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Dörte Müller

Lotte und Marie feiern Weihnachten





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Antonias Gipsbein


 

Don`t be afraid to take that big step.

(Chinesische Weisheit aus einem Glückskeks)

 

        

Die achtjährige Lotte und die neunjährige Marie waren Freundinnen, solange sie denken konnten. Sie spielten jeden Tag zusammen – manchmal nur zu zweit, manchmal auch mit den anderen Kindern aus dem Dorf. In Lottes Straße wohnten gleich nebenan die Stahl Kinder: Mona und Pia, sowie Paulchen Kaiser und sein großer nun fast fünfzehnjähriger Bruder Jo. Biggy Mettmann war auch immer mit von der Partie – sie war das stärkste Mädchen im ganzen Dorf und war nie ohne ihren Zwergschnauzer Biene anzutreffen.

Ganz besonders gerne spielten Lotte und Marie mit Antonia Wolkenburg, dem schüchternen Einzelkind, das in dem schicken Bungalow ebenfalls ganz in Lottes Nähe wohnte.

An einem sonnigen Tag im Spätherbst spielten Lotte und Marie auf der Straße wie so oft einmal wieder Huckekasten. Sie hatten sich mit Kreidesteinen ein Spielfeld aufgemalt, Marie war schon bei der zweiten Runde und hüpfte ganz in das Spiel versunken von einem Kasten zum anderen. Lotte schaute etwas gelangweilt in die Gegend und sah plötzlich den schicken Mercedes der Wolkenburgs langsam die Straße herauffahren. Antonia saß auf dem Rücksitz und winkte Lotte zu.

„Guck mal, Antonia ist zu Hause. Vielleicht spielt sie mit uns Huckekasten!“, schlug Lotte fröhlich vor. Marie hörte mit dem Hüpfen auf und spähte ebenfalls zu Antonia hinüber. Das war ungewöhnlich. Wieso war Antonia um drei Uhr schon zu Hause? Lotte wunderte sich und dachte nach, wann sie Antonia das letzte Mal bei Tageslicht gesehen hatte. Das musste irgendwann im Sommer gewesen sein. Meistens waren Antonias Termine gegen 19 Uhr zu Ende und dann durfte sie nicht mehr auf die Straße, weil es schon fast dunkel war. Lotte und Marie hatten Antonia oft von Weitem zugewinkt und Hallo oder Tschüß gesagt.

Dann sahen sie, dass Antonia humpelnd aus dem Auto stieg und ein Gipsbein hatte.

 

 

Ihre Mutter half ihr mit den Krücken und sie versuchten, die Treppe bis zur Haustür hochzukommen. Lotte und Marie liefen sofort zu ihr und fragten neugierig: „Antonia, was ist denn passiert?“ „Ich bin vom Pferd gefallen!“, antwortete Antonia fröhlich.

„Dann musste ich ins Krankenhaus zum Röntgen und jetzt habe ich diesen Gips. Wollt ihr darauf unterschreiben?“ Lotte und Marie wollten gerne unterschreiben und durften mit ins Haus kommen. Bei Wolkenburgs war alles so anders: Es roch überall so gut und der Parkettfußboden glänzte sauber. Nirgends lag etwas herum und alles war aufgeräumt. Unwillkürlich fingen Lotte und Marie in der Eingangshalle an zu flüstern. „Sollen wir unsere Schuhe lieber ausziehen?“ „Ja!“, sagte Frau Wolkenburg. „Und dann geht ihr gleich in Antonias Zimmer und wartet kurz, sie wird gleich zu euch kommen.“ Lotte und Marie hatten bisher erst ganz selten bei Antonia gespielt, denn sie war fast nie zu Hause.

Montags hatte sie Reitstunde, dienstags Klavierunterricht, mittwochs Ballettunterricht, donnerstags Tennisunterricht und freitags Blockflötenunterricht. An den Wochenenden musste sie häufig an irgendwelchen Meisterschaften oder Wettkämpfen teilnehmen.

Lotte und Marie standen in Antonias Zimmer und staunten. Es war das schönste Zimmer, was sie je gesehen hatten: Rosa Flauschteppiche lagen in mehreren Schichten übereinander, hellrosa Gardinen flatterten vor einem halb geöffneten Fenster und umrahmten ein selbst gestaltetes Fensterbild, auf dem drei Elfen abgebildet waren, die einen Reigen tanzen. Von der Decke baumelte eine Lampe, sie aussah wie eine Wolke und anging, wenn man dreimal in die Hände klatschte. An den Wänden klebten eingerahmte Pferdeposter und einige Urkunden, die Antonia gewonnen hatte. Außerdem hing über ihrem Bett ein Portraitbild in Öl, auf dem Antonia aussah wie eine echte Prinzessin.

„Guck mal, das tolle Bild!“, sagte Lotte mit großen Augen. „Hat das dein Bruder gemalt?“

„Nein!“, antwortete Marie. „Mein Bruder kann nur Gebäude und Bäume malen! Und manchmal weiß man noch nicht einmal, ob er ein Gebäude oder einen Baum gemalt hat!“

Ein lebensgroßer Kuschelbär saß in einer Ecke und sagte „Guten Tag, guten Tag!“ Lotte hatte ein wenig Angst, denn als sie klein war und hier gespielt hatte, glaubte sie immer, Antonias Vater würde in dem Teddy stecken. Sie klammerte sich an Marie fest und sah sich weiter in dem Zimmer um. Plötzlich schrieen die beiden Mädchen auf. Sie hatten einen ganz besonderen Schatz entdeckt: „Das Barbiehaus!“, riefen sie wie aus einem Mund. In der hinteren Ecke stand neben dem Aquarium das große Barbiehaus mit Fahrstuhl, das sich Lotte und Marie schon immer so gewünscht hatten. Ehrfürchtig gingen sie näher heran und drückten auf den Fahrstuhlknopf, der den Fahrstuhl mit einem surrenden Geräusch nach oben fahren ließ. „So habe ich mir das immer vorgestellt!“, flüsterte Lotte und hatte Tränen in den Augen. „Ich glaube, ich bin in einem Paradies! Hier ist es noch viel schöner als bei Meinecke in der Spielzeugabteilung!“, stotterte Marie aufgewühlt.

Antonia humpelte in ihr Zimmer und strahlte.

„So, jetzt könnt ihr unterschreiben!“, sagte sie auffordernd und hielt Marie und Lotte einen goldenen Stift hin. „Antonia, du freust dich ja so!“, bemerkte Lotte schließlich. „Tut denn dein Gips gar nicht weh?“ „Nein, nur am Anfang ein bisschen!“, lachte Antonia. „Aber wisst ihr, was das Beste daran ist?“

„Das Beste ist, dass du jetzt ganz viele Unterschriften sammeln kannst!“, vermutete Marie.„Das Beste ist, dass du jetzt mit den lustigen Krücken laufen darfst!“, riet Lotte, die sich die Krücken bereits geschnappt hatte und das Laufen damit auch mal ausprobieren wollte. „Das ist doch nicht so lustig!“, sagte sie schnell und stellte die Krücken wieder beiseite.

„Ich dachte, es wäre ein bisschen wie Stelzenlaufen!“ Antonia lachte nur und sagte: „Nein, das Beste ist, dass ich jetzt fast keine Termine mehr habe. Denn mit dem Gips kann ich nicht reiten, nicht zum Ballett und nicht zu den Turnieren!“ Antonia klatschte vor Freude in die Hände. Lotte und Marie verstanden nicht ganz, was sie meinte und Lotte wunderte sich: „Ich dachte, du gehst gerne zum Reiten oder zum Ballett. Macht das denn keinen Spaß?“ „Nicht so richtig!“, gestand Antonia. „Ich würde viel lieber auch mal Huckekasten spielen oder einfach nur mit meinen Spielsachen etwas machen.“ „Du spielst nicht mit deinen Spielsachen?“, fragte Marie erstaunt. „Nein, ich habe keine Zeit dafür. Wenn ich abends nach meinem Termin zu Hause bin, muss ich noch Hausaufgaben machen und Vokabeln wiederholen. Dann lese ich noch ein Kapitel aus der Bibel und dann macht meine Mutter das Licht aus.“ Lotte und Marie sahen sich betroffen an. Von dieser Seite hatten sie Antonias Leben noch nie gesehen. Antonia war immer das Mädchen mit den tollen Spielsachen und den coolsten Klamotten. Sie sah immer so fein aus und war nie bekleckert. Sie war das wohl erzogenste Kind im ganzen Dorf und konnte mit ihren zehn Jahren schon fließend Französisch sprechen. Die Leute im Dorf nannten sie die kleine Prinzessin und waren sich sicher, dass dieses Mädchen einmal in eine Königsfamilie einheiraten würde so wie damals Königin Silvia.

