Für meine Jungs

Sullivan und Flynn.

eins.

Mike Tate steht im Moment gerade mehr als nur ein bisschen neben sich. Das hat wahrscheinlich was mit dem billigen Bier und dem hammerguten Gras zu tun. Faul liegt er zwischen seiner Freundin Lisa und seinem Kumpel Jason am Beckenrand des Pools, hinter sich die Feuerstelle. Die spätsommerliche Augustluft ist diesig. Sie steht vor Hitze. Mikes trüber Blick streift blinzelnd die Petroleumfackeln, die auf der Terrasse die Schiebetüren aus Glas einrahmen.

Cam Scotts Haus ist sehr viel größer, als es von vorne aussieht. Es ist ein sogenanntes Split-Level-Haus, mit Wohnbereichen auf verschiedenen Ebenen und einem großzügigen Untergeschoss. Der ausgebaute Keller öffnet sich zu einem gut dreitausend Quadratmeter großen Garten, der sich direkt an den weitläufigen Wald von Morrison Township schmiegt. Das alles zusammen ergibt – kombiniert mit der Tatsache, dass es Cam im Grunde vollkommen egal ist, wie laut sie sind, solange die Polizei nicht ins Spiel kommt – den idealen Ort für eine Party.

Dies ist die letzte Sommerparty des Jahres – und ziemlich wahrscheinlich auch die beste Party dieses Sommers. Cam hat an nichts gespart; überall hängen Lichterketten, und riesige Weingummi-Packungen liegen herum, und Cams älterer Bruder Zack grillt immer noch Burger, obwohl es schon fast drei Uhr morgens ist.

Aus der Anlage, die unter dem Terrassendach hängt, schallt plärrend laute Musik – Power-Pop, genau das Richtige für Mikes Stimmung in diesem Moment. Nur noch ein paar Tage, dann beginnt die zwölfte Klasse – sie ist zum Greifen nah, und er könnte wetten, dass alles verflucht schön sein wird.

Es gibt drei Dinge in seinem Leben, die Mike niemals verändern würde – für nichts und niemanden.

Erstens: seine kleine Schwester Rosie. Klar, manchmal bringt sie ihn auf die Palme, aber sie ist der absolute Wahnsinn und zieht sich jetzt schon genauso an wie er. Sie macht Löcher in ihre Jeans und kritzelt ihre T-Shirts mit einem dicken Edding voll. Mike findet das absolut super.

Zweitens: seine beschissene Garagenband. Er liebt diese Jungs einfach. Sie sind die Besten, ganz besonders Cam. Auch wenn er ein totaler Chaot ist, steht er Mike so nah, wie das sonst nur ein Bruder tut.

Und drittens: tja, also, drittens – irgendwas mit Lisa. Und die ist einfach die Coolste von allen.

Er erzählt das alles Lisa neben sich und grinst sie strahlend an. »Ach ja, und alles andere kann mich echt mal!«

zwei.

Ganz plötzlich ist der August vorbei, und als hätte irgendjemand ihm einfach ins Gesicht geboxt und er wäre schluchzend umgefallen wie ein kleines Mädchen, geht er in einen feuchtschwülen September über. Mike schafft es gerade so, die erste Woche der zwölften Klasse an der South Morrison High zu überleben – eigentlich hauptsächlich dank der Grandiosität von Zack Scott und seinem selbst gezogenen Gras. Zacks Zimmer unter dem Dach hat einen begehbaren Kleiderschrank, den er zu einem provisorischen Gewächshaus umfunktioniert hat. Hier lebt außerdem noch sein fast ein Meter langer Leguan Alfie.

Als die Schule am Freitag vorbei ist, machen Mikes Mutter und Rosie einen Ausflug – zusammen Mittag essen und dann in den Freizeitpark, als Belohnung dafür, dass Rosie in ihrer ersten Woche der ersten Klasse noch keins der anderen Kinder zum Weinen gebracht hat –, und Mike genießt das leere Haus in vollen Zügen, zusammen mit Meckles und Cam und einem Tütchen von Zacks bestem Stoff.

Mike würde schon sagen, dass er eher zu den coolen Typen gehört. Er ist immerhin in so was wie einer Band mit drei anderen total coolen Jungs – ach ja, und natürlich mit Jason, der eigentlich vor allem darum cool ist, weil er sich in der richtigen Gesellschaft befindet. Sie lassen ihn nur deshalb weiter bei ihnen abhängen, weil er so ziemlich der Einzige ist, der weiß, wie man das Casio-Keyboard richtig bedient. Bei den vielen Schaltern und Knöpfen hängt Mike sich immer beim »Extreme-Gothic-Orgel«-Sound auf.

Klar, ob man beliebt ist oder nicht, liegt immer im Auge des Betrachters, aber Mike bleibt dabei, er ist einfach extrem cool. »Ich bin einfach so was von extrem cool …«, sagt er, während er verkehrt herum auf seinem Bett liegt und sein Kopf am Fußende herunterhängt. Er lässt die Arme nach unten baumeln und fährt mit den Händen über den Teppich, der sich ganz rau anfühlt. Es brennt leicht und wird ganz heiß, als er seine Fingerknöchel über den Flor zieht. »… im Unterschied zu euch Losern.«

Cam, der anders herum neben ihm liegt, trägt ein echt spektakuläres Hawaiihemd mit einem lila-pinkfarbenen Sonnenuntergang und Palmensilhouetten – eins der besseren Stücke aus seiner Sammlung. Zugegebenermaßen passt es super zu seiner strubbeligen Frisur, die Cam selbst immer liebevoll seine »süßen Locken« nennt. Er versetzt Mikes Schulter einen leichten Tritt mit dem Fuß. »Fick dich doch.«

»Träum weiter«, sagt Mike und schlägt halbherzig nach Cams Zehen. Mike und Cam kleben seit dem Kindergarten zusammen. In bestimmten Kreisen gelten sie als beste Freunde, und hin und wieder wurden sie sogar schon für Brüder gehalten. Beide gehören eher zu den Braunhaarigen unter den Blonden und zu den Kleineren unter den Großen, aber Cam ist stämmiger und breitschulteriger und an den Stellen, an denen Mike eher schmal gebaut ist, etwas dicker.

Cam drängelt sich jetzt fester in Mikes Seite, sodass Mike von der Matratze herunterrutscht. Er landet auf Nacken und Ellbogen, die Knie bis an die Brust herangezogen, die Wirbelsäule gekrümmt, die Muskeln bis kurz vor der Schmerzgrenze gedehnt. Er ist selbst verwundert darüber, wie unglaublich gelenkig er ist. Mike ist sicher, dass das hier eigentlich sehr viel schmerzhafter sein müsste, als es ist.

