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INHALT

HIRNFORSCHUNG

Neuronaler Lustfaktor

Forscher entschlüsseln die Belohnungsschaltkreise und Botenstoffe im Gehirn, die uns Wohlgefühle vermitteln – aber auch in die Sucht abstürzen lassen.

Fatale Signale

Rauschgifte wie Kokain und Heroin blockieren über neuronale Lernmechanismen die Fähigkeit, bewusste Entscheidungen zu treffen. Was genau geht dabei an den Nervenzellen vor sich?

Rettung aus dem Sumpf der Gewohnheit

Drogenabhängige sind meist in Routinen gefangen. Der Grund: Die Rauschmittel schädigen die Nervenverbindungen im Gehirn. Neu entwickelte Medikamente sollen dem entgegenwirken.

INTERVIEW

»Die Belohnungserwartung verlernen«

Die meisten Alkoholiker benötigen nach einem Entzug weitere Unterstützung durch Suchtberater und Psychotherapeuten, um dem Verlangen langfristig zu widerstehen. Dabei können auch Medikamente helfen.

ALLTAGSDROGEN

Wege aus der Sucht

Viele Raucher starten immer wieder mit guten Vorsätzen ins neue Jahr: endlich aufhören! Forscher vom Wiener Nikotin-Institut prüfen bekannte und unbekannte Methoden, die beim Ausstieg helfen.

10 Fakten über Kaffee

Ohne Kaffee kommen viele Menschen morgens nicht in die Gänge. Doch macht Koffein wirklich munter – oder nur nervös und süchtig? Zehn Erkenntnisse über das beliebteste Getränk der Deutschen.

Die Lust am Essen zügeln

Häufige und unkontrollierbare Essattacken sind das zentrale Merkmal einer wenig bekannten Essstörung: Binge-Eating. Feste Mahlzeiten und Stressabbau helfen, dem Heißhunger vorzubeugen.

VERHALTENSSUCHT

Ausgeträumt

Als Zwölfjähriger gewinnt Sebastian zum ersten Mal Geld bei einem Glücksspiel. Mit Anfang 30 verbringt er regelmäßig die Nacht im Kasino. Wie Spielen zur Sucht wird.

INTERVIEW

»Angehörige sollten Konsequenzen ziehen«

In Therapiegruppen und Bewährungsproben lernen Glücksspielsüchtige, den Verlockungen von Kasinos, Spieleautomaten und Onlinewetten zu widerstehen.

Süchtig nach virtuellen Streicheleinheiten

Wer in sozialen Netzwerken surft, hinterlässt nicht nur digitale Spuren. Die Interaktionen im World Wide Web bergen auch ein Suchtpotenzial.

Voll im Training

Ausdauersportler berichten von Euphorieschüben und anderen positiven Effekten von Bewegung. Diese »Verstärker« können zu exzessiver Aktivität motivieren.

ILLEGALE DROGEN

Schuss auf Rezept

Die staatliche Heroinabgabe hat sich als Therapieangebot für Schwerstabhängige bewährt, bei denen andere Maßnahmen erfolglos blieben. Eine Fallgeschichte.

INTERVIEW

Revival der »Panzerschokolade«

Crystal Meth galt lange als Randproblem. Ist die Droge nun auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft?

Raus aus dem Rausch

Viele Kiffer leben in der Illusion, ihren Konsum im Griff zu haben. Der Psychotherapeut Helmut Kuntz erklärt, wie sich die Sucht bewältigen lässt und wie Angehörige dazu beitragen können.

Expeditionen in ein unbekanntes Land

Seit Jahrhunderten versetzen sich Menschen mit halluzinogenen Substanzen in Trance und Ekstase, um neue Einsichten zu gewinnen. Rituale können dabei vor Sucht und Abhängigkeit schützen.

 

RUBRIKEN

Editorial

Gute Frage

Kann sich das Gehirn von den Folgen jahrelangen Alkoholmissbrauchs erholen?

Geistesblitze

zum Thema Alkohol

Hirschhausens Hirnschmalz

Trink dich schön!

