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HENRI LEFEBVRE

DAS RECHT AUF

STADT

AUS DEM FTRANZÖSISCHEN VON BIRGIT ALTHALER

MIT EINEM VORWORT VON CHRISTOPH SCHÄFER

EDITION NAUTILUS

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Die Originalausgabe des vorliegenden Buches

erschien unter dem Titel Le droit à la ville

bei Éditions Anthropos, Paris 1968

Der deutschen Übersetzung liegt zugrunde:

Henri Lefebvre, Le droit à la ville, 3. Auflage,

© Editions Economica, Paris 2009

Nachwort aus: Henri Lefebvre, Espace et politique,

2. Auflage, © Editions Economica, Paris 2000

Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg

Schützenstraße 49 a · D 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2016

Deutsche Erstausgabe März 2016

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

1. Auflage

eISBN 978-3-96054-007-6

Vorwort
von Christoph Schäfer

Vorwarnung

Industrialisierung und Urbanisierung

Die Philosophie und die Stadt

Teilwissenschaften und die städtische Realität

Philosophie der Stadt und urbanistische Ideologie

Besonderheit der Stadt

Kontinuitäten und Diskontinuitäten

Stufen der Wirklichkeit und der Analyse

Stadt und Land

In der Nähe des kritischen Punktes

Über die städtische Form

Die Spektralanalyse

Das Recht auf Stadt

Perspektive oder Prospektive?

Die Verwirklichung der Philosophie

Thesen zur Stadt, zum Urbanen und zum Urbanismus

Anstelle eines Nachworts
Raum und Politik

Vorwort

Auf dem Weg vom CAMP-Studio durch die eng vertreppten Gassen des Chuim Village in Bombay1 entschlüsselt uns Ashok Sukumaran die Spuren an Wänden und Bauten. Unterschiedlichste Migrationsgruppen, Klassen und Anschauungen haben sich in die Stadt eingeschrieben, und der enthusiastische Hochtempovortrag des Künstlers legt Zeitschichten, städtische Kämpfe, Politiken und Aneignungen an den Mauern frei. Mir schwirrt noch etwas der Kopf, weil ich ein paar Stunden vorher aus Hamburg angekommen bin und Schwierigkeiten hatte, den beschriebenen Weg hierher zu finden. Der Taxifahrer kannte die Adresse nicht und navigierte nach auffälligen Landmarken durch die Millionenstadt wie ein Seefahrer des 15. Jahrhunderts durch ein unkartografiertes Südseearchipel, hatte mich an einem Markt ohne lesbares Schild abgesetzt, in einem mir unbekannten unübersichtlichen Viertel – ein Umherschweifparadies. Wenn ich nur wacher wäre und Zeit hätte! Schließlich war es mir gelungen, mich zu Ahmed’s Bakery durchzufragen, von wo es hinauf ins Studio geht, auf dessen Dachterrasse Ashok und Shaina Anand nächtliche Vorführungen piratierter Filme arrangieren.

Jetzt sind wir auf dem Weg zum Essen, es ist eine Spätsommernacht im Jahr 2015, bald wird die Regenzeit einsetzen, der Sommer war außergewöhnlich heiß, und ich kann auch mitten in der Nacht mein schickes Leinenjackett nicht tragen, als die zwischen uns laufende Künstlerin, für die die geistreichen Schnellausführungen meines Freundes nicht in erster Linie gedacht waren, fragt Why do you know so much about the city?, und ich antworte an Ashoks Stelle, Because he went to the International Lefebvre School of Urban Research, was ich lieber nicht hätte sagen sollen, denn die neuerdings erfolgreiche Kollegin hat weder den Witz noch den Inhalt verstanden und fühlt sich durch die Bemerkung veranlasst, einen zehnminütigen Vortrag darüber zu halten, dass sie solche Dinge in der Kairoer Schule, die sie besucht hat, nicht gelernt habe, und über den beklagenswerten Zustand des Schulsystems im Allgemeinen. Shaina und Ashok schweigen, wie ich, höflich. Natürlich wissen die beiden, was mit der internationalen Schule gemeint ist. Schließlich unternehmen sie schon seit 2003 Interventionen in das urbane Gewebe indischer, englischer und palästinensischer Städte, programmieren die Video-Datenbank pad.ma2, voller footage aus dem explodierenden indischen Metropolenleben. Außerdem haben sie gerade mit Pleasure: A Block Study3 ein Buch vorgelegt, das aus einer genauen Beobachtung des Alltags der Kinos, Vergnügungspaläste, Cafés, Pubs, Videotheken und Internetcafés heraus einen Londoner Häuserblock in der Edgware Road beschreibt und das zugleich eine Mikrogeschichte der Technik und des Begehrens, der Migration, der arabischen Wunschwelten und der aktuellen Einwanderung in miserable Metropolenverhältnisse erzählt – eine inspirierende Herangehensweise, die urbanen Alltag und Imagination auf eine Weise verknüpft, die Lefebvre im Sinn gehabt haben könnte, als er in den Sechzigerjahren damit begann, über Stadt zu schreiben.

