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INHALT

DEPRESSIONEN

Tonarten des Blues

Depressionen zeigen sich bei Männern und Frauen oft unterschiedlich. Psychiater suchen im Gehirn nach den Ursachen, um die Therapie entsprechend anzupassen.

INFOGRAFIK

Die Welt der Depressionen

Daten und Zahlen zu Häufigkeit und medizinischer Versorgung.

Quälende Sehnsucht

Wer den Tod eines geliebten Menschen nach Jahren noch nicht verwunden hat, leidet an »komplexer Trauer«. Wie kommen die Betroffenen über den Verlust hinweg?

GUTE FRAGE

Was hilft gegen Herbst-Winter-Depression?

Die dunkle Jahreszeit schlägt vielen aufs Gemüt. Eine Lichttherapie kann die Stimmung aufhellen.

Quellen des Sinneswandels

Hirnforscher untersuchen die Wirkmechanismen der kognitiven Verhaltenstherapie mittels bildgebender Verfahren.

Die Ohnmacht überwinden

Viele chronisch depressive Patienten wurden in der Kindheit vernachlässigt. Eine spezielle Therapie verschafft ihnen neue zwischenmenschliche Erfahrungen.

Hirn unter Strom

Die Elektrokrampftherapie schlägt häufig bei jenen Menschen mit Depressionen an, bei denen Psychotherapie und Medikamente nicht wirken.

Seele am Abgrund

Woran lassen sich Suizidabsichten frühzeitig erkennen, und wie sollten Angehörige auf angedeutete Selbstmordgedanken reagieren?

 

 

ÄNGSTE

Fehlalarm!

Neurobiologen fahnden nach den Eigenheiten im Gehirn von Menschen, die immer wieder Panikattacken erleiden: Eine Fehlregulation in bestimmten neuronalen Netzwerken vermittelt die übersteigerten Angstreaktionen.

GUTE FRAGE

Lässt sich die Angst vor Spinnen virtuell behandeln?

Eine 3-D-Brille erleichtert die Konfrontation mit den gefürchteten Tieren.

Keine Furcht vorm Bohrer

Jeder zehnte Deutsche meidet den Besuch beim Zahnarzt. Mit professioneller Hilfe lässt sich die Angst überwinden.

Gelassen durch die Prüfung

Vor einem Test ist vielen Menschen mulmig zumute, manche entwickeln sogar regelrechte Panik. So bereitet man sich am besten vor.

 

 

ALTERNATIVE THERAPIEN

Augenblick mal!

Das Achtsamkeitstraining lehrt, in seelischen Notlagen gelassen zu bleiben. Das Geheimnis der Übungen: sich ganz auf den Moment zu konzentrieren.

Im Labyrinth der Gedanken

Die metakognitive Therapie weist Menschen mit Ängsten und Depressionen den Weg aus der geistigen Sackgasse.

Sanfter Weg zum Wohlgefühl

Yoga tut Körper und Seele gut. Davon profitieren auch Menschen in seelischen Notlagen.

Therapie per Trance

Kann es so einfach sein: sich praktisch im Schlaf vom Lampenfieber befreien zu lassen? Ein Selbstversuch beim Hypnotherapeuten.

Log-in auf die Onlinestation

Im Internet versprechen viele Anbieter, mit ihren Programmen psychische Nöte zu lindern. Die Onlineübungen wirken – aber nur unter bestimmten Umständen.

PRAXISTIPP

Wie finde ich einen guten Psychotherapeuten?

Wer in einer psychischen Krise professionelle Hilfe sucht, ist mit der Auswahl oft überfordert. Wie man sich für den richtigen Experten entscheidet.

EDITORIAL

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Christiane Gelitz
Redaktionsleiterin
gelitz@spektrum.de

Die Starre lösen

Was macht eine Depression aus? Wann ist man nicht einfach nur lustlos und niedergeschlagen, sondern seelisch krank? Das fragt sich mancher, der längere Zeit in einem Stimmungstief steckt. Im Studium lernte ich die Kriterien für eine depressive Episode auswendig und meinte daraufhin zu wissen, wie sich eine Depression anfühlen würde. Schon in der ersten Woche der Psychotherapieausbildung sollte sich das ändern. In einer psychiatrischen Klinik traf ich auf eine depressive Patientin mit erstarrten, wie mumifizierten Gesichtszügen. Ihre Mimik zeigte keine menschliche Regung mehr; jegliches Leben schien aus ihr gewichen zu sein.

