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INHALT

 

Vorbemerkung

Im Wartezimmer

1. Drogenhandel und Geldwäsche

2. Frauen und Kriminalität

3. Prostitution und Zuhälterei

4. Einbrecher

5. Pädophilie

6. Zocker und Geldeintreiber

7. Liebesschwindel

8. Rocker

9. Jugendkriminalität

10. Flüchtlingsschleuser und Rückkehrer

11. Nachtleben

12. Roma

13. Cybercrime

14. Touristenmafia

15. Clans

Am Marmortisch

Wartezimmer-TV

VORBEMERKUNG

 

Für dieses Buch wurden unter anderem Mandantinnen und Mandanten des Autors interviewt. Sie alle haben ihn von seiner anwaltlichen Schweigepflicht entbunden. Alle Fälle sind rechtskräftig abgeschlossen.

Doch selbst wenn sämtliche Geschehnisse erkannt werden dürfen und viele Mandantinnen und Mandanten sogar mit einer namentlichen Nennung einverstanden wären, sind Details wie Namen, Personenbeschreibungen und Orte verändert worden, um die Persönlichkeitsrechte einiger Akteure zu wahren. Lediglich die zitierten Experten werden mit ihrem richtigen Namen genannt.

Alle in diesem Buch dargestellten Geschichten sind wahr.

Soweit Personengruppen wie zum Beispiel Rocker, Roma, Clans und andere in diesem Buch vorkommen, handelt es sich bei den geschilderten Erlebnissen um Einzelfälle. Keinesfalls soll behauptet werden, dass die Personengruppen sich insgesamt derart verhalten.

Die in diesem Buch von Interviewpartnern getätigten Äußerungen müssen nicht mit der Auffassung des Autors übereinstimmen.

Die kommentierenden Elemente und juristischen Einordnungen in diesem Buch stammen vom Autor persönlich und geben seine Einschätzung der Situation wieder.

IM WARTEZIMMER

 

Ein Mann stößt hastig die Tür zur Kanzlei auf, völlig außer Atem. Er stürzt zum Empfang. »Ich hab gerade meine Frau erschossen. Sie liegt tot in der Wohnung. Ich bin direkt hierhergekommen und muss dringend mit Rechtsanwalt Benecken sprechen«, keucht Günther O., 56 Jahre alt, seit gut eineinhalb Stunden verwitwet.

»Okay«, entgegnet die Rechtsanwaltsfachangestellte hinter dem Empfangstresen ruhig. Solche Auftritte sind für sie längst nichts Ungewöhnliches mehr. »Nehmen Sie doch im Wartezimmer Platz, der Anwalt ist gleich da. Eine Tasse Kaffee vielleicht?«

Marl ist eine ruhige Stadt. Sie liegt im Ruhrgebiet, hat rund 86 000 Einwohner. Hier gibt es ein Chemiewerk, ein Kunstmuseum; der Adolf-Grimme-Preis wird hier alljährlich verliehen. Im Restaurant La Taverna bietet Rosa seit rund vier Jahrzehnten italienische Pizza und Pasta an. Am örtlichen Flughafen Loemühle stürzen sich jedes Wochenende reihenweise Fallschirmspringer vom Himmel. Kürzlich hat die letzte Zeche geschlossen.

Gar nicht ruhig ist es hingegen im vierten Stock über den Dächern Marls, in der Kanzlei. Hier tobt wochentags ab 14:30 Uhr bis spät in den Abend das Leben mit all seinen Abgründen. Achtundzwanzig Sitzmöglichkeiten im Wartezimmer, dazu ein zweiter Wartebereich mit vier Ledersesseln und einem Beistelltisch. Zweiunddreißig Plätze für zweiunddreißig Menschen. Zweiunddreißig Mal Hoffnung. Zweiunddreißig Mal ungeduldiges Hin- und Herrutschen.

Im Wartezimmer der Kanzlei gibt es keine Sitzordnung. Es gilt nur eine Regel: Wenn Motorradrocker rivalisierender Clubs eintreffen, müssen sie in getrennte Wartebereiche.

Günther O. hat im Wartezimmer Platz genommen. Neben ihm sitzt ein 82-jähriger Herr aus Süddeutschland. Er hat heute sieben Stunden im Fernbus gesessen. Nach seinem Besprechungstermin erwartet ihn die gleich lange Rückreise. Er hat den langen Weg auf sich genommen, weil sein Enkel Spielhallen überfallen haben soll und in Untersuchungshaft sitzt. »Opa bezahlt den Anwalt«, hat er versprochen. In der Hand hält er einen Jutebeutel, darin Kontoauszüge als Nachweis seiner Solvenz. Denn guter Rat ist teuer, sehr guter Rat sehr teuer. Und Freiheit – unbezahlbar.

Einige Stühle weiter sitzt eine junge Dame in Minirock und Netzstrumpfhose. Daneben ein älterer Mann, Goldkette um den Hals, braun gebrannt, Rolex am Handgelenk. Sie ist Prostituierte, er betreibt einen Saunaclub. Einer ihrer Freier behauptet, die junge Dame habe seine Kreditkarte nicht wie abgemacht nur einmal, sondern fünfmal belastet, in einer Nacht. Deswegen hat er Strafanzeige wegen Verdachts auf Betrug gestellt.

Die Prostituierte führt mit einer jungen Holländerin, deren Freund derzeit auf der Flucht ist, eine angeregte Unterhaltung. Er soll im Darknet – sozusagen der Unterwelt des Internets – mit allerlei Drogen gehandelt haben. Etwas über 100 Kilo. Nichts Besonderes.

Besonders ist die Kanzlei in Marl vor allem, weil Menschen hier so offen sprechen wie sonst fast nirgendwo. Man kann die Kanzlei mit einem Beichtstuhl in der Kirche vergleichen. Hier kommen Dinge zutage – persönliche Verfehlungen, Grausamkeiten und Verhalten –, über die viele nicht einmal mit dem engsten Freund oder mit ihrem Therapeuten sprechen würden. Hier sitzen aber auch Menschen, die man zu Unrecht einer Straftat beschuldigt. Und hier sitzen Opfer von Verbrechen.

Für alle gilt: Jeder Mandant, egal, was er getan haben soll oder was ihm widerfahren ist, braucht die Gewissheit, dass er hier schlimmste Gedanken, abartigste Neigungen und schwerstes strafrechtliches Unrecht offenbaren kann. Vor allem als Beschuldigter in einer Strafsache sollte er dies hier tun und niemals bei der Polizei. Nur Unerfahrene und Naive machen eine Aussage ohne vorherige anwaltliche Beratung. Schweigen ist Gold – besonders wenn es um vermeintliche Straftaten geht.

Der Strafverteidiger hat tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Priester. Nicht nur optisch, wenn er beim Prozess ein voluminöses Gewand – »Robe« genannt – trägt. Auch verbal gibt es Parallelen. So mutet das Plädoyer des Strafverteidigers vor Gericht, sein Schlusswort, oftmals wie eine regelrechte »Predigt« zugunsten eines Beschuldigten an. Der Strafverteidiger sagt dann Dinge wie: »Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit.« Ebenso wie der Priester dem Beichtgeheimnis unterliegt der Strafverteidiger der anwaltlichen Schweigepflicht. Daher müssen beide sogar einen begangenen Mord, von dem sie erfahren haben, für sich behalten. Zudem sieht der Strafverteidiger – genauso wie der Priester – immer das Gute im Menschen.

Günther O. hat jetzt eine Tasse Kaffee bekommen. Nun treten zwei Anhänger einer Fußball-Ultra-Gruppierung ins Wartezimmer ein. Den beiden Männern wird vorgeworfen, sich in einem Waldgebiet im Osten der Republik mit Anhängern einer polnischen Hooligan-Gruppierung verabredet zu haben, um sich einvernehmlich zu prügeln. Beide Seiten sollen zu diesem Treffen jeweils einen eigenen Rettungswagen und Sanitäter mitgebracht haben in der Erwartung, dass die entstehenden Verletzungen vor Ort behandelt werden können. Ins Visier der Fahnder sind die beiden geraten, weil sie selbst im Wald in HD-Qualität mitgefilmt haben und die Filme anschließend im Internet verbreitet wurden. Hooligan-TV sozusagen.

Bevor Günther O. im Kapitel »Am Marmortisch« am Ende des Buches dem Strafverteidiger von den Vorkommnissen in der ehelichen Wohnung berichtet, schildert dieses Buch in 15 Kapiteln authentische Erlebnisse von anderen Mandantinnen und Mandanten, die ebenso wie Günther O. in diesem Wartezimmer saßen. Oder – zumindest vorübergehend – daran gehindert waren, hier zu sitzen, weil sie »saßen«.

1. DROGENHANDEL UND GELDWÄSCHE

 

Ein glühender Topf

Jonas S. verbrachte gerade ein Partywochenende in Berlin. Ihm ging es gut, er war zum Feiern aufgelegt. Warum auch nicht? Die Geschäfte liefen sehr gut, er hatte noch zehn Kilo Marihuana und 15 000 Euro in bar in seiner Wohnung zu Hause im Ruhrgebiet liegen. Wie immer verwahrte er Geld und Stoff in einem Zimmer, dessen Tür mit einem Spezialschloss gesichert war.

Zurück aus der Hauptstadt – er hatte dort keine einzige Party ausgelassen –, merkte er erst einmal nichts. Doch als er in seine gesicherte Abstellkammer gehen wollte, sah er, dass das Schloss geknackt worden war und seine »Wertsachen« fehlten.

Auf der Stelle rief Jonas S. seinen Komplizen Steffen H. an und bestellte ihn ein, ohne am Telefon Details zu nennen – denn er vermutete, dass ihn die Polizei womöglich abhörte. Als sein Kollege eingetroffen war, machten sie sich Gedanken, wer wohl als Dieb infrage käme. Sie hatten nur einen kleinen, festen Abnehmerkreis, an den sie Drogen verkauften. Es gab darunter einen Neukunden, der seit einigen Wochen zu den Abnehmern gehörte: Max R., ein junger Kerl. »Du hast doch mit dem schon einmal im Bau gesessen. Warum saß der eigentlich?«, wollte Jonas S. von Steffen H. wissen. Daraufhin der Partner: »Wegen Einbruchsdiebstahls!«

In dem Moment war Jonas S. klar, dass Max R. der Dieb sein musste. Er rief ihn prompt an und bestellte ihn unter einem Vorwand ein. Als der junge Mann eintraf, fielen Jonas S., sein Komplize und noch ein dritter, als Verstärkung herbeigerufener Kollege über ihn her. Sie brachten Max R. in den Abstellraum, in dem sonst die Drogen lagerten. Dort fesselten sie ihn an einen Stuhl, seinen »Marterpfahl«.

Was dann passierte, bezeichnet Jonas S. als »Interview«. Er stellte Fragen. »Wo sind meine Drogen?«, »Wo ist meine Kohle?« und so weiter. Wenn keine genehme Antwort kam, bekam der »Interviewpartner« Faustschläge und Maulschellen ins Gesicht. Als das auch nach dem fünften oder sechsten Ansatz nicht fruchten wollte, brachen Jonas S. und sein Mittäter das »Interview« zunächst ab.

Sie gingen hinaus, Max R. blieb gefesselt zurück und der dritte Mann bewachte ihn. Jonas S. und sein Mittäter traten in die Küche, beratschlagten sich, bauten sich einen Joint. Jonas S. sagte: »Ich glaub, wir haben den Falschen, der war das doch nicht. Der bleibt so knallhart bei seiner Antwort, dass ich ihm glaube.« Doch restlos überzeugt war er nicht. Jonas S. zog tief am Joint und spürte bald die Wirkung der Droge. Er sah sich suchend in der Küche um, und als sein Blick auf einen Kochtopf fiel, kam ihm eine Idee, wie er Max R. doch noch zum Reden bringen könnte. Er stellte die Herdplatte auf die höchste Stufe und erhitzte den Topf, der Spaghetti für eine Großfamilie fassen konnte. So lange, bis der Topfboden glühte.

Mit dem glühenden Topf »bewaffnet«, kehrten sie zu Max R. und seinem Bewacher zurück. Jonas S. platzierte den Kochtopf mit dem glühenden Boden nach oben direkt vor dem Stuhl, auf dem der »Gefangene« saß. Sie zogen ihm Schuhe und Socken aus. Max R. ahnte, was jetzt kommen würde, und nässte ein, so sehr überkam ihn die Angst.

»Als Nächstes musst du tanzen für uns – und zwar auf dem Topf«, drohte ihm Jonas S. Dann lösten sie die Fesseln. Max R. zitterte am ganzen Körper. Dann brach das Geständnis nur so aus ihm heraus: »Es tut mir leid! Ich hab das Zeug genommen! Ihr bekommt alles sofort zurück!« Eine halbe Stunde später waren Geld und Drogen wieder da.

Der zuständige Staatsanwalt sprach in dem später gegen Jonas S. und seinen Mittäter geführten Verfahren von »mafiösen Methoden« und fragte, ob man Max R. wirklich hätte auf dem glühenden Topf tanzen lassen, wenn er nicht gestanden hätte. Diese Frage blieb unbeantwortet.

»Hätte vielleicht nicht sein müssen«, sagt Jonas S. heute. Obwohl er dabei lächelt, scheint ihm das Getane leidzutun. Mit Mitte zwanzig hat er schon so einiges erlebt. Er war, was den Umfang seiner Aktivitäten angeht, einer der erfolgreichsten Drogendealer Deutschlands. Sein Mittäter und er verkauften Gras im großen Stil und blieben lange unentdeckt.

Heute sitzt Jonas S. in der forensischen Psychiatrie. Am Eingang des Gebäudes muss man Handy und Aktentasche abgeben und wegschließen lassen. Ein Beamter öffnet die mehrfach gesicherte Tür. Im Besucherraum steht ein runder Tisch, an der Wand hängen Aquarelle in Blautönen. Es riecht nach Sterilium. Man hat nicht den Eindruck, in einer knastähnlichen Anstalt zu sein. Diese Einrichtung ist eher eine Mischung aus Krankenhaus und Jugendherberge. Jonas S. ist froh, dass er den größten Teil seiner Haftstrafe hier absitzen kann. Er gilt als Süchtiger und deshalb räumt ihm das Gesetz die Möglichkeit ein, von seiner Abhängigkeit loszukommen. »Therapie statt Gitterstäbe« lautet die Devise.

Der ehemalige Drogenhändler ist groß und austrainiert, hat seine dunklen Haare zum Pennälerscheitel gekämmt. Auf der Nase trägt Jonas S. eine Brille mit trendigem Designergestell. Seine Klamotten und Schuhe sind ebenso teure Markenware. Dieser Junge muss viel Geld gehabt haben oder immer noch haben. Er wirkt aufgeweckt und scharfsinnig.

Heute will er seine ganze Geschichte erzählen.

Am Anfang war der Joint

Mit vierzehn Jahren kiffte Jonas S. zum ersten Mal. »Meine Eltern sagten: ›Kiffen ist schlecht!‹ Aber die Kiffer, die ich kannte – denen ging’s nicht schlecht«, meint er. »Die waren eher immer gut drauf.« Jonas S. hatte ein neues Hobby gefunden, das er liebte und das ihm gut bekam. So sah er es zumindest.

Mit sechzehn kiffte er täglich. Mit zwanzig probierte er Ecstasy und Koks, dann LSD und Magic Mushrooms. Ihm sei es ums Experimentieren gegangen, um den Kick und die Neugier, sagt Jonas S.

Er hat heute, nach zahlreichen Gesprächen mit seinen Therapeuten, den Hintergrund für seinen Hang zu Drogen herausgefunden: Er habe die Trennung seiner Eltern schlecht verarbeitet, sei in ein tiefes Loch gefallen, die Leere habe er mit Drogen irgendwie füllen müssen. Dass Jonas S. ein helles Köpfchen und sprachgewandt ist, merkt man, wenn er davon erzählt, wie er ein großer Drogendealer wurde. Er setzt Pointen wie ein erfahrener Tischredner und man kann sich nicht erwehren zu denken: Dieser Junge hat Persönlichkeit.

Seinen späteren Mittäter Steffen H. lernte er in einem Fitnessstudio kennen. Die beiden verstanden sich auf Anhieb – Gauner erkennen sich wohl an der Nasenspitze. Und sie waren bereit für alle Arten von Gaunereien, sie wollten das große Geld, und zwar nicht zu knapp. Nichts und niemand konnte die beiden stoppen. Sie fuhren zusammen nach Holland, um dort den Markt zu sondieren. Sie observierten verschiedene Städte, gingen in Parks, sprachen Dealer an, stromerten durch die Bahnhofsviertel, bis sie einen Überblick hatten.

Beim ersten Mal holten sie für 10 000 Euro Marihuana, um es in Deutschland weiterzuverkaufen. Das Geld hatten sie unter Freunden gesammelt. Sie waren sozusagen Jungunternehmer in einer sich im stetigen Wachstum befindlichen Branche. Natürlich klappte nicht alles auf Anhieb. Jonas S. erzählt, wie er bei einem anderen Geschäft zu Beginn seiner Drogendealerkarriere Opfer eines sogenannten Rip-Deals wurde – eines Abzockergeschäfts, bei dem man mit Gewalt ausgenommen wird: Er kam gerade von einem Einkauf bei seinem Dealer in Holland zurück und fuhr in Richtung grüne Grenze. Ihm kam ein Auto entgegen, das ihm plötzlich den Weg versperrte und ihn stoppte. Dann ging alles schnell. Seine Fahrertür wurde aufgerissen, die unbekannten Täter sprühten ihm Pfefferspray ins Gesicht, warfen ihn hinaus und stahlen sein Auto. Er blieb alleine und mit tränenden Augen auf dem verlassenen Feldweg zurück. Zehn Kilo Marihuana und knapp 40 000 Euro – alles weg.

Große Geschäfte

Für Jonas S. und Steffen H. war – genau wie für ihren Käuferkreis – fast nur Cannabis interessant. Wenn der Drogenhandel sich auszahlen sollte, musste das gemeinsame Unternehmen ständig wachsen, das war den beiden klar. Verkauften sie das Gras anfangs noch in Mengen von 100 bis 500 Gramm in Tüten an die Straßendealer, erhöhten sich die Mengen mit der Zeit deutlich. »Am Schluss war alles unter fünf Kilo kein Grund mehr aufzustehen. Für ein läppisches Kilo haben wir uns gar nicht mehr bewegt«, sagt Jonas S.

Jonas S. holte den Stoff in Holland ab und brachte ihn über die Grenze. Er überquerte die Landesgrenze meist schon frühmorgens, fuhr einen unauffälligen Kombi und trug dabei stets ein weißes Hemd mit Krawatte und Brille, den sogenannten Vertreterlook. Er fuhr, ohne Aufsehen zu erregen, im Berufsverkehr mit und wurde nicht einmal an der Grenze angehalten. Nicht ein einziges Mal in der gesamten Zeit. Über Deals wurde nur persönlich oder über einen Blackberry-Chat kommuniziert.

Nicht wenige Straftäter unterschätzen die Möglichkeiten der polizeilichen Telefonüberwachung. Naiv bedienen sie sich einer Codesprache, die leicht zu entlarven ist. Dann sagen sie beispielsweise Sätze wie »Bring mir doch mal drei Eimer Farbe« oder »15 CDs«, einige sprechen auch von »Kuchen«. Oder wenn darüber gesprochen wird, dass ein mutmaßlicher Mittäter an der Grenze festgenommen wurde, heißt es, ob er »im Hospital« sei und ob er dort »ein Attest« bekommen habe, gemeint ist damit ein Haftbefehl. Das Hospital entspricht dem Polizeigewahrsam. »So etwas macht die Jungs nur noch verdächtiger«, meint Jonas S. Für die Strafbarkeit kommt es übrigens nicht darauf an, dass ein geplantes Geschäft tatsächlich umgesetzt wird. Es reicht aus, dass zwei Personen sich darauf verständigen, dass eine bestimmte Menge Drogen übergeben wird. Ob das tatsächlich geschieht, ist nicht entscheidend. Wenn Drogendealer sich sagen: »Ach, ich habe zwar am Telefon gequatscht, dass wir zwei Kilo haben wollen. Die sind aber nie angekommen, also kann mir ja nichts passieren«, ist das ein großer Irrtum.

Es ist bei der Telefonüberwachung unter Umständen sogar möglich mitzuhören, selbst wenn das Handy ausgeschaltet ist. Wechselnde SIM-Karten bringen dabei nichts – allein deshalb, weil die Polizei oft mit sogenannten IMSI-Catchern arbeitet. Dieses Hilfsmittel ist wie ein eigener Sendemast der Polizei. Ein IMSI-Catcher in der Nähe eines observierten Hauses bedeutet, dass alle Handys im Umkreis abgehört werden – egal, auf welchen Namen sie laufen und mit welcher SIM-Karte sie bestückt sind.

In ihrem Höhenrausch gingen Jonas S. und sein Sozius immer größere Risiken ein. Gegen Ende ihrer Geschäftstätigkeit kamen gegen Mittag zehn Kilo Cannabis bei ihnen an – mittlerweile brachte sie ein so genannter Läufer, Jonas S. fuhr also nicht mehr selbst. Bereits eine halbe Stunde später war alles verkauft: in der Regel für 4000 Euro pro Kilo, also 40 000 Euro für zehn Kilo. Dann gab es noch den ganz besonderen Stoff – Gras, das man für 10 000 Euro pro Kilo verkaufen konnte. Das sogenannte Haze ist ein besonders wirkungsvolles Marihuana mit einer THC-Konzentration von über 20 Prozent, teilweise bis zu 30 Prozent. Das Zeug ist so stark, dass es mit dem gemeinhin bekannten Gras nichts mehr zu tun hat. Vielmehr wirkt es wie eine harte Droge. Die Qualität war in jedem Fall erlesen und jeder Dealer wollte das Zeug von Jonas S. haben. Neukunden nahmen sie nur noch ausnahmsweise in ihre Kartei auf, sie hatten ihre festen Abnehmer.

Koks spielte für Jonas S. nur am Rande eine Rolle. Ein Kilo Koks, das in Holland 36 000 Euro im Einkauf kostete, ließ sich in Deutschland für 45 000 bis 48 000 Euro verticken. Die Käuferschaft sei eine gänzlich andere als bei Marihuana; Kokser seien in der Regel älter, reicher und drogenerfahrener, erzählt Jonas S.

Mehrere Hunderttausend Euro hatte der junge Mann eine Zeit lang in seiner Wohnung herumliegen, sozusagen seine Ersparnisse. Und das, obwohl er sich ein monatliches Gehalt von 20 000 Euro auszahlte. Er kaufte sich sogar eine gebrauchte Geldzählmaschine einer Großbank. Jonas S. fuhr einen dicken Wagen, ging protzig in den Tanzschuppen der Umgebung aus und hatte meistens ein Callgirl an der Hand. Er aß bei den Sterneköchen mit der Routine eines Restauranttesters. Außerdem gründete er ein eigenes Hip-Hop-Label. Er wollte ein legales Standbein schaffen – irgendwo musste das ganze Geld ja hin. »Ich genoss die Zeit. Das ganze Geld ermöglichte mir so viel«, sagt er.

Drogengroßhändler zu sein unterscheidet sich nicht von anderen Arten von Unternehmertum, findet Jonas S. Man müsse schon Managerqualitäten besitzen. Budgetverwaltung, Buchhaltung im Kopf und Weitsicht bei den Investitionen gehörten dazu, genauso wie Kreativität. Man dürfe nichts aufschreiben, keine Schuldenzettel führen, so etwas machten nur Anfänger: »Was man im Kopf hat, kann die Polizei bei einer Durchsuchung nicht finden.«

Der Untergang

Nichtsdestotrotz flogen Jonas S. und sein Komplize irgendwann auf. Die Polizei griff zu, nachdem sie die beiden Drogendealer lange observiert und zudem einen Kunden mit fünf Kilo Gras erwischt hatte. Der verpfiff die beiden letztlich. Der »31er« – gemeint ist damit Paragraf 31 des Betäubungsmittelgesetzes, auch »Judas-Paragraf« genannt – hatte ihn zum Auspacken animiert. Die Ermittler stellten ihm eine enorme Strafmilderung in Aussicht, wenn er seine Dealer verriet. Tatsächlich kam er für etliche Jahre in Haft. »Die Praxis zeigt, dass die Polizei viel verspricht und nur die Naiven darauf reinfallen«, meint Jonas S.

Viele Gefängnisinsassen machen vom Judas-Paragrafen Gebrauch, so Jonas S. »Da singen manche wie die Kanarienvögel. Sie plaudern teilweise mehr aus, als sie oder andere wirklich verbrochen haben, nur weil der Polizeibeamte gesagt hat: ›Je mehr du auspackst, desto weniger Strafe gibt es.« Er selbst habe nie jemanden verpfiffen. Seine Therapeuten versuchten ihm klarzumachen, dass man das »Anzinken« aber auch positiv betrachten könne – als Hilfestellung. Sonst wäre Jonas S. nicht aufgeflogen und hätte nie eine Therapie in Anspruch nehmen können.

Generell setzen Polizeibeamte erst einmal auf Observation, wenn einer ausgepackt hat. Dazu gehören auch aufwendige Telefonüberwachungen. Jonas S. und seine Mittäter haben zwar, abgesehen von dem damals abhörfreien Blackberry-Chat, nie über Telefon kommuniziert, andere Kunden aber schon. Manchmal verlegt die Staatsanwaltschaft sogar gezielt vorher »angeworbene« Insassen auf die Zelle eines neuen Häftlings, um an Informationen zu kommen. Die Zellengenossen horchen den Neuen aus und ihnen wird Strafmilderung in Aussicht gestellt, wenn sie mit belastenden Tatsachen um die Ecke kommen. Wenn der »Zinker« im Knast allerdings auffliegt, ergeht es ihm nicht gut.

Hinter Gittern sei es »nicht schön« gewesen, sagt Jonas S. Kleine Zelle, große Gauner. Auf 30 Quadratmetern hauste er mit vier weiteren Kriminellen. Er, der vorher eine 240-Quadratmeter-Wohnung besessen hatte. Zudem habe es rivalisierende Banden gegeben: Albaner, Russen, Libanesen. Man müsse sich raushalten und trotzdem als stark gelten, damit einem nichts zustoße. Er sei sehr froh, jetzt den Rest seiner Strafe in der Psychiatrie verbüßen zu können.

Wie Jonas S. damit umgehen wird, wenn er nach seiner Entlassung keine 20 000 Euro und mehr im Monat zur Verfügung hat? Er überlegt kurz: »Natürlich wird das eine Umgewöhnung sein. Andererseits geht die Kohle ebenso schnell raus, wie sie reingekommen ist. Es wird mit weniger gehen.« Er möchte in Zukunft legale Geschäfte machen, vielleicht ein eigenes Café auf Bali betreiben, wo sein Vater wohnt.

Der Baron von Amsterdam

Amsterdam im Spätsommer ist eine Offenbarung. Viele junge Menschen in luftiger Kleidung, die Boote auf den Grachten, manche davon sind fahrende Einkaufsläden. Es herrscht eine Lichtstimmung, die die ganze Stadt erstrahlen lässt wie eine Monstranz in der Kirche. Auf den Straßen flanieren die Sonnenanbeter, fahren die Fahrräder kreuz und quer, schleichen die Autos über das Kopfsteinpflaster wie ferngelenkt.

Das Grand Hotel Krasnapolsky ist eine feine Adresse. Im Café Mathilde genießen die Besucher Kaffee aus afrikanischen Bohnen und dazu Sandgebäck bei indirektem Licht und leise säuselnden Jazzklängen. Hier soll das Treffen mit dem »Baron«, wie er sich nennt, stattfinden. Es war nicht leicht, sich mit ihm zu verabreden; anrufen kann man nur einen Mittelsmann. Der wiederum schickte einen Boten in die Kanzlei in Marl mit einem Zettel, auf dem stand: »Grand Hotel Krasnapolsky, Café Mathilde, 15 Uhr«. Nachdem der Name des Treffpunkts und die Uhrzeit bekannt waren, zerriss der Bote das Papier und verschwand so schnell, wie er gekommen war.

Doch einer der erfolgreichsten Drogenschmuggler Europas lässt sich am verabredeten Tag nicht blicken. Nicht um 15 Uhr, nicht um 15:30 Uhr und auch nicht um 16 Uhr. Der Mittelsmann ist telefonisch ebenso wenig zu erreichen. Zwei Wochen später, als der Baron als Interviewpartner längst abgeschrieben ist, heißt es nun plötzlich: Er kommt nach Deutschland. Wieder wird ein Treffen vereinbart, diesmal im Separée des Schlosses Berge in Gelsenkirchen, wieder eine überaus feine Adresse.

Am Baron ist auffällig, dass an ihm nichts auffällig ist. Mittlere Statur, Mittelklasse-Kleidungsstil, Mittelklassewagen. Allein die schwarzrandige Hornbrille setzt einen Akzent auf seinem glatt rasierten Gesicht. Dieser Mann, gebürtiger Österreicher, mag offenbar das Understatement. Es braucht ja niemand zu ahnen, dass er millionenschwer ist, und schon gar nicht, dass er mit Drogen ein Vermögen gemacht hat. Er sagt eingangs: »Jeder Mensch ist käuflich – mit irgendetwas.« Sein Deutsch ist geschliffen, seine Manieren dem Ort angepasst. Er isst Gambas, in Kräuterbutter geschwenkt.

Was seine Drogengeschäfte angeht, sei er in »Rente«, er betreibe heute eine seriöse Firma, kaufe Aktien und sammle teure Kunst, erzählt er. Irgendwo muss das viele Geld ja hin. Mittlerweile wohnt er in den USA und ist nur noch gelegentlich in Amsterdam. Mehr Details verrät er nicht, erklärt sich aber bereit, von der »guten alten Zeit« zu berichten. Von der Zeit, die ihn reich gemacht hat.

Ein geldträchtiger Transport

»Ich bin als junger Mann ins Transportgeschäft gegangen. Den ersten Kontakt mit der Szene hatte ich mit siebzehn. Dick eingestiegen bin ich in meinen Zwanzigern«, sagt der Baron. Er habe immer etwas gegen Autoritäten gehabt und sei vielleicht deshalb Drogentransporteur geworden.

In den Sechziger- und Siebzigerjahren wurden die Niederlande zum Mittelpunkt des Drogengeschäfts in Europa. Ein Grund dafür war die recht liberale Gesetzgebung für Drogendelikte. Amsterdam sei schon damals der »Supermarkt Europas« gewesen, was Drogen anging, so der Baron. Hier waren die großen Player aktiv und derartige Dimensionen des Drogenhandels habe es in Deutschland nie gegeben. Wenn in Amsterdam kurzfristig für einen Drogendeal mehrere Millionen Gulden benötigt wurden, gab es dort viele Leute, die diese Summe problemlos aufbringen konnten, innerhalb weniger Minuten.

Damals kam Koks aus Südamerika nach Europa. Daran hat sich übrigens bis heute nichts geändert. Heroin kam aus China und anderen asiatischen Staaten und Marihuana überwiegend aus Marokko. Der Baron wusste bald, wie er reich werden würde: Er organisierte ganze Lkw-Ladungen Gras, die er von Nordafrika nach Holland lotste. »Es war die Hippie-Zeit. Gras wurde nicht als gefährlich angesehen. Ich handelte mit so etwas wie einem Grundnahrungsmittel«, lacht er. Was dem Bayern sein Weißbier, war dem Holländer sein Joint. Die Engländer, die Deutschen, die Franzosen – alle seien sie nach Holland gekommen, um ihren Stoff zum Weiterverkauf abzuholen.

Für ein Kilo Gras verlangte der Baron zur damaligen Zeit 1300 Gulden – umgerechnet rund 550 Euro – Transportgebühren von den Großhändlern für die Bewegung der Ware. Die Großhändler zahlten diesen Preis gerne, denn sie bekamen von ihren Endabnehmern wiederum das Dreifache. Keiner stand bei diesem Geschäft schlecht da, mal abgesehen von den Produzenten. Denn die Bauern bekamen in ihren Heimatländern von den Großhändlern erst dann ihre 300 Gulden pro Kilo – also weniger als 130 Euro –, wenn die Ware sicher in Amsterdam angekommen war. Flog ein Transport auf, erhielten die Bauern hingegen nichts außer ein wenig Starthilfe für den nächsten Anbau. Das Transportrisiko trugen sie demnach allein.

Laut dem Baron ist das bis heute so. Die großen Drogenhändler in aller Welt scheren sich nicht darum, wenn ein Transport auffällt, egal, wie hoch die beschlagnahmte Menge auch ist. Es trifft niemals die Drogenbarone, sondern immer nur die armen Produzenten. Der Baron und seinesgleichen agierten strategisch wie Schachspieler. »Während die Polizei im Fernsehen einen Drogenfund präsentiert hat, haben wir gleichzeitig das Vielfache wieder mit der nächsten Lieferung über die Grenze gebracht«, verrät der Baron.

Geschmuggelt wurde die Ware in Lkws, die Textilien aus Marokko nach Europa brachten. In Holland wurde die Ware in 500-Kilo-Pakete portioniert und so an die Großhändler weiterveräußert. Jeder Konvoi brachte acht bis zehn Tonnen mit. An einer Tonne verdiente der Baron umgerechnet rund 550 000 Euro, bei zehn Tonnen macht das satte 5,5 Millionen Euro. Abzuziehen waren maximal 150 000 Euro »Organisationskosten« für das Schmieren von Zöllnern, für den Lkw-Fahrer und die Logistik. Macht immer noch 5,35 Millionen Euro Reingewinn steuerfrei pro Transport.

Die Fahrer wurden ordentlich bezahlt, aber nur ein einziges Mal gebucht, um übermäßige Mitwisserschaft zu verhindern. Sie bekamen reichlich Bargeld und dazu eine Liste mit Anwälten, die sie in den jeweiligen Ländern verteidigen würden, falls nötig.

Wenn die Kunden den Stoff von Holland aus in andere Länder geliefert bekommen wollten, gab es noch mal einen Lkw-Konvoi. Die Ware wurde dann wie in einer Piratengeschichte oft an einem geheimen Ort vergraben. Die Kuriere versenkten das Gras wasserdicht verpackt in einer Grube, schaufelten sie zu, machten ein Foto von der exakten Stelle, notierten die Koordinaten des Verstecks und schickten alles an den Dealer in Amsterdam. Dieser traf sich mit dem Kunden, der die Ware bezahlte. Wenn der Dealer sein Geld erhalten hatte, wurde dem Kunden das Foto samt Koordinaten der Stelle gegeben, damit dieser den »Schatz« heben konnte.

Drogenkrieg in der Moderne

Heutzutage sei alles organisierter und technischer geworden, sagt der Baron. So sollen die großen Drogenhändlerringe mithilfe von Hackern die Systeme manipulieren können, die in den großen Häfen Europas wie Rotterdam, Hamburg oder Antwerpen Container systematisch nach Drogen scannen. Diese Computersoftware ist auf bestimmte Signale programmiert und im Grunde wie ein Spürhund: Nur wenn das System anschlägt, wird ein Container überhaupt kontrolliert. Die Software ist umfangreich ausgearbeitet und ein gut gehütetes Geheimnis – glauben zumindest die Polizei und der Zoll. Tatsächlich haben die großen Drogenhändler selbst diesen Schutz längst unterwandert und Mitarbeiter der Softwarefirmen bestochen, die das Programm entwickelt haben. Oder sie haben selbst Hacker beschäftigt, die in das System eingedrungen sind. Wenn ein großer Transport in einem der Häfen ankommt, wird das System lahmgelegt. Keine Warnung mehr. So schildert es jedenfalls der Baron.

Die Route von Marokko spielt keine große Rolle mehr. Heutzutage kommt das Gras meist aus Gewächshäusern in Holland oder in Deutschland – von wo aus Kuriere es nach Holland transportieren. Vor Ort wird es mit teils synthetischen Stoffen aufgepeppt und wieder nach Deutschland zum Verkauf zurückgeführt.

Zu den alten Kollegen aus seiner aktiven Zeit habe er noch sporadisch Kontakt. Doch die Zeiten seien insgesamt härter geworden – auch in Holland. Ein Ehrenwort zählt laut dem Baron nichts mehr, rivalisierende Händler und Dealer erschießen sich bei Konflikten hitzköpfig gegenseitig, ohne einen vorherigen Versuch der Schlichtung. Er ist froh, dass er in diesem Kampf nicht mehr mitspielen muss.