Im Kapitel Recht auf Stadt in diesem Buch fordert und umreißt er eine solche urbane Wissenschaft: »Die Theorie, die legitimerweise Urbanismus genannt werden könnte, die an die Bedeutungen der alten Praxis namens Wohnen (also dem Menschlichen) anknüpfen würde, die diesen Teilwirklichkeiten eine allgemeine Theorie der städtischen Zeiten/Räume hinzufügen würde, die eine neue Praxis anzeigen würde, die sich aus dieser Erarbeitung ableiten ließe, einen solchen Urbanismus gibt es virtuell

Ich kenne eine Menge Leute, es sind mir die liebsten, die an diesem virtuellen Urbanismus arbeiten, die das Urbane, einerseits, aus Versatzstücken herauslesen müssen, weil die Stadt eigentlich nicht mehr existiert, als Wissenschaft also ihren Gegenstand verloren hat, und die andererseits gleichzeitig daran arbeiten, diese herzustellen. Es sind Leute, die eine schmutzige, urbane Praxis betreiben, die Städte durchstreifen und Wände decodieren, die filmen, zeichnen, kartografieren, archivieren, programmieren, Töne aufnehmen, Situationen analysieren – und konstruieren. Die International Lefebvre School of Urban Research existiert, sie ist eine vielköpfige Hydra. Sie beflügelt urbane Auseinandersetzungen, startet Projekte, besetzt Häuser und soziale Zentren, plant Parks von unten, organisiert Wunschproduktionen; sie hält Kongresse ab, macht AnArchitektur4, Ausstellungen, schreibt Bücher in Sydney, Delhi, Wien, New York City, Stuttgart; sie gründet neue Studiengänge mit seltsamen Namen an echten Universitäten. Das von Lefebvre beschriebene Recht auf Stadt bildet Plattformen und Netzwerke in Istanbul und Leipzig, Freiburg und Frankfurt, München, wird zu Bewegungen in Hamburg, in Boston, in Durban. Es beginnt, die Städte zu verändern. Und es wächst.

Doch halt! Wie kann das sein? Bis zu dieser Veröffentlichung gab es keine Übersetzung von Recht auf Stadt ins Deutsche. Und doch haben die Ideen aus dem Buch derzeit erstaunlich viel Wirkung, sind Kampfruf und Slogan, beflügeln Diskussionen. Trotz Filterung durch Unvollständigkeit, bisher etwas schräge Übersetzungen, Zitate und verteilte Artikel, entwickeln Lefebvres Gedanken verblüffend viel Kraft.

Das hat mit ihrer Aktualität zu tun: Die Verhältnisse haben zu Lefebvres Schriften aufgeschlossen. Die Situation in den Städten hat sich zugespitzt, der Verwertungsdruck nimmt zu, die Warenform erfasst das ganze Leben – und vielfältige widerständige Praxen treten dem entgegen. Die urbane Revolution ist eben nicht nur eine Idee, sondern eine reale Entwicklung, und die Beschreibungen Lefebvres sind abstrakt genug und genug nach vorne gedacht, um das Denken all jener zu munitionieren, die auf der Suche nach Wegen aus dem stärker werdenden Druck auf das Alltagsleben der heutigen Städte sind.

Doch zum verblüffenden impact-before-publication gehört noch etwas anderes: Lefebvres Texte über Stadt entstanden keineswegs in der Isolation – im Gegenteil, sie entstanden in einem abenteuerlustigen, radikalen, durch Kunst geprägten Milieu. Lefebvre hatte engen Kontakt mit Künstlern der COBRA-Gruppe, beeinflusste Constant, der Lefebvres Theorie der Momente aufnahm und bereits 1953 in einem Text Für eine Architektur der Situation weiterentwickelte5 und später die utopische Stadt New Babylon entwarf, die er zunächst Dériville nannte – Umherschweifstadt. Lefebvres Liebesaffäre mit dem Kreis der Situationist*innen begann etwa zur Zeit seines Bruchs mit der Kommunistischen Partei, als eine Kritik des Stalinismus und neue Möglichkeiten linksradikaler Politik außerhalb von Partei, Gewerkschaft und Arbeiterklasse auftauchten.6 Raoul Vaneigem war von Lefebvres Kritik des Alltagslebens und schließlich von Lefebvres Abrechnung mit der Partei, Die Summe und der Rest (1959), so eingenommen, dass er ihm einen Essay über Poesie und Revolution schickte.7 In ihrer experimentierfreudigsten Zeit, zwischen 1957 und 1961, interessierten die Situationist*innen sich für die Stadt, für die Konstruktion von Situationen und für Urbanismus, erfanden das Umherschweifen und spielten Ideen-Pingpong mit Lefebvre, mit Künstlermitgliedern wie Asger Jorn, Ralph Rumney, Attila Kotányi oder Constant.

Diese explosiven Partikel schießen durch den Raum, die Malerei der COBRA-Gruppe, die Erinnerung an den Surrealismus, die verspielten Stadtentwürfe, die leidenschaftlich durchsoffenen Nächte in Pariser Kneipen, die Attacken der holländischen Provos, die frühen situationistischen Schriften nicht zufällig erschien 1973 eine erste Flugschrift der Edition Nautilus, als sie noch MAD-Verlag hieß, mit Texten der Situationistischen Internationale, bevor der Verlag in kollektiver Fleißarbeit 1976/77 die gesamten Ausgaben der Zeitschriften der SI in zwei Bänden auf Deutsch publizierte –, all das klingt in Lefebvres Denken über Stadt nach, bildet seinen Hintergrund, war schon Teil der Sub- und Popkulturen, bevor das Buch zu greifen war.

Trotz Lefebvres Interesse an Kunst, Poesie und ausgreifendem, systemsprengendem Denken kommt selbst in den ängstlich um Absicherung bemühten heutigen Wissenschaften keiner mehr an ihm vorbei. Seit 1991 wird Lefebvre zunehmend rezipiert. Damals wurde La production de l’espace ins Englische übersetzt8, und die Übersetzung hat einen Paradigmenwechsel eingeleitet: Die Wiederentdeckung des Raums als Kategorie des Denkens.