Natürlich steht nicht jedem das Leid derart ins Gesicht geschrieben. Seelische Schmerzen äußern sich auf ganz unterschiedliche Weise. Und auch bei einem »normalen« Tief, etwa wenn ein Angehöriger verstorben ist, benötigen wir eventuell professionelle Hilfe. Wann eine Behandlung geboten ist und welche Therapiemethoden sich bei Depressionen bewährt haben, erläutern Experten im ersten Teil dieser Ausgabe. Die Beiträge im zweiten Teil klären über Angststörungen und ihre Behandlung auf. Wie entstehen Panikattacken, und wie lässt sich die Furcht vor Spinnen oder Prüfungen überwinden?

Die Frau mit dem mumienartigen Gesicht ist mir ein Sinnbild geblieben: dafür, dass die Gefühlswelt von psychisch Kranken eine eigene Qualität haben kann, die sich auch mit Fachvokabular nicht vermitteln lässt. Sie verkörperte außerdem ein typisches Merkmal psychischer Störungen: Das Leben der Betroffenen bleibt stehen; ihr Fühlen, Denken und Handeln erscheinen wie erstarrt.

»Wahnsinn ist, wenn man sich immer wieder gleich verhält und dabei hofft, dass das Ergebnis anders ausfällt« – diesen Spruch zitieren Therapeuten dem Sinn nach immer wieder gerne. Die Definition ist natürlich etwas weit gefasst, denn einer solchen Hoffnung erliegt jeder hin und wieder. Doch der Spruch weist auf den Kern jeder erfolgreichen Therapie: Veränderung.

Dabei helfen nicht nur Psychopharmaka und Psychotherapie. Frische Nervenzellen und neuronale Verknüpfungen entstehen auch auf andere Weise, wie Psychologen und Mediziner bei vielen alternativen Behandlungsmethoden, darunter Yoga und Meditation, beobachtet haben. Wie sie wirken, beschreibt der dritte Teil dieser Ausgabe: Sie können das Gehirn zum Umbau anregen und die Starre lösen.

Die Mimik der beschriebenen Patientin lockerte sich nach einigen Wochen Klinikaufenthalt. Als sie nach Hause entlassen wurde, spiegelten sich in ihrem Gesicht wieder Gefühle – Wehmut, Angst, aber auch Freude darauf, endlich wieder leben zu können.

Eine bewegte Lektüre wünscht Ihre

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DEPRESSIONEN GESCHLECHTERUNTERSCHIEDE

Tonarten des Blues

Depressionen äußern sich meist als tiefe Niedergeschlagenheit, besonders bei Männern aber auch in Form von Reizbarkeit. Offenbar wirkt sich der veränderte Neurotransmitterhaushalt je nach Geschlecht unterschiedlich aus – unter anderem auf die Effekte von Antidepressiva.

VON ERICA WESTLY

 

AUF EINEN BLICK

Die zwei Gesichter des Leids

1

Depressive Frauen sind eher traurig und niedergeschlagen – unter Männern führt das Leiden dagegen oft zu Reizbarkeit oder Wutausbrüchen.

2

Die Geschlechter sprechen auch verschieden auf
Antidepressiva an.

3

Verantwortlich dafür sind vor allem Sexualhormone, die die Transmitterwirkung
im Gehirn beeinflussen.

Was die Dichterin Emily Dickinson (1830–1886) als »erstarrte Melancholie« empfand, nannte George Santayana (1863–1952) »dünn verschmierten Zorn« – doch beide meinten dieselbe Krankheit: Depression. Die unterschiedlichen Ausdrücke gehen wohl weniger darauf zurück, dass Dickinson Poetin und Santayana Philosoph war. Vielmehr erleben Frauen und Männer das seelische Leiden häufig auf verschiedene Weise.

Seit 1952 die erste Ausgabe des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« erschien (das US-amerikanische Standardwerk zur Diagnose psychischer Störungen), definieren Mediziner sämtliche darin aufgeführte Leiden bewusst geschlechtsneutral. Heute zeichnet sich jedoch immer mehr ab: Ärzte, die vor geschlechtsspezifischen Unterschieden die Augen verschließen, erweisen ihren Patienten einen Bärendienst.