Winters’ Nachschlag

Kampf dem inneren Bullermann

Impressum

Geistesblitze

zum Thema illegale Drogen

EDITORIAL

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Christiane Gelitz
Redaktionsleiterin
gelitz@spektrum.de

Unter dem Diktat der Sucht

Statistisch gesehen sind wir alle von Süchten betroffen – wenn nicht selbst, so im Familien- oder Freundeskreis. Für uns, die an diesem Ratgeber gearbeitet haben, gilt das ebenso: Der eine verspürt einen unwiderstehlichen Drang, mehrfach am Tag Nikotin zu inhalieren; andere können nicht auf Schokolade, Sport oder Facebook verzichten; der nächste braucht abends zwei Gläser Wein zum Entspannen. »Richtig süchtig« erscheinen uns jedoch meist nur die anderen; wir selbst haben einfach eine menschliche Schwäche, ein liebenswertes Laster. Diese Sicht ist besonders verbreitet, wenn es sich um ein gesellschaftlich akzeptiertes Rauschmittel oder Verhalten handelt. Wann aber wird aus einer schlechten Angewohnheit eine Krankheit? Und kann man überhaupt süchtig sein nach Facebook, Sport, Essen oder Kaffee?

Obwohl sich die Wirkweisen von Drogen zum Teil unterscheiden, finden Forscher zwischen verschiedenen Süchten viele Gemeinsamkeiten. Das gilt für die neurobiologischen Mechanismen ebenso wie für die Denk- und Verhaltensmuster der Betroffenen: das unwiderstehliche Verlangen danach, die verminderte Kontrolle über das Verhalten, der eingeengte Handlungsspielraum – hier regiert König Sucht.

Diese Gemeinsamkeiten erleichtern es, beispielhaft einzelne Drogen und Süchte herauszugreifen. So profitieren die Eltern internetsüchtiger Kinder oder die Partner von Alkoholikern auch von den Tipps für Angehörige von Kiffern oder Glücksspielsüchtigen und umgekehrt. Eine der zentralen Erkenntnisse: Jede Droge erfüllt eine Funktion. Sie verschafft beispielsweise Wohlgefühle und Entspannung, oder sie vertreibt negative Gefühle und Gedanken. Erst mit der Zeit, wenn ihr Gebrauch zur Gewohnheit oder exzessiv wird, schadet sie Körper und Psyche.

Den Abschluss dieses Sonderhefts bildet deshalb ein Beitrag, der einen alternativen, womöglich sogar heilsamen Umgang mit psychoaktiven Substanzen schildert. Forscher entdecken derzeit die therapeutischen Potenziale von Drogen wieder, deren Konsum hier zu Lande illegal ist und als gefährlich erachtet wird. Zahlreiche Experten bezweifeln jedoch, dass Halluzinogene süchtig machen; im Gegenteil glauben sie, dass ihre Einnahme unter bestimmten Bedingungen nicht nur helfen kann, psychische Probleme zu bewältigen, sondern auch, Süchten vorzubeugen.

Eine bewusstseinserweiternde Lektüre wünscht Ihre

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HIRNFORSCHUNG BELOHNUNGSSYSTEM

Neuronaler Lustfaktor

Wenn wir Freude oder Glück empfinden, sind im Kopf Hirnregionen aktiv, die über ganz bestimmte Botenstoffe miteinander kommunizieren. Forscher entschlüsseln das fein gewebte Netz der Belohnungsschaltkreise, die uns Wohlgefühle vermitteln – aber auch ins Unglück stürzen können.

VON CLAUDIA CHRISTINE WOLF

AUF EINEN BLICK

Glückssache

1

Das so genannte Belohnungssystem des Gehirns besteht aus mehreren Schaltkreisen, die sich über zahlreiche Areale erstrecken.

2

Die jeweiligen »Lustzentren« kommunizieren vor allem über den Neurobotenstoff Dopamin sowie über Opioide miteinander.

3

Beispielsweise geht Glücksspielsucht mit verminderter Aktivität im Dopaminsystem einher.

In einem Käfig kauert eine Ratte, in deren Kopf ein dünner Draht steckt. Das Tier ist über ein Kabel mit einer Stromquelle verbunden, die elektrische Impulse an sein Gehirn sendet. Der völlig erschöpfte Nager isst oder trinkt nichts mehr und hat auch die Pflege seines Nachwuchses längst aufgegeben. Doch er ist kein Opfer fremder, böser Mächte – die Ratte fügt sich die Stromstöße vielmehr selbst zu, indem sie einen kleinen Hebel betätigt!

Ein solch gruseliger Anblick bot sich den Hirnforschern James Olds und Peter Milner von der McGill University in Montreal (Kanada) bei einem Experiment, das heute als Klassiker der Neurowissenschaft gilt. Es lieferte bereits in den 1950er Jahren erste Belege dafür, dass es eine Art Lustzentrum im Gehirn geben müsse.

Während frühere Tierversuche von Neurobiologen vor allem darauf abgezielt hatten, per elektrischer Hirnstimulation bestimmte Muskelbewegungen auszulösen, wollten Olds und Milner wissen, ob sich mittels Stromstößen auch komplexes Verhalten beeinflussen ließ. In der Tat lernten die Tiere sehr rasch, bestimmte Aktionen auszuführen oder zu vermeiden, je nachdem, ob sie die Stimuli als Belohnung oder Bestrafung empfanden.

Olds und Milner hatten ein Areal im Rattengehirn entdeckt, dessen direkte Reizung über feine, ins Gehirn implantierte Elektroden offenbar ein viel stärkeres Wohlgefühl bei den Tieren auslöste, als es natürliche Reize wie Nahrung, Wasser oder soziale Kontakte vermochten. Die Nager ließen dafür buchstäblich alles andere links liegen: Nachdem sie gelernt hatten, den »Glückshebel« zu betätigen, verabreichten sie sich selbst mit geradezu manischer Ausdauer Stromstöße.

Diese Entdeckung gab den Startschuss für die neurowissenschaftliche Suche nach den Quellen des Lustempfindens. Heute wissen Hirnforscher und Mediziner, dass es das Belohnungssystem nicht gibt. Vielmehr sind eine Reihe von Arealen und Nervenverbindungen daran beteiligt, uns Wohlgefühle zu vermitteln. Der Segen kann allerdings auch zum Fluch werden – wenn Sucht und Abhängigkeit entstehen.

 

Eine zentrale Schaltstation der zu Grunde liegenden neuronalen Mechanismen bildet der Nucleus accumbens, eine Ansammlung von Neuronen im unteren Bereich des Vorderhirns (siehe Grafik). Eine ebenfalls bedeutende Rolle spielt das Septum pellucidum, eine membranartige Struktur aus Gliazellen zwischen den beiden Hirnhälften: Die Ratten von Olds und Milner drückten besonders eifrig auf den Hebel, wenn die Reizelektrode in diesem Areal steckte.

Heute wissen wir, dass Nucleus accumbens und Septum beide Teil eines weiträumigen Belohnungsschaltkreises sind – des Dopaminsystems. Es wird so genannt, weil die an ihm beteiligten Neurone zur Signalweiterleitung an den Synapsen den Botenstoff Dopamin nutzen.

Hauptakteure sind dabei die Nervenzellen des ventralen tegmentalen Areals (VTA) im Mittelhirn (siehe ebenfalls Grafik). Während so genannte mesokortikale Neurone von hier aus verschiedene Bereiche der Großhirnrinde (Kortex) erreichen, stimulieren mesolimbische Neurone in erster Linie den Nucleus accumbens. Zum Dopaminsystem zählt außerdem noch der nigrostriatale Pfad, der die Substantia nigra mit dem Striatum verbindet und eine besonders wichtige Rolle bei der Bewegungskontrolle spielt. Die Verzweigungen eines Dopaminneurons des mesokortikolimbischen Systems erreichen zusammengenommen eine Länge von etwa 74 Zentimetern und besitzen rund 500 000 synaptische Endigungen, über die andere Hirnzellen aktiviert werden. Obwohl nicht einmal ein Prozent aller Neurone Dopamin enthält, fungiert der Botenstoff somit als das »Glückshormon« schlechthin.

Dopaminerge Nervenzellen sind an Lernen und Gedächtnis beteiligt, vermitteln aber auch ganz elementare Bedürfnisse wie das nach Nahrung. Dank ihnen findet etwa ein Kleinkind nach seinem ersten Stück Schokolade Gefallen am süßen Geschmack und verlangt nach mehr, während es nach einem Biss in eine saure Zitrone diese künftig meidet.

Evolutionsforscher sind zudem davon überzeugt, dass das dopaminerge Belohnungssystem das Überleben des Menschen sicherte. Bei Erwachsenen aktivieren kindliche Gesichtszüge, die wir als besonders niedlich empfinden (große Kulleraugen, rundliches Gesicht, hohe Stirn), den Nucleus accumbens, wie ein Team um die Verhaltensforscher Melanie Glocker und Norbert Sachser von der Universität Münster 2009 feststellten.

Die Wissenschaftler registrierten die Hirnaktivität von Frauen mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT), während diese Kindergesichter betrachteten. Resultat: Je genauer die Bilder dem typischen »Kindchenschema« entsprachen, desto stärker war die Aktivität im Nucleus accumbens. Dabei handelt es sich offenbar um einen automatischen »Fürsorgemechanismus«, der gewährleisten soll, dass der Nachwuchs Schutz und Pflege erhält.

Anfang der 1970er Jahre, also gut 20 Jahre nach der Entdeckung des Dopaminsystems, stießen Wissenschaftler um Solomon Snyder von der Johns Hopkins University in Baltimore sowie kurz darauf John Hughes und Hans Kosterlitz von der University of Aberdeen in Schottland auf einen weiteren neuronalen Pfad des Lustempfindens: das Opioidsystem. Zu den so genannten Opioidpeptiden zählen etwa die Endorphine (siehe »Schon gewusst?«).

Vor allem das Beta-Endorphin spielt hier eine Hauptrolle. Es kommt etwa in Neuronen des Nucleus arcuatus vor, eines Kerngebiets des Hypothalamus. Erstaunlicherweise können die dortigen Nervenzellen auch den Nucleus accumbens, das ventrale tegmentale Areal sowie das Septum aktivieren – sie sind also direkt mit dem Dopaminsystem verbunden.

Die enge Zusammenarbeit von Dopamin- und Opioidsystem belegten Pharmakologen 1990. Sie verabreichten Ratten unterschiedliche Opioidpeptide, woraufhin sie oft eine verstärkte Ausschüttung von Dopamin im Nucleus accumbens beobachten konnten. Ein Team um den Neurologen Thomas Tölle von der TU München lieferte einen indirekten Beleg dafür, dass körpereigene Opioidpeptide Rauschzustände auslösen können. Die Wissenschaftler wollten dem »Runner’s High« auf die Spur kommen – jener plötzlich auftretenden Euphorie, die Jogger mitunter jede Müdigkeit vergessen lässt und ihnen das Gefühl verleiht, sie könnten ewig weiterlaufen.

Die Forscher injizierten Sportlern eine radioaktiv markierte Substanz, die sich an dieselben Bindungsstellen anlagert wie die Opioide. Mit Hilfe der so genannten Positronenemissionstomografie (PET; siehe) machten sie die Andockstellen der Substanz im Gehirn sichtbar – vor und nach einem zweistündigen Trainingslauf. Nach dem Joggen war weniger radioaktive Substanz im Gehirn angelagert als zuvor. Im Umkehrschluss heißt das: Während der sportlichen Aktivität wurden vermehrt Opioidpeptide freigesetzt, die das Radiopharmakon von den Bindungsstellen verdrängten.

Opioide lindern vor allem Schmerzen. Das wussten bereits die alten Griechen, die aus dem Saft des Schlafmohns Opium gewannen und es als Arznei einsetzten – die vermutlich älteste Droge der Welt. Forscher unterscheiden heute zwischen körpereigenen (endogenen) und von außen zugeführten (exogenen) Opioiden; zu letzteren zählen neben Opium auch Heroin und Morphin. Diese Substanzen aktivieren dieselben Schaltkreise des Gehirns wie Opioide, haben allerdings einen entscheidenden Nachteil: Sie machen rasch abhängig, da ihre Wirkung vielfach stärker ist als die der körpereigenen Stoffe. Dennoch sind exogene Opioide bis heute aus der Schmerzmedizin nicht wegzudenken.