Als Lotte und Marie eine Weile betroffen geschwiegen und über alles nachgedacht hatten, fragten sie gleichzeitig: „Können wir dann auch morgen zum Spielen vorbeikommen?“ Antonia rief fröhlich: „Ja, natürlich, ihr kommt jeden Tag. Das werden herrliche acht Wochen! Ihr könnt mir auch helfen, die Geschenke von meinem letzten Geburtstag auszupacken. Dazu hatte ich nämlich noch gar keine Zeit!“ So ausgelassen hatten Lotte und Marie die Freundin noch nie gesehen. Die hatte ein wahres Funkeln in den Augen und zog energisch das Zopfgummi aus ihrem dünnen blonden Haar. Dann schüttelte sie ihre Mähne und rief: „Ich bin frei! Ich bin frei!“ Sie humpelte zu ihrem Kleiderschrank, zog das Ballettkleidchen heraus und schmiss es aus dem Fenster.

„Auf nimmer Wiedersehen du alter Fetzen!“ Dann riss sie den Tennisschläger vom Haken und feuerte diesen ebenfalls hinaus, so dass es draußen plötzlich krachte. „Hoffentlich hat sie nicht den Mercedes getroffen!“, dachte Lotte verzweifelt und hielt die Luft an. Antonia machte sich darum keine Gedanken und steuerte auf ihr Aquarium zu. Marie und Lotte hatten Angst um die vielen kleinen Fische, die neugierig ihre Köpfchen an der Glaswand plattdrückten und lustige Bläschen machten. Vermutlich dachten sie, Antonia wirft jetzt Futter ins Wasser. Marie und Lotte wussten nicht so richtig, wie sie sich verhalten sollten und versuchten Antonias Aufmerksamkeit auf das Barbiehaus zu lenken.„ Du hast so ein tolles Haus!“, sagte Lotte und drückte wieder auf den Fahrstuhlknopf. „So? Habe ich das? Damit habe ich noch nie gespielt!“, rief Antonia mit ungewöhnlich hoher Stimme. „Erklärt mit mal, wie das mit dem Fahrstuhl geht!“ Lotte und Marie atmeten erleichtert auf. Antonias Wutanfall war wie weggeblasen und sie war wieder das freundliche Nachbarskind.

Dann spielten sie den ganzen Nachmittag mit dem Barbiehaus und versprachen, am kommenden Tag gleich wieder zu kommen.

Lotte und Marie hatten sich schon tolle Sachen überlegt, die sie spielen konnten, und standen am folgenden Tag pünktlich mit ihren Barbies vor Wolkenburgs Haustür und klingelten. Der Dreiklanggong hallte melodisch durch den geräumigen Flur und Antonia humpelte mit wüsten Haaren und roten Wangen auf ihren Krücken zur Haustür. Lotte und Marie wollten gerade „Hallo, Antonia!“, sagen, da kam diese ihnen zuvor und sagte statt einer Begrüßung: „Schnell, ihr müsst mir helfen, ich will abhauen von zu Hause und bei meiner Tante Silke in Hamburg leben! Aber ich finde ihre Adresse nicht – helft mir, die Akten zu durchwühlen!“

Lotte und Marie blickten sich verzweifelt an. Sie wollten doch mit dem Barbiehaus spielen und nicht irgendwelche Tanten suchen. „Aber, aber … was sollen wir denn machen?“, fragte Marie schließlich. Die Mädchen folgten Antonia zögernd in das Arbeitszimmer und hatten ein mulmiges Gefühl im Bauch. „Schnell, schnell, es ist keiner da, Marie hält Wache an der Tür und Lotte und ich durchwühlen die Akten. Ich muss den Adressordner finden!“

„Aber Antonia, wenn wir dann Ärger kriegen?“, Lotte hatte Angst, dass sie da unfreiwillig in eine gefährliche Lage geraten war. „Ich denke, du bist meine Freundin, also, los, such!“, fauchte Antonia sie an und zog immer mehr Ordner aus dem Schrank. Marie stand an der Haustür und hatte Herzklopfen. Wenn jetzt Herr oder Frau Wolkenburg kämen? Was sollte sie dann machen? Sie war geliefert.

„Warum willst du denn bei deiner Tante leben?“, fragte Lotte verzweifelt und blätterte in irgendwelchen Beihilfeunterlagen herum. „Ich will weg von hier, ich will zu ihr!“, sagte Antonia und durchwühlte einige Stapel mit der Aufschrift Steuererklärungen 2009/2010.

„Ich hab etwas!“, rief Lotte plötzlich und zog eine orange leuchtende Mappe aus dem Regal. Ihre Stimme zitterte und sie fühlte wie ihr Herz begann zu rasen. Das hier alles war wie in einem Krimi. Schnell hatte sie die erste Seite aufgeschlagen. Ein fett gedruckter Name fiel ihr sofort auf. „Silke Born aus Bienenbüttel! Das ist doch bei Hamburg, oder?“, rief sie und es klang wie eine Erlösung. Antonia sah sie mit weit aufgerissenen Augen an und ließ vor Schreck einen Ordner fallen. Doch dann fiel ihr plötzlich ein, dass es nicht die Tante Silke war. „Das ist nur meine Kinderärztin!“, brachte Antonia enttäuscht hervor und wühlte wie besessen weiter. „Sie kommen, sie kommen!“, schrie Marie plötzlich und Lotte und Antonia stopften so schnell es ging die Akten wieder in die Schränke und Regale zurück. „Nein, doch nicht, es waren Stahls!“, berichtigte Marie sich kleinlaut, die die Automarken nie richtig unterscheiden konnte und schon häufig verwechselt hatte. Mercedes oder Volvo, was machte das für einen Unterschied.

Lotte und Antonia machten sich erneut an die Arbeit und zogen mit zitternden Händen die Akten wieder heraus. Ihre Herzen pochten wie nach einem Marathonlauf. Marie hatte ihnen einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Eine Weile arbeiteten sie schweigend vor sich hin. Lotte wunderte sich, wie viel Aktenberge Menschen besitzen konnten. Wozu brauchte man all diese Rechnungen und diese langweiligen Briefe? Wer heftete Adressenlisten in Ordnern ab?

„Frag doch einfach deine Mutter, sie sagt dir bestimmt die Adresse!“, versuchte Lotte Antonia schließlich zu überzeugen. „Das kann ich nicht, dann weiß sie, dass ich weg will und dann geht mein Plan nicht auf!“, sagte Antonia traurig, die sich alles schon genau überlegt hatte.

Marie stand immer noch an der gläsernen Haustür und starrte auf die Straße. So hatte sie sich ihren Nachmittag nicht vorgestellt. Sie wollte spielen, dass die Barbies zu einer Party wollen und im Fahrstuhl stecken bleiben. Wie hatte sie sich darauf gefreut! Ob sie ihren Aussichtsposten leise verlassen konnte? Antonia und Lotte würden es nicht merken, die wühlten nur in den doofen Akten. Und wenn sie Antonias Kinderzimmerfenster ein wenig kippte, würde sie bestimmt den Motor von Wolkenburgs Mercedes hören. Leise schlich sie sich davon und gab den Kontrollposten auf.

„Aber du kannst doch mit deiner Mutter reden, vielleicht musst du dann gar nicht mehr zu so vielen Terminen und gehst nur noch zum Blockflötespielen?“, überlegte Lotte, die Antonia wirklich helfen wollte. „Blockflöte ist das Schlimmste! Kennst du Herrn Dittmeyer?“, fragte Antonia mit zitternder Stimme und Lotte lief ein Schauder über den Rücken. Natürlich kannte sie Herrn Dittmeyer. Er war der ewig schlecht gelaunte Mann ihrer Akkordeonlehrerin, der ihr immer weis machen wollte, dass der schreckliche schwarze Hund nicht beißen würde. Wenn Herr Dittmeyer wütend war ( und das war er eigentlich immer ), wölbte sich eine dicke, rote Falte auf seiner Stirn und seine Stimme hörte sich so an wie die des Grüffelos. Lotte nickte. „Siehst du, dieser Herr Dittmeyer gibt uns immer ganz viel zum Üben auf und wenn wir es Weihnachten in der Kirche wieder so falsch spielen wie letztes Jahr, dann will er uns die Ohren lang ziehen!“, heulte Antonia und hielt sich schützend die Hände über die Ohren. „Das ist doch nur so ein Spruch!“, versuchte Lotte die Freundin zu trösten. „Das sagt mein Vater auch immer zu mir!“„Ehrlich?“, fragte Antonia.„Ja!“, bestätigte Lotte. „Ohren lang ziehen geht doch gar nicht!“ Lotte zog sich gerade selber an den Ohren, da hörten die beiden Mädchen eine Stimme.