Auch unter Depressionsforschern setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass das Mann- oder Frausein sämtliche Aspekte der Erkrankung beeinflusst – angefangen bei den Symptomen über die Wirksamkeit von Medikamenten bis hin zum Krankheitsverlauf in verschiedenen Lebensphasen.

Laut Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2012 sind Depressionen mit mehr als 350 Millionen Betroffenen das weltweit häufigste psychische Leiden. Schon beim Blick auf die Statistiken fällt eine Diskrepanz auf: Frauen werden mehr als doppelt so häufig als depressiv diagnostiziert wie Männer. Warum ist das so?

Eine mögliche Erklärung liefert die Verschiedenartigkeit der Symptome. Bei Frauen äußern sich Depressionen vorwiegend als Traurigkeit; bei Männern sind dagegen Zornesausbrüche und Reizbarkeit weitaus häufiger, gepaart mit riskantem, irrationalem Verhalten. Folglich missverstehen Betroffene, Angehörige, aber auch Therapeuten die männliche Depression leicht als generelle Unruhe, und die wahre Störung bleibt unerkannt. Möglicherweise suchen depressive Männer aus diesem Grund auch seltener Hilfe und nehmen sich eher das Leben.

In der Frage, worauf solche Differenzen beruhen, sind sich Experten uneins. Manchen zufolge laufen bei einer Depression im Gehirn beider Geschlechter die gleichen Prozesse ab, nur die sozialen Normen würden es Männern eher verbieten, ihre Trauer zu zeigen. »Dann heißt es ›mir ist alles zu viel‹ oder ›meine Partnerin versteht mich nicht‹ statt ›ich bin verzweifelt‹«, sagt der Psychologe Sam Cochran, klinischer Direktor an der University of Iowa in Iowa City. Allerdings mehren sich die Belege dafür, dass Männer und Frauen von Natur aus unterschiedlich stark zu Depressionen neigen und diese verschieden erleben.

Die Sexualhormone legen längst nicht nur den Grundstein für das biologische Geschlecht; schon im Mutterleib und bis weit über die Pubertät hinaus spielen sie für die Hirnentwicklung und für den Gefühlshaushalt des Menschen ebenfalls eine wichtige Rolle.

Testosteron aus den Hoden und die Östrogene der Eierstöcke dominieren den Hormonmix im Blut von Männern beziehungsweise Frauen; die Geschlechtsorgane und Nebennieren bilden aber auch die typischen Sexualhormone des jeweils anderen Geschlechts, jedoch in geringeren Mengen. So reguliert Testosteron bei Frauen die Menstruation und erhält Knochendichte, Muskelmasse und Libido; und Östrogene unterstützen bei Männern etwa den Flüssigkeitshaushalt.

Die Produktion von Sexualhormonen kann nicht nur tage- oder stundenweise variieren, sie verändert sich auch in typischer Weise über die gesamte Lebensspanne hinweg. Die Spitze liegt grob gesagt in der Kindheit und Vorpubertät; ab 18 Jahren bis etwa Mitte 50 geht der Spiegel dann stetig zurück. Frauen zeigen mit Beginn der Menopause einen rasanten Abfall der Östrogenproduktion; bei älteren Männern geht die »Andropause« mit einem weniger dramatischen, aber doch deutlichen Testosteronschwund einher.

Die biochemischen Wirkungen der Sexualhormone erstrecken sich auch auf die Hirnphysiologie. Nach Ergebnissen aus Tierversuchen beeinflusst Testosteron unter anderem die Hirngröße, indem es die Produktion des Wachstumsfaktors BDNF (von englisch: brain-derived neurotrophic factor) anregt. So reift das männliche Gehirn zwar im Schnitt langsamer, wird aber größer als das weibliche. Zudem sind wechselnde Hormonspiegel eng mit Stimmungsschwankungen verknüpft. Testosteron und Östrogen modulieren die Effekte wichtiger Botenstoffe vor allem im Hypothalamus und in der Amygdala, die beide an emotionalen Reaktionen beteiligt sind.

Forscher am Albert Einstein College of Medicine in New York zeigten 2001, dass Testosteron und Östrogen gegensätzliche Wirkung auf den Neurotransmitter Gamma-Aminobuttersäure (GABA) haben: Testosteron stimuliert seine Ausschüttung an den Nervenzellen, Östrogen vermindert sie. In der Kindheit kann dies vor allem beim männlichen Geschlecht negative Folgen haben.