Wenn vom Belohnungssystem die Rede ist, kann damit neben dem Dopamin- oder dem Opioidsystem aber noch ein weiterer Schaltkreis gemeint sein. Forscher vermuteten schon in den 1970er Jahren, dass auch der Neurotransmitter Serotonin mit im Spiel sein kann, wenn positive Gefühle entstehen – beziehungsweise wenn es an diesen mangelt. So ist bei vielen an einer Depression erkrankten Menschen der Botenstoff rar, und spezielle Medikamente vom Typ der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer sorgen dafür, dass mehr Serotonin im Hirn der Betroffenen zirkuliert – was häufig deren Stimmung hebt.

Zwar wird der Transmitter üblicherweise nicht zu den »Glücksboten« gezählt, offenbar bestehen aber zumindest Verbindungen zwischen jenen Bahnen, die vom Nucleus raphe im Mittelhirn ausgehend das Großhirn mit Serotonin versorgen (siehe Grafik), und dem Dopaminsystem. Daher ist es auch kaum möglich, den einzelnen Bestandteilen der Hirnchemie klar voneinander getrennte Funktionen zuzuweisen.

Höchstwahrscheinlich leisten noch andere Substanzen einen Beitrag zum Glückserleben des Menschen. Denn gute Gefühle bescheren uns schließlich weit mehr Dinge im Leben als nur Essen und Sex. Eine Belohnung kann potenziell alles sein, wonach wir streben und zu dessen Erreichung wir Mühe und Zeit verwenden. Manche Verhaltensweisen können allerdings – ähnlich wie Rauschmittel – regelrecht süchtig machen, wenn sie die neuronalen Pfade »überaktivieren«.

Genau wie bei einer Drogensucht ist das Hauptsymptom einer solchen substanzungebundenen Abhängigkeit das starke Verlangen nach Befriedigung. Schon die Ratten in James Olds’ und Peter Milners Labor litten an einem vergleichbaren Problem: Sie waren süchtig nach dem Hebeldruck, der Teile des Belohnungssystems aktivierte.

Was den Menschen betrifft, so ist die Liste möglicher Verhaltenssüchte lang. Zu den wichtigsten zählen die Glücksspiel-, Kauf-, Ess- und Computersucht. Wirklich abhängig ist eine Person jedoch nur, wenn sie ihr Verhalten nicht kontrollieren kann, obwohl sie die Folgen ihres Tuns kennt und darunter leidet. Meist schaffen die Betroffenen es nicht, sich aus eigener Kraft von ihrer Abhängigkeit zu befreien.

Die wohl bekannteste Verhaltensabhängigkeit ist die Spielsucht. Genau wie Drogenabhängige mit einem ständigen Begehren nach dem »Stoff« leben, verspüren Spielsüchtige einen zwanghaften Drang nach dem Spiel. Sie verschulden sich und vernachlässigen Familie, Freunde sowie ihre Arbeit – stets im Glauben daran, das Glück werde ihnen bald hold sein.

Christian Büchel vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat eine mögliche Erklärung gefunden, warum Spielsüchtige immer wieder rückfällig werden: Offenbar reagiert ihr Dopaminsystem schwächer auf Belohnungsreize. Gemeinsam mit seinen Kollegen zeichnete der Mediziner die Hirnaktivität von zwölf pathologischen Spielern und zwölf gesunden Kontrollpersonen im Magnetresonanztomografen auf, während diese einen simplen Test absolvierten. Die Aufgabe bestand darin, per Knopfdruck eine von zwei Spielkarten zu wählen. Bei einer roten Karte gewann der Teilnehmer einen Euro, bei einer schwarzen verlor er einen. Alle Probanden zeigten während des Spiels vermehrte Aktivität des Dopaminsystems – bei den Spielsüchtigen war die Erregung jedoch im Schnitt geringer. Zudem fiel die neuronale Antwort umso schwächer aus, je stärker es sie zum Spielen drängte.

Die Forscher vermuten, dass eine chronische Unteraktivität im Dopaminsystem die Betroffenen immer wieder zum Glücksspiel treibt – ein Mechanismus, der auch bei anderen Abhängigkeiten eine Rolle zu spielen scheint. Das könnte erklären, warum Menschen, die schon einer Sucht verfallen sind, leicht abhängig von weiteren Drogen oder Verhaltensweisen werden und sich eine »Ersatzdroge« suchen, wenn sie auf Entzug sind.