Auf dem Höhepunkt des Booms der linken Flucht in den Diskurs ist dies eine wichtige Wiederentdeckung, mit immer größer werdender Relevanz für widerständige Gruppen. Relevant, weil der städtische Raum ökonomisch und sozial wichtiger wird, nicht mehr nur Ort der Realisierung von Wert ist, sondern auch der Ort der Produktion von Wert, von Ideen, Innovation, Beziehungen. Dadurch erhöht sich nicht nur der Druck auf die Zentren, dadurch erschließen sich sozialen Bewegungen ebenfalls neue Möglichkeitsräume und Handlungsfelder, die einen noch viel zu wenig verstandenen Bruch anzeigen: Mit schwächelnden, traditionellen Politikformen, die sich um die gewerkschaftliche Organisation am Arbeitsplatz, parlamentarische Repräsentation oder direkte Demokratie à la Volksabstimmung bemühen.

Denn durch die Verknüpfung verräumlichter Kämpfe werden neue Formen außerparlamentarischer Politik möglich. Beeindruckende Beispiele sind die Occupy-Bewegungen der letzten Jahre, vor allem Occupy Gezi, das den Beginn eines ganz grundsätzlichen Bruchs mit der (noch, und nur noch, mit unverhohlener Gewalt) herrschenden Politik in der Türkei ankündigt, und in der die kreativ, prekär und immateriell arbeitenden Stadtbewohner*innen erkannt haben, dass die Stadt als Raum der Produktion von Mehrwert auch ein lebenswichtiger Angriffspunkt ist, den lahmzulegen und mit neuen Praxen und Sprechweisen vielfältig zu besetzen ähnlich zentrale Bedeutung hat wie früher der Generalstreik. Occupy Gezi ging in den 2000er Jahren ein Versuch voraus, die Kämpfe der einzelnen Viertel in Istanbul zu vernetzen – unter dem Slogan Recht auf Stadt. Auch solche gescheiterten Versuche sind wichtige Erfahrungen auf dem Weg – vielleicht ist das Erdbeben Occupy Gezi auch wegen dieser Erfahrungen (mit) in Gang gekommen. Der gleiche Slogan (und Kampfruf) hat dafür an einem anderen Ort, in etwas kleinerem Maßstab, verblüffend gut funktioniert – in Hamburg.

Der dortigen Recht-auf-Stadt-Bewegung ist es ab 2009 gelungen, Allianzen hinzubekommen, die in der Vergangenheit unmöglich erschienen: zwischen musikalischen Subkulturen, Fußballfans, Künstler*innen, Autonomen, Mieter*innen aus Arbeiter- und Bürgervierteln und, neuerdings, Refugees. Bisher temporär und fragil, ist es dennoch keine Kleinigkeit, dass sich Hafenarbeiter in der wie ein Rave organisierten Besetzung-durch-Ausstellung des Hamburger Gängeviertels wiederfinden konnten und dass die jungen Leute Unterstützung durch pensionierte Rollstuhlfahrerinnen aus den Großraumsiedlungen am Stadtrand, durch bürgerliche Damen mit Perlenkette ebenso bekamen wie durch die Tochter türkischer Einwanderer, die ihre Kindheit in den heruntergekommenen Häusern verbracht hatte. Eine ähnliche Bandbreite (im Lefebvre-Speak: Unterschiedlichkeit) kennzeichnet viele der erfolgreicheren Projekte und Bewegungen, mit stark migrantisch geprägter Gewichtung etwa Kotti &Co in Berlin-Kreuzberg. In dem Sinne ist das diesem Band anstelle eines Nachworts angefügte Vorwort von Lefebvre selbst zu Raum und Politik von 1972 essentieller Stoff, der das Recht auf Stadt und das Recht auf Zentralität messerscharf umreißt.

Augsburg. In der bayerischen Fuggerstadt haben ein paar junge Leute, Künstler*innen die meisten, keine Lust mehr, zur Zwischennutzung verwendet zu werden. Zu oft haben sie in den vorangegangenen Jahren erlebt, dass ihre künstlerische Aktivität in den günstig gewährten Wohn- und Arbeitsräumen nur der Aufwertung eines runtergerockten Viertels diente, und dass diese Instrumentalisierung obendrein nach kurzer Zeit mit ihrem Rauswurf beendet wurde. Sie überlegten, ihr künstlerisches Eigeninteresse mit einem langfristigen, sozialen Mehrwert zu verknüpfen. Mitten im Altstadtkern finden sie ein leerstehendes Objekt, ein aufgegebenes Seniorenheim, und schlagen der Besitzerin, der Diakonie, ein kühnes Projekt vor: Sie wollen ein künstlerisch gestaltetes Hotel daraus machen, ein Hotel für Menschen mit und ohne Asyl. Die Eigentümerin macht mit. Die Künstler*innen bauen das Haus um, erzählen der Nachbarschaft von dem Projekt. Wie zu erwarten, gibt es Unmut wegen der Geflüchteten. Doch die Künstler*innen machen weiter, performen, verkleiden sich, renovieren, machen keine Kompromisse, aber mit einladender Haltung, über ein Jahr lang. Und sie kippen die reservierte Stimmung: Die ersten Nachbar*innen bringen alte Möbel und Lampen vorbei, jedes Stück hat eine Geschichte, sie eignen sich das Gebäude an, werden zum Teil des Projekts: Grandhotel Cosmopolis. Das ganze Versprechen der Stadt steckt in diesem Namen. Die Zimmer werden unterschiedlich gestaltet, ausgemalt. Als feuerpolizeiliche Auflagen dem Projekt den Garaus zu machen drohen, packt einen Chirurgen der Ehrgeiz: Er nimmt sich einige Wochen frei, ersinnt ein ungewöhnliches, absolut die gesetzlichen Normen übererfüllendes Stromnetz, legt feinste Kanäle ins Haus und baut alles ein, ohne dass die statische Struktur des Gebäudes auf den Kopf gestellt werden muss.

