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IN DIESER AUSGABE

Person und Gesellschaft

Die gefühlte Epidemie

Laut Statistik der Krankenkassen steigt die Zahl der psychischen Störungen seit Jahren. Das könnte vor allem am wachsenden Bewusstsein von Ärzten und Betroffenen liegen.

Von Christian Wolf

Elf Mythen über Burnout

Über das Burnout-Syndrom kursieren viele vermeintliche Wahrheiten. Manches stimmt tatsächlich, anderes hält einer Überprüfung nicht stand – und einiges ist bis heute ungeklärt.

Von Martin Melchers und Thomas Plieger

Diagnose und biologische Grundlagen

Eine scheinbare Pandemie

Hinter den meisten Fällen von Burnout verbergen sich schwere psychische Erkrankungen wie Depression oder Angststörungen.

Von Peter Falkai

Seelische Abwehrkraft

Das Immunsystem beeinflusst unseren Umgang mit Stress.

Von Anna von Hopffgarten

Interview
»Freunde sind wichtiger als die Ernährung«

Der Psychosomatiker Peter Henningsen weiß, wie fein Körper und Geist miteinander verdrahtet sind.

Gene, Geist und Gehirn

Welche Rolle Erbfaktoren für unser Seelenleben spielen, untersucht die Psychogenetik.

Von Andreas Jahn

Spurensuche im Erbgut

Burnout gilt als Folge von Stress. Aber auch die Gene entscheiden mit darüber, wer an Burnout erkrankt und wer nicht.

Von Martin Reuter

Verkappte Gefahr

Chronischer Stress verkürzt die Telomere, die Schutzkappen unserer Chromosomen.

Von Elizabeth Blackburn und Elissa Epel

Ins Erbgut eingebrannt

Traumatische Kindheitserfahrungen schlagen sich in epigenetischen Veränderungen nieder und schwächen so die Stressresistenz.

Von Eric Nestler

Was uns Mäuse über Depressionen lehren

Tierexperimente können dazu beitragen, psychische Krankheiten besser zu verstehen und zu behandeln.

Von Peter Gass

Infografik
Wie Stress auf das Gehirn wirkt

Was passiert in unserem Denkorgan bei starker Arbeitsbelastung?

Therapie, Prävention und Berufswelt

Behandlung nach Maß

Die Ursachen von Depression und Burnout sind vielfältig. Mit neurobiologischen Erkenntnissen lassen sich verschiedene Patientengruppen definieren. Dies ebnet den Weg zur individualisierten Medizin.

Von Martin Keck und Florian Holsboer

Interview
»Psychische Störungen sind Hirnerkrankungen«

Die Vision einer personalisierten Seelenheilkunde ist eng verknüpft mit dem Namen Florian Holsboer.

Wie viel Perfektionismus darf es sein?

Wer allzu hohe Ansprüche an die eigene Leistung stellt, entwickelt eher psychische Probleme bis hin zum Burnout. Was steckt dahinter, und wie kann man sich davor schützen?

Von Christine Altstötter-Gleich

Mäßigt euch!

Betriebe haben es in der Hand, das Burnout-Risiko ihrer Mitarbeiter zu mindern. Hier helfen vor allem: Vernunft und Achtsamkeit.

Von Antje Ducki

Interview
»Oft bleibt keine andere Wahl, als einen Schlussstrich zu ziehen«

Der Psychologe Josef Schwickerath schildert, wie er Mobbingopfer dabei unterstützt, ins Arbeitsleben zurückzufinden.

 

Editorial

Impressum

Hirschhausens Hirnschmalz

Auf die Stirn geschrieben

 

 

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EDITORIAL

Ausgebrannt

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Andreas Jahn
Ressortleiter Medizin
jahn@spektrum.de

Am Esstisch brach er zusammen. Geistesgegenwärtig alarmierte seine Frau sofort den Notarzt; fassungslos stand die kleine Tochter daneben.

Es folgten zwei Wochen künstliches Koma, während derer die Familie bangte: Wird er je wieder aufwachen? Und wenn ja, mit welchen Perspektiven?

»Da bin ich noch einmal davongekommen«, erzählte mein alter Schulfreund mir später. Was genau ihm vor einem Jahr passiert ist, haben die Ärzte noch nicht herausgefunden. Klar ist, dass der Stress auf der Arbeit ihm schon seit Jahren arg zugesetzt hatte. Nach einer längeren Krankschreibung wegen Burnout im Jahr zuvor hatte er es noch einmal in seinem Job versucht – bis der Zusammenbruch ihm erneut seine Grenzen aufzeigte.

Burnout scheint ein Phänomen der modernen Arbeitswelt zu sein. Doch ist das wirklich so? Nein, meint der Münchener Psychiater Peter Falkai. Ende des 19. Jahrhunderts gab es schon einmal ein Nervenleiden, das epidemisch um sich griff und mit ganz ähnlichen Symptomen wie Burnout einherging. Damals sprach man von »Neurasthenie«.

Falkai gehört zu den Experten, die sich am 13. Mai 2015 zum 19. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung trafen, um über die mutmaßliche Volkskrankheit zu diskutieren. Das vorliegende Dossier bündelt die wichtigsten Vorträge dieser Veranstaltung und ergänzt sie durch weitere ausgewählte Artikel zum Thema psychische Belastung, Stress und Depression aus »Gehirn&Geist«.

Was Burnout überhaupt ist, darüber streiten Wissenschaftler noch immer. Denn in den üblichen Klassifikationssystemen der Mediziner gibt es die Diagnose »Burnout« nicht. Die meisten Ärzte betrachten das Syndrom als Vorstufe einer Depression. Andererseits gibt es Erkenntnisse aus der Genetik, die sehr wohl eine Unterscheidung zwischen den beiden Leiden nahelegen, betont der Bonner Psychologe Martin Reuter.

Weil eine anerkannte Diagnose fehlt, kann die Behandlung von Burnout nicht mit den Krankenkassen abgerechnet werden. Ärzte sind also gezwungen, ihren Patienten eine passende psychische Erkrankung zuzuschreiben. Ob die daraus resultierende Therapie dem jeweiligen Betