Christoph Quarch

Die Nonne und der Derwisch

Liebe – ein Gebet eint alle Religionen

Eine mystische Gebetsschule
mit Mechthild von Magdeburg
und Rumi

Inhalt

Einstimmung

Eine Fantasie

Zwei Leben

Eine Leidenschaft

Eros

Zwei Traditionen

Umfassendes Beten

I Der Aufbruch

1 „Strahlt nicht die Welt von Seiner Schönheit hellem Glanz?“

SCHÖNHEIT

2 „Ich komme zu meinem Lieb wie der Tau auf die Blume“

EMPFÄNGLICHKEIT

3 „Ich kann nicht ruhen, ich brenne“

SEHNSUCHT

II Der Weg

4 „Das ist der Toren Torheit: Zu leben ohne Herzeleid“

LEIDEN

5 „Du sollst minnen das Nicht“

KAMPF

6 „Der Feder gleicht mein Herz in deinen Händen“

HINGABE

7 „Mein wunderbarer Musiker, liebkose allezeit!“

ZÄRTLICHKEIT

III Der Gipfel

8 „Ich bin in dir, du bist in mir“

EINUNG

IV Die Kunde

9 „Die Nachtigall muss immer singen“

REDEN UND SCHWEIGEN

10 „Ich ward ganz zum Gebet“

DANKBARKEIT UND DEMUT

Einstimmung

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Eine Fantasie

Nur Liebe, nur Liebe –
wir haben sonst kein Werk.

(Rumi, Diwan 1475)

Den 30. September 1207 stelle ich mir als einen trockenen und staubigen Tag vor. Von einem langen und heißen Sommer verdorrt, liegen die Felder und Weiden des afghanischen Zentralmassives müde im Schatten der Berge, deren Gipfel zart mit erstem Schnee bedeckt sind. Ein kühler Wind weht von Nordwest und kündet vom nahenden Herbst. Die Schatten der spielenden Kinder im Hof werden schon länger, da wird in einem Bürgerhaus der Stadt Balch ein Kind geboren: ein Junge, den sein Vater, der hoch angesehene Theologe Baha’eddin Walad, auf den Namen Dschelaleddin tauft und der als Mann den Ehrentitel Mevlana, unser Herr, tragen wird. Berühmt aber sollte das Neugeborene unter einem anderen Namen werden: Rumi – einer der im Lande Rum, in Zentralanatolien, lebt: dort, wo Mevlana Dschelaleddin Rumi die meisten Jahre seines Lebens verbrachte.

In den kargen und menschenleeren Weiten der Mittelmark im heutigen Sachsen-Anhalt denke ich mir den 30. September 1207 als einen stürmischen Tag. Schon am Morgen ziehen Regenschauer über die Heidelandschaft, und der Nordwind rüttelt an Fenstern und Türen, so dass im Herrenhaus der Burg die Kohlebecken entzündet werden. Große Aufregung herrscht in den Privatgemächern der Edlen, denn die Herrin wird am Mittag mit einer Tochter niederkommen: Mechthild soll sie heißen – und sie erblickt im selben Augenblick das Licht der Welt, da im afghanischen Balch der kleine Dschelaleddin den ersten Schrei ausstößt. Im Himmel stimmen die Chöre der Engel einen Jubelgesang an, und – was man lange nicht gesehen – ein Lächeln leuchtet hell wie die Sonne auf dem Antlitz Gottes. Denn ihm sind heute zwei Liebende geboren: zwei Menschenseelen, die wie wenige vor und noch wenigere nach ihnen ihr Herz und ihre Seele der Liebe selbst verschrieben haben – der Liebe, die Gott ist.

Achtsam hatte Gott diese Seelen ausgewählt. Sie waren sich schon einmal begegnet, ein Menschenalter zuvor in der heiligen Stadt Jerusalem: sie, die Tochter eines persischen Kaufmanns, er der Sohn eines fränkischen Ritters, der dem Heer der christlichen Kreuzfahrer angehörte. Die beiden sahen und liebten sich, doch ihre Liebe durfte nicht leben. Ein Christ und eine Muslima konnten unmöglich zusammenkommen. Aus Gram stürzte sich der junge Mann in ein todbringendes Gefecht, aus Schmerz erkrankte das Mädchen und starb noch vor ihrer Blüte. Ihre grenzenlose Liebe aber nahmen sie mit ins Grab. Und mit ihr traten sie vor den Thron Gottes, dem das Schicksal der Liebenden zu Herzen ging, weshalb er beschloss, sie erneut auf die Erde zu schicken: nun aber den Jüngling als Frau und das Mädchen als Mann. Und er senkte ihnen die größte und tiefste Liebe ins Herz, zu der Menschen überhaupt nur imstande sind: die allumfassende, grenzenlose Liebe seiner selbst. Dann legte er den Tag ihrer Rückkehr auf die Erde fest: den 31. September 1207. So wurden die Liebenden Gottes geboren: Dschelaleddin Rumi und Mechthild von Magdeburg.

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Zwei Leben

Nichts als die Liebe lieben und leben wir.

Die Liebe, nichts als die Liebe, pflanzen wir.

Trunken, wie trunken von jenem König sind wir.

Kommt her, kommt her,

unsere Hände zu Gott strecken wir.

Was wissen wir, was wir heute Nacht tranken,

was wissen wir?

(Rumi, Diwan 1475)

Achthundert Jahre nach beider Geburt wissen wir nicht viel über das Leben von Rumi und Mechthild. Das heißt: Von Mechthild wissen wir fast nichts, von Rumi etwas mehr. So auch sein Geburtsdatum im September 2007. Dass Mechthild am selben Tag geboren sein könnte, ist äußerst unwahrscheinlich. Selbst das Jahr ihrer Geburt ist nicht sicher verbürgt, doch geht die Mehrheit der Forscher davon aus, dass sie 1207 das Licht der Welt erblickte. Ihre Sprache und ihre Bildwelt, ebenso wie ihr hoher Bildungsstand verraten eine adlige Herkunft und höfische Erziehung. Mechthild kam aus gutem Hause, und umso mutiger – um nicht zu sagen: unerhörter – war es, dass sie im Alter von 23 Jahren ihre Eltern und Verwandten, denen sie, wie sie einmal erwähnt, „stets die Liebste war“ (IV 2), verlässt, um in der Fremde, in Magdeburg, ein neues Leben als Begine zu beginnen. Sie folgte damit einer Bewegung, die im ausgehenden 12. Jahrhundert in Flandern aufgekommen war und von dort aus ganz Europa eroberte: Spirituell bewegte Frauen schlossen sich zu geistlichen Lebensgemeinschaften zusammen, gaben sich eine Ordensregel und lebten in Askese, Keuschheit und Armut. Meist siedelten sie in den aufblühenden Städten und unterhielten dort mit Hingabe und Leidenschaft geführte Armenhäuser, Hospize und andere Einrichtungen für die Bedürftigen und Elenden. Getragen wurde diese Bewegung von einer tiefen mystischen Spiritualität im Geiste einer radikalen Nachfolge Jesu. Mechthild fühlte sich gewiss auch deshalb zu den Beginen hingezogen, weil sie nach eigenem Zeugnis schon in jungen Jahren eine ihr ganzes Leben durchwirkende spirituelle Erfahrung machte: Mit zwölf Jahren habe sie, als sie allein war, der Heilige Geist „gegrüßt“ – ein Ereignis, das sich fortan 31 Jahre lang Tag für Tag wiederholt habe (IV, 2)…

Was dann geschah, wissen wir nicht. Mechthilds spärliche Angaben über ihr Leben im Magdeburg geben lediglich zu erkennen, dass sie vierzig Jahre lang das Leben einer Begine führte. Das asketische Leben ebenso wie ihre lodernde Leidenschaft für Gott ließen sie oft erkranken. Und sie bekennt rückblickend, dass „die gewaltige Macht der Minne“ – also der Liebe – sie „all meiner Kräfte“ beraubt habe (IV, 2). Freundschaftlich verbunden war sie zu dieser Zeit ihrem Beichtvater, Heinrich von Halle, einem Dominikaner-Pater, der mit der seelsorgerlichen und geistlichen Aufsicht über die Beginen-Gemeinschaften beauftragt war. Dieser großherzige Mann ermutigte Mechthild um das Jahr 1250, ihre glühende Gottesliebe und die ihr darin zuteil gewordenen Erfahrungen niederzuschreiben. So entstand ihr Buch Das fließende Licht der Gottheit als erstes, volkssprachliches mystisches Werk der deutschen Literatur – und als bis heute bewegendes Zeugnis einer Gottesliebe, deren Leidenschaft zuweilen zwar ins Pathologische zu reichen scheint, die bei Lichte besehen aber immer fest verwurzelt und in einer wohltuenden Weise bodenständig ist.

Das fließende Licht der Gottheit entstand nicht in einem Zug. Die sieben Bücher der Schrift erschienen nach und nach, sodass sich Themen und Tonfall der ersten von den letzten Büchern fundamental unterscheiden. Es sind vor allem die ersten zwei Bücher, die voll sind von Mechthilds unvergleichlicher erotischer Mystik. Und es waren diese Texte, mit denen sie allem Anschein nach Aufsehen erregte. Wir wissen nicht genau, ob es im allgemeinen die um die Mitte des 13. Jahrhunderts europaweit einsetzende kirchliche Kampagne gegen das Beginentum war oder ihre Schriften im Besonderen: Fest steht, dass Mechthild sich um 1270 herum veranlasst sah, ihr Leben als Begine aufzugeben und um Aufnahme in das kurz zuvor gegründete Zisterzienserinnen-Kloster in Helfta bei Eisleben zu gesuchen. Unter der Leitung der Äbtissin Gertrud von Hackeborn (1250-1291) war Helfta damals eine Hochburg mystischer Frauenspiritualität, in der Mechthild auf zwei junge Nonnen stieß, die später ihr spirituelles Erbe fortführen sollten: Mechthild von Hackeborn und Gertrud, die später „die Große“ genannt wurde. In dieser inspirierenden Gemeinschaft verbrachte Mechthild die letzten Jahre ihres Lebens. Nahezu erblindet diktierte sie dort das letzte Buch vom Fließenden Licht der Gottheit, und dort starb sie hochverehrt und allseits geliebt. Wann sie genau diese Welt verließ, bleibt im Dunkeln. Einige Forscher datieren ihr Todesjahr auf 1294, andere auf 1282.

Rumi wurde nicht so alt. Aber weniger ärmer war sein Leben deswegen nicht. Im Gegenteil: Es war von langen Reisen, verzehrenden Leidenschaften und unermüdlicher Schaffenskraft erfüllt – ein extremes Leben, in dem strenge Askese und ausgelassene Lebenslust zusammengespannt waren. Schon kurz nach seiner Geburt kam erste Unruhe in sein Leben. Er war gerade zwölf Jahre alt (auch hier die zwölf!) als seine Heimat von den anrückenden Heeren des Dschingis Khan bedroht wurde. Weitblickend genug, erkannte sein Vater die drohende Gefahr und verließ 1219 mit seiner Familie und seinen Schülern Balch. Als die Mongolen ein Jahr später Balch dem Erdboden gleich machten, war die Familie längst in Sicherheit. Am Ziel aber war sie noch nicht. Zunächst trat sie die Pilgerreise nach Mekka an, dann blieb Baha’eddin Walad mit den Seinen für längere Zeit Syrien. Zuletzt führte ihr Weg sie in die heutige Türkei, nach Zentralanatolien, in die Stadt Larandra. Dort starb Rumis Mutter, dort heiratete er, und dort wurde im Jahr 1225 sein erster Sohn geboren. Auch Larandra blieb nur ein Durchgangsquartier: 1228 erhielt Rumis Vater einen Ruf an eine Koranschule im nahegelegenen Konya, der Hauptstadt des damaligen Seldschukenreichs – von altersher ein geistiges Zentrum, in dem Ströme des spätantiken Platonismus mit der mystischen Spiritualität des benachbarten Kappadozien und mit dem Islam zusammenflossen. Dies war der richtige Ort für Rumi. Hier entstanden seine Werke, hier ereignete sich die Begegnung mit dem Wanderderwisch Schamseddin i-Tabris, die sein gesamtes Leben von Grund auf verändern sollte.

