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Ute Mehnert

USA

Ein Länderporträt

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

3. Auflage als E-Book, Juli 2018

eISBN 978-3-86284-338-1

Inhalt

Ein Land, das alle schon kennen – und das doch ganz anders ist

A Big Country: Amerika in Raumbildern

»America«: Made in Germany

Neue Welt: Amerika als Sehnsucht

Old South, New South: Der Süden

Megalopolis: Der Nordosten

Heartland: Der Mittlere Westen

Frontiers: Der Westen

Diversity: Einwanderung und Zusammenleben

Lockruf: The American Dream

Crossing Cultures: Expats und andere Migranten

Minority Majority: Amerikas Demographie

In God We Trust: Die Religion

Steubenparade: Deutsche in Amerika

Stadt, Land, suburb: Bauen, Wohnen und Mobilität

Homestead: Häuser als Sozialversicherung

Skyscrapers: Bauen im Höhenrausch

Häuser für alle: Frank Lloyd Wright und Levittown

McMansions: Bauen im Größenwahn

Urban Frontiers: Städte der Zukunft

Shopping: Die Konsumenten-Kultur

Convenience: Einkaufen im Alltag

Auf Kredit: Ruinöse Kaufkraft

Malls: Ohne Uhren, ohne Fenster

Diets: Die Esskultur

Super Size Me: Fastfood

Foodies: Essen als Statussache

Truthahn für alle: Thanksgiving

Have a Nice Day: Gesellschaft und Familie

Amerikaner per Du: Soziale Umgangsformen

Think Positive: Die zupackende Gesellschaft

Baseball, Super Bowl, Soccer Mom: Die Welt des Sports

Students: Bildung und Ausbildung

Public or Private: Amerikas Schulsystem

Campus Life: Das College fürs Leben

America Reads: Bibliotheken und Lesekultur

We, the People: Die Politik

Activists: Politik als Protest

Who’s the Boss? Ein Präsident, 90 000 Verwaltungseinheiten

Balance of Power: Zwei Parteien, drei Gewalten

Power Center: Washington, D. C.

Disrupt Politics: Die neue Macht aus dem Silicon Valley

Anhang

Glossar

Literatur, Quellen und nützliche Websites

Basisdaten USA

Dank

Karte der USA

Über die Autorin

Ein Land, das alle schon kennen – und das doch ganz anders ist

»We’re all living in Amerika – Amerika ist wunderbar.«

(Refrainzeile im Song »Amerika« der deutschen Rockgruppe Rammstein)

Seit Jahrhunderten ist Amerika das Land unserer Sehnsucht. Es ist die neue Welt, in der alle frei und gleich sind. Es ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das aus Tellerwäschern Millionäre macht. Es ist die Traumfabrik, die Helden und Happy Ends produziert. Und es ist die Heimat des unverbesserlichen Optimismus, wo man nach vorn blickt statt zurück – weshalb schon Goethe der Neuen Welt zurief: »Amerika, du hast es besser.«

Seit Jahrhunderten erregt Amerika unseren Zorn. Es ist das Land des Raubtierkapitalismus, in dem Geld alles ist. Es ist die Wiege der Mickymaus-Kultur, die nur seichtes Entertainment kennt. Es ist das Land des Konsumterrors, wo Shoppingmalls und Fastfood-Ketten den Geschmack ruinieren. »Amerika – die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne Umweg über die Kultur«, wie es der französische Politiker Georges Clemenceau schon vor hundert Jahren formulierte.

Nur gleichgültig lässt uns Amerika nicht. Von Hassliebe ist oft die Rede, wenn es um das Verhältnis der Deutschen zu den USA geht (der Rest des Doppelkontinents ist mit »Amerika« so gut wie nie gemeint.) Das wird nirgends so sichtbar wie in unserer Faszination für die amerikanischen Präsidenten und all jene, die es werden wollen. Über Bill Clintons Affäre mit seiner Praktikantin waren wir Mitte der 1990er Jahre ebenso detailliert im Bilde wie über Hillary Clintons spektakuläre Wahlniederlage fast zwei Jahrzehnte danach. Wir haben George W. Bush verteufelt. Dann haben wir Barack Obama vergöttert – zumindest so lange, bis sich herausstellte, dass US-Geheimdienste in seinem Auftrag das Handy der deutschen Bundeskanzlerin abhörten. Doch niemand hat unsere Fantasie mehr beflügelt als Donald Trump. Seit seinem überraschenden Wahlsieg im November 2016 beschäftigt er Kommentatoren, Komiker und Karikaturisten wie kein zweiter. Die Titelbilder deutscher Magazine zeigten Trump als Diktator mit Sternenbanner-Toga und Hitlergruß, als Dr. Seltsam beim Ritt auf der Atombombe oder als Tsunami mit platinblonder Haartolle – eine Monsterwelle, die Washington hinwegfegt und die amerikanische Demokratie gleich mit. Wie Asterix und Obelix ihre Römer, so beobachten wir das Imperium unserer Zeit und stellen analog zu den Galliern fest: Die spinnen, die Amerikaner. Wenn wir uns nicht über Trump aufregen, schimpfen wir auf die »Datenkrake« Google oder über die »moderne Sklaverei« der Uber-Fahrer. Dann ziehen wir unser iPhone aus der Tasche und bestellen schnell noch was bei Amazon. »Warum die Amerikaner alles falsch machen«, hieß das schon vor Jahren in der Zeit, und Kommentator Robert Leicht bescheinigte der deutschen Öffentlichkeit insgesamt ein mangelhaftes Urteilsvermögen gegenüber den USA.

Wir alle wissen immer schon Bescheid, was Amerika ist und nicht ist. Es ist ein Ort in unserer Vorstellungswelt, zusammengesetzt aus Gemälden, Fotos, Nachrichten, Werbeplakaten, Reisen, Büchern, Songtexten, Sitcoms und Kinofilmen. Vieles davon verdanken wir den USA selbst, weil es Teil der amerikanischen soft power ist, von Hollywood, App Stores und Streaming-Diensten bis in die entlegensten Winkel der Welt geliefert. Den Siegeszug der demokratisierten Kultur made in USA nach dem Zweiten Weltkrieg hat Michael Rutschky als Zeitzeuge im Titel seiner »deutschen Entwicklungsgeschichte« auf den Punkt gebracht: Wie wir Amerikaner wurden.