Er schnauft, schlängelt sich wild herum und fällt auf die Seite. Seine Wange wird in den Teppich gequetscht, der ganz komisch riecht. Sie sollten wohl besser kein Gras mehr in seinem Zimmer rauchen. Oder vielleicht sollte er sein Zimmer lieber auch etwas häufiger als nur einmal im Jahr saugen.

Er fischt sein Handy aus der Tasche und aktiviert das Display, um auf die Uhr zu gucken. 18:50 Uhr. So eine Scheiße. Irgendwie fehlen ihm vier volle Stunden. Der Geschmack in seinem Mund ist zutiefst widerlich, seine Zunge fühlt sich an wie staubtrockene Wolle, und er hat so eine dunkle Ahnung, dass er sich irgendwann in dieser verloren gegangenen Zeit mit Omar über Jasons Finger, Cheese-Cracker und diese gigantischen Riesenspinnen aus Harry Potter unterhalten hat. So eine Scheiße. Das bedeutet, dass er Omar angerufen haben muss.

Meckles, ein Killer-Drummer und Mikes anderer bester Freund, hat sich faul auf Mikes Liegestuhl ausgestreckt; er passt kaum zwischen die beiden Armlehnen, so groß ist er. Mike gähnt ausgiebig und zerrt an Meckles’ ausgestrecktem Bein, die Finger um seinen Knöchel gehakt. »Ihr Schweine habt mich Omar anrufen lassen«, sagt er. Sie sind solche Arschlöcher! Omar hält ihn wahrscheinlich sowieso schon für den größten Vollidioten ever; warum ruft er ihn bloß immer an, wenn er gerade total bekifft ist?

Meckles kichert.

Mike rollt sich auf die Füße und schnuppert an seinen Achselhöhlen. Er riecht irgendwie ranzig, und er erwägt, wenigstens schnell noch einmal unter die Dusche zu springen, bevor er sein T-Shirt gegen irgendein anderes Kleidungsstück eintauscht, das noch keine drei Tage alt ist.

Scheiß drauf. Er ist jetzt schon knapp dran. Er kommt zu spät zu Lisa. »Wir sehen uns, Jungs«, sagt er, und Cam salutiert zum Abschied mit zwei Fingern.

 

»Eigentlich bin ich ja gar nicht wirklich deine Freundin«, sagt Lisa und beugt sich im Diner über den Tisch zu ihm herüber, um ihn mitten in seiner Schimpftirade darüber, was für Mistkerle Cam und Meckles doch sind, weil sie ihn Omar bei der Arbeit anrufen lassen, ans rechte Ohr zu schnipsen. »Ich muss mich also mit dem Ganzen hier auch nicht abgeben.«

Technisch gesehen wäre Lisa eigentlich Mikes beste Freundin – wenn Mike der Typ wäre, der Mädchen als beste Freunde hat. Aber so was ist schon seit der sechsten Klasse nicht mehr cool für ihn, und als es wieder cool hätte sein können, hatte Mike Lisa als beste Freundin durch Jahre dümmlichster Ignoranz und in die Haare geklebter Kaugummis bereits gründlich vergrault. Und natürlich hat ihre Knutscherei auf Cams letzter Neujahrsparty der Sache endgültig den Rest gegeben. Beim Countdown sind alle total aufgeregt gewesen, und sie sind in diesem Moment auch noch auf dem Sofa aneinandergequetscht worden; das war jedenfalls für Mike die einzig mögliche Erklärung dafür.

»Und was ist mit unseren Dates?«, sagt Mike und tunkt eine seiner Fritten tief in seinen Schokoshake.

Lisa verdreht die Augen. »Bloß weil ich dir erlaube, mich zum Abendessen einzuladen, und wir, wenn uns langweilig ist, ab und zu mal ein bisschen rumknutschen? Dadurch sind wir doch noch nicht zusammen!«

»Okay. Wenn das so ist …« Mike nickt und steigt darauf ein. »… dann kannst du ja auch das Kino selbst bezahlen«, sagt er.

»Abgemacht«, sagt sie und nimmt einen großen Bissen von ihrem Hamburger.

Mike hält inne, mit der Fritte an seinen Lippen. »Moment mal, echt jetzt?« Das hier ist also keine richtige Beziehung?

Lisa kaut und kaut und kaut so lange wie möglich, den Kopf zur Seite geneigt, mit einem nachdenklichen Ausdruck im Gesicht. Dann sagt sie: »Ehrlich gesagt, möchte ich lieber Larson fragen, ob er mit mir ausgeht.«

»Larson Kemp?«, fragt Mike ungläubig. »Der gruselige Typ mit den Hosenträgern, der immer mit Casper Jorgensen hinter der Turnhalle rumhängt und Unmengen von Origami-Fröschen faltet?«

Lisa lächelt. »Ja, genau der. Er sieht so was von hammergut aus!«

Mike tritt ihr unter dem Tisch ans Schienbein. »Willst du mich verarschen?«

»Nein, ich mein’s ernst, Michael«, sagt Lisa und grinst immer noch. »Alles, was du machst, ist kiffen. Und das Duschen vergessen. Ich will jemanden haben, bei dem nicht ständig die Gefahr besteht, dass ich mir irgendeine ansteckende Krankheit hole.«

Mike sieht sie mit zusammengekniffenen Augen an. Nach dem Überraschungskuss am letzten Neujahrsabend hat Lisa Mike dazu gezwungen, sich bei ihr dafür zu entschuldigen, dass er ihr einen Salamander unter den Rock geschoben hat, als sie elf waren. Sie hat sogar darauf bestanden, dass er das vor Meckles und Cam tat. Acht Monate sind vergangen, seit sie ihre Differenzen beigelegt und mit diesem Quatsch hier angefangen haben. Mike wünschte, er hätte geahnt, dass er und Lisa offenbar nur Freunde mit ein paar »Extras« sind – obwohl, da sie außer ein bisschen Knutscherei und Gekuschel nie wirklich in die Nähe von richtigem Sex gekommen waren, kann Lisa ihn schon allein deshalb fertigmachen, weil er der Sache so viel mehr Bedeutung beigemessen hat als sie. Jetzt kommt er sich vor, als hätte er seine Zeit verschwendet. »Na toll«, sagt Mike und sinkt in der Sitznische immer tiefer. »Das ist ja vielleicht ätzend!«

»Ist es nicht. Ich kann dein Gejammer über Omars Arbeitszeiten, Cams Pornos und Jasons Lauftraining einfach nicht mehr hören«, sagt sie. »Das wird echt langweilig. Vielleicht brauchst du einfach mal ein paar neue Freunde?«

»Und vielleicht brauchst du einfach mal ein neues Gesicht«, blafft Mike sie mit bösem Blick an und verschränkt die Arme über der Brust.