Bevor diese schicksalhafte Stunde schlug, hatte Rumi als Koran-Lehrer und Wissenschaftler seinen Vater beerbt, nachdem dieser 1231 verstorben war. In dieser Zeit scheint Rumi ein eher konventioneller Denker gewesen zu sein – hoch gebildet, äußerst belesen und gern konsultiert in allen Fragen des Lebens. Von seiner späteren erotischen Mystik noch keine Spur. Sie trat erst mit Schamseddin in sein Leben – dies aber mit einer solchen Macht, dass selbst Rumis engste Vertraute ihren Meister fortan nicht mehr wiedererkannten. Die Begegnung mit diesem mysteriösen Wanderderwisch ereignete sich im Herbst des Jahres 1244. Rumi war 37 Jahre alt – und er wurde von der ersten Begegnung mit dem älteren Schamseddin mitten ins Herz getroffen. Er entbrannte in Leidenschaft, verbrachte Tage und Nächte mit dem Freund – und erregte damit langsam aber stetig den Unmut mancher Schüler und alten Vertrauten. Es ist nicht klar, wie wir uns den Umgang, den Rumi und Schameseddin pflegten, vorstellen müssen. Die Innigkeit und Leidenschaft der Gedichte und Aufzeichnungen Rumis lassen vermuten, dass es sich um eine handfeste Liebesbeziehung handelte, es gibt aber keine Hinweise auf eine sexuelle Verbindung. Vielmehr scheint Rumi von Anfang an die Erfahrung einer so umfassenden erotischen Liebe gemacht zu haben, dass er durch den Freund hindurch stets die Wirklichkeit und Präsenz Gottes gesehen und geliebt hat. Jedenfalls verschwimmen geliebter Freund und geliebter Gott in einem Maße, dass es zumeist überhaupt nicht gelingt, diese Dimensionen auseinander zu halten.

Nur zwei Jahre währte der Umgang der Freunde, dann sah sich Schamseddin genötigt, – gleichsam bei Nacht und Nebel – Konya zu verlassen. Rumi war untröstlich. In zahllosen Gedichten machte er seinem Trennungsschmerz Luft, überall ließ er den Verschwundenen suchen. Fündig wurde er zuletzt in Damaskus. Mit Gold und Silber schickte er seinen nunmehr 21jährigen Sohn nach Schamseddin aus, der ihn tatsächlich nach Konya zurückbrachte. Doch die Wiedersehensfreude währte nicht lange. Kaum dass Schamseddin zurückgekehrt und von Rumi mit einem Mädchen aus seinem Hause verheiratet war, wurde unter Beteiligung von Rumis zweiten Sohn Ala’eddin eine neuerliche Intrige gegen den Freund gesponnen. Im Winter des Jahres 1247 wurde Schamseddin ermordet. In Rumis Dichtung aber lebt er fort. Der Tod des Freundes bedeutete für ihn keine Trennung. Im Gegenteil: Getragen von den Flügeln des Eros fühlte er nunmehr in allem die Gegenwart des Freundes, in der sich ihm zugleich die Wirklichkeit Gottes erschloss – eine rätselhafte Verschmelzung, die für uns Nachgeborene kaum zu verstehen ist. Annemarie Schimmel, die wie wenige sonst Rumis Werk und Leben erforscht hat, erklärt das Rätsel seiner Liebe zu Schamseddin wie folgt: „Es war nicht die Liebe eines älteren Mannes zu einem schönen Jüngling, der als Epiphanie der Gottheit, als „Zeuge“ der göttlichen Schönheit verehrt und besungen wurde; es war die geistige Begegnung zweier gereifter Männer, die eine unvergleichliche Flut ekstatischer Gedichte hervorbrachte und Dschelaleddin in unerhörte Verzückung emporriss.“

Rumis Leidenschaft für Schamseddin blieb singulär – auch wenn er in seinen verbleibenden Jahren noch zwei weitere Freundschaften pflegte, in denen seine mystische Liebe fortleben konnte. Zum einen war da der Goldschmied Salaheddin, mit dessen Tochter er seinen ältesten Sohn Sultan Walad verheiratete. Doch auch diesen Freund musste Rumi zu Grabe tragen. Die letzten anderthalb Jahrzehnte seines Lebens standen dann im Zeichen der Freundschaft zu einem deutlich jüngeren Schüler: Husameddin hieß der junge Mann, und er wurde für Rumi vor allem darin bedeutsam, dass er ihn zu seinem gigantischen Spätwerk, dem Mathnawi, inspirierte. Von der Beziehung beider berichtet Annemarie Schimmel: „Der Jünger folgte Mevlana überallhin, in der Moschee, im Bad, in den Reigentänzen, um die Verse niederzuschreiben, die plötzlich von seinen Lippen kamen; er las sie dem Meister dann nochmals vor, und nach der Reinschrift wurden sie an die Jünger verteilt“. Zu diesen zählten übrigens auch Frauen. Es ist bekannt, dass eine ganze Reihe Damen zu seinem Zirkel gehörten. Auch wissen wir, dass Rumi zweimal glücklich verheiratet war und dass er seinen Frauen in Liebe und Zärtlichkeit zugetan war.