Auch mich lockte die amerikanische Verheißung, seit ich denken kann. Nie werde ich mein erstes T-Shirt vergessen: hellblau, mit aufgedrucktem Donald Duck, der vor dem Sternenbanner posierte. Ich hatte so lange gebettelt, bis meine Mutter es mir kaufte – zum Ärger meines Vaters, der das »billige amerikanische Ding« abscheulich fand. Als McDonald’s 1971 seine erste Filiale in Deutschland eröffnete, machte der Stern daraus sogar ein Titelbild: Wie Ufos aus einer anderen Welt schwebten Hamburger über den Atlantik auf die deutsche Küste zu; im Hintergrund glitzerte die Skyline von New York. Für uns Kinder waren Geburtstagspartys in den neuen Fastfood-Restaurants damals das Größte, auch wenn unsere Eltern über die »amerikanischen Labberbrötchen« die Nase rümpften.

Mitte der 1980er Jahre reiste ich zum ersten Mal in die USA. Drei Wochen lang genoss ich als Touristin im Südwesten des Landes die entspannte Atmosphäre eines Roadmovies, begegnete vielen freundlichen Amerikanern – und meinte überall Vertrautes zu erkennen. Lebenskünstler auf Surfbrettern unter der Golden Gate Bridge. Grandiose Natur und einsame Motels an endlosen Highways. Selbstvergessene alte Ladies an den slot machines in Las Vegas. Rettungsschwimmer am Strand von Malibu, die von Hollywood-Karrieren träumten. In dieser kurzen Zeit bekam mein Klischee-Amerika kaum einen Kratzer.

1990 ging es erneut, aber diesmal unter ganz anderen Vorzeichen in die USA: Sechs Monate Archivarbeit in Washington, D. C. Erst hier, konfrontiert mit dem amerikanischen Alltag und seinen Institutionen, lösten sich die scheinbaren Gewissheiten auf. Auch hier begegnete ich vielen freundlichen Amerikanern – aber es gab betretene Gesichter, als ich den Satz: »Du musst uns unbedingt besuchen«, wörtlich nahm und einfach vorbeischaute. Und dass es im Land of the Free nicht ratsam ist, Autoritäten in Frage zu stellen, wurde mir abrupt klar, als ich im Pendlerzug beim Gepäckverstauen dem Schaffner widersprach: Ich musste umgehend wieder aussteigen.

Inzwischen lebe ich auf unbestimmte Zeit mit meiner Familie in Princeton, New Jersey. Wir wohnen in einem typisch amerikanischen, weißen Holzhaus mit grünen Fensterläden und ohne Gartenzaun. Jeder Besucher aus Deutschland schüttelt den Kopf über die durchhängenden Leitungen, auf denen Eichhörnchen zwischen Haus und Strommasten turnen – und staunt über die staatlich subventionierten Solarzellen auf dem Dach, die wir noch den amerikanischen Vorbesitzern verdanken. Wir sind große Fans unseres Postboten, der nicht nur Briefe bringt, sondern auch gern welche mitnimmt und für uns abschickt. Und doch erleben wir bei (fast) jedem Behördengang, dass es in Amerika bürokratischer zugehen kann als in unserer dafür berüchtigten Heimat.

Kurz und gut: Wer für längere Zeit aus Deutschland in die USA kommt, findet zunächst viel Vertrautes, ist nach wenigen Wochen gründlich irritiert und weiß nach einigen Monaten gar nichts mehr. Das Vertraute kollidiert mit dem Fremden, das wir bei allem Vorwissen eben doch nicht im Blick hatten. An diesem Kontrast arbeiten sich alle ab, die nicht nur zum Shopping mit Rundreise nach New York fliegen. Amerikaner sind Workaholics – doch im Alltag merkt man ihnen Stress kaum an. Amerikaner sind prüde – haben aber zugleich die größte Porno-Industrie der Welt. Die USA sind God’s Own Country – und doch wird man kaum ein Land finden, das die Trennung von Religion und Staat strikter einhält. Amerikaner sind scharf aufs Geldverdienen – und trotzdem ist fast jeder irgendwo ehrenamtlich engagiert. Amerikaner sind maßlose Energieverschwender – doch 2015 haben die USA laut UNO fast fünfmal so viel Geld in erneuerbare Energien investiert wie Deutschland, und in der Sesamstraße musste Oscar, der Griesgram mit dem grünen Zottelfell, aus seiner alten Mülltonne ausziehen: Der Kinderserienheld wohnt jetzt in einem Recyclingcontainer.

Irritierend ist auch die ungeheure Dynamik dieses Landes: Amerika ist, ebenso wie seine Bewohner, fast immer in Bewegung. Das gilt derzeit insbesondere für die Wirtschaft, wo Firmen wie Amazon, Netflix und Uber – eben noch Start-ups – ganze Branchen aufmischen. Aber auch die rasante demografische Entwicklung sorgt für Unruhe. Noch bis vor kurzem waren Afro-Amerikaner die größte Minderheit. Heute sind es die sogenannten Latinos, also Einwohner lateinamerikanischer Abstammung, und nach ihnen sind Asiaten die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. Schon bald werden die weißen Amerikaner selbst nur noch eine von vielen Minderheiten sein. Schwarz versus Weiß – diese einfache Farbenlehre reicht längst nicht mehr aus. Nimmt man noch die schiere Größe und regionale Vielfalt der Vereinigten Staaten hinzu, dann ist es eigentlich gar kein Wunder, dass man sich als Fremder leicht (ver)irrt.

Auch dieses Buch kann Ihnen nicht in ein paar griffigen Formeln erklären, wie Amerika zu verstehen ist. Noch weniger geht es auf die Suche nach einem »eigentlichen Amerika« (das ja oft irgendwo im Heartland, in einem eher ländlichen Landesinneren vermutet wird, obwohl acht von zehn Amerikanern heute in urbanen Ballungsgebieten leben). Es möchte vielmehr ein Wegweiser sein für Ihren eigenen Zugang zum »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, das diesen Beinamen ja nicht von ungefähr trägt.

Erzählt wird einiges aus der Geschichte der Vereinigten Staaten und ihrer Entstehung als Gegenmodell zum alten Europa. Sie wird Ihnen, sei es mächtig glorifiziert oder heftig umstritten, auch im heutigen Alltag überall begegnen, und so manche amerikanische Eigenheit ist ohne Kenntnis dieser Wurzeln kaum zu verstehen. Hauptsächlich geht es aber darum, wie man in den USA heute lebt und lernt, baut und wohnt, isst und einkauft, Sport treibt und Politik macht.