»Das mit Larson habe ich ernst gemeint«, sagt Lisa. »Ich wette, er würde mit mir in coole deutsche Restaurants gehen. Wusstest du, dass sein Vater ein Boot hat?«

Mike sagt langsam: »Also einige Bereiche deines Gehirns machen mir richtig Angst.«

»Die Frösche braucht er übrigens für eine Kunstperformance«, sagt Lisa mit hochgezogenen Augenbrauen.

Diese scheißausgeflippten Streber vom Theater. Mike sind sie total egal, er findet nur, dass Lisa sich nicht mit ihnen treffen sollte. Sie ist echt heiß, aber auf diese eher klassische, bodenständige, rustikal-versponnene, Fleisch-mit-Kartoffeln-artige Weise. »Larson hätte nicht mal ansatzweise eine Idee, was er mit deinen Möpsen anfangen sollte.«

»Und du bist da Spezialist, oder wie?« Lisa schüttelt den Kopf. »Nein, du musst mich jetzt weiterziehen lassen«, sagt sie. »Wir können doch BFFs sein, das wird super, dann können wir immer über Jungs quatschen.«

»Ich hasse dich.« Er seufzt, weil er Lisa ganz offensichtlich überhaupt nicht hasst.

»Was auch immer«, sagt Lisa. »Schnapp dir die Rechnung. Ich will die Trailer für die neuen Filme nicht verpassen.«

 

Die Friday-Late-Nights im Franklin-23-Cineplex sind irre. Es ist nicht das einzige Kino in der Stadt, aber es ist das größte, und es liegt gleich hinter der Einkaufsstraße. Wenn die Geschäfte zu schließen beginnen, schlendern alle westwärts.

Mike und Lisa müssen zwanzig Minuten anstehen, bis sie ihre Tickets haben. Omar kommt an der Snack-Bar mit einem Eimer Popcorn und einem Blaubeer-Icee auf sie zu und zieht spöttisch eine Augenbraue nach oben, als er Mike ansieht.

»Spar dir diesen Scheiß«, sagt Mike, während seine Wangen anfangen zu glühen.

»Es ist ja nicht so, dass ich nicht gerne mit dir darüber rede, ob Jason vielleicht ein Alien ist, Kumpel.« Omar lacht. »Manchmal stelle ich sogar das Telefon auf Lautsprecher. Die Jungs bei mir im Laden finden das richtig witzig.«

Mike stöhnt auf. Omar ist selbst für einen seiner Freunde supercool. Er hat einen Van, spielt großartig Bass und kommt mit jedem im gesamten Universum wirklich super aus. Eigentlich sollte ihn ein Gefolge kleiner Vögel und Waldwesen überallhin begleiten. Allerdings ist Mike ziemlich sicher, dass Omars Vater, ein riesen Outdoor-Fanatiker, sie wahrscheinlich erschießen und aufessen würde. Naja egal, Mike sollte die Sache mit dem Kiffen vielleicht einfach mal ein bisschen zurückfahren.

Lisa pikt ihm mit dem Finger in den Rücken. »Ich will Skittles«, sagt sie.

»Wie kannst du denn immer noch Hunger haben?«, fragt Mike.

»Hab ich gar nicht«, sagt sie. »Skittles sind doch keine Nahrungsmittel, du Dummkopf.«

Mike öffnet den Mund, um ihr klarzumachen, dass Skittles eindeutig zu einer der vier wichtigsten Nahrungsmittelgruppen gehören – Süßigkeiten, Käse, Kekse und Hamburger –, aber sie tätschelt nur seine Wange und sagt:

»Skittles, Michael. Schlange Nummer drei geht ziemlich schnell.«

Mike grummelt vor sich hin, tut aber, was sie sagt. Er steht ganz schön unter ihrem Pantoffel, wenn er mal ehrlich ist, und das ist doppelt traurig, jetzt, wo sie offensichtlich nicht mal mehr seine Freundin ist. Cam wird sich totlachen.

Als er endlich an der Reihe ist, hat Mike entschieden, sich auch einen Icee zu kaufen, ein Wasser für Lisa und ein Päckchen M&Ms, und er setzt gerade zum Bestellen an: »Ich hätte gern …«, als er zu dem Schwachmaten hinterm Tresen hochguckt und stockt. »Ach du Scheiße.«

Er wird Lisa später leider erwürgen müssen. Wie bedauerlich; wo sie doch noch so ein langes und erfülltes Leben vor sich hatte.

»Tate«, grüßt der Typ an der Kasse. Er hat diesen ganz bestimmten Schimmer in seinen blauen Augen, als wäre es rasend komisch, dass Mike überhaupt noch am Leben ist.

Tim Wallace ist ein zutiefst böser Mensch. Und es ist schlimm, dass niemand Mike das glauben will.

»Wallace«, sagt er angespannt. Er muss unbedingt lernen, wie man Leute nur mit der Kraft seiner Gedanken auslöschen kann. Ganz ohne unschöne, nachweisbare Fingerabdrücke – Wallace wäre dann ruckzuck ein für alle Mal aus seinem Leben verschwunden. Das wäre unfassbar schön.

Mit seinem typischen breiten, strahlenden Lächeln fragt Wallace: »Und, was kann ich für dich tun?«, und Mike braucht eine ganze beschissene Sekunde, bis er sich daran erinnert, wie man spricht.

»Skittles«, sagt er schließlich.

Wallace neigt den Kopf zur Seite, während er das in die Kasse einbongt.

»Okay. Ist das alles?«

Mike nickt. »Ja.«

Als er vom Tresen weggeht, könnte er sich in den Arsch beißen, dass er so feige war. Außerdem hat er seine M&Ms vergessen.

Na ja, er wird einfach Omars Icee klauen, und Lisa kann ihn mal – sie hat ja nicht ausdrücklich gesagt, dass sie ein Wasser haben will. Lisa zieht trotzdem eine Fresse, als er ihr die Skittles gibt.

»Du teilst mit mir«, sagt er. »Ich musste dafür schließlich mit Wallace sprechen.«

»Ich mag Wallace«, sagt Omar, als könne er überhaupt jemals irgendjemanden nicht mögen. Mike hat Omar tatsächlich noch nie richtig böse auf jemanden werden sehen, sogar damals nicht, als Meckles sich auf seinen Bass gesetzt hat.

Mike zeigt mit dem Finger auf ihn und sagt: »Hinter deiner Seele ist er ja auch nicht her.« Das Gemeine an der Sache ist, dass Wallace eigentlich ein echt netter Kerl ist. Zur Hölle, er ist sogar zu Jason freundlich, und Jason ist wirklich ein richtiger Psycho. Mike findet allerdings, dass er zu Recht glaubt, dass Wallace eine Ausgeburt des Teufels ist. Niemand sonst weiß, dass Wallace ihm damals, als sie noch zwölf waren, nach den Baseballspielen immer aufgelauert und ihm die Scheiße aus dem Leib geprügelt hat. Und niemand wird es jemals erfahren. Unter gar keinen Umständen wird Mike jetzt noch einmal darüber sprechen; wie peinlich wäre das denn!