Fragt man den Baron, was er insgesamt mit seinen Transporten verdient habe, wenn ein einziger schon über fünf Millionen Euro gebracht hat, antwortet er erst einmal nicht. Er lächelt nur und ergänzt, dass ihn das Gehalt eines Fußballprofis nicht neidisch macht. Ob er für seine Taten schon einmal strafrechtlich belangt wurde? Auch darauf nur ein Lächeln.

Als seine Familie von seinen illegalen Machenschaften erfuhr, seien alle zunächst geschockt gewesen: »Sie wissen Bescheid über meine Vergangenheit. Aber wir sprechen nicht mehr darüber, sondern genießen die Dinge, die uns das Geld ermöglicht.« Ein schlechtes Gewissen? Nein, das habe er längst nicht mehr, so der Baron. Jeder Mensch müsse selbst wissen, ob er Drogen konsumiere, und im Übrigen seien es nur wenige, die der Konsum völlig umhaue. Für die meisten sind Drogen seiner Meinung nach Zerstreuung statt Zerstörung. »Es haben sich viele Menschen während der Bankenkrise 2008 umgebracht. Sind deswegen alle Banker schlecht?«, fragt er.

Es gibt in der Kriminologie den Ausdruck »Neutralisierungstechniken von Tätern«, also Strategien beim Überwinden innerer Hemmungen, eine Straftat zu begehen, oder auch als Rechtfertigung, um sich die Straftaten schönzureden: »Das Gebäude ist ja versichert«, sagt sich beispielsweise der Einbrecher. »Die Bank zockt ohnehin die Menschen ab«, denkt sich der Bankräuber. Was immer es ist – jeder Mensch braucht seine eigene Version der Geschichte, um mit den begangenen Taten leben zu können.

»Ich mag mein Leben. Ich habe Zeit für meine Familie, bin jeden Tag mit meiner Frau zusammen und kann heute tun, was ich will. Wer kann so etwas schon von sich behaupten?«, sagt der Baron und fährt mit seinem Mittelklassewagen davon.

Ein Mann mit Bart

Abends um sieben, wenn die Sommersonne tief steht, breitet sich Entspannung aus am Gendarmenmarkt in Berlin. Die Passanten schlendern etwas langsamer, die Kellner in den Straßencafés rauchen gemütlich eine Zigarette. Der Sommer geht allmählich zur Neige. Aber noch ist es warm an diesem Septemberabend.

Die Newton-Bar ist ein traditionsreiches Lokal, das nach dem Fotografen Helmut Newton benannt ist, ebenso wie einige Drinks auf der Karte, etwa der Cocktail »Absolute Newton«. Schwarz-Weiß-Fotografien des großen Meisters hängen an den Wänden. Raimund M. bestellt sich einen Kaffee. Er trägt ein lässiges T-Shirt mit V-Ausschnitt. Vervollständigt wird sein Hipster-Look durch den Vollbart des Mittdreißigers. Er ist entspannt, auch wenn das heutige Thema delikat ist. Er erzählt davon, wie er Cannabis im großen Stil angebaut hat. Und wie er am Ende dabei erwischt und dafür verknackt worden ist.

»Ich bin ein Freund von schnellem Geld«, sagt Raimund M. Aus diesem Grund habe er früh eine kriminelle Ader entwickelt. Zwar hat er in seiner Herkunftsfamilie eigentlich alles gehabt, aber der Mensch strebt eben immer nach mehr. Zunächst machte er in Autodiebstahl. Das sei ihm irgendwann zu lau gewesen. Zu wenig Ertrag, zu kleine Margen, zu hohes Risiko, erwischt zu werden.

Eines Tages lernte er seinen Komplizen Peter H. kennen, der ihn lehrte, wie man mit Drogenanbau schnell reich wird. Die beiden taten sich zusammen und starteten ihr neues Gewerbe. »Selbst Drogen genommen habe ich bis heute nie, nicht mal gekifft. Dafür bin ich nicht der Typ«, sagt Raimund M.

Zarte Pflänzchen

Der Anbau von Cannabis ist eine Wissenschaft für sich – und Raimund M. macht im Leben keine halben Sachen. Ihm war klar, dass er ein Handwerk zu erlernen und zu perfektionieren hatte, wie ein Maurergeselle auf dem Bau. Und dass das große Geld nur kommen würde, wenn er und sein Sozius auch im großen Stil anbauen würden. Akribisch las er sich in das Thema ein und ließ sich von Leuten beraten, die selbst in großem Umfang angebaut hatten: Indoorplantagen sind die ertragreichste Methode, um Cannabis zu pflanzen. Der Anbau draußen ist in unseren Gefilden wegen des Klimas nicht anzuraten. Die weiblichen Pflanzen – nur sie enthalten den Wirkstoff THC – brauchen eine Raumtemperatur von 28,5 bis 29,5 Grad Celsius. Die Temperatur erzeugen höhenverstellbare LED-Lampen. Zudem sollte eine hohe Luftfeuchtigkeit gegeben sein und man muss intensiv düngen.

Raimund M. investierte für den Start 70 000 Euro. Dieses Geld war gut angelegt, denn wie sich bald herausstellen sollte, war er ein geschickter Hanfbauer. Er mietete sich in einem Berliner Außenbezirk ein ganzes Haus und legte los. Elf von vierzehn Räumen, alle mindestens 25 Quadratmeter groß, bepflanzte er mit seinen Setzlingen und installierte die Stromversorgung für die zweihundert Wärmelampen und ein Belüftungssystem. Die 600-Watt-Lampe muss 60 Zentimeter über der Pflanze angebracht sein. Geerntet wurde im bestmöglichen Turnus, jede Woche war ein Raum fällig. Zehn bis zwölf Wochen dauerte es, bis die Pflanzen groß genug waren und man sie ernten konnte. Dann wurden die reifen Blätter mit einer eigenen Erntemaschine abgeschnitten und der Raum umgehend neu bepflanzt. Peter H. und er selbst waren jeden Tag gut beschäftigt.

Pro Kilo machten sie 3000 Euro bei ihren Kunden, den Großhändlern. Jede Woche kamen so gute 30 000 Euro in die Kasse. Die immensen Strommengen, die solch eine Produktion verursacht, verschleierte Raimund M., indem er die Leitungen der Nachbarhäuser anzapfte.

