegte, würde die Stadt zu neuem Leben erwachen – die Zeit der Unsterblichen und der Halbwesen begann. Halb-Vampyre und Halb-Götter, sie waren die nahezu Letzten, die noch einen Rest Menschlichkeit besaßen.

Das war nicht immer so gewesen.

Wir Götter sind die letzten Wächter, dachte er. Die letzte Blockade. Nur wir können verhindern, dass dieser Planet im Dunkel, in Kampf und Blut versinkt. Wir werden dafür sorgen, dass die Vergangenheit der Erde weitererzählt wird. Da es kaum mehr Menschen gibt, muss ich zu den dunklen Unsterblichen gehen, um ihnen unsere Botschaft zu überbringen. Noch nie hatte jemand mit Vampyren oder Artverwandten verhandelt. Es war nie nötig gewesen. Bisher.

Seit den Berichten vom Sterben einiger Halb-Götter und von einer aufstrebenden, sich ausbauenden Armee von Halb-Vampyren, war den Göttern klar geworden, dass es Zeit wurde, etwas zu unternehmen. Die Dinge konnten nicht länger aus dem Verborgenen heraus gelenkt werden.

Seltsam, dass keine Atomwaffe für das Ende der Menschheit verantwortlich war, sondern etwas anderes, etwas Fremdes, das sogar einen kleinen Teil Menschlichkeit besaß.

Hatten die Sterblichen auf ihr Eingreifen gehofft? Auf ein Wunder der Götter?

Mercure rief sich zur Ordnung. Jetzt war nicht die Zeit, um diesen Gedanken nachzugehen. Er hatte einen Botengang zu erledigen.

Der Unsterbliche trat an die Kante des Felsen. Er hörte das Rauschen der Wellen, die gegen die Klippen schlugen, spürte den Wind an sich zerren und schloss die Augen. Eine Weile ließ er die Einflüsse auf sich wirken. Dann öffnete er die Lider und warf sich in den Abgrund.

Mercure fiel. Wie ein Stein raste er in die Tiefe, bis Schwingen aus seinem Rücken fuhren und sich zu einer Spannweite von mehr als fünf Metern entfalteten. Übergangslos ging er von einem trudelnden Sinkflug in ein Gleiten über. In einem gefährlichen Bogen, der ihn dicht an die Wasseroberfläche brachte, schwang er sich wieder aufwärts – hinein in die beginnende Nacht.

Sein Ziel war die Kohleinsel im Hafen von Gibraltar, nur wenige Flugsekunden entfernt. Dort sollte er einen Halb-Vampyr treffen, einen der Unterzeichner des Kontraktes zum Wohl der Erdenwelt.

Mercure spürte, dass etwas nicht war, wie es sein sollte. Er ahnte, dass der Halb-Vampyr eine unliebsame Überraschung für ihn bereithielt. Eine, die all ihre Pläne über den Haufen werfen und im Gegenzug noch mehr Probleme mit sich bringen würde. Schlimmstenfalls würde der Friedenspakt hinfällig sein.

»Lasst die Jugend nur machen«, knurrte Mercure die Worte Gaias, der Tochter der Erde und Mutter der Götter. »Lasst sie die Welt gestalten und für diesen Planeten sorgen.« Mercure hatte noch heute das Gefühl, als hätte nicht sie gesprochen, sondern ihr maskuliner Gegenpart, der vor noch längerer Zeit geherrscht hatte. »Wir wollen uns zurückziehen und das Schicksal in die Hand einer neuen Generation legen.« Danach verschwand Gaia wie einst ihr maskuliner Gegenpart. Zurückgeblieben war der letzte Bund von Vertrauten, eine Handvoll Planetengötter, die diesen Worten nicht trauen wollten und seither als Wächter fungierten.

 

Zwei Stunden zuvor am Kohlehafen …

 

Ein Sturm fegte über das Meer in Richtung Hafen. Der Wind ließ die Bautürme wie ungeölte Eisentore quietschen. Der aus einem Kraftwerksturm austretende Dampf waberte über den Platz und verdunkelte den ohnehin bereits abendlichen Himmel, was dem rein auf Funktionalität ausgerichteten Ort eine düstere Stimmung verlieh.

Shanti wartete dort im Schatten eines Baggers. Ihr Körper war bis zum letzten Muskel gespannt, um sofort jede erdenkliche oder notwendige Bewegung ausführen zu können. Endlich würde die Föderation des reinen Blutes, die unter der Regentschaft des Blut-Monarchen stand, einen der Anführer einer Außenseitergruppe auf frischer Tat ertappen und liquidieren können. Endlich konnten den Worten Vulcanos Taten folgen, um die zunehmenden inneren Aufstände zu ersticken. Die Föderation musste ein Exempel statuieren, um andere Ausreißer in ihre Schranken zu weisen und ihnen ins Gedächtnis zu rufen, auf welcher Seite sie zu stehen hatten.

Shantis Muskeln verhärteten sich unter dem pinken Latexanzug, der sich wie eine zweite Haut um ihren Körper schmiegte, als ein Windhauch sie streifte. Sie liebte das Gefühl, darin verpackt zu sein. Vor allem, wenn Adrenalin durch ihren Körper schoss – wie jetzt.

Ihr linkes Bein war nach vorne verlagert. Mit dem schweren, Stahl besetzten Absatz des dunklen Overknee-Stiefels bohrte sie im sandigen Boden. Die Hände hatte sie auf dem Rücken überkreuzt und ans Gesäß gelehnt. Sie war eine tickende Zeitbombe, die jede Sekunde hochgehen konnte.

Als sie das Aroma von Waldbeeren wahrnahm, wusste sie, dass der Zeitpunkt gekommen war. Der Verräter traf ein.

Schade um ihn, dachte Shanti. Er war von frischem Blut, und er hatte Talent. Sein Mut war bewundernswert. Auf Seiten der Föderation hätte er über kurz oder lang ein Anwärter auf eine führende Position werden können.

Er hatte seine Chance vertan. Das würde sie ihm im letzten Augenblick seines Lebens klarmachen.

Shanti leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen, während sie sich vorstellte, wie das Erkennen in seinen Augen blitzen und der Widerstand in ihm brechen würde. Anflehen würde er sie dann. Anflehen, ihn zu verschonen.

»Falls du eine Botin deines Herrn bist, bist du zu früh«, sagte eine jugendliche Stimme. Ein Zischen begleitete die Worte. Der Halb-Vampyr hatte seine Fänge noch nicht unter Kontrolle.

Shanti unterdrückte nicht nur ein aufsteigendes Lächeln, jegliche Art von Freundlichkeit wich aus ihrem Gesicht. Sie hob den Kopf ruckartig, sodass ihr Haar – Seidentüchern gleich – über ihren Rücken fiel.

Der Aufrührer sog die Luft ein. »Beim Vater aller Vampyre, du musst seine Dienerin sein. Ich hege keinen Zweifel.«

Diese Einfältigkeit! Sie war ein Privileg der Jugend – aber nicht in seinem Fall. Die Erfahrung, dass nicht alles Schöne den Göttern gehörte oder diente, würde ihm für die Zukunft nichts mehr helfen.