Lisa ignoriert ihn und sagt: »Warten wir noch auf Meckles und Cam?«

Mike winkt durch die brechend volle Eingangshalle zu Meckles hinüber. Wenn nicht schon sein flammend rotes Haar ihn aus der Menge herausstechen ließe, würde das alles andere an Meckles tun. Mehr als 180 cm reine Muskelmasse bahnen sich ihren Weg zu ihnen herüber – in viel zu viel Flanell und Baggy-Jeans für Mikes Geschmack –, als wäre Meckles ein Zeitreisender aus Seattle von ca. 1995 auf dem Weg in ein modernes Morrison.

Normalerweise würde Mike sich schämen, mit einem Typen wie ihm gesehen zu werden, aber Mike ist ja ein loyaler und großzügiger Kerl. Außerdem sieht Cam auch nicht viel besser aus mit seinen Blumenmustern und seinen Cargo-Shorts, die er beharrlich mindestens elf Monate im Jahr trägt. Dass er bei Kälte absurderweise einfach die Socken bis zu den Knien hochzieht, macht es auch nicht gerade besser!

»Hey, Leute«, sagt Meckles. Omar und er begrüßen sich ganz cool Faust an Faust.

»Wo ist Cam?«, fragt Lisa.

»Bei Deanna.« Meckles verzieht das Gesicht. Er findet es ganz komisch und irgendwie unangenehm, dass Cam sich mit Deanna trifft, schließlich ist sie ja Meckles’ Zwillingsschwester.

Mike versteht das. Deanna ist total heiß.

»Kino, Leute, lasst uns reingehen«, sagt Omar und nickt mit dem Kopf Richtung Platzanweiser.

»Und Jay?«, fragt Meckles.

»Verdammter Mist«, sagt Mike. »Hat irgendeiner von euch Jason angerufen?«

Omar wedelt mit seinem Handy durch die Luft, bevor er es in seiner Gesäßtasche verstaut. »Er babysittet. Wir treffen uns später mit ihm. Jetzt lasst uns reingehen, bevor alle guten Plätze weg sind. Ich will auf keinen Fall wieder alleine sitzen. Oder mit Meckles zusammen.«

»Hey«, sagt Meckles.

Omar drückt seinen Eimer fest an die Brust und sagt: »Wenn du mein Popcorn anrührst, bist du ein toter Mann.«

 

Als der Film vorbei ist, hängen sie noch ein bisschen im trübe beleuchteten Seitenausgang des Kinos herum, bis die Security-Leute sie von dort vertreiben.

Lisa schmiegt sich in Mikes Seite, hakt sich bei ihm unter und beobachtet Meckles dabei, wie er auf Omar zustürmt, ihn hochhebt und sich über die Schulter legt, um ihn dann in Richtung von Omars Van zu tragen. Omar ist nicht gerade klein. Klar, er ist kleiner als Meckles – jeder ist kleiner als Meckles –, aber trotzdem ist das ziemlich beeindruckend.

»Hmm«, sagt Mike.

»Was ist?«, fragt Lisa.

»Ach nichts.« Es wird kühl, also befreit Mike seinen Arm aus ihrem Griff und schlingt ihn stattdessen um ihre Taille, zieht sie näher zu sich heran und fragt sich, ob es wohl noch okay ist, dass er sie so hält.

»Also Larson Kemp, ja? Dein Ernst?«

Lisa zuckt mit den Achseln. »Er hat einen sexy Akzent. Außerdem denke ich darüber nach, in die Theatergruppe einzutreten, um mein Zeugnis etwas aufzumotzen. Wenn ich auf ein gutes College gehen will, muss ich mich in der Schule mehr engagieren.«

Mike seufzt. Es ist wirklich tragisch, all diese Jahre, in denen sie sich so fremd geworden sind. Er glaubt, dass ihre Freundschaft sehr viel erfüllender hätte sein können, wenn sie sich nicht unbedingt hätten abknutschen müssen, um einen Grund dafür zu haben, Zeit miteinander zu verbringen. Wenn er jetzt so darüber nachdenkt, kommt ihm das alles ziemlich verkorkst vor. Und es beweist, dass mindestens einer von ihnen oder vielleicht auch sie beide emotionale Probleme haben. Na toll!

Er kann noch nicht mal sagen, dass Lisas Entscheidung ihn besonders verletzt oder so; eigentlich hat vor allem sein Ego etwas abgekriegt. Das sagt wahrscheinlich ziemlich viel darüber aus, worum es bei der ganzen Sache zwischen ihnen wirklich ging.

Vom Van aus ruft Omar ihnen zu: »Hey, wir treffen uns mit Jay auf dem alten Parkplatz!«

Lisa stößt ihre Hüfte gegen seine. Sie sagt: »In den letzten Wochen sind mir einfach einige Dinge klar geworden, weißt du«, und schiebt ihn in Omars Richtung über den Parkplatz. Mike wirft ihr einen fragenden Blick zu.

»Was denn?«

»Einfach …«, sie schüttelt mit dem Kopf »… einige Dinge.« Ihre Augen sehen in dem gedämpften Licht, das sich über den Parkplatz ergießt, irgendwie traurig aus.

Es geht kein Lüftchen, und ihre Haare fallen glatt und schwer um ihr Gesicht, ihr Pony hängt direkt über den Augen. Sie sieht so aus, als fiele ihr diese sogenannte Trennung doch nicht ganz so leicht, wie sie gesagt hat, und Mike will wissen, warum. Irgendwie fühlt er sich, als hätte er etwas falsch gemacht, weiß aber nicht so richtig, was das sein könnte.

Doch er hasst es abgrundtief, über Gefühle zu sprechen. Er schluckt alles, was ihm auf der Zunge liegt, herunter und zwingt sich zu einem Achselzucken. »Okay.«

• • •

Der alte Parkplatz ist eine große Fläche aus rissigem Asphalt rund um ein verlassenes Sears-Gebäude im etwas raueren Teil der Stadt – dem sogenannten »Morrison-Getto«, oder was in der Vorstadt eben so als Getto gilt.

Er wird ungefähr zur Hälfte von Halogenstrahlern beleuchtet – drei von den fünf Leuchten sind von irgendwelchen Idioten mit Steinen kaputt geschmissen worden, und dies hier ist kein Ort, an dem irgendjemand sich jemals darum kümmern würde, sie wieder instand zu setzen. Am anderen Ende der Einkaufsmeile gibt es einen Payless-Markt und ein Manhattan Bagel, aber keines von beiden hat so spät noch auf.