Das ist ohne Pauschalisierungen nicht zu schaffen. Von »Amerika« und »Amerikanern« zu schreiben, wo es genau genommen »die USA« und »US-Amerikaner« heißen müsste, ist ja ohnehin schon nicht korrekt. Trotzdem habe ich mich dafür entschieden, denn wo Amerika gesagt wird, ist fast nie der ganze Kontinent gemeint. Schon Clemenceau konnte fest davon ausgehen, dass niemand an Argentinier, Kanadier oder Mexikaner denken würde, als er von Amerikas direktem Weg in die Dekandenz sprach. Dieses Land ist stets beides zugleich: die USA und Amerika; eine präsidiale und föderale Republik mit derzeit gut 325 Millionen Einwohnern auf einem Territorium von 9,8 Millionen Quadratkilometern und ein Ort in höchst unterschiedlichen Vorstellungswelten. Amerika ist schließlich nicht nur ein Konstrukt von außen. Was Amerika ist und sein soll, darüber wurde und wird nirgends heftiger gestritten als in den Vereinigten Staaten selbst.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 galt das vor allem im Zusammenhang mit dem »Krieg gegen den Terror«. Doch in jüngster Zeit sind es eher soziale Bewegungen und Krisen im eigenen Land, die Konfliktstoff liefern. Seit wir in die USA gezogen sind, haben wir eine Finanzkrise, einen Hurrikan und stürmische Zeiten in der Politik erlebt. Nichts hat unseren überwiegend von linksliberalen Akademikern bevölkerten Wohnort heftiger erschüttert als die Trump-Wahl – nicht einmal Sandy, der stärkste Hurrikan, der je im Nordatlantik gemessen wurde. Kaum jemand hier hatte »President Trump« ernsthaft für möglich gehalten. Was eben auch zeigt, wie viele (die Autorin eingeschlossen) das Land doch weniger gut kannten, als sie glaubten. Seitdem wird debattiert, mobilisiert, protestiert. Aktivismus ist angesagt: für die Umwelt, für Frauen- und Minderheitenrechte, gegen Rassismus, aber vor allem gegen Trump und die alt-right, die radikale Rechte.

In den Südstaaten stürzen Denkmäler, in denen die einen Kriegshelden und Patrioten sehen wollen, die anderen aber Ku-Klux-Klan-Männer und Sklavenhalter erkennen. In Hollywood stürzte Harvey Weinstein, einer der mächtigsten Filmproduzenten und ein Sexmonster, dessen Übergriffe die Branche jahrzehntelang unter den Teppich kehrte. Seitdem bringt die #MeToo-Kampagne weitere prominente Männer zu Fall, sei es am Broadway, bei Fox News oder im Kongress. An Amerikas Universitäten werden ideologisch unliebsame Redner niedergebrüllt, und auf Demonstrationen marschiert ein schwarzer Block: »Antifa« ist plötzlich auch in Amerika ein Begriff. Die Radikalisierung der Rechten kam mit der Tea-Party-Bewegung 2009 in Fahrt; nun ist die Linke dran.

Kein Zweifel, die US-Gesellschaft fragmentiert und polarisiert sich zusehends. Doch dafür ist Donald Trump, so sehr er die Gegensätze auch schüren mag, eher Symptom als Ursache. Die ideologischen Frontlinien verlaufen zwischen Schwarzen und Weißen, zwischen Neueinwanderern und Alteingesessenen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Wall Street und Main Street, zwischen Küstenmetropolen und Kernland. Viele sehen deshalb die Zukunft der USA derzeit eher pessimistisch; das Schlagwort vom Cold Civil War, einem Kalten Bürgerkrieg, macht die Runde. Das amerikanische Staatsvolk, so heißt es, zerfällt in rivalisierende tribes, in identitäre Clans und Stämme, die in Informationssilos mit ihren je eigenen Wahrheiten leben und mit denen sich kein demokratischer Rechtsstaat mehr machen lässt.

Doch die Frage, was die amerikanische Nation eigentlich zusammenhält, ist so alt wie die Vereinigten Staaten selbst. Und in ihrer knapp 250-jährigen Geschichte hat diese Nation immer wieder massive innenpolitische Konflikte ausgehalten, darunter einen echten und ausgesprochen blutigen Bürgerkrieg. Für akute Alarmstimmung oder – je nach Standpunkt – für Schadenfreude ist es also etwas zu früh.

Dasselbe gilt meines Erachtens für die Trump-Regierung mit ihrem anscheinend unkontrolliert impulsiven Chef, dessen Politikstil mit dem Modewort »disruptiv« durchaus treffend beschrieben ist. Will heißen: Zwar wird in Washington derzeit manches Gewohnte über den Haufen geworfen, doch was daraus entsteht, ist noch nicht recht abzusehen. Nach dem ersten Trump-Jahr jedenfalls wird kaum jemand behaupten können, in den USA sei nichts mehr wie zuvor. Das Land ist immer noch in der NATO. Ein unabhängiger Sonderermittler untersucht, ob die Wahl womöglich mit russischer Hilfe manipuliert wurde und Trump davon wusste. Die Mehrheit im Kongress verabschiedet Reformen, die der Opposition nicht passen. Und wo amerikanische Neonazis aufmarschieren, hagelt es Proteste. So schnell kriegt man eben weder Amerikas politische Institutionen noch die Zivilgesellschaft klein.

Schwerer wiegen langfristige Trends, die weniger spektakulär daherkommen. So ist mit dem Silicon Valley ein neues Machtzentrum im Westen entstanden, das die Ostküsten-Schwergewichte New York und Washington schon bald in den Schatten stellen könnte. Technologiegiganten wie Google, Facebook und Amazon mischen nicht nur ganze Industriezweige mit ihren Produkten auf, sondern machen mit ihren sozialen Projekten längst auch dem Staat Konkurrenz. Allerdings lässt die bessere Welt, die sich die ehrgeizigen Unternehmer von ihren neuen Geräten und Logarithmen versprechen, bislang auf sich warten: Mit Ausnahme der Bildungs- und Wirtschaftseliten sind die Amerikaner heute insgesamt weniger wohlhabend, weniger mobil, weniger gesund und weniger optimistisch als noch zu Beginn des Jahrtausends. Die Kluft zwischen der kleinen Gruppe der Reichen oder Superreichen und dem Rest der Gesellschaft wird ständig breiter, und insbesondere in den Mittelschichten ist der Glaube an den amerikanischen Traum erschüttert: dass der soziale Aufstieg in den USA jedem möglich sei, wenn er nur hart arbeitet und sich an die Regeln hält.

Längst nicht alle dieser Trends sind hausgemacht. Aber die Folgen der Globalisierung machen eben auch vor dem Land nicht halt, dessen Innovationen die Vernetzung der Welt so massiv beschleunigt haben. Wird Amerika, nachdem es dem 20. Jahrhundert als universalistische Supermacht seinen Stempel aufgedrückt hat, nun also einfach »normaler«? Selbst wenn die USA heute vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie viele moderne Industriegesellschaften: Man darf auch weiterhin erwarten, dass die Amerikaner anders damit umgehen als wir Europäer. Und wie Amerika »tickt«, das zeigt sich mindestens so sehr im Kleinen wie im Großen.

Als Neueinwanderer vor mehr als zehn Jahren war unsere vielleicht bemerkenswerteste Erfahrung die Überzeugungskraft des amerikanischen Alltags. Damals waren wir in ein Imperium gekommen, wo Glaubenskrieger, Militärfalken und Ölmilliardäre den Ton angaben, wo es nur noch Freunde oder Feinde, »für uns oder gegen uns« gab – und lebten doch zugleich in einer ganz anderen Welt. Hier wurden Fremde ohne jede Gesinnungsprüfung mit offenen Armen empfangen. Hier reichte ein Mietvertrag als Nachweis lokaler Zugehörigkeit, um ein Kind in der öffentlichen Schule anzumelden, wo es sich schon nach wenigen Tagen bewegte wie ein Fisch im Wasser. Hier war man stolz auf die Institutionen der Republik und schämte sich des politischen Personals in der Hauptstadt. Diese alltägliche Realität hat sich während der acht Obama-Jahre eigentlich nicht geändert, und sie ist auch danach nicht einfach verschwunden.

Nun mal langsam, werden Sie jetzt vielleicht einwenden. Immerhin ist hier die Rede von Princeton, einem sehr speziellen, »kanadisch-grün-feministisch-europäisch angehauchten Biotop«, wie es ein deutscher Korrespondent vor einigen Jahren in der Zeitschrift Cicero formuliert hat. Princeton ist doch nicht typisch für die USA! Aber was ist es dann? Bunkerville, Nevada, wo militante Rancher mit dem Gewehr in der Hand auf das Gewohnheitsrecht des Wilden Westens pochen, ihre Rinder frei grasen zu lassen – auch dort, wo der Bund die Prärie unter Naturschutz gestellt hat? Fisher Island, Florida, dessen Luxusresidenzen nur per Privatfähre oder Helikopter zu erreichen sind, damit die ehemaligen Showbiz-Größen und schwerreichen Rentner am Palmenstrand ganz unter sich bleiben? Oder die ehemalige Autostadt Detroit im Mittleren Westen, wo ganze Wohnviertel verfallen und jeder Dritte unterhalb der Armutsgrenze lebt?

Amerika ist all das. Dass sich diese Gesellschaft mit all ihren Gegensätzen und durch all ihre Kulturkämpfe hindurch bisher als robust erwiesen hat, verdankt sie nicht zuletzt der bemerkenswerten kollektiven Fähigkeit, lieber optimistisch nach vorn zu blicken als im Zorn zurück. Seit 1956, der Ära der antikommunistischen Hexenjagd, mag der offizielle Wahlspruch des Bundesstaates »In God We Trust« lauten. Doch auf dem Siegel der Vereinigten Staaten steht nach wie vor das Motto, das der amerikanische Philosoph, Patriot und Porträtmaler Pierre-Eugene du Simitiere schon 1776 für die künftige Union auswählte: »E Pluribus Unum«, Aus Vielen Eines.

Nach einem ähnlichen Prinzip soll dieses Buch funktionieren. Am Rande handelt es auch vom großen Ganzen, von nationalen Doktrinen und vom Industriekapitalismus. Doch in erster Linie versucht es, Ihnen durch die kleinen Institutionen des Alltags einen Zugang zu Amerika zu verschaffen: durch den garage sale und die public library, den police blotter und die potluck party, durch real estate porn und die Begnadigung eines Truthahns im Weißen Haus.

Wer nach Amerika kommt und sucht, was er schon kennt, der wird auch das dort irgendwo finden. Dieses Buch ist für all jene gedacht, die sich diesem Land so nähern wollen, wie wir es als deutsche Familie seit nunmehr fast zwölf Jahren versuchen: nicht unkritisch, aber bereit, neue Maßstäbe kennenzulernen; nicht frei von Vorurteilen, aber auch neugierig auf Beweise für das Gegenteil.

Princeton, im Februar 2018

A Big Country: Amerika in Raumbildern

»Yes, it’s a big, wonderful country. Proud of its past. Strong in its present. Confident in its future.«

(Metro-Goldwyn-Mayer-Film It’s a Big Country, USA 1951)

Die Vereinigten Staaten sind alles andere als eine homogene Nation. Wie könnte das auch anders sein in einem Land, das immer wieder neue Einwanderer aus aller Welt aufnimmt? Amerikaner ist, wer auf US-Territorium geboren wird; wer einwandert, kann es werden. Doch auch die Unterschiede zwischen den großen Regionen wie Neuengland, den Südstaaten und dem pazifischen Nordwesten sind nicht nur landschaftlicher Natur. Der US-Historiker Colin Woodward beschreibt in seinem 2011 erschienenen Buch American Nations nicht weniger als elf rivalisierende Regionalkulturen in Nordamerika, deren Wurzeln meist zu den Anfängen der Kolonialzeit zurückreichen. Demnach gehen die tiefen politischen Gräben, die man in der US-Gesellschaft heute wieder deutlich erkennen kann, noch auf die gegensätzlichen Mentalitäten jener niederländischen Kaufleute, spanischen Missionare, englischen Quäker, karibischen Sklavenhändler, schottischen Hochlandbauern und anderen ethnisch-kulturellen Gruppen zurück, die seit dem 16. Jahrhundert verschiedene Teile des Kontinents für sich erobert und dauerhaft geprägt haben.

Und doch ist der Patriotismus der Amerikaner sprichwörtlich. Angeblich fühlt kein Volk der Welt patriotischer als die US-Bürger. Kein Ort in den USA, an dem nicht das Sternenbanner weht. Keine amerikanische Schule, in der nicht jeden Morgen der Fahneneid gesprochen wird. Kaum ein öffentlicher Anlass, zu dem nicht die Nationalhymne ertönt – und kaum ein Amerikaner, der dann nicht die rechte Hand aufs Herz legt und mitsingt. Von Ausländern wird erwartet, dass sie aufstehen und der Nation Respekt zollen.

Patriotismus ist dabei nicht zu verwechseln mit blinder Staatstreue. Doch wer die Grenzen der amerikanischen Toleranz auf diesem Gebiet nicht respektiert, verscherzt sich schnell die Sympathien. Wenn Sie zu einer Dinnerparty eingeladen sind, werden sich Ihre amerikanischen Gastgeber Kritik an den Abhörpraktiken der Nationalen Sicherheitsbehörde NSA, am Drohnenkrieg der USA im Nahen Osten oder an den Twitter-Tiraden des Präsidenten höflich anhören und Ihnen womöglich sogar zustimmen; wenn diese Kritik aber in eine pauschale Verurteilung der USA und ihrer weltpolitischen Rolle mündet, wird die nächste gesellige Runde in diesem Haus wahrscheinlich ohne Sie stattfinden.