Ins Hotel rein geht es über eine schicke Lobby, an der Wand ein genialer Claim: Welcome to your Lobby! Das Hotel ist Lefebvre galore: Überall steht die Kunst im Vordergrund, bestimmt Räume und Atmosphären. Und eine neu erfundene Alltagspraxis, die Produktion des Raums, nicht das Helfen oder die vordergründige Politik. Deshalb ist die Lobby ein anregend gestaltetes Café, zum Lesen oder als Treffpunkt für alles Mögliche, für Musiker*innen, für Künstler*innen. Bezahlt wird, was die Gäste für angemessen halten – so können alle da sein. Hin und wieder pesen Kinder der Geflüchteten zwischen den Tischen hindurch, wie bei einem Familienfest. Informelle Gespräche entwickeln sich – die Gäste mit Asyl kennen sich selbstverständlich besser aus als der Neuankömmling, egal welchen Aufenthaltsstatus der hat. Die Gewichte und Expertisen verlagern sich. Nicht ganz so öffentlich ist tagsüber der große Veranstaltungsraum im Keller, der nur durch einen Tresen getrennt ist von einer großen Profiküche. Eine riesige Tafel ist in der Mitte aufgebaut. Alle essen hier gemeinsam, Refugees, Supporter, Musiker*innen, Gastkünstler*innen. Nachts verwandelt sich der Raum, wird einmal die Woche zur Pizzeria, dann zum Auftrittsort für eine Band, oder zum Vortragssaal. In einem Nebenzimmer hat ein Mann aus dem Iran seine erste Installation aufgebaut, einen Teesalon mit selbstgebasteltem, farbig-ornamentiertem Fenster. Einige Stockwerke darüber, unter dem Dach, gibt es Ateliers. In einem kleinen Zimmer übt ein Mann aus Afghanistan an einem windbalgbetriebenen Tasteninstrument, singt uns ein Lied vor. Sind hier alle unterschiedslos Künstler? Ein achtjähriges schwarzes Mädchen ist sein Fan und kuschelt sich in die Polster, wenn er spielt. In einem Seitentrakt leitet ein Israeli sein tägliches interkulturelles (ich hasse so was eigentlich) Begegnungsspiel an, aber der kriegt das hin, dass eine Gruppe etwas scheuer Studierender und die mehrsprachigen Geflüchteten im Handumdrehen miteinander spaßen, spielen und kurz darauf in intensive Gespräche vertieft sind.

Viele haben Lefebvres Schriften wie einen Steinbruch behandelt: Man stemmt sich ein Stück heraus, mit dem man etwas anfangen kann, und beginnt gleich damit weiterzuarbeiten, zerlegt es, macht es passend, baut es ein – oder schleudert dem Gegner einen Brocken entgegen. Es würde den Rahmen dieses Vorwortes sprengen und brauchte ein eigenes Extrabuch, um all die schlauen Projekte und Taktiken vorzustellen, die mit diesen Versatzstücken höchst erfolgreich, oft künstlerisch, und immer außerparlamentarisch operieren, und würde man mich um eine Empfehlung bitten, würde ich antworten: Lasst uns genau so weitermachen!

Ich weiß nicht, ob die Augsburger*innen Lefebvre bereits gelesen haben. Ich bin mir sicher, sie werden es bald tun. Recht auf Stadt ist voller Hinweise und theoretischer Unterfütterung ihrer Praxis. Das, was im Grandhotel Cosmopolis passiert, könnte man mit Lefebvre als habiter bezeichnen, als Wohnen, das im Gegensatz steht zum habitat, dem Wohngebiet als abgegrenzter Zone. Habiter/Wohnen meint eine aktive, lebendige Totalität (durchaus im Sinne von Heideggers Bauen Wohnen Denken, aber ohne den konservativen Rückbezug auf eine nostalgisierte Vergangenheit). Habitat/Wohngebiet dagegen bezeichnet das stadtplanerische Programm der funktionalen Trennung. Damit ist all das gemeint, was etwa seit 1950 an industrialisierter, kapitalistischer, staatlich gesteuerter Stadtplanung entsteht, von der Eigenheimvorstadt bis zur Trabantenstadt, von der Gated Community bis zur Hafencity – all dieses Geplante und Konstruierte, das nichts von dem kann, was Orte wie das Grandhotel Cosmopolis hinbekommen: Treffpunkte schaffen, Aneignung der Räume, Situationen konstruieren, die Potenziale des Einzelnen multiplizieren, Kunst, die das Leben verändert, sich selbst verändern, die Anwesenheit des Fremden, sich in Festen verausgaben und verschwenden, zusammen kochen, zusammen essen, teilen, In-Ruhe-gelassen-werden-aber-sehen-was-sonst-passiert, Beziehungen neu erfinden, unwahrscheinliche Begegnungen, ungeplante Unterhaltungen, das Recht auf Zentralität für alle, das Recht auf Unterschiedlichkeit.

In den Diskussionen im Vorfeld dieser Publikation hat die Übersetzerin Birgit Althaler darauf hingewiesen, dass habiter/wohnen in der deutschsprachigen Ausgabe von La Révolution Urbaine9 falsch und irreführend als Wohnraum übersetzt wurde, habitat dagegen als Lebensraum. Diese Übersetzung trifft nur schlecht die von Lefebvre gemeinte Bedeutung, und verwirrt umso mehr, als »Lebensraum« alltagssprachig heute eher positiv verwendet wird (trotz der sozialdarwinistischen Geschichte des Begriffs in der Nazi-Ideologie). »Wohnraum« dagegen ist viel reduktiver als das Tu-Wort »wohnen«. »Wohnraum« kann man planen und bauen, wohnen – gerade in dem Sinne, wie es das Grandhotel Cosmopolis vorführt, oder wie es Ashok in Bombay beschreibt – ist eine Tätigkeit, ist vita activa.