Eigentlich hätte jetzt alles gut sein können, so ohne Geldsorgen und mit reichen Ernten. Aber der Hanfbauer war nicht entspannt. »Ich dachte dauernd ans Erwischtwerden und die drohende Haftstrafe. Ich hatte ja vom Autodiebstahl schon diverse Vorstrafen und eine Bewährung laufen. In meinem Kopf drehte sich alles nur noch darum.« Er habe schlimme Existenzängste ausgestanden. Trotzdem versuchte er, es sich gut gehen zu lassen, unterstützte seine Familie finanziell und gab viel Geld für Luxusartikel wie teure Uhren und Autos aus. So lenkte er sich ab.

Endliche Geschäfte

Eines Tages trat ein, was Raimund M. stets befürchtet hatte: Er und Peter H. wurden hochgenommen. Sie waren über einen Zeitraum von drei Monaten polizeilich observiert worden, wie sie später erfuhren. Verdacht geschöpft hatten die Ermittler, weil in dem Haus die Fenster immer geschlossen waren. Nur die Dachfenster standen für die Belüftung offen. Damit der Geruch von Cannabis nicht nach außen drang, hatte der findige Raimund M. Aktivkohlefilter eingebaut. Aber auch das konnte ihn letztlich nicht retten.

Um Indoorplantagen zu enttarnen, setzt die Polizei sogar Hubschrauber mit Wärmebildkameras ein. Ermittler berichten, dass viele Plantagen aus der Luft sofort auf den Bildschirmen zu erkennen sind. Einige von ihnen sollen eine Energieentwicklung wie ein Atomkraftwerk aufweisen. Zudem setzen die Fahnder neuerdings Drohnen ein – in anderen Industrienationen ist das schon längst Standard. Diese Drohnen sind mit speziellen Sensoren ausgestattet, die nach den Drogen suchen, sie regelrecht in der Luft »erschnuppern« können. So hat die niederländische Polizei beispielsweise den Cana-Chopper speziell für die Drogenfahndung entwickelt. Per Laptop vom Boden aus gesteuert, ist die Drohne günstiger und flexibler als ein bemannter Helikopter. Sie verfügt über eine Wärmebildkamera und Sensoren, die auf Hanfgeruch reagieren. Die Beamten fragen zudem bei den Stromanbietern nach, ob besonders hohe Rechnungen auffällig sind, und wenn es kein dazu passendes angemeldetes Gewerbe gibt, sind die Fahnder alarmiert.

Als die Polizisten bei Raimund M. zugriffen, lagen gerade 17 Kilogramm Gras im Haus, dazu eine erhebliche Menge Bargeld. Die U-Haft war für Raimund M. das Schlimmste. »Ich bin fast gestorben vor Langeweile. Mein Charakter ist, dass ich was tun muss.« Er redete möglichst wenig mit anderen Häftlingen und nie über seine Taten, denn auch er kannte viele »singende Vöglein« unter den Gefängnisinsassen. Am Ende bekam er eine Haftstrafe von zwei Jahren und vier Monaten. Er freute sich über das für ihn gute Urteil und darüber, dass er bald einen Freigängerstatus bekam, also nur noch über Nacht in der Justizvollzugsanstalt bleiben musste.

Ein neues Leben

Inzwischen ist Raimund M. wieder auf freiem Fuß. Momentan hält er sich aus Drogengeschäften heraus, selbst wenn es ihn manchmal noch in den Fingern juckt. Er tut nichts Kriminelles mehr. »Konventionelle Arbeit hat nicht so den großen Reiz, wenn du mal mit anderen Dingen richtig viel Geld gemacht hast«, sagt er grinsend und erinnert mit dem Spruch an Franz Müntefering, der als SPD-Vorsitzender einmal sagte: »Opposition ist Mist!« Wie er heute sein Geld verdient? Er investiert viel in Immobilien und will bald so weit sein, dass er von den Mieteinnahmen leben kann. Dann wäre er auf der sicheren Seite.

Was mit dem Geld passiert

Drogendealer wie der Baron, aber auch andere Kriminelle, die mit ihren illegalen Geschäften Millionen scheffeln, haben meist ein Problem: Zahlungen erfolgen in bar. Wohin also mit den vielen Banknoten? Der Österreicher kam auf eine trickreiche Lösung. Da in einigen Ländern keine Mehrwertsteuer auf Kunst erhoben wird, investierte er im großen Stil in Gemälde. Denn wenn ein Staat keine Steuern auf eine bestimmte Sache erhebt, interessiert er sich auch nicht so sehr für das Geld, das in dieser Szene fließt. Vor allem die Kunst der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gefällt dem Baron und er hat daher eine wertvolle Sammlung mit zeitgenössischen Werken erstanden. »Zurzeit verkaufe ich ziemlich viele Bilder. Man muss in Bewegung bleiben«, sagt er.

Oft muss man das Geld, das mit Drogen verdient wurde, auch außer Landes schaffen. Dafür braucht es erneut Kuriere mit Tricks und Erfahrung, ebenso wie beim Transport der Drogen, mit denen das Geld verdient wurde. Die Fahrer erhalten eine prozentuale Beteiligung am geschmuggelten Betrag oder eine Pauschale. Ein Bargeldtransport von Holland nach Südamerika bringt zum Beispiel mindestens 7 000 Euro, eine Tour auf dem Landweg durch Europa mindestens 2 000 Euro.

Der Trick, wie man viel Geld in ein Flugzeug schmuggelt: Man präpariert eine Laptoptasche mit Spezialpapier und füllt sie mit Geld – je nach Stückelung passen bis zu 300 000 Euro hinein. Die Laptoptasche nimmt man als Handgepäck mit in den Flieger. Durch das Papier können die Strahlen im Scanner bei der Sicherheitskontrolle das Bargeld nicht erkennen.

Eine andere Masche ist, Piloten oder Stewardessen – bevorzugt auf Routen nach Südamerika – als Kuriere einzusetzen. Am Flughafen werden sie vor dem Betreten der Maschine nur oberflächlich kontrolliert. Gleiches gilt in der Regel, wenn sie im Zielland die Zoll- und Ausweiskontrolle passieren.