Was aber ist das nun für ein Amerika, das seine Bewohner so stolz in ihrem Landesnamen United States of America führen – »America, the Beautiful«, »God’s Own Country«, »The Land of the Free and the Home of the Brave«? Und wie ist es überhaupt entstanden?

Nach landläufiger Definition hat Christoph Kolumbus Amerika 1492 für die Europäer entdeckt, auch wenn es wohl schon Jahrhunderte vorher Seefahrer aus Skandinavien an die Küsten des Kontinents verschlagen hatte. Viel eher aber müsste man sagen: Erst anderthalb Jahrzehnte später wurde es in Europa erfunden. Denn Amerika verdankt seinen Namen zwei Deutschen, einer kleinen Broschüre – und einem Irrtum.

»America«: Made in Germany

»America is a passionate idea or it is nothing.«

(Max Lerner, Actions and Passions, 1949)

Um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert gab der Herzog von Lothringen einem Kartographen und einem Philologen den Auftrag, das bis dahin gültige Weltbild auf den neuesten Stand zu bringen: Der Freiburger Martin Waldseemüller sollte jenes Land, das kurz zuvor auf der anderen Seite des Atlantik entdeckt worden war, in eine aktualisierte Weltkarte einzeichnen; den Begleittext sollte der Elsässer Matthias Ringmann verfassen.

Auf dem Arbeitstisch der beiden Männer lag zu diesem Zeitpunkt ein schmales Heft. Es sollte vom italienischen Seefahrer Amerigo Vespucci für die mächtige venezianische Bankiersfamilie Medici verfasst worden sein. In diesem Heft wurde das neu entdeckte Land zum ersten Mal als bislang unbekannter Kontinent bezeichnet. Kein Wunder also, dass Waldseemüller und Ringmann diesen »Americus Vesputius« für den eigentlichen Entdecker hielten – und den neuen Erdteil deshalb »America« tauften. Die Weltkarte wurde auf der Frankfurter Buchmesse des Jahres 1507 vorgestellt, eine Auflage von 1000 Exemplaren gedruckt und in Umlauf gebracht.

Als Waldseemüller nach Ringmanns Tod einige Jahre später bemerkte, dass Christoph Kolumbus die Entdeckerehre gebührte, war es längst zu spät. Zwar nannte der Kartograph den neuen Erdteil in einer Neuauflage seiner Weltkarte von 1513 nun »Terra Incognita«, unbekanntes Land. Doch der Name »America« hatte sich längst auf den Landkarten und in den Köpfen breitgemacht. Seine Karriere war nicht mehr aufzuhalten.

Das vermutlich einzige heute noch erhaltene Exemplar von Waldseemüllers Weltkarte aus dem Jahr 1507 wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Schloss Waldegg in Oberschwaben wiederentdeckt. Heute liegt es, von der UNESCO mit dem Siegel des Weltdokumentenerbes versehen, in der Nationalbibliothek der Vereinigten Staaten von Amerika. Aufbewahrt wird es in einem vom National Institute of Standards and Technology (NIST) eigens konstruierten Hightech-Sicherheitsbehälter. Und noch nie hat die Nationalbibliothek länger gewartet oder mehr bezahlt, um ein einziges Objekt zu erwerben: 100 Jahre und zehn Millionen Dollar für den Urtext der berühmtesten Marke der Welt.

Jener kleinen Broschüre aber, die Amerigo Vespucci vermutlich nicht einmal selbst verfasst hat, verdankt der Doppelkontinent im Westen neben »Amerika« noch einen weiteren Namen. Ihr Titel lautet nämlich: Novus Mundus – Neue Welt.

Neue Welt: Amerika als Sehnsucht

»Es sey die alte Welt gefunden in der Neuen.«

(Christian Wernicke, Auf die Eroberung von Mexiko, 1704)

Neue Welt – was für ein verheißungsvoller Name! Alle Hoffnungen und Sehnsüchte Europas spiegelten sich darin. War endlich jenes paradiesische Land gefunden, das schon Plato und Homer irgendwo westlich der antiken Welt vermutet hatten? Kolumbus jedenfalls behauptete, auf seinen Reisen eine Art Garten Eden entdeckt zu haben, dessen Bewohner ohne Neid und Besitzansprüche alles miteinander teilten, was die Überfülle der Natur ihnen bot.

Die Humanisten der Renaissance sahen mit der Entdeckung dieser Neuen Welt ein neues »Goldenes Zeitalter« heraufziehen, das auch den Absolutismus in Europa überwinden könnte. Michel de Montaignes Essay Des Cannibales aus dem Jahr 1580 gilt als Paradebeispiel für den Versuch, die Indianer Amerikas als wunschlos glückliche Menschen im Naturzustand zu porträtieren – und damit ein Gegenbild sowohl zur reinen Barbarei als auch zur dekadenten europäischen Zivilisation zu entwerfen.

Je mehr nun europäische Siedler im Verlauf des 17. Jahrhunderts über die beschwerliche Bewirtschaftung des ungewohnten Landes, über die Gefahren der Wildnis und blutige Zusammenstöße auch mit den Ureinwohnern Nordamerikas berichteten, desto fragwürdiger wurde die Vision eines neuen Arkadiens. Doch mit Rousseau und den Naturphilosophen des 18. Jahrhunderts hielt le bon sauvage erneut Einzug in eine Vorstellung von der Neuen Welt, der die Romantik dann bis weit ins 19. Jahrhundert hinein folgte. Während Industrialisierung und Verstädterung die Alte Welt erschütterten, sollte die Neue Welt den Weg in eine gerechtere, fortschrittliche Gesellschaft weisen.

Dabei war es nicht zuletzt der romantische Roman, ein neues Genre mit ungeheurem Erfolg auch und gerade bei Leserinnen, der die Amerika-Sehnsucht bediente und weiter förderte. James Fenimore Cooper (1789 – 1851) etwa begeisterte mit seinen Lederstrumpf-Romanen in den 1820er Jahren das Publikum auf beiden Seiten des Atlantik derart, dass er als erster amerikanischer Schriftsteller neben Washington Irving (1783 – 1859) von seinen Büchern leben konnte. Ein früher Amerika-Bestseller wurde auch die Essaysammlung eines französischen Aristokraten, der Mitte des 18. Jahrhunderts als Kolonialmilizionär in die Neue Welt kam und sich später in der Provinz New York niederließ. Hector St. John de Crèvecœurs Briefe eines amerikanischen Farmers erschienen 1782 zunächst auf Englisch; französische, deutsche und niederländische Übersetzungen folgten. Für Crèvecœur war es nicht zuletzt die schiere Größe des neuen Kontinents, durch die sich dieser auch qualitativ von der Alten Welt unterschied: »Ein Europäer, wenn er zuerst hier eintrifft, scheint beschränkt in seinen Vorhaben wie auch in seinen Ansichten. Doch ganz plötzlich ändert sich seine Skalierung; 200 Meilen, zuvor eine große Entfernung, erscheinen ihm nun allenfalls noch ein Katzensprung. Kaum hat er unsere Luft eingeatmet, macht er Pläne und beginnt Unternehmungen, auf die er in seinem eigenen Land nie gekommen wäre.«