Hinter dieser Unterscheidung zwischen habiter und habitat steht ein Konflikt10, der unter einem zu Lefebvres Zeiten neuen, ganz grundsätzlichen Paradigma stattfindet – dem der Urbanen Revolution, die die Industrielle Revolution ablöst. Gleich im geistesdurchblitzten ersten Kapitel, Industrialisierung und Urbanisierung, entwickelt Lefebvre diesen Gedanken.

Recht auf Stadt: Diese Veröffentlichung kommt genau im richtigen Moment. Denn nach Jahren einer künstlichen Verknappung des Wohnraums wird, spätestens mit der Ankunft der Refugees, die schnelle Schaffung von Raum fürs Wohnen notwendig. Viel davon. Besonders für die immer stärker verarmenden Schichten der Bevölkerung. Und mit solchen Neubauten haben die Stadtverwaltungen und Wohnungsunternehmen kaum mehr Erfahrungen – der soziale Wohnungsbau wurde bereits 1984 gesetzlich abgeschafft. Ganze Architekturgenerationen kennen nur noch neoliberale Stadtentwicklung, »Starchitecture« und New-Build-Gentrification.11 Wie aus einer verdrängten Vergangenheit droht nun ein Bedürfnisbefriedigung-von-oben-Urbanismus zurückzukehren: als Notstandsurbanismus. Der ist noch schlimmer als die von Lefebvre kritisierte habitat-Ideologie, denn die Stadtverwaltungen setzen auf den Bau von Massenunterkünften, weichen an den Stadtrand aus, wo wenig Klagen von Eigenheimbesitzern zu erwarten sind. Zudem nutzt der Notstandsurbanismus die Krisensituation aus, um die ohnehin rudimentären Beteiligungsmöglichkeiten auszuhebeln.

Soziale Bewegungen der letzten Jahrzehnte haben sich alte Häuser, Fabrikhallen, Bürokomplexe angeeignet. Dafür gab es gute Gründe, und die in diesen Projekten entwickelten Fähigkeiten haben eine große Nähe zu dem, was Lefebvre als Produktion des (sozialen) Raums beschreibt. Lässt sich aus diesen Erfahrungen und Fähigkeiten nicht mehr machen, auch für größere Projekte, für neue Bauten, wie sie jetzt nötig werden? Kann eine emanzipatorische Linke noch Neubau in größerem Maßstab denken, die taktische Ethik des Selbermachens, die mikropolitische Genauigkeit der Vielen auf eine Ebene hochskalieren, die sonst genau umgekehrt arbeitet, nämlich strategisch, planerisch? Keine leichte Aufgabe – aber die, um die es geht:

Lefebvre hat zu einer Zeit geschrieben, als in Frankreich wie in Deutschland Großsiedlungen in zuvor ungekanntem Maßstab gebaut wurden – die Banlieues in Frankreich, in der BRD waren das im Jahr der Veröffentlichung von Le Droit à la Ville 750 000 Wohneinheiten. Diesem staatlich organisierten, industriellen Urbanismus, diesem »Wohnraum für alle« in Trabantenstädten, dieser Stadtplanung der Trennung in funktionale Zonen und Klassen widmet Lefebvre scharfe Kritik. Und schlägt einen radikalen Richtungswechsel vor.

Recht auf Stadt ist der erste Teil von Lefebvres kohärenter und umfassender Stadttheorie. Die hat einen weiteren Vorteil, nämlich dass sie wichtige linksradikale Antis in einen positiven Slogan bündelt: Das Recht auf Stadt ist gegen die Nation, es steht im Widerspruch zum Staat und es richtet sich gegen die Strukturierung des Raums durch das Eigentum.

Es ist daher nur folgerichtig, dass in Hamburg die Themen Erhalt der Roten Flora, Unterstützung der Bewohner*innen und Subkulturläden in den ESSO-Häusern, Solidarität mit den Refugees und dem selbstorganisierten Kampf der Lampedusain-Hamburg-Gruppe miteinander verbunden wurden unter dem Slogan Recht auf Stadt kennt keine Grenzen war dieser bunte Block Teil jener bekannten Demonstration am 21.12.2013, die gleich zu Beginn von der Polizei angegriffen und über Stunden mit Wasserwerfern und Knüppelschlägen aufgelöst wurde. Das löste die größten riots in der Hansestadt seit Jahrzehnten aus. Der Autor dieser Zeilen saß im selben U-Boot, also Lastwagen, den Niels Boeing in seinem jüngst erschienenen Buch Von Wegen12 beschrieben hat, jener spannend geschilderten Fahrt in einem als Lieferwagen getarnten Lautsprechermobil durch die nächtliche, von prügelnden Polizeieinheiten durchzogene, mit Versammlungsverbot belegte Stadt, bis zu den gerade geräumten ESSO-Häusern. Einen mir wichtigen Punkt hat Niels allerdings nicht beschrieben: Die schlaue Aktion konnte nur gelingen, weil alle an Bord wussten, dass sie sich voll aufeinander verlassen können. Das Kernteam war aufeinander eingespielt. Niemand musste gefragt werden, ob man sich einem Kundgebungsverbot beugt – oder dieses mit einer List umgeht. Wenige Worte reichten aus, um umgehend nach Auftauchen aus der Deckung, mitten im Tohuwabohu der Greiftrupps, die Generatoren ans Laufen zu kriegen und die Anlage am Start zu haben, um im passenden und unerwarteten Ton mit dem Reden zu beginnen, während der sofort einsetzende, pfefferspraybewehrte Versuch der Polizei, auf die Ladefläche zu gelangen, entschlossen abgewehrt wurde. In den acht Wochen, die auf diese Nacht folgten, erklärte die Polizei St. Pauli zum Gefahrengebiet – und erntete die Danger Zone Games und die Klobürstenproteste, wurde zum Gespött der Stadt, musste nach wenigen Tagen, noch im Januar, die Maßnahme13 beenden, Initiativen beriefen im Februar die selbstorganisierte Stadtteilversammlung St. Pauli selber machen im Ballsaal des FC St. Pauli ein, aus der (unter anderem) die PlanBude14 und, ein Jahr später, Refugees Welcome Karoviertel15 gegründet wurden. Das Recht auf Stadt wird einem nicht geschenkt.