Wenn die Neurone von Babys und Kleinkindern testosteronbedingt zu viel GABA freisetzen, neigen die Kleinen vermehrt zu Krampfanfällen; die GABA-dämpfende Rolle des Östrogens schützt Mädchen umgekehrt davor. Jungen sind deshalb fast doppelt so anfällig für Fieberkrämpfe.

Der Neuropsychologe Simon Baron-Cohen, Direktor des Autism Research Centre an der University of Cambridge (England), nennt einen weiteren Risikofaktor: Zu viel Testosteron in den ersten Lebensmonaten erhöhe für den männlichen Nachwuchs die Gefahr, an Autismus zu erkranken. Andere Forscher glauben allerdings, dass Testosteron hier nur indirekt beteiligt ist. Das Sexualhormon lasse männliche Föten demnach sensibler auf Umweltfaktoren wie etwa Sauerstoffmangel reagieren, was wiederum auf anderen Wegen Gehirn und Psyche in Mitleidenschaft ziehe.

In der Kindheit tragen Jungen ein höheres Risiko für Depressionen als Mädchen, erst ab der Pubertät schwingt das Pendel zur anderen Seite: Nun sind Mädchen etwa um ein Drittel anfälliger als Jungen. Viele Forscher glauben, dass der steigende Östrogenlevel bei weiblichen Heranwachsenden die Sensibilität für das Stresshormon Cortisol verstärkt und die Verfügbarkeit des Botenstoffs Serotonin verringert. Dies kann vermehrt Müdigkeit, Angstzustände und andere depressive Symptome hervorrufen.

Hat Testosteron dagegen vielleicht sogar eine Schutzwirkung? Um diese Hypothese zu prüfen, verabreichten die Medizinerin Tracy Bale und ihre Kollegen von der University of Pennsylvania in Philadelphia Mäuseweibchen entweder kurz nach der Geburt oder einige Wochen später Testosteron. Dann testeten die Forscher, wie lange die Tiere unbeweglich verharrten, nachdem sie mehrere Minuten lang am Schwanz aufgehängt worden waren. Mäuse fallen nach dieser Prozedur in eine Starre, die als Pendant zu Depressionssymptomen beim Menschen gilt.

Wie das Team um Bale meldete, reduzierte die Hormongabe dieses Verhalten der Tiere tatsächlich – allerdings nur, wenn man ihnen das Testosteron während der Mäusepubertät, nicht aber direkt nach der Geburt verabreicht hatte. Offenbar spielt also nicht nur die Art der Hormone eine Rolle, sondern auch der Zeitpunkt, zu dem der Körper sie produziert.

Warum sich Depressionen beim Menschen so verschieden äußern können, erscheint ungleich schwieriger zu beantworten, da sich der Einfluss der Biologie von dem der Gesellschaft und Kultur kaum trennen lässt. Die psychiatrische Diagnostik ist jedenfalls weit gehend auf die weibliche Symptomatik ausgerichtet; die für erkrankte Männer typischen Gefühle wie Zorn und Unruhe passen nicht in das traditionelle Bild der Krankheit. Die von schwedischen Psychiatern entwickelte Gotland Male Depression Scale kann dabei helfen, den Betroffenen, ihren Angehörigen wie auch behandelnden Ärzten das Problem bewusst zu machen: Der Fragebogentest fragt nach typisch männlichen Symptomen einer Depression wie Reizbarkeit, Unruhe, Frustration oder Aggressivität.

Wie für die Diagnose ist es aber auch bei der Therapie wichtig, Besonderheiten der Geschlechter zu berücksichtigen. Wirksamkeitsbelege für Antidepressiva stützten sich bislang zwar vornehmlich auf Studien an männlichen Probanden, da die Hormonschwankungen im Menstruationszyklus die Ergebnisse verzerren können. Dennoch gingen Ärzte lange Zeit bedenkenlos davon aus, die Medikamente würden bei beiden Geschlechtern gleichermaßen wirken. Im Jahr 2000 bewies dann die Psychiaterin Susan Kornstein von der Virginia Commonwealth University in Richmond mit einer Studie, dass Männer sogar schlechter auf SSRI ansprechen als Frauen.