Und erst die Demokratie! Der Aufstand gegen die Kolonialherren, die Unabhängigkeitserklärung von 1776, der Sieg der amerikanischen Revolutionäre über das britische Königreich 1783 und schließlich die republikanische Verfassung von 1787 – diese Erfolge beflügelten die Hoffnungen der Reformkräfte in Europa. »All men are created equal« – die Lehre von der Gleichheit aller Menschen, festgeschrieben in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, faszinierte die feudalistische Alte Welt enorm. Amerika wurde damit auch ein attraktives Ziel für all jene, die den alten Kontinent verloren gaben: »Ob nicht vielleicht Europa ganz zerstört und Wüste werden dürfte und die allgemeine Erwartung eines neuen Weltalters in Amerika doch gegründet sei?«, fragte sich Friedrich Schlegel um 1816. Selbst Goethe spielte zeitweise mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern.

Die eindrücklichste, noch heute relevante Beschreibung von Politik und Gesellschaft der jungen Vereinigten Staaten stammt von Alexis de Tocqueville. Sein zweibändiges Werk De la démocratie en Amérique erschien 1835 und 1840, und anders als die Mehrzahl der europäischen Publikationen zum Thema basierte es auf eigenen Beobachtungen in den USA, die der Jurist und Historiker von Mai 1831 bis Februar 1832 bereist hatte. Tocqueville beschrieb, wie die klug ins Gleichgewicht gesetzten amerikanischen Institutionen nicht nur das Problem einer »Tyrannei der Mehrheit« lösten, das allen Demokratien drohte. Sie verankerten zugleich einen politischen Bürgersinn mit verbindlichen mœrs (Sitten) in der Gesellschaft. Diese mœrs trugen nach seiner Ansicht sogar noch mehr zur Stabilität der Republik bei als die Gesetze. Weit entfernt von naiver Schwärmerei für die Neue Welt, sah Tocqueville die USA dennoch als Modell für die Demokratie in Frankreich.

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts machte sich allerdings Skepsis breit, ob dieses neue Amerika tatsächlich den idealistischen Erwartungen der Alten Welt entsprach. Zumindest an der Ostküste war von einem Naturzustand inzwischen nicht mehr viel zu sehen. Zwar ließ sich die romantische Mär von edlen Wilden und ebensolchen Pionieren mit der Frontier nach Westen retten, solange jenseits dieser Siedlungsgrenze noch Land verfügbar war. Doch so recht wollten die Amerikaner einfach nicht ins Idealbild passen: Ihre Sitten waren rau; insgesamt fehlte es an Zivilisiertheit und Kultur, wie Besucher aus Europa bemängelten. Heinrich Heine spottete um 1850 in seinem Gedicht »Jetzt wohin?« über die amerikanischen »Gleichheitsflegel« in ihrem »großen Freiheitsstall«.

Kritik wurde nun insbesondere am aufblühenden Kapitalismus laut: Geldgier herrschte in Amerika, es gab keinen Gott neben dem allmächtigen Dollar, und der verschwenderische Umgang mit der Natur war haarsträubend. Der österreichische Schriftsteller Nikolaus Lenau, der 1832 voll Enthusiasmus in die Neue Welt aufgebrochen war, kehrte ein Jahr später völlig entnervt zurück: »Diese Amerikaner sind himmelanstinkende Krämerseelen. Tot für alles geistige Leben, maustot.« Franz Kafkas unvollendeter Roman Amerika, der 1927 erschien, beschrieb mächtige Verkehrsströme und hierarchische Arbeitswelten, in denen der Einzelne eher verlorenging als eine neue Heimat zu finden.

Sehnsucht nach und Furcht vor der Neuen Welt haben stets nebeneinander existiert. Den herrschenden Eliten Europas war das republikanische Experiment auf der anderen Seite des Atlantik suspekt. All denen aber, die Europa aus existentieller Not verließen, blieb gar nichts anderes übrig, als auf jenes Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu hoffen, das erfolgreiche Auswanderer in so leuchtenden Farben schilderten. Doch insbesondere im Verlauf des 19. Jahrhunderts ist ein Trend weg von vorwiegend positiven und hin zu negativen Erwartungen klar zu erkennen.

Als die USA um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als militärische Großmacht die weltpolitische Bühne betreten und Europa auch ökonomisch unter Konkurrenzdruck setzen, werden sie zunehmend als Bedrohung gesehen. Neben diesem Staat mit seinem Rohstoffreichtum und seiner schnell wachsenden Bevölkerung nehmen sich die meisten Länder Europas wie Zwerge aus; allenfalls England mit seinem Empire mochte da noch mithalten. Auf dem Kontinent beginnt das Schlagwort von der »amerikanischen Gefahr« zu kursieren. »Für mich ist Amerika der Feind, der kleine Mörder in der Wiege«, schreibt der liberale deutsche Politiker Walter Rathenau 1912. »Diese Amerikaner werden unsere Kinder fressen.«

Zwischen den Extremen von Sehnsucht und Abneigung schwankt das europäische Urteil über die USA noch heute – mit starker Tendenz zum Amerika-Bashing. Was die Ressentiments mindestens ebenso stark schürt wie der »Raubtierkapitalismus« und die militärisch-politische Macht der USA, ist die »Amerikanisierung«. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts stellt man sie zunächst in Europa, bald aber in der ganzen Welt fest. Es ist die Macht einer zur Massenware verkommenen Kultur, die stets aus den USA zu stammen scheint: bunt und klebrig süß, verführerisch glitzernd, oberflächlich, unecht, profan. »Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug« heißt das 1947 in Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung. Die beiden Sozialphilosophen hatten ihre radikal ablehnende Haltung gegenüber der Popkultur während ihres Exils in den USA entwickelt.

Aus dieser Sicht hat Amerika den alten Kontinent schließlich doch verändert, aber nicht zum Guten, wie einst die Naturphilosophen gehofft hatten. Amerikas Produkte sind abstoßend – und zugleich immens attraktiv. Jazz, Hollywood-Filme, Fastfood, Shoppingmalls, der gesamte American Way of Life: All das erscheint europäischen Eliten umso hassenswerter, wie der US-Politologe Andrei S. Markovits in seinem 2007 erschienenen Buch Uncouth Nation: Why Europe Dislikes America notiert, als es trotz seiner unterstellten und oft wiederholten Unzulänglichkeiten »enorm verlockend, ja sogar unwiderstehlich für die europäischen Massen geblieben ist«.