„Was macht ihr denn mit meinen ganzen Akten?“ Herr Wolkenburg starrte entsetzt auf seine Tochter, die zusammenzuckte und dann in lautes Weinen ausbrach.„Ich will hier weg!“, heulte sie. Lotte wollte zu Marie laufen, fand sie aber nicht auf ihrem Posten vor. „Marie! Marie, wo bist du?“, rief sie verzweifelt. Lotte lief in Antonias Zimmer und sah Marie vor dem Barbiehaus ganz in ihr Spiel vertieft sitzen. „Marie!“, rief sie wütend und Marie fuhr herum. „Du hast uns nicht gewarnt, und jetzt bekommt Antonia einen riesengroßen Ärger!“, schimpfte Lotte und Marie war das sehr peinlich. Warum hatte sie das Auto nicht gehört? Sie lief zum Fenster: „ Es ist gar kein Auto da!“, rief sie Lotte zu. „Dann ist der Vater wahrscheinlich zu Fuß gekommen!“, sagte Lotte verzweifelt, die nicht wusste, was sie jetzt machen sollte. Gehen oder bleiben? Warten oder weg laufen?
Antonia saß inzwischen neben ihrem Vater auf dem Sofa und schüttete ihm ihr Herz aus. Betroffen hörte er zu und sagte schließlich: „Warum hast du uns das nicht alles viel früher gesagt? Wir können doch über alles reden! Wir dachten, du fühlst dich wohl!“

„Nein, ganz und gar nicht!“, heulte Antonia in ihr inzwischen aufgeweichtes Taschentuch. „Ich will auch einfach mal nur so spielen wie Lotte und Marie. Ich will auch im Sommer barfuß über die Wiese laufen bis ich Schmetterlinge im Bauch und grüne Füße habe. Ich will zum Eismann gehen und mit den Kindern auf Vogtländers Zaun sitzen. Ich will Rollschuh fahren und Krach machen, bis die alte Frau Struck aus ihrem Haus kommt und meckert. Ich will nicht mehr die brave Antonia sein, das Vorbild für alle Kinder im Dorf. Im Winter will ich mit meinem Schlitten den Netteberg heruntersausen, ohne irgendwelche Urkunden dafür zu kriegen. Ich möchte dienstags Biene Maja gucken und dabei eine ganze Tüte Chips futtern! Und nicht immer Salatblätter essen, nur damit ich noch in mein Ballettkleid passe. Ich mag nicht mehr den Rotbäckchensaft trinken! Ich möchte keine Vokabeln mehr wiederholen, ich hasse Französisch. Ich möchte meine Hefte ins Osterfeuer schmeißen, ich will einfach wieder Kind sein und nicht wie eine kleine Erwachsene leben, mit einem vollen Terminkalender. Verstehst du das?“

 

 

 

 

Antonias Wangen glühten vor Aufregung und Herr Wolkenburg hatte Tränen in den Augen. „Alles, was du willst, Antonia. Wir haben so viel falsch gemacht!“, sagte er mit bedrückter Stimme und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie hatten immer nur das Beste für Antonia im Auge gehabt und ihr dabei die Kindheit genommen. Wie konnte das passieren? Alles sollte ab jetzt anders werden. Er musste unbedingt mit seiner Frau reden.„Ich mach uns erst mal allen einen grünen Tee!“, sagte Herr Wolkenburg schließlich und schlurfte in die Küche.Lotte und Marie standen betroffen im Türrahmen und hatten Antonias Gefühlsausbruch mit angehört. Nun war ja alles geklärt.

„Können wir jetzt mit dem Barbiehaus spielen?“, fragte Marie ungeduldig, die lange Reden hasste. Antonia sah von einem zum anderen und musste plötzlich lachen: „Aber natürlich!“, sagte sie und so hatten die drei Mädchen doch noch einen herrlichen Spielnachmittag, der der Beginn von Antonias neuem Leben sein sollte.