Solche Ergebnisse untermauern die Vermutung, dass manche Menschen eine genetisch bedingte Veranlagung zur Abhängigkeit besitzen. Doch diese allein verursacht keine Sucht – es müssen mindestens noch ungünstige soziale Umstände oder Schicksalsschläge hinzukommen. So bieten eine intakte Partnerschaft, Zufriedenheit im Beruf oder ein leidenschaftlich verfolgtes Hobby gute Voraussetzungen für ein suchtfreies Leben.

Vor allem sportliche Betätigung kann suchtgefährdeten Menschen zu einem glücklichen und gesunden Leben verhelfen. In einer Studie von 2002 konnte ein Team um den Psychologen Bruce Kirkcaldy belegen, dass aktive Sportler meist selbstbewusster sind und seltener unter sozialen Problemen oder körperlichen Beschwerden leiden als Sportmuffel. Und wie beschrieben, aktiviert Sport das Opioidsystem im Gehirn. Als Therapiemittel eingesetzt, kann Bewegung die Heilung suchtkranker Menschen erleichtern, quasi als »Rausch ohne Drogen«.

Ebenso vielschichtig wie die Belohnungsschaltkreise im Gehirn sind die Reize, die sie aktivieren: Die Euphorie eines Sportlers beim Überqueren der Ziellinie, die Freude nach einer bestandenen Prüfung oder das Kribbeln bei einem romantischen Rendezvous – all diese Momente stimulieren Glückszentren im Gehirn. Und deren Geheimnisse sind noch lange nicht vollständig gelüftet.

Claudia Christine Wolf ist Biologin und arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Stuttgart.

Wahre Liebe rostet nicht

Ein Team um Lucy Brown vom Albert Einstein College of Medicine in New York machte verheiratete Paare ausfindig, die nach vielen Ehejahren noch behaupteten, sehr verliebt ineinander zu sein. Die Teilnehmer sahen Bilder ihrer Partner, guter Freunde sowie von Unbekannten, während man ihre Hirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) registrierte: Nur der Anblick des geliebten Menschen rief eine starke Aktivität im Dopaminsystem hervor.

Acevedo, B. P. et al.: Neural Correlates of Long-Term Intense Romantic Love. In: Soc. Cogn. Affect. Neurosci. 10.1093/scan/nsq092, 2011

On und off

Hirnscans mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) zeigen: Sehen Raucher Bilder von »Startreizen«, zum Beispiel das Anzünden einer Zigarette, so sind Teile ihres Dopaminsystems wie der präfrontale Kortex im Stirnhirn oder das Striatum vermehrt aktiv. »Endstimuli« wie das Ausdrücken einer Zigarette im Aschenbecher deaktivieren hingegen die betreffenden Areale.

Stippekohl, B. et al.: Neural Responses to Begin- and End-Stimuli of the Smoking Ritual in Nonsmokers, Nondeprived Smokers, and Deprived Smokers. In: Neuropsychopharmacol. 35, S. 1209–1225, 2010

KURZ ERKLÄRT

Positronenemissionstomografie (PET)

Bei diesem bildgebenden Verfahren wird Probanden eine radioaktiv markierte Substanz in die Blutbahn injiziert, die Positronen aussendet. Trifft ein solches Teilchen auf ein körpereigenes Elektron, entstehen zwei Photonen, die in entgegengesetzte Richtungen davonfliegen. Viele kleine, ringförmig um den Probanden angeordnete Detektoren registrieren alle ankommenden Teilchen. Da zusammengehörige Photonen gleichzeitig ausgesandt werden, können Computer die Verteilung der radioaktiven Substanz im Gehirn berechnen.

Schon gewusst?

Endorphin ist ein zusammengesetzter Begriff und steht für »endogenes (körpereigenes) Morphin«.