Verheißung und Bedrohung: Amerika ist immer beides zugleich. Im allgemeinen Wissen ist dieses Paradox fest verankert. Der gemeinsame Nenner dieser widersprüchlichen Vorstellungen heißt Faszination, und diese Faszination hält nun schon über Jahrhunderte an. Wirkliche Amerika-Erfahrung ist dafür nicht erforderlich, womöglich sogar hinderlich. Doch ob »Neue Welt« oder »Amerikanisierung«: Mit dem Selbstverständnis der US-Bürger und mit ihrem Land haben diese zutiefst europäischen Konstrukte wenig zu tun. »Amerika existiert nicht«, heißt es folgerichtig in Alain Resnais’ Film Mon Oncle d’Amérique von 1980. »Ich weiß das, denn ich bin dort gewesen.«

Old South, New South: Der Süden

»American by birth. Southerner by the Grace of God.«

(T-Shirt-Aufdruck, gesehen in einer Cafeteria in New Jersey)

Die Besiedlung der nordamerikanischen Atlantikküste durch englische Protestanten begann im 17. Jahrhundert fast gleichzeitig im Süden und im Norden. 1607 wurde Jamestown im heutigen Virginia gegründet, 1620 Plymouth im heutigen Massachusetts. Fast zwei Jahrhunderte später, im September 1785, listete der künftige US-Präsident Thomas Jefferson einem europäischen Diplomaten die für beide Regionen nach seiner Ansicht typischen Charakteristika auf:

»Im Norden ist man:

Im Süden ist man:

kühlfeurig

feurig

nüchtern

sinnlich

arbeitsam

träge

ausdauernd

unstet

unabhängig

unabhängig

eifersüchtig auf die eigenen Freiheiten bedacht, und respektiert auch die aller anderen

begierig auf die eigenen Freiheiten, tritt aber die der anderen mit Füßen

eigennützig

großzügig

schikanierend

unvoreingenommen

abergläubisch und heuchlerisch in seiner Religion.

ohne Bindung an oder Anspruch auf eine andere Religion als die des Herzens.«

Diese Eigenschaften, erläuterte Jefferson, würden von Norden nach Süden und umgekehrt von Süden nach Norden graduierlich schwächer. Ein aufmerksamer Reisender könne also immer schon an den Menschen der Umgebung erkennen, auf welchem Breitengrad er sich gerade befinde.

Einige Jahre zuvor hatten zwei britische Landvermesser, Charles Mason und Jeremiah Dixon, die Aufteilung auch kartographisch vollzogen: Um einen Territorialstreit zwischen den Kolonien Pennsylvania und Maryland aus der Welt zu schaffen, zogen sie im Auftrag der streitenden Parteien von 1763 bis 1767 jene schnurgerade Grenze, die als Mason-Dixon-Linie zur symbolisch aufgeladenen Trennungslinie zwischen dem Norden und dem Süden der USA werden sollte.

Schon bald nach der Unabhängigkeit begannen Gegensätze die Gemeinsamkeiten zu überlagern. Im Norden bestritten Kleinbauern die Landwirtschaft, und die Fabriken des beginnenden Industriezeitalters deckten ihren Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitern mit Einwanderern aus Europa. Im Süden dominierte die arbeitsintensive Plantagenwirtschaft mit ihren Baumwollfeldern, auf denen hauptsächlich Sklaven eingesetzt wurden. Die Industrien des Nordens riefen in schwierigen Zeiten nach Schutzzöllen vor der europäischen Konkurrenz. Die Südstaaten waren für ihren Export nach Europa auf Freihandel angewiesen. Im Norden formierten sich die Abolitionisten zu einer mächtigen politischen Bewegung mit dem Ziel, die Sklaverei im gesamten US-Gebiet abzuschaffen. Im Süden erklärten pro-slavery-Ideologen die Sklaverei zum unverzichtbaren Bestandteil nicht nur der Plantagenwirtschaft, sondern auch einer stabilen Klassengesellschaft – und damit auch für moralisch gerechtfertigt.

Konfliktstoff lieferte auch die Frage des politischen Gleichgewichts in der Union. Die Verfassung der Vereinigten Staaten garantierte den Fortbestand der Sklaverei in jenen Staaten, in denen sie 1787 bereits etabliert war. Doch nun hatte die Expansion der USA nach Westen begonnen. Mit jedem Staat, der neu dazukam, geriet das prekäre Gleichgewicht im Kongress erneut durcheinander. Wurde die Sklavenhaltung in keinem der westlichen Staaten zugelassen, wie es die Abolitionisten im Norden verlangten, befürchtete der Süden in absehbarer Zeit eine Übermacht, die ihn jederzeit überstimmen konnte. Vorübergehend einigte man sich auf einen Kompromiss: Südlich der Mason-Dixon-Linie sollte es die peculiar institution weiterhin geben können, nördlich davon – mit Ausnahme Missouris – nicht. Weit über ihre ökonomische Bedeutung hinaus war die Frage der Sklaverei damit zur politischen Grundsatzfrage geworden. Zum offenen Bruch kam es 1861, als sich zunächst sieben Südstaaten von der Union abspalteten. Sie gründeten die Konföderierten Staaten von Amerika, denen sich später noch vier weitere Staaten anschlossen. Zwei Staaten, Kentucky und Missouri, waren gespalten und wurden entsprechend von beiden Seiten für sich reklamiert.

Der Bürgerkrieg zwischen Nord und Süd tobte mehr als vier Jahre lang. Er fand fast ausschließlich auf Konföderierten-Gebiet statt. Der Unionsgeneral William Tecumseh Sherman zog mit seiner 60 000-Mann-Armee durch Georgia und die Carolinas, ließ Städte und Plantagen plündern und brannte alles nieder, was die Truppe nicht mitschleppen konnte. Seine Strategie der verbrannten Erde sollte sich der Zivilbevölkerung ebenso unauslöschlich einprägen wie der Konföderierten-Armee. Kein Südstaatler sollte je wieder auf den Gedanken kommen, gegen die Union zu den Waffen zu greifen. Bei Kriegsende war der Süden verwüstet. Mehr als 600 000 Tote wurden gezählt. Unter ihnen war auch US-Präsident Abraham Lincoln, der die Nordstaaten in den Bürgerkrieg geführt hatte. Ein Schauspieler, der mit den Konföderierten sympathisierte, ermordete ihn während eines Theaterbesuchs in Washington.

Nach dem Bürgerkrieg wurde die Sklaverei in der gesamten Union abgeschafft. Doch allein dadurch, dass man vier Millionen Sklaven in eine ungewisse Freiheit entließ, schaffte man weder Rassismus noch Ausgrenzung aus der Welt. Die besiegten Südstaaten blieben lange unter direkter Verwaltung des Bundes. Doch gleich nach dem Abzug der Unionstruppen erfanden sie neue diskriminierende Praktiken gegen ihre laut Verfassung nunmehr freien, gleichen und wahlberechtigten schwarzen Mitbürger.