Trotz seiner Radikalität ist das Recht auf Stadt anschlussfähig für die Vielen. Denn es beinhaltet das Recht auf Unterschiedlichkeit – und ermöglicht damit die Entwicklung einer erweiterten, vielstimmigen Politik der ersten Person16 und bildet einen Gegensatz zur Stellvertreterpolitik.

Dieser Gegensatz trat zum Beispiel 2011 bei einem Frühstück während des internationalen Recht auf Stadt Kongresses17 in Hamburg zu Tage. Das von der Recht auf Stadt Vernetzung und dem Buko18 organisierte Treffen erstreckte sich übermütig über die gesamte Stadt, vom Gängeviertel19 zu Park Fiction20, von Centro Sociale21 bis zur Roten Flora22. In einer befreundeten Schule war ein Frühstückscafé eingerichtet, eine vortragsfreie Zone, damit die aus allen Ländern angereisten Aktiven miteinander ins informelle Gespräch kommen könnten. Recht-auf-Stadt-Wuppertal hatte Mazwi Nzimande und Mnikelo Maxwell Ndabankulu, zwei sehr junge Leute aus Durban, nach Deutschland geholt. Ihre Gruppe, die Shack Dwellers Bewegung Abahlali baseMjondolo, hat inzwischen über 13 000 Mitglieder in den townships, bezieht sich auf das Recht auf Stadt23 und ist die Alternative zum korrupt gewordenen (und zu Unrecht von linken Organisationen bis heute unterstützten) ANC. Die selbstorganisierte Abahlali baseMjondolo arbeitet außerparlamentarisch, und die beiden jungen Organisatoren waren charismatische Redner. Die Sonne schien auf unsere Käsebrötchen und den langen Resopaltisch, um den wir uns alle wie bei einem Kindergeburtstag gruppiert hatten, und wir versuchten, uns gegenseitig unsere Ansätze zu beschreiben. Meine These war, dass mit dem Right to the City vor allem das Recht auf Zentralität gemeint sei, also auch der Anschluss an innerstädtische Infrastrukturen, Netzwerke, Szenen, und dass diese Notwendigkeit, Teil des innerstädtischen Gefüges zu sein, nicht mehr nur (aber auch) die Allerärmsten betrifft, sondern breite Schichten, etwa Leute aus prekären Medienjobs, die ganz materiell auf diesen Anschluss angewiesen sind. Und welche Rolle besetzte Orte und Plattformen des Austauschs, wie das Gängeviertel oder das Centro, deshalb spielen – ob es in Südafrika Ähnliches gebe? Statt die Gäste aus Durban sprechen zu lassen, antwortete so ein Eine-Welt-Vertreter, indem er jede Vergleichbarkeit wie den Affront eines Ahnungslosen weit von sich wies: Das Leben hier und die Probleme in unseren Städten hätten nichts mit denen in Südafrika zu tun. Der moderige Geruch des Antiimperialismus lag plötzlich über dem Tisch, die Dritte-Welt-Solidarität womöglich als Tarnmantel umgelegt, um die eigene Denkfaulheit zu verbergen. Ich hakte nach und richtete meine Frage noch deutlicher an die Genossen aus Durban, die endlich zu Wort kamen. Maxwell: »Oh ja, genau darum geht es bei uns auch. Wir bekommen townships kilometerweit vor der Stadt hingestellt. Einen regulären Busservice gibt es noch nicht, man muss teurere private Lösungen verwenden, um in die Stadt zu kommen, das kostet Zeit und Geld. Aus der Stadt mussten wir in die Vororte ziehen – doch die Infrastruktur ist noch nicht da. Schulen, Bibliothek und Community Center sollen erst zehn Jahre später gebaut werden, es gibt keine Treffpunkte, man kann nichts machen, es gibt noch nicht mal eine Polizeistation.«

So ähnlich, und mit ausdrücklichem Bezug auf das Recht auf Stadt, veröffentlichen sie auf ihrer Webseite: »Aber Fakt ist, dass die ›Versorgung‹ (delivery) mit einem Regierungshaus, die sich manchmal als ein Schritt nach vorne für den ›Begünstigten‹ darstellt, sich in anderen Fällen als Unglück entpuppt. Wenn eine Person in einem gut gelegenen Schuppen in ein Haus weit außerhalb der Stadt verdrängt wird, weit weg von seiner Arbeit, Schulen, von Freunden und Familie, kann sich der Umzug als katastrophaler Rückschritt darstellen. Die Idee von ›Das Recht auf Stadt‹ ist ein nützliches Konzept, dass uns helfen kann, außerhalb der technokratischen Logik der ›Versorgung‹ zu denken. Es ist eine Idee, die aus Basiskämpfen in Frankreich in den späten 1960ern hervorging, und die seitdem mit besonderer Kraft und Effizienz von Basisbewegungen in Südamerika aufgegriffen wurde.«24

Ich weiß nicht, ob Lefebvre 1968 damit gerechnet hat, dass sein Text vierzig Jahre später auf der anderen Seite des Globus aufgegriffen würde – von einer schwarzen Selbstorganisation, die für ihr Recht auf Stadt kämpft, um Zugriff auf Planung, um selbstbestimmte und selbstgebaute Plätze im Zentrum. Oder in Lateinamerika. Oder in Tel Aviv. Oder in Istanbul.