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Quellen

Arias-Carrión, O. et al.: Dopaminergic Reward System: A Short Integrative Review. In: International Archives of Medicine 3, 24, 2010

Boecker, H. et al.: The Runner’s High: Opioidergic Mechanisms in the Human Brain. In: Cerebral Cortex 18, S. 2523–2531, 2008

Gianoulakis, C.: Endogenous Opioids and Addiction to Alcohol and other Drugs of Abuse. In: Current Topics in Medicinal Chemistry 9, S. 999–1015, 2009

Glocker, M. et al.: Baby Schema Modulates the Brain Reward System in Nulliparous Women. In: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 106, S. 9115–9119, 2009

Kranz, G. S. et al.: Reward and the Serotonergic System. In: Neuroscience 166, S. 1023–1035, 2010

Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1123700

HIRNFORSCHUNG AUTOMATISMEN

Fatale Signale

Rauschgifte wie Kokain und Heroin blockieren über neuronale Lernmechanismen die Fähigkeit, bewusste Entscheidungen zu treffen. Was genau geht dabei an den Nervenzellen vor sich?

VON CHRISTIAN LÜSCHER

AUF EINEN BLICK

Die Suchtfalle

1

Bei jeder Suchterkrankung führen biologische Lernmechanismen dazu, dass sich der Konsum einer Substanz oder ein Verhalten automatisiert.

2

Drogen wie Kokain oder Heroin verändern im Mittelhirn Glutamatrezeptoren vom NMDA- und vom AMPA-Typ. Das setzt eine Signalkaskade in Gang, an deren Ende die Suchtkrankheit steht.

3

Bestimmte Glutamatrezeptoren stellen ein Verteidigungssystem gegen Sucht dar. Hier könnten zukünftige Therapien ansetzen.

Betrachten Sie einmal die Alpenszenerie auf der vorangehenden Seite. Hübsch, nicht wahr? Und so beruhigend! Ganz anders reagieren allerdings Kokainsüchtige auf diese Aufnahme: Ihr Puls steigt, die Hände werden feucht, es überkommt sie ein starkes Verlangen nach der Droge. Das beobachtete der Suchtforscher Daniele Zullino vom Genfer Universitätsspital bei mehreren Patienten, denen er das Bild zeigte.

Die Erklärung: Die in weißes Plastik gehüllten Heuballen erinnern Betroffene an eine übliche Verpackungsform von Kokain. In vielen Fällen reichen solche Bilder schon aus, um ein sehr starkes Verlangen nach dem Rauschgift auszulösen und damit unter Umständen sogar einen Rückfall zu provozieren.

Das Experiment demonstriert das Grundproblem jeder Sucht (siehe »Abhängigkeit und Sucht«): Bestimmte Assoziationen mit dem Drogenkonsum können zu einem Kontrollverlust führen und damit zu zwanghaftem Konsum. Oft ist diese Verknüpfung so tief eingebrannt, dass der Süchtige sie gar nicht mehr bewusst wahrnimmt. In Europa leiden 37 Millionen Menschen an einer substanzgebundenen Sucht; die häufigsten Drogen sind Nikotin, Alkohol, Kokain und Heroin. Hinzu kommen Millionen Spiel- und Esssüchtige. Klinisch gesehen ist ihnen eines gemeinsam – der Kontrollverlust. Trotz negativer Auswirkungen ziehen die Betroffenen zwanghaft das Konsumieren einer Substanz oder ein bestimmtes Verhalten allen anderen Tätigkeiten vor. Eine vollständige Heilung ist bislang kaum möglich. Ein klarer Auftrag an die neurobiologische Forschung, denn Sucht stellt eine Erkrankung des Gehirns dar.

Etwa seit der Jahrtausendwende haben Neurobiologen bereits einiges über die zu Grunde liegenden körperlichen Vorgänge herausgefunden. Wir wissen heute, dass die übermäßige Aktivierung eines bestimmten kleinen Teils des Mittelhirns Sucht hervorrufen kann. Diese Region heißt ventrales Tegmentum (englisch: ventral tegmental area, kurz VTA). Experimente wie das eingangs beschriebene sowie Tierversuche zeigen, dass Sucht durch einen pathologischen Lernvorgang entsteht, bei dem das ventrale Tegmentum eine zentrale Rolle spielt.

Um das Phänomen Sucht zu erfassen, muss man sich zunächst mit der grundsätzlichen Frage beschäftigen, was geschieht, wenn Menschen souveräne Entscheidungen treffen – denn bei Suchtkranken ist die Fähigkeit dazu stark eingeschränkt. Tiere und Menschen besitzen zwei komplementäre Systeme der Entscheidungsfindung, die auch anatomisch in unterschiedlichen Teilen des Gehirns angesiedelt sind (siehe »Drei Wege zur Sucht«):

1. Eine abwägende Entscheidung hat das bestmögliche Ergebnis zum Ziel. Hierfür gilt es verschiedene Optionen zu vergleichen, was wiederum Zeit braucht. Diese Vorgehensweise ist sehr flexibel; das heißt, je nach den Bedingungen kann eine andere Wahl getroffen werden.