Rumis Leben war geprägt von Gottesdiensten und Meditationen, von Unterweisungen und wirbelndem Tanz. Gerne weilte er im Kreis der Seinen, aus dem später, unter der Leitung seines ältesten Sohnes, Sultan Walad, der bis heute bestehende Orden der Mevlanis hervorging. Als ersten Stellvertreter und Nachfolger ernannte Rumi im Jahr 1262 Husameddin. Das war elf Jahre vor Rumis Tod. Im Herbst 1273 befiel den Mevlana eine Krankheit, die seine Ärzte nicht diagnostizieren konnten. Als sich diese Nachricht in Anatolien verbreitete, kamen von überall her die Anhänger und Schüler geeilt, um dem Meister die Referenz zu erweisen. Am 17. Dezember 1273 schloss er für immer die Augen – und es ist sicher verbürgt, dass bei seinem Begräbnis alle Religionsgemeinschaften beteiligt waren und sie Rumi nach ihrem Ritus verabschiedeten. Überliefert ist das Wort: „Er war unser Jesus, er war unser Moses“. Und der ekstatische Reigen seiner Jünger dauerte Stunde um Stunde. Bis heute ist Rumis Mausoleum ein Pilgerort für fromme Gläubige. Und wer je diesen Heiligen Ort unter der türkisfarbenen Kuppel besucht hat, ist beeindruckt von der spirituellen Kraft, die ihm über die Jahrhunderte geblieben ist. Und unvergesslich ist ihm das Wort, das dort geschrieben steht:

Komm, komm, wer immer du bist,

Wanderer, Götzenanbeter,

du, der du den Abschied liebst,

es spielt keine Rolle.

Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.

Komm, auch wenn du deinen Schwur

tausendfach gebrochen hast.

Komm, komm, noch einmal, komm!

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Eine Leidenschaft

Die Liebe packt uns alle beim Genick

und schleppt uns Zappelnde zu Gott.

(Rumi, Diwan 96)

Rumi und Mechthild sind Liebende Gottes. Sie sind erfüllt von einer verzehrenden Leidenschaft, die den Kreis des Menschlichen übersteigt und sie über sich und die Welt hinausträgt in die Wirklichkeit Gottes. Besser müsste man sagen: die sie durch die Welt hindurch trägt in Gottes Liebe. Denn ihrer beider Seelen sind empfänglich für die Begegnung mit Gott in der Welt. Welt und Gott sind für sie nicht zu trennen. Überall gewahren sie die Gegenwart des Geliebten – und machen dabei die Erfahrung, dass er es ist, der die Leidenschaft in ihnen allererst entfacht, weil er die Liebe selbst ist: die Liebe, die Wahrheit des Lebens, das göttliche Leben, der lebendige Gott. – Am Ende ist ihnen alles EINS. Und dieses EINE ist es, das ihre Herzen ergreift und entfacht. Das EINE ist es, dem Rumi die Worte in den Mund legt:

Ich bin Wind, und du bist Feuer,

und ich habe dich entfacht. (Diwan, 1586)

Rumi erlebt sich als eine lodernde Liebesflamme: “Ich brannte, ich verbrannte, ich verbrannte…” (Diwan, 1768). Genauso weiß auch Mechthild von ihrer Seele: „Je mehr sie brennt, umso schöner leuchtet sie. Je mehr sie sich verzehrt, umso mehr hat sie. Je heißer sie bleibt, umso rascher schlägt sie Funken.” (I, 22) Und entsprechend kann sie ihr Herz zur Hingabe ermutigen:

Liebe ihn so heftig,

dass du sterben könntest für ihn;

dann brennst du immerdar

unauslöschlich wie ein lebender Funke

im großen Feuer der erhabenen Majestät. (I, 28)