Die Zeit ist reif für dieses Buch. Dieses Buch ist für die, die in Städten wohnen. Es ist für die, die in Städte kommen. Für Refugees, die das Konzept des Nationalstaats überschreiten – und für die das Recht auf Stadt geschrieben wurde, mehr als für alle anderen. Für euch, Initiativen »Leerstand zu Wohnraum«, »Mietenwahnsinn stoppen«, »Bündnis gegen Zwangsräumungen« – denkt über die Abwehrkämpfe hinaus, wenn ihr mehr sein wollt als Trittbrettfahrer der Geschichte! Es ist für euch, Sprüher*innen! Es ist auch für euch, Profis aus Stadtplanung, Architektur, Urban Design, Kunst – und es geht ans Eingemachte eurer Praxis – business as usual ist over, die Stadt muss neu gefunden und neu erfunden werden. Es ist das Buch zu deiner Praxis, Street-Skater*in. Es ist ganz wichtig für Euch, NGOs, Stadtteilzentren, Sozialarbeiter*innen – seid inspirierter, das ist ja nicht mitanzusehen! Es fordert euch heraus, Soziologen und Geografen, leistet euch mehr Philosophie, mehr Poesie und mehr Kunst. Es reißt den Horizont auf. Es ist für euch, Rave-Crews, romantische Bauwagenbewohner*innen, queere Subkulturen – ihr bildet zunehmend den Kern widerständiger Projekte – und das ist kein Zufall. Es ist aber vor allem für dich, die du gerade in die Stadt gezogen bist, auf der Suche nach Abenteuern, nach Musik, nach einem leidenschaftlichen Leben. Das Recht auf Stadt geht weit über das Erfüllen von Bedürfnissen hinaus, ergreift das ganze urbane Gewebe. Denn das soll noch mehr werden: Werk, im Sinne von Kunstwerk – aber eines, das nur durch die befreite urbane Praxis der Vielen entstehen kann. Schließen wir uns zusammen, gründen wir Initiativen und klandestine Gruppen, Diskussions- und Aktionskreise, Netzwerke, in der Straße, im Viertel, in der Stadt, zwischen den Städten! Nehmen wir uns das Recht auf Stadt! Es liegt auf der Straße, es hängt in Bäumen und versteckt sich unter Pflastersteinen.25 Los geht’s!

Christoph Schäfer

Hamburg, im Januar 2016

Anmerkungen

1 Die Stadt heißt heute offiziell »Mumbai«, was zahlreiche Menschen als antikoloniale Geste interpretieren. Tatsächlich wurde die Umbenennung durch die Hindu-Fundamentalisten vorgenommen und wird von vielen kritischen Bewohner*innen der Stadt abgelehnt, die den neuen Namen als Teil einer ethnisch-religiös-nationalen Homogenisierungsstrategie ablehnen, die die hybride Geschichte und Realität Bombays auslöschen soll.

2 http://pad.ma, das Public Access Digital Media Archive basiert auf der Software pandora, mit der sich digitales Videomaterial online archivieren lässt (ähnlich wie bei youtube oder vimeo), die aber darüber hinaus machtvolle Funktionen anbietet, wie Untertitelung in mehrere Sprachen und Verschlagwortung einzelner Filmszenen. Shaina Anand begann Anfang des Jahrtausends über eine solche Möglichkeit nachzudenken. Als sie, nach den hindufundamentalistischen Gujarat Riots gegen Muslime, mit Stunden ungenutzten Dokumentarmaterials von unterschiedlichen Filmemacher*innen und Journalist*innen konfrontiert war, und keinerlei Zugriff auf die wichtigen Zeugenaussagen, etwa durch Anwälte, möglich war. pad.ma entwickelte CAMP zusammen mit den Berliner Hackern Sebastian Lütgert und Jan Gerber. pad.ma hat das gesamte, vor den Taliban gerettete Afghanische Filmarchiv digitalisiert. Ein Schwerpunkt des Archivs liegt auf Material aus indischen Städten, das durch die intelligente Verschlagwortung ganz andere Bezüge herstellen kann, die konventionellen Archiven nicht möglich sind. Die gleiche Software setzt inzwischen videoccupy aus Istanbul für ihr 2500 Stunden umfassendes Archiv des Occupy Gezi Protests 2013 ein: http://bak.ma

3 CAMP, Pleasure: A Block Study, Serpentine Galleries / Brownbook Publishing, 2014.

4 AnArchitektur war eine von jungen Berliner Architekt*innen und Stadtplaner*innen gegründete Zeitschrift, die Politik, angelehnt an Lefebvre, über Raumanalysen entschlüsselt und das »Camp for Oppositional Architecture« organisiert hat (Berlin, 2004; Utrecht, 2006; New York, 2009). https://web.archive.org/web/20060509213845/http://www.anarchitektur.com/konzeption.html und

5 Constant Nieuwenhuys, For an Architecture of Situation, 1953.

6 Kristin Ross, Henri Lefebvre on the Situationist International, Interview, 1983, veröffentlicht in October Nr. 79, 1997 http://www.notbored.org/lefebvre-interview.html

7 Hans Ulrich Obrist, In Conversation with Raoul Vaneigem, e-flux 2009, http://www.e-flux.com/journal/in-conversation-with-raoul-vaneigem/

8 Henri Lefebvre, The Production of Space, übersetzt von Donald Nicholson-Smith, Blackwell Publishers, 1991.

9 Auf Deutsch ist der Titel »Die Revolution der Städte« – was für eine bescheuerte Übersetzung. Eigentlich müsste es Die Urbane Revolution, heißen.