2. Beim automatischen Entscheiden führt ein Reiz zu einer sehr schnellen Reaktion. Dies hat den Vorteil, dass Handlungen unbewusst ablaufen. Man kann dann seine Aufmerksamkeit gleichzeitig auf andere Tätigkeiten richten – sich etwa am Steuer eines Autos mit dem Beifahrer unterhalten.

Verhaltensexperimente bei Ratten und Mäusen deuten darauf hin, dass süchtig machende Drogen diese beiden Systeme miteinander verknüpfen. Die Folge ist eine »Automatisierung« des Konsums: Man entscheidet sich nicht mehr willentlich für die Droge, sondern steht unter einem Zwang. Um diese Vermutung zu überprüfen, durchtrennte David Belin in Barry Everitts Labor an der University of Cambridge bei kokainsüchtigen Ratten jene Nervenbahnen, welche die beiden Entscheidungssysteme im Gehirn miteinander verbinden. Daraufhin interessierten sich die Tiere viel weniger für das weiße Pulver, die Automatisierung des Konsums war gestoppt.

2001 machte Mark Ungless im Labor von Antonello Bonci und Robert Malenka an der University of California in San Francisco eine wegweisende Beobachtung: Schon eine einzige Kokaindosis verstärkt bestimmte Synapsen im ventralen Tegmentum. Diesen mehrere Tage andauernden Effekt vermitteln Kalziumionen, die über so genannte NMDA-Rezeptoren – Antennenmoleküle für den Botenstoff Glutamat – in die Zelle einströmen. Der erhöhte Kalziumspiegel löst eine Kaskade von biochemischen Vorgängen aus, in deren Folge sich die Glutamatrezeptoren eines anderen Typs verändern: die AMPA-Rezeptoren.

Mittlerweile bestätigten mehrere Forschungsgruppen diese Beobachtung auch bei allen anderen Sucht verursachenden Drogen. Diese Substanzen verändern also Kontaktstellen zwischen Nervenzellen im Gehirn. Neuroforscher sprechen von synaptischer Plastizität, einem Vorgang, der auch immer dann auftritt, wenn wir etwas lernen.

In unserem Labor in Genf versuchen wir, dem molekularen Mechanismus bei der Suchtentstehung auf die Spur zu kommen. Meine Mitarbeiterin Camilla Bellone nahm die Glutamatrezeptoren vom AMPA-Typ genauer unter die Lupe und stellte fest, dass sich mit der Verstärkung der Signalübertragung der Aufbau dieser Rezeptoren grundlegend verändert: Statt einer GluR2- und einer GluR1-Untereinheit enthalten sie jetzt nur noch GluR1-Untereinheiten.

Dieses Bäumchen-wechsel-dich beeinflusst die Funktion der Synapsen gleich doppelt: Die Rezeptoren reagieren nun empfindlicher – die neuronale Antwort wird also stärker – und werden zusätzlich auch noch für Kalziumionen durchlässig. Letztere dienen nicht nur als Botenstoff für synaptische Plastizität, sondern steuern auch viele andere wichtige Funktionen in der Zelle.

Manuel Mameli ging in unserem Labor daraufhin der Frage nach, wie sich eine durch Drogen hervorgerufene Plastizität wieder rückgängig machen lässt. Er isolierte dünne Schnitte von Mäusegehirnen in Petrischalen und wies an ihnen durch elektrische Messungen nach, dass hierfür wiederum ein anderer Typ von Glutamatrezeptoren nötig ist: der »metabotrope«. Nach dessen Aktivierung werden innerhalb von Minuten neue GluR2 enthaltende AMPA-Rezeptoren produziert und in die Synapse eingebaut. In einem weiteren Experiment zeigte Mameli, dass dieser Mechanismus nicht nur in Hirnschnitten, sondern auch in lebendigen Mäusen stattfindet.