Was das kollektive Gedächtnis des Südens seitdem prägt, ist die Erfahrung einer Niederlage, eines verlorenen Krieges auf dem eigenen Territorium. Hinzu kommen ganz eigene Formen der Religiosität im Bible Belt des Südens und das französische Erbe Louisianas. Aus dieser Kombination ist ein regionaler Patriotismus mit trotzigem Unterton entstanden, der in anderen US-Regionen so nicht zu finden ist. Dazu gehört seit nunmehr gut 150 Jahren auch Old-South-Nostalgie, die sich vor allem in der demonstrativen Verehrung konföderierter Militärführer äußert. Stone Mountain in Georgia, das Felsrelief mit den Porträts der Sezessions-Heroen Jefferson Davis, Robert E. Lee und Thomas »Stonewall« Jackson hoch zu Ross, ist zwar weniger bekannt als Mount Rushmore. Es wurde aber früher begonnen und ist am Ende auch ein ganzes Stück größer ausgefallen als das Bergdenkmal mit den Konterfeis der US-Nationalhelden Washington, Jefferson, Lincoln und (Theodore) Roosevelt im Bundesstaat North Dakota.

Noch heute sind in erster Linie die elf Sezessionsstaaten (Alabama, Arkansas, Florida, Georgia, Louisiana, Mississippi, North Carolina, South Carolina, Tennessee, Texas und Virginia) gemeint, wenn von »the South« die Rede ist. Vom New South wurde schon bald nach der Wiedereingliederung der Sezessionsstaaten in die Union gesprochen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts verband man damit aber vor allem die Erfolge der schwarzen Bürgerrechtsbewegung mit dem Baptistenpastor Martin Luther King an der Spitze. Dieser Neue Süden war der Ort, wo Bürgerrechtler durch zivilen Ungehorsam und friedliche Proteste das Ende jener Gesetze erzwangen, die unter dem Slogan »separate, but equal« (getrennt, aber gleich) die Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen von Schulen über Krankenhäuser bis zu den öffentlichen Verkehrsmitteln vorschrieben. In diesem Neuen Süden lag auch Montgomery, Alabama. Hier weigerte sich die schwarze Näherin Rosa Parks im Dezember 1955, ihren Sitzplatz in dem für Schwarze verbotenen Teil eines Busses für einen Weißen zu räumen. Dieser Akt des gewaltlosen Widerstands löste einen knapp 13-monatigen Busboykott aus – und markierte damit den Anfang vom Ende der Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln. Rosa Parks wurde zu einer Symbolfigur der Protestbewegung. Heute weiß man, dass ihre angeblich spontane Aktion sorgfältig geplant und inszeniert war, denn Parks war schon vor ihrer legendären Busfahrt in der Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) aktiv. Als Ikone der Bürgerrechtsbewegung wird sie deshalb aber nicht weniger verehrt.

Der demokratische Präsident John F. Kennedy beschwor im Oktober 1963 den New South als Teil einer wirklich geeinten Nation, wie sie im Fahneneid der USA formuliert ist: »Dieser große Neue Süden leistet seinen Beitrag zu einem großen, neuen Amerika, und ihr – vor allem die jungen Leute unter euch – könnt euch auf den Tag freuen, an dem wir keinen Süden mehr kennen, keinen Norden, keinen Osten und keinen Westen, sondern nur mehr ›eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden‹.« Es war Kennedys letzter großer Auftritt, bevor er am 22. November in Dallas – im Süden – ermordet wurde.

Wenige Jahre später, am 4. April 1968, wurde auch Martin Luther King in Memphis, Tennessee, von einem Attentäter erschossen. Unvergessen bleibt seine große Rede »I have a dream«, mit der King im August 1963 vor dem Lincoln Memorial in Washington seine Mitbürger beschwor, im Sinne der amerikanischen Verfassung die Teilung der Nation in ein schwarzes und ein weißes Amerika zu überwinden. Dass dieser Traum bis heute nicht verwirklicht ist, zeigen sämtliche Sozialstatistiken der USA. Davon zeugt die neue Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter (»schwarze Menschenleben zählen«), die sich als Antwort insbesondere auf die exzessive Gewalt weißer Polizisten gegen afroamerikanische Teenager formierte. Davon zeugen aber auch Schulbücher für den Geschichtsunterricht in Texas, in denen der transatlantische Sklavenhandel als eine Einrichtung beschrieben wird, um Millionen von »Arbeitern« zu den Plantagen des amerikanischen Südens zu bringen.

Solche Geister des Alten Südens sind es, die den Kulturkampf in der Region wieder angefacht haben. Denn der Old South hat zwei Gesichter: Für die einen ist er die ewige Hochburg des Rassismus – das Land der Sklavenhalter und Rednecks, des Ku-Klux-Klans und der diskriminierenden Jim-Crow-Gesetze. Für die anderen ist es das Land der üppigen Plantagen und Magnolienbäume, ein Hort der Ritterlichkeit, der Southern Belles und der großen Gefühle.

Diesen nostalgisch verklärten Alten Süden haben Margaret Mitchell, Vivian Leigh und Clark Gable weltweit populär gemacht. Mitchells Bestseller Vom Winde verweht erschien 1936. Er spielt in Georgias Hauptstadt Atlanta, und einem ortsansässigen Reiseleiter zufolge fragen japanische Touristen dort stets als Erstes nach zwei Dingen: nach dem besten Golfplatz – und nach Tara, der fiktiven Heimat Scarlett O’Haras. Mit 30 Millionen verkauften Exemplaren gilt der Roman als eines der erfolgreichsten Bücher aller Zeiten. Der Film zum Buch wurde 1939 mit Leigh und Gable in den Hauptrollen gedreht. An den Kinokassen spielte Vom Winde verweht nach heutigem Wert 2,7 Milliarden Dollar ein und ist damit das einträglichste Werk der Filmgeschichte. Außerdem gewann der Film zehn Oscars. Einer davon ging an die schwarze Schauspielerin Hattie McDaniel für ihre Darstellung der Sklavin Mammy. Von der Premiere in Atlanta blieb McDaniel aber ausgeschlossen, ebenso wie alle anderen schwarzen Darsteller: In Georgia herrschte Rassentrennung.

Ergänzt wird die Old-South-Romantik mittlerweile durch das kulturell-touristische Image der Region als Wiege von Blues, Gospel und Jazz, als Heimat des Cajoun Food und des leicht korrumpierenden Savoir-vivre, wie es die Stadt New Orleans mit ihrem Beinamen The Big Easy