Diese verbreiteten Antidepressiva scheinen unter Einfluss von Östrogenen besser zu wirken. So ergab eine Studie der Pharmakologin Stacy Sell und Kollegen an der University of Texas in Galveston, dass der Wirkstoff Sertralin (Handelsname Zoloft) bei weiblichen Ratten, die kein Östrogen produzierten, depressionsähnliche Symptome nicht minderte; hingegen besserten sie sich, wenn das Medikament zusammen mit Östrogenen verabreicht worden war.

Kornstein stellte 2009 sogar fest, dass depressive Patientinnen nach einer SSRI-Therapie um ein Drittel häufiger genasen – obwohl ihre Depression zuvor im Schnitt sogar schwerer war als die der untersuchten Männer. Dafür wirken bei Männern offenbar andere Antidepressiva besser, darunter die Wirkstoffe Imipramin (Handelsname Tofranil) und Bupropion (Wellbutrin), die am Neurotransmitterhaushalt von Dopamin beziehungsweise Noradrenalin ansetzen.

Das legt den Schluss nahe, dass Depressionen bei Männern weniger mit Serotoninmangel zu tun haben. Forscher des National Institute of Mental Health in Bethesda, Maryland, und der Yale University in New Haven, Connecticut, konnten diese Vermutung untermauern: Sie verglichen männliche und weibliche Probanden, die schon einmal Antidepressiva eingenommen, sie aber später wieder abgesetzt hatten.

Per Positronenemissionstomografie (PET) erfassten die Forscher bei ihnen sowie bei noch nie erkrankten Kontrollpersonen die Aktivität des Serotonintransporterproteins, welches durch SSRI gehemmt wird. Während der Messwert bei den ehemals depressiven Frauen bis zu 22 Prozent niedriger lag als bei gesunden Vergleichsprobandinnen, fand sich unter den männlichen Teilnehmern kein Unterschied zwischen ehemaligen Patienten und Kontrollpersonen.

Möglicherweise erklärt dies auch, warum Frauen in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich auf Antidepressiva reagieren: Nach der Menopause sprechen sie häufig schlechter auf SSRI an als zuvor, so Kornstein. Ähnlich wie Männer erzielten ältere Frauen bessere Ergebnisse mit Antidepressiva, die die Botenstoffe Noradrenalin oder Dopamin beeinflussen. Dies stimmt mit Befunden aus Tierversuchen überein, wonach Serotonin-Wiederaufnahmehemmer am besten im Zusammenspiel mit Östrogen wirken.

Die so genannte Gendermedizin steht immer noch am Anfang. Um Unterschiede zwischen Männern und Frauen besser als bislang berücksichtigen zu können, wollen Wissenschaftler noch mehr Befunde sammeln und kontrollierte Wirksamkeitsstudien an größeren Patientengruppen durchführen. Dies könnte auch an Depression Erkrankten zu einer Behandlung verhelfen, die auf die Chemie ihres Körpers abgestimmt ist.

Erica Westley ist Wissenschaftsjournalistin in New York.

Was ist eine Depression?

In der Alltagssprache wird »depressiv« häufig mit einem leichten Stimmungstief gleichgesetzt. Doch Menschen mit Depressionen sind mehr als nur traurig: Sie fühlen sich niedergeschlagen, verzweifelt und haben keine Freude mehr an Dingen, für die sie sich zuvor begeisterten. Sie sind oft erschöpft, müde und antriebslos und können trotzdem nicht ein- oder durchschlafen. Das sexuelle Verlangen sinkt, einige verlieren deutlich an Gewicht, manche nehmen deutlich zu. Sie sind weniger leistungsfähig, empfinden auch geringfügige Tätigkeiten als anstrengend, können sich nicht mehr konzentrieren oder entscheiden und grübeln viel. Sie sehen pessimistisch in die Zukunft und fühlen sich wertlos – bis hin zu Todesgedanken und konkreten Suizidplänen oder -versuchen. Manche haben Schuldgefühle. Einige leiden auch an körperlichen Beschwerden wie Magenproblemen oder Kopfschmerzen. In schweren Fällen lassen sie sich gar nicht mehr aufheitern und fühlen sich emotional völlig leer. Sie leiden dann häufig auch unter einem Morgentief und bewegen sich entweder besonders langsam oder nervös und fahrig.