10 Der Lefebvre-Experte Christian Schmid schreibt in einem E-Mail-Austausch mit Birgit Althaler dazu: »Für Lefebvre ist das ein Gegensatzpaar, wobei a) habitat als planerische, technokratische Konzeption verstanden wird – er führt sie auf Le Corbusier und die moderne Architektur zurück; und b) habiter sich von Heidegger – das Wohnen – ableitet. Ich habe das als ›Habitat‹ (für ›habitat‹) und Wohnen (für ›habiter‹) übersetzt.« Zitat mit freundlicher Genehmigung.

11 Davidson, Mark and Lees, Loretta (2010), New-build gentrification: its histories, trajectories, and critical geographies. Popul. Space Place, 16: 395–411

12 Boeing, Niels, Von Wegen: Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft, Nautilus Flugschrift, 2015

13 Die Einrichtung der Gefahrengebiete durch die Hamburger Polizei, eine Art räumliche Notstandsgesetzgebung ohne Richter- oder Parlamentsbeschluss, wurde ein Jahr später, 2015, gerichtlich für illegal erklärt. Die Welt schreibt am 15.05.2015: »Die Hamburger Innenbehörde und die Polizei stehen vor einem Scherbenhaufen. Mit seinem Urteil gegen die sogenannten Gefahrengebiete hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht am Mittwoch eine zehnjährige Polizeipraxis für verfassungswidrig erklärt.«

14 Die PlanBude ist ein transdisziplinäres Team, dass sich aus der autonomen Stadtteilversammlung heraus gegründet hat. Zunächst als AG Planung in St. Pauli selber machen gegründet, hat das Team gemeinsam mit der Initiative Esso-Häuser – Wir sind kein Objekt Verhandlungen mit dem Bezirk Hamburg Mitte aufgenommen und einen unabhängigen Planungsprozess konzipiert, der auf dem Wissen der Vielen basiert. Im September 2014 schloss die PlanBude einen Vertrag, den beide Seiten jederzeit hätten kündigen können, organisierte die Beteiligung vor Ort in einem Planungscontainer, entwickelte neue Tools, damit das lokale Wissen in die Planung einfließen kann – Knetmodelle, Legomodelle im Maßstab 1:150, Fragebögen für alle Haushalte, Haustürgespräche in den Häuserblocks drumrum, öffentlicher Planungscontainer an der Baustelle, direkt an der Reeperbahn. Die Auswertung und Zusammenfassung der 2300 Beiträge ergaben ein komplexes, ungewöhnliches Ergebnis, das zunächst in öffentlichen Stadtteilkonferenzen vorgestellt und diskutiert wurde. Verblüffenderweise akzeptierten Bezirk und Eigentümer dies als Grundlage für einen städtebaulichen Wettbewerb, der die Grundlage für den neuen Bebauungsplan und den Neubau bildet. Keine Eigentumswohnungen, 60 % geförderter und 40 % privat finanzierter Wohnungsbau, urbaner Sockel, nutzbare Dächer (Basketballplatz, Skateboardbahn und Kletterwand über der Reeperbahn u.v.m., sowie ein 2400 qm großes Subkultur- und Innovationscluster mit FabLab gehören zu den Ergebnissen, die sich auch im Entwurf des Büros NL und BeL wiederfinden, die den Wettbewerb gewonnen haben.

15 RW Karo gehört zu der beeindruckenden, über die social media vernetzten Selbstorganisation in und zwischen den Städten, die das behördliche Versagen angesichts der Ankunft der Refugees 2015 aufgefangen hat und politisch in die Flüchtlingspolitik interveniert. Mit hunderten Aktiven und einer facebook-Reichweite von einer Million nur wenige Wochen nach Gründung ist es ein weiteres Beispiel für die potenzielle (und explosive) Skalierbarkeit selbstorganisierter Basisprojekte.

16 Politik der ersten Person ist ein politisches Konzept, das eine sogenannte Stellvertreterpolitik ablehnt, die Trennlinie zwischen »privat« und »öffentlich« zurückweist und die Politisierung der Privatsphäre beinhaltet. Die Politik der ersten Person wurde vor allem in der zweiten Frauenbewegung der 1970er Jahre entwickelt. (...) Auch die Bewegung der Autonomen übernahm weitgehend das Konzept (...). https://de.wikipedia.org/wiki/Politik_der_ersten_Person

17 2.–5. Juni 2011 http://kongress.rechtaufstadt.net/

18 Die Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) (früher: Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen) ist ein unabhängiger Dachverband, dem über 120 Eine-Welt-Gruppen, entwicklungspolitische Organisationen, inter- bzw. transnationalistische Initiativen, Solidaritätsgruppen, Läden, Kampagnen und Zeitschriftenprojekte sowie zurzeit fast 100 Einzelpersonen angehören.

19 Gängeviertel, 2009 von 300 Künstler*innen besetztes Viertel im voll gentrifizierten Zentrum der Hamburger Innenstadt. Zur Zeit der Besetzung gehörten die 15 Häuser einem Investor, durch das geschickte Agieren der neuen Nutzer*innen sah sich die Stadt gezwungen, das Gelände zurückzukaufen und den Besetzer*innen langfristig zu verpachten.