Cam und Deanna sitzen am Boden auf einer Temposchwelle. Deanna hat einen Fuß auf ihr Skateboard gelegt und schiebt es eher beiläufig mit dem roten Converse-Turnschuh immer hin und her. Denn hauptsächlich ist sie gerade mit Cam, genauer gesagt, mit Cams Mund beschäftigt.

»Igitt, das ist ja ekelhaft«, sagt Meckles.

»Hey, Meckles-Mädchen!«, ruft Mike, schießt auf sie zu, beugt sich zu ihnen hinunter und schlingt die Arme um beide, sein Gesicht an ihre Gesichter gekuschelt.

»Igitt, hau ab«, jault Cam lachend auf. Er schlägt wild um sich, erwischt Mike mit dem Knie am Oberschenkel und mit seinem Ellbogen in der Achselhöhle, während Deanna ihm mit beiden Händen auf die Brust schlägt.

»Ich konnte einfach nicht widerstehen«, sagt Mike, taumelt nach hinten und grinst, als er ihre Gesichtsausdrücke sieht – Deannas Augen leuchten und strafen ihre grimmige Miene Lügen. »Meckles war kurz davor, einen Anfall zu kriegen.«

Cam streckt ihm die Zunge raus, weil Cam ungefähr die Reife eines Fünfjährigen hat.

Für einen Freitagabend ist es nicht gerade besonders voll auf dem alten Parkplatz. Ein paar vereinzelte Grüppchen, ein paar Typen auf Fahrrädern am einen Ende, ein Haufen rauchender Mädchen vor dem Sears-Eingang.

Lisa zieht Deanna hoch auf die Beine, und Mike schnappt sich ihr Skateboard; wackelig stößt er sich zur Mitte des Parkplatzes hin ab.

Lisa schreit ihm ein »Sei bloß vorsichtig!« hinterher, und er hört Omar stöhnend sagen: »Er wird sich irgendwann noch mal den Schädel einschlagen.«

Als ob Mike auch nur annähernd so schlimm wäre wie Cam. Na ja, okay, eins stimmt: Er hat wirklich absolut gar keinen Gleichgewichtssinn. Es gibt schon einen echten Grund dafür, dass Mikes eigenes Skateboard – ein heiß ersehnter Wunsch zu seinem dreizehnten Geburtstag – irgendwo ganz weit hinten in seinem Schlafzimmerschrank vergraben liegt.

Er sollte vermutlich besser überhaupt nicht auf ein Skateboard steigen, aber er kann nicht anders. Immer, wenn er Meckles-Mädchens Board sieht, muss er es sich schnappen und hofft irgendwie, auf magische Weise dieses Mal besser damit zurechtzukommen. Aber das klappt nie.

Was soll’s! Es ist eine ebene Fläche, alle vier Räder sind am Boden, und was ist das Leben schon ohne ein bisschen Risiko! Immerhin ist er mit Cam zusammen aufgewachsen. Fast alle wirklich schlechten Entscheidungen, die Mike in den letzten Jahren getroffen hat, gehen auf Cams Konto, auch wenn dieser sein allerbester Freund ist. Omar ist meistens der Vernünftigere, auf ihn sollte Mike eigentlich immer hören. Natürlich tut er das leider so gut wie nie.

Wie unglaublich dumm das ist, wird ganz plötzlich wieder einmal glasklar, als eins der Skateboardräder an einem Kieselsteinchen hängen bleibt. Der kleine Ruck würde einen normalen Menschen kaum durchschütteln; Mike aber schlägt direkt vornüber vor vier Fremden auf dem Asphalt, die, wie Mike im Fallen mit einem schnellen Seitenblick gerade noch erkennt, alle ziemlich heiß und cool sind. Na super!

Mike blutet am Ellbogen, und sein Kinn fühlt sich auch nicht so besonders toll an. Er rollt auf den Rücken und spürt die Feuchtigkeit des Asphalts unter seinem T-Shirt. Er hustet etwas und starrt in den Himmel – verschwommene Sterne mit unscharfen Lichterkränzen. Von irgendwo weit weg hört er Cam herumjohlen.

»Alles okay?«, fragt ein Typ, und Mike blinzelt ihn an, das Gesicht knallrot. Hinter dem Kopf des Kerls glänzt ein helles Licht und lässt seine Haare glitzern wie die eines Engels. Womöglich hat Mike sich aber auch am Kopf verletzt.

»Glaub schon.« Er drückt sich nach oben und stützt sich auf seinen brennenden Handflächen ab.

»Oh, mein Gott«, sagt eins der Mädchen. »Das sah ja vielleicht witzig aus.«

Sie lässt geräuschvoll ihre Kaugummiblase knallen und grinst.

»Na, klasse, vielen Dank«, sagt Mike trocken.

Der Typ sagt: »Hier«, lehnt sich vor und reicht ihm die Hand, um Mike aufzuhelfen.

Mike wird etwas schwummerig, als er auf die Füße kommt, und er ist froh darüber, dass der andere ihn so fest hält. Eine Kopfwunde scheint ziemlich wahrscheinlich zu sein.

»Mir geht’s gut«, sagt Mike.

»Ja, klar.« Der Typ hat ein nettes Lächeln, jetzt, wo Mike sein Gesicht richtig sehen kann. Dabei ist auch ein Lippenring im Spiel. Mike ist beeindruckt.

»Schönes … äh.« Mike kann sich knapp zurückhalten. Dem anderen ein Kompliment für sein schönes Lächeln zu machen, ist – auch wenn er jetzt vielleicht noch ein paar Schrauben mehr locker hat – mindestens total seltsam. Er schafft es gerade noch so, den Satz mit »… Hemd« zu beenden, weil er ja glücklicherweise so hammermäßig auf Zack ist.

»Echt jetzt?«, fragt eins der anderen Mädchen ungläubig.

Sie trägt lächerliche, kleine Ringelschwänzchen oben auf dem Kopf, sodass Mike nicht wirklich das Gefühl hat, er müsse sich ihresgleichen irgendwie erklären.

Gerade als er sich fast sicher ist, dass er wahrscheinlich Harakiri begehen muss, um sich wenigstens mit einem allerletzten Funken Würde aus dieser Situation zu befreien, kommen Deanna und Lisa zu ihnen herüber.