Die Konsequenzen für das Privat- und Berufsleben hängen sehr von der Schwere ab: Manche Depressive verlassen nicht einmal mehr ihr Bett und verlieren dadurch Freunde und Arbeit. In anderen Fällen fällt die Depression kaum auf. Mehr als drei Viertel entwickeln zusätzlich eine weitere psychische Störung, darunter vor allem Ängste und Süchte.

Eine chronische Depression (Dysthymie) liegt vor, wenn jemand über mindestens zwei Jahre an der Hälfte aller Tage niedergeschlagen ist und an zwei oder mehr weiteren typischen Merkmalen leidet, darunter Schlaf-, Konzentrations- oder Selbstwertprobleme, veränderter Appetit, Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit.

Ein Sonderfall sind jene Depressionen, die sich mit manischen Episoden abwechseln, so genannte bipolare Störungen. Kennzeichen dieser mindestens vier Tage währenden Phasen mit übertrieben guter oder auch reizbarer Stimmung sind ein geringes Schlafbedürfnis, innere Unruhe und Betriebsamkeit sowie ein überhöhtes Selbstwertgefühl bis hin zu Größenwahn. Die Betroffenen beschäftigen sich übermäßig mit angenehmen Aktivitäten wie Sex oder Einkaufen, sind penetrant gesellig, geschwätzig und blind für Gefahren. Sie schmieden unrealistische Pläne und springen schnell zwischen Ideen und Themen hin und her. Wer versucht, sie in ihrem Eifer zu bremsen, erntet oft Wut und Ärger.

Wie entstehen und verlaufen Depressionen?

Eine typische depressive Episode dauert im Schnitt sechs bis acht Monate. Die Hälfte aller Betroffenen erleidet im Durchschnitt nach fünf Jahren einen Rückfall, jeder dritte erholt sich ohnehin nur teilweise. Einen schweren Verlauf erleben vor allem Frauen sowie diejenigen, die schon in jungen Jahren das erste Mal erkrankten, genetisch vorbelastet sind, viele Konflikte sowie wenig Unterstützung erfahren oder an weiteren psychischen oder körperlichen Erkrankungen leiden.

Forscher nehmen an, dass bei der Entstehung verschiedene Faktoren zusammenwirken – wie genau, ist noch nicht geklärt. Vergleichsuntersuchungen von eineiigen und zweieiigen Zwillingen zeigten, dass es eine genetische Veranlagung für Depressionen gibt. Zu den biologischen Besonderheiten zählen Funktionsstörungen von Hirnbotenstoffen und des Stresshormons Cortisol.

Aber auch psychische Faktoren spielen hinein: Einigen – nicht allen – mangelt es an praktischer sozialer Kompetenz. Sie sprechen leise und monoton, schauen ihrem Gegenüber nicht in die Augen, klagen viel oder äußern vorwiegend negative Ansichten und Erwartungen.

Nach Meinung vieler Forscher liegt eine Ursache außerdem darin, dass die Betroffenen in der Kindheit häufig Verluste erlitten haben. Wer auf etwas verzichten muss, was ihm wichtig ist, verliert einen positiven Verstärker und zieht sich deswegen zurück – man spricht von erlernter Hilflosigkeit. Auf diese Weise entwickeln Kinder negative Gedanken über sich und die Welt. Das äußert sich später etwa darin, dass Depressive sich meist selbst die Schuld geben, wenn ihnen etwas Schlechtes widerfährt. Erfolg empfinden sie dagegen nicht als eigenes Verdienst.

Vor allem Menschen mit chronischen Depressionen haben in der Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht. Aber auch als Erwachsene erleben Depressive häufiger psychosozialen Stress als andere Menschen. Eine solche Belastung (Scheidung, Kündigung, Krankheit) kann Erinnerungen an Kindheitserlebnisse hervorrufen. Wenn diese reaktiviert werden, beispielsweise durch einen drohenden Verlust, erlebt der Betroffene eine undifferenziert negative Stimmung, und negative automatische Gedanken setzen ein. Dadurch blockiert er sich selbst, zieht sich zunehmend zurück und verpasst so weitere positive Erlebnisse. Das stimmt ihn weiter negativ – ein Teufelskreis beginnt.

Antidepressiva – die Wahl des passenden Wirkstoffs

Depressionen lassen sich mit Hilfe verschiedener Substanzen behandeln.