Das „Feuer der erhabenen Majestät“ – das ist wichtig, um die mystische Liebesleidenschaft beider zu verstehen – ist immer das Erste. Nicht Mechthild und Rumi sind die Protagonisten der Gottesliebe, sondern es ist Gott, der auf sie zukommt und sie hinreißt. Sie haben sich nicht willentlich für die Liebe entschieden – sondern sie haben es zugelassen, dass sie von ihr gepackt und hingerissen werden. Nicht das Ego, sondern Eros ist die treibende Kraft ihrer Herzen. Für Rumi ist klar: „Kein Liebender würde selbst Vereinigung suchen, wenn sein Geliebter sie nicht suchte!“ (Mathnawi III, 4393)

König, Dieb, Heiliger, Verrückter –

Die Liebe packt uns alle beim Genick

und schleppt uns Zappelnde zu Gott

auf manchem Schleichweg….

Wie hätte ich es jemals ahnen können,

dass sich auch Gott nach uns verzehrt? (Diwan, 96)

Auch Mechthild ist sich sicher: „Gott hat an allen Dingen genug, nur allein die Berührung der Seele wird ihm nie genug.“ (IV, 12). Er ist „minnekrank nach ihr“ (III, 1), ein „brennender Gott in seiner Sehnsucht“ (III, 2). Und so kann sie Gott ihrer Seele ausrichten lassen:

Dass ich Dich überaus liebe,

das habe ich von Natur,

weil ich die Liebe selber bin.

Dass ich Dich oftmals liebe,

hab ich von meiner Sehnsucht,

weil ich ersehne, dass man mich herzlich liebt.

Dass ich Dich lange liebe,

kommt von meiner Ewigkeit,

weil ich ohne Anfang und Ende bin. (I, 24)

Die Sehnsucht Gottes nach den Menschen bleibt in den Liebenden Gottes nicht unerwidert. Ihre Intensität entspricht ihrer Empfänglichkeit, und sie lässt sie aufbrechen zu einem Pilgerweg der Liebe, der hindurch führt durch Hingabe und Schmerz ebenso wie durch Kampf und Zärtlichkeit. Immer begleitet vom Geliebten, wie Rumi in einer schönen Geschichte aus dem Mathnawi erzählt, bei der sich ein leidenschaftlicher Gottsuchender darüber beklagt, dass ER sich ihm nicht zuwendet. Aber dann tut er es doch:

Dein Ruf „O Gott!“

ist Mein Ruf: „Ich bin hier!“

Dein Schmerz und Flehn

ist Botschaft doch von Mir,

und all dein Streben, um Mich zu erreichen -

dass ich zu Mir dich ziehe, ist ein Zeichen!

Dein Liebesschmerz ist Meine Huld für dich –

im Ruf „O Gott“ sind hundert „Hier bin Ich!“

(Mathnawi III, 189ff)

Das zu realisieren, ist Ziel und Gipfel der Liebesleidenschaft: wirklich im tiefsten Grund der Seele zu wissen und zu verstehen, dass Gott es ist, der sich im Menschen nach sich selbst sehnt – dass es das göttliche Leben ist, das im Menschen zu sich selbst kommen will. Mit jeder Zelle des Leibes zu wissen, dass Gott und Menschen eins sind: das ist die Erfahrung der Einung, in der Mechthild und Rumi den Gipfel der Liebe erleben. Und dies nicht in einem ekstatischen Taumel, bei dem die Liebenden von Sinnen sind, sondern in der höchsten Klarheit und dem tiefsten Verstehen. Die mystische Einungserfahrung ist ihnen Erkenntnis und Weisheit, ganz wie Mechthild sagt: „Minne ohne Erkenntnis dünkt die weise Seele Finsternis.“ (I, 21) Doch selbst auf diesem Gipfel des Liebesweges finden ihre unruhigen Herzen keinen nachhaltigen Frieden, sondern die in ihnen entfachte Leidenschaft kehrt sich von Gott wieder zu den Menschen. Sie will sich mitteilen und zum Ausdruck bringen. Sie will besungen und dargestellt werden. Die Pilgerschaft der Liebenden Gottes endet dort, wo sie begann: mitten im Leben – nun aber voller Poesie und Kreativität, voller Dankbarkeit und Demut.