Deanna flippt mit dem Fuß ihr Board hoch, ergreift es mit einer Hand und klemmt es sich lässig unter den Arm. Sie runzelt die Stirn und sagt: »Hör mal, Mike, einen Besuch im Krankenhaus können wir heute Abend echt nicht gebrauchen, okay? Geh doch in Zukunft bitte einfach zu Fuß.«

Toll, jetzt muss er sich auch noch vom Meckles-Mädchen anmeckern lassen – als hätte sie irgendein Recht dazu, hier jemanden zu belehren, vor allem, wenn man den ganzen Scheiß bedenkt, den Cam tagtäglich so verzapft – und das vor diesen coolen Leuten, wer auch immer sie sind.

Na ja, ist im Grunde sowieso egal, weil sie vermutlich zu der Sorte Leuten gehören, die er niemals kennenlernen wird. Aber am liebsten möchte er immer noch im Boden versinken.

Mike zuckt ruckartig mit den Schultern und lässt zu, dass Lisa seine Hand nimmt und ihre Finger miteinander verschränkt.

Sie schwingt seinen und ihren Arm beim Gehen hin und her, und Mike versucht, dieses seltsam benommene Gefühl im Kopf wieder abzuschütteln. Als er ihr einen Blick zuwirft, starrt Lisa ihn gerade durchdringend an und lächelt ein bisschen vor sich hin.

»Was ist denn?«

Lisa wackelt mit den Augenbrauen. »Ach nichts.«

»Wirklich, ja?« Er kauft ihr das nicht ab.

Sie lacht und verwuschelt mit der anderen Hand sein Haar.

»Manchmal bist du einfach hinreißend«, sagt sie.

»Ich bin doch immer hinreißend«, entgegnet er, obwohl er noch etwas durcheinander ist.

»Was auch immer. Komm schon. Cam versucht gerade, Meckles davon zu überzeugen, ihm aus einem alten Zaun eine Fahrradrampe zu bauen.«

»Na, das wird ja wieder toll enden …«, sagt Mike. Cam ist wirklich total verrückt. Mike hat vielleicht Probleme mit seinem Innenohr oder so, aber immerhin versucht er nicht, mit seinem Mountainbike über reihenweise Hindernisse aus Mülltonnen zu springen, und tut dann noch verblüfft, wenn er schließlich mit dem Kopf voran direkt in einem Müllhaufen landet.

Nicht mehr. Mike versucht so etwas nicht mehr.

Lisa nickt. »Ja, das wird fantastisch enden, und wir können dann hinterher dabei zusehen, wie Deanna ihn ordentlich zusammenschreit.«

»Hey.« Mike hebt ihre miteinander verwobenen Hände hoch und zeigt damit in die Richtung, in der Omars Van steht. Dort treibt sich ein blässlicher Typ herum. Er sieht aus wie ein Geist, sein Haar ist so hell, dass es von Weitem so wirkt, als würden Frisur und Gesicht ineinander übergehen und eine homogene Einheit bilden.

»Sag mal, ist das da nicht dein Kerl?«

Lisa zieht ruckartig ihre Hand aus seiner, boxt ihn in den Rücken und zischt: »Nein, nicht auf ihn zeigen, mein Gott, bist du bescheuert

»Au«, sagt er und verdreht seinen Rücken. »Er guckt doch noch nicht mal in unsere Richtung.«

Lisas Wangen sind rosarot.

Mike seufzt und zieht ihren Kopf nah an seinen heran.

»Lisa Linnet Delaney«, sagt er mit leiser Stimme, »jetzt flipp nicht aus. Larson kann schon froh sein, wenn er nur die gleiche Luft atmen darf wie du. Er macht sich wahrscheinlich in die Hose, wenn du ihn ansprichst; du hast also alles unter Kontrolle. Alles klar? Und denk immer daran: Wenn er irgendetwas tut, das dich traurig macht, dann werde ich ihm wehtun.«

Lisa zieht eine Grimasse. »Er ist fast zwei Meter groß«, sagt sie.

»Willst du damit vielleicht andeuten, dass ich irgendwie klein bin?«

»Nein, ich will damit andeuten, dass du irgendwie durchschnittlich groß bist. Er hingegen ist außergewöhnlich groß und einfach traumhaft.«

Mike lässt seinen Blick zwischen ihr und Larson hin- und herschnellen.

Sie hat wieder dieses seltsame Lächeln auf ihrem Gesicht, das bei Mike irgendwie einen Brechreiz verursacht.

»Okay, akzeptiert«, sagt er schließlich. »Dann werde ich eben Meckles auf ihn hetzen.«

»Michael«, sagt sie entnervt.

»Lisa«, sagt Mike und äfft ihren Ton dabei nach, »lass mir doch den Spaß. Ich stelle mir gerade vor, wie Meckles ein paar hübsche Schläge platziert, bevor Larson ihn zu einem Tanz-Battle auffordert.«

Lisa beißt sich auf die Unterlippe. »Das wäre schon irgendwie witzig.«

»Und wie!«, sagt er und schiebt sie vorwärts in Richtung Van. »Also gut, dann geh jetzt mal zu ihm und unterhalte dich über Papierfrösche und Modern Dance.«

Sie küsst ihn auf die Wange und sagt: »Ich hasse dich.«

 

Der Abend wird noch kälter. Mike kann jetzt schon fast seinen Atem sehen. Er sitzt zusammen mit Jason auf dem Rand des kaputten Bordsteins vor dem Payless-Markt, seine dünnen Handgelenke auf den angezogenen Knien.

Eine Telefonzelle in der Nähe ist von Aufklebern und Plakaten nur so übersät, und Mike liest sie abwesend – drei Suchanzeigen, einige Zimmerangebote, Erinnerungen an Baseball- und Fußballspiele der South Morrison High, eine Open-Mic-Session in der Beanery, ein alter Wählt-Fitzsimmons-and-Smith-Sticker …

Jason summt leise irgendein lahmes Stück vor sich hin.

Mike stößt ihn mit dem Ellbogen an. »Alter!«

Jason wird rot. »Du hast eben einfach keinen Sinn für die Klassiker«, sagt er.

»Hallo? Wenn den einer hat, dann ja wohl ich!«, sagt Mike. The Lemonheads zum Beispiel, das ist ein echter Klassiker. Peter Cetera dagegen eher weniger. Kopfschüttelnd säuselt er »Chicago, also wirklich …«, auf diese traurige, enttäuschte Art und Weise, die bei Jason immer dazu führt, dass er plötzlich alles versucht, um ihn stolz machen. Mike hat keine Ahnung, wie oder warum er damit angefangen hat, so zu reagieren, aber es ist mindestens ein ebenso guter Grund dafür, Jason bei sich zu behalten, wie seine Fähigkeiten am Casio-Synthi.

Jason zieht seinen iPod heraus und gibt Mike einen seiner Ohrstöpsel. »Fall Out Boy, Nada Surf oder Bleachers?«, fragt er.

»Ganz klar Nada Surf, Mann«, sagt Mike und lässt sich nach hinten aufs Pflaster sinken, um nach oben in die Sterne zu starren.

drei.

Wochenenden bestehen für Mike meistens aus einer Menge Abhängen im Schlafanzug. Er hat zwar einen Job im Käseladen seines Onkels, aber er versucht immer, seine Arbeit möglichst schon unter der Woche zu erledigen, gleich nach der Schule, damit seine langen Phasen des Nichtstuns an den Samstagen und Sonntagen – mal abgesehen von möglichen Bandproben – durch nichts gestört werden.

Meistens verbringt er am Wochenende so viel Zeit wie möglich mit seiner kleinen Schwester; sie vergöttert ihn, und das liebt er. Außerdem hält er sich damit seine Mutter vom Hals, wenn er wirklich mal irgendwelchen Scheiß machen will. Rosie treibt ihn zwar manchmal in den Wahnsinn, aber alles in allem ist sie doch ein verdammt cooles kleines Wesen. Ab und zu muss Mike leider noch mit Barbies spielen, aber sonst bauen sie die meiste Zeit nur Forts oder Rennstrecken für ihre Matchbox-Autos und ihre Einsiedlerkrebse, und damit kommt Mike eigentlich ganz gut klar.

»Mikey?«

»Rosalinda?«, sagt Mike, während er gerade ein paar Legosteine aufeinanderdrückt. Sie bauen ein Schloss, und das schon seit über einer Stunde. Das Bauen von Schlössern ist eine ernste Sache. Sie haben zwar eine Anleitung, aber eigentlich wollen sie nur, dass es so hoch wie möglich wird.

»Sandwich hat Hunger«, sagt Rosie. Mike wirft ihr einen Blick zu und runzelt die Augenbrauen. Sie steht vor ihm, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und ihr kurzes, blondes Haar steht immer noch struppig in alle Richtungen ab. Das kommt von dem Schaumfestiger, den Mike ihr vorhin in die Haare gerieben hat. Allerdings liegt ihre Frisur an einer Seite jetzt irgendwie ganz flach an.

»Wirklich?«, fragt er.

»Jap.« Rosie nickt. Sandwich ist ihr neuester imaginärer Freund. Vor ihm gab es schon Box Head und davor Poppy Carlos. Rosie bringt regelmäßig Briefe von ihrem Klassenlehrer mit nach Hause, in denen er nervös um die Tatsache herumschleicht, dass seine Schwester nachweislich etwas seltsam ist.

»Wollen wir uns mal auf die Suche nach Mom machen?« Mike steht auf und streicht sich mit den Handflächen über die Oberschenkel, dann stöhnt er auf und reckt seinen Rücken; er hat einfach zu lange in ein und derselben Position gesessen. Er ist noch ziemlich angeschlagen von seinem Sturz auf dem alten Parkplatz am Abend zuvor und wird wohl einige ätzende Krusten am Arm zurückbehalten.

Rosie schürzt ihre Lippen, so als würde sie wirklich über seine Frage nachdenken.

»Nur wenn du sicher bist, dass wir dann eine Pizza bekommen.«

Bei Mom wird es wahrscheinlich eher Sandwiches mit Thunfischsalat und Apfelmus geben. Mike wägt die Vor- und Nachteile gegeneinander ab, die sich ergäben, wenn sie ihre Mutter aus der Essensfrage heraushielten. Es könnte sein, dass sie sauer wird, wenn sie sie zum Essen nicht aus ihrem Büro zerren, und wahrscheinlich würde sie die Tiefkühlpizza schon riechen, bevor sie sie überhaupt aus dem Ofen geholt hatten, aber mit Rosie an seiner Seite ist Mike bereit, es zu riskieren.

Sie haben Erfolg mit ihrer Heimlichkeit. Mom scheint einem Schreibrausch verfallen zu sein, und sie bleiben unentdeckt. Seit diesem Vormittag, als sie das letzte Mal wie ein Zombie aus dem Zimmer getorkelt ist, um sich noch einen Kaffee zu holen, hat er keinen Mucks mehr von ihr gehört.

Mike legt einen Film ein, während sie essen. Natürlich gucken sie Die Rückkehr der Jedi-Ritter; Ewoks kann man Rosie nicht ausreden. Na ja, immerhin hat sie inzwischen ihre Zauberer-von-Oz-Phase hinter sich gelassen. Sie haben gerade aufgegessen und die leeren Teller stehen noch auf dem Couchtisch, als es an der Tür klingelt. Mike starrt eine ganze Minute lang vom Sofa aus in Richtung Wohnungstür. Er hat null Lust, aufzustehen. Vielleicht geht derjenige ja wieder.

»Tür, Mikey«, sagt Rosie, während ihr Blick am Fernseher klebt.

Es klingelt noch mal.

Mom schreit aus dem hinteren Teil des Hauses: »Tü-hür, Michael!«, also rafft er sich schließlich doch seufzend auf.

Vor der Tür steht ein zierliches, schwarzhaariges Mädchen mit einem riesigen Lächeln und Armbändern bis hoch zu den Ellbogen. Ihre Wangen sind über und über mit Glitter bedeckt. »Hi!«, sagt sie, und: »Kann Rosie zum Spielen rauskommen?«

Mike kapiert nicht, wie die Wallace-Familie eine so seltsame Mischung von Nachwuchs zustande bringen konnte. Da ist zunächst mal Tim, dieser sportinfizierte Vollidiot, dann Serge, der bleichgesichtige, kellerasselige »artiste«, Lilith, die Mike noch nie auch nur ein Wort hat sprechen hören, jedenfalls in keiner ihm irgendwie verständlichen Sprache, und schließlich Teeny, die zwar wahrscheinlich gar nicht Teeny heißt, aber soweit Mike weiß von niemandem anders genannt wird.

Wie ein verliebter Welpe schmachtet Teeny Wallace Rosie in unerfüllter Sehnsucht an. Es ist mehr als offensichtlich, dass Rosie im Grunde gar nichts mit ihr anfangen kann. Die beiden haben eigentlich nichts gemeinsam und scheinen trotzdem – vielleicht auch aus diesem Grund – unzertrennlich zu sein.

»Rosie sieht sich gerade einen Film an«, sagt Mike und wartet ab, ob Teeny sich selbst einlädt oder nicht. Beides ist möglich.

Sie zappelt auf der Türschwelle herum, einen in glänzenden Mary-Jane-Sandalen steckenden Fuß auf den anderen gestellt, während ihre rechte Hand abwesend mit dem Saum ihres pinkfarbenen Rocks spielt.

Mike sucht indessen verstohlen den Vorgarten nach Hinweisen auf die Anwesenheit von Tim Wallace ab. Die Wallaces wohnen nur vier Häuser weiter die Straße runter, und theoretisch wäre es möglich, dass er seine kleine Schwester vorschickt, um Mike aus dem Haus zu locken und ihn dann mal wieder ordentlich zu vermöbeln, so wie früher. Nicht, dass das heute immer noch sein Stil wäre … Wallace ist offenbar inzwischen viel zu nett geworden, um ihm immer noch die Scheiße aus dem Leib zu prügeln. Aber Mike traut dem Frieden nicht. Er bezweifelt, dass Wallace sich so sehr ändern kann. Viel wahrscheinlicher ist doch wohl, dass er einfach nur auf den richtigen Moment wartet. Jedenfalls ist das Mikes Befürchtung. Das Ganze ist zwar schon ein paar Jahre her, aber egal: Er bleibt lieber auf der Hut. In letzter Zeit hat Wallace ihn viel häufiger angelächelt als früher – vielleicht sieht er ja bereits die perfekte Gelegenheit kommen und freut sich darauf, ihm endlich mal wieder so richtig das Fell über die Ohren zu ziehen.

Teeny seufzt schließlich aus tiefstem Herzen und sagt: »Okay«, bleibt aber dann einfach vor ihm stehen und starrt ihn mit ihren riesigen Tierbabyaugen an. Sie ist einfach bezaubernd. Unfassbar, dass sie wirklich mit Wallace verwandt ist.

»Na, dann komm doch rein«, sagt Mike, tritt zur Seite und winkt sie durch ins Wohnzimmer.

Rosie bemerkt Teeny kaum, macht ihr aber wie ferngesteuert ein bisschen Platz, als sie sich neben ihr auf den Teppich fallen lässt.

Mike atmet tief durch. Für einen Moment ist Ruhe, aber er weiß genau: Früher oder später wird Teeny anfangen zu quengeln – dass sie Vater-Mutter-Kind, Bäckerei oder Candyland spielen will, und Rosie wird Nein sagen. Und dann werden sie sich streiten und ankreischen, mit allem, was dazugehört, Tränen und so. Rosie wird dann wutentbrannt die Treppe hinaufstampfen und die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich zuknallen, und Teeny wird beleidigt nach Hause abziehen, und eine Stunde später mit einem kompletten Malblock voller selbst gemalter Es-tut-mir-ja-so-leid-Zeichnungen zurückkommen, die – da ist sich Mike ziemlich sicher – Kätzchen und Teddybären und Entchen darstellen sollen, im Grunde aber alle aussehen wie Drachen und seltsamer Käse. Das Ganze passiert genau so mindestens einmal pro Woche.

Doch bevor auch nur irgendetwas dieser Art ins Rollen kommt, kriegt er eine SMS von Cam: probe @ meckles.

Mike steckt kurz den Kopf zu seiner Mutter ins Büro rein, um ihr zu sagen, dass er jetzt abhaut. Dann macht er sich auf den Weg zu seinen Freunden.

 

Er fährt mit dem Auto seiner Mom zu Meckles hinüber. Da sie hauptsächlich von zu Hause aus arbeitet, ist es bequemer, einfach ihr Auto zu nehmen – zumindest für die wenigen Male, die er Omar oder Cam nicht dazu bringen kann, ihn abzuholen –, als eine halbe Ewigkeit auf ein eigenes Auto zu sparen.

Die Bandprobe findet immer in Meckles’ Keller statt. Früher haben sie immer in Meckles’ Garage geprobt, aber nach einiger Zeit ist sein Vater total angepisst darüber gewesen, dass er nie sein Auto darin abstellen konnte, also siedelten sie um – sie sind ja flexibel. Mike ist sich nicht sicher, ob Meckles’ Vater begeistert davon ist, dass sie jetzt direkt unter der Küche spielen, aber das Einzige, worüber er sich beklagt, ist, wenn sie Gläser und Getränke auf dem Filz seines Billardtisches stehen lassen.

Mike begrüßt Meckles’ Mutter, als er durch die Hintertür ins Haus geht, und stiehlt sich dann hinunter in den Keller, den schweren Gitarrenkoffer über der Schulter.

»Hey«, sagt er, am Ende der Treppe angekommen. Es ist feucht und stickig hier unten und riecht nach Käsefüßen und Hintern.

Jason liegt zusammengefaltet auf dem Boden und spielt mit irgendetwas hinten an seinem Keyboard herum. Meckles zählt gedankenverloren einen Rhythmus auf seiner Snare Drum aus. Cam, der ein weißes Cap trägt, das seine blonden Locken im Zaum hält, liegt ausgestreckt auf dem schmuddeligen, durchgesessenen Sofa und singt irgendetwas von Bon Jovi vor sich hin.

»Sagt mal, wollen wir heute wirklich proben, oder habt ihr mich nur angerufen, damit wir hier rumhängen?«, fragt Mike. Er stellt seinen Gitarrenkoffer auf Cams Bauch ab, der ihm daraufhin einen düsteren Blick zuwirft. »Und wo ist Omar?«

»Hier.«

Mike beugt sich hinunter, um einen Blick unter den Billardtisch zu werfen. Omar liegt da ausgestreckt auf dem Boden, den Bass auf dem Bauch, und winkt ihm zu.

»Also …«, sagt Mike, als er sich wieder aufrichtet. »Abhängen, ja? Meinetwegen. Auch gut.«

Cam verdreht die Augen. »Mensch, Alter, bau doch einfach nur deinen Scheiß auf.«

Omar schiebt sich unter dem Tisch hervor und steht auf. Er legt sich den Bassgurt über die Schulter und wirft Mike einen vielsagenden Blick zu, so als hätte er selbst nicht gerade Unmengen von Zeit damit vergeudet, an die Unterseite eines Billardtisches zu starren.

Mike ist noch nie besonders erfolgreich darin gewesen, Omar etwas entgegenzusetzen, also seufzt er nur und fängt an, die Verstärker von der hinteren Wand zu zerren und ihre Kabel auszurollen.

»Oh, hey, checkt das mal«, sagt Cam und setzt sich auf, »ich hab einen krassen Namen für uns.«

»Ich bin auf jeden Fall gegen alles mit Wörtern wie ›Vollhonk‹ oder ›Pussylecker‹ drin …«, sagt Omar abwesend. Er fummelt an seinem Bass herum und summt leise vor sich hin.

Cam guckt enttäuscht. Er ist wirklich total berechenbar.

Mike dreht sich zu Meckles um und sagt: »Alter, echt jetzt?«, denn Cam hat tatsächlich eine echte, total coole Freundin – und Mike kann sich nicht erklären, wie das überhaupt möglich ist. »Mit so was lässt du deine Schwester ausgehen?«

»Ich lasse Deanna überhaupt nichts tun«, sagt Meckles beleidigt. »Hast du sie dir mal angesehen?«