Monoaminoxidasehemmer waren die ersten der heute noch gebräuchlichen Medikamente. Sie hemmen ein Enzym, das verschiedene Hirnbotenstoffe aus der Gruppe der Monoamine abbaut, darunter Serotonin, Dopamin und Noradrenalin, so dass diese länger auf die Rezeptoren an den Neuronen wirken können.

Wichtiger sind heute aber andere Medikamentengruppen: Trizyklische Antidepressiva und die weniger bekannten Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) sorgen dafür, dass die Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin nach ihrer Freisetzung länger an ihrem Wirkort bleiben und von den Nervenzellen nicht wieder aufgenommen werden.

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wirken auf dieselbe Weise, allerdings »selektiv« für den Neurotransmitter Serotonin; selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (etwa Reboxetin) verstärken hingegen die Wirkung von Noradrenalin.

Bislang können Mediziner nicht vorhersehen, welches Präparat bei welchem Patienten die gewünschte Wirkung bringt, doch eine Reihe von Forschergruppen sucht nach Anhaltspunkten für solche Prognosen – per Genanalyse. Psychiater richten sich in der Wahl des Medikaments heute meist nach den vorherrschenden Symptomen: Bei stark vermindertem Antrieb raten sie eher zu stimulierenden Präparaten, etwa dem SSRI Sertralin (Handelsname Zoloft). Bei Patienten, die vor allem unter Unruhe sowie Schlafstörungen leiden, stehen folglich eher beruhigende Mittel wie Mirtazapin (Handelsname Remergil) auf dem Rezeptblock. Auch das Risiko von Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme oder Verlust der Libido müssen Mediziner berücksichtigen.

Schlafentzug hebt die Stimmung

Bis Antidepressiva wirken, können Tage bis Wochen vergehen. Um den Botenstoffspiegel im Gehirn kurzfristig wieder ins Lot zu bringen, holen Kliniken ihre depressiven Patienten manchmal zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett. Der Schlafentzug hebt bei vielen Betroffenen vorübergehend die Stimmung und hilft so, das Befinden zu stabilisieren. Offenbar erhöht er die Konzentration des Neurotransmitters Serotonin sowie der Aminosäure Tryptophan, einer Vorstufe des Botenstoffs. Bei Depressionen ist der Serotoninhaushalt im Gehirn häufig gestört.

Proc. Natl. Acad. Sci. USA 111, S. 10761–10766, 2014

Weblinks

Das Kompetenznetz Depression bietet Informationen für Experten und Betroffene sowie Tipps für Angehörige:

www.deutsche-depressionshilfe.de

Therapierichtlinien der Bundesärztekammer:

www.depression.versorgungsleitlinien.de

Frei zugängliche »Gehirn& Geist«-Artikel zum Thema:

www.gehirn-und-geist.de/depression

Quellen

Goel, N., Bale, T. L.: Examining the Intersection of Sex and Stress in Modelling Neuropsychiatric Disorders. In: Journal of Neuroendocrinology 21, S. 415–420, 2009

Goldstein, J. M. et al.: Sex Differences in Stress Response Circuitry Activation Dependent on Female Hormonal Cycle. In: The Journal of Neuroscience 30, S. 431–438, 2010

Sell, S. L. et al.: Estradiol-Sertraline Synergy in Ovariecto-mized Rats. In: Psychoneuro-endocrinology 33, S. 1051–1060, 2008

Young, E. A., Becker, J. B.: Perspective: Sex Matters: Gonadal Steroids and the Brain. In: Neuropsychopharmacology 34, S. 537–538, 2009

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DEPRESSIONEN TRAUER

Quälende Sehnsucht

Der Tod eines geliebten Menschen ist für einen Teil der Hinterbliebenen so unerträglich, dass sie den Verlust nicht wahrhaben wollen und sich stattdessen in Erinnerungen flüchten. Psychologen erforschen, worin diese so genannte komplexe Trauer gründet und wie sie sich überwinden lässt.

VON CHRISTIANE GELITZ

AUF EINEN BLICK

Abschied ohne Ende

1

Wenn Hinterbliebene mit komplexer Trauer an den Verstorbenen denken, empfinden sie neben Schmerz
auch starke Sehnsucht.

2


3

Eine Konfrontation mit den schmerzhaften Erinnerungen kann helfen, den Verlust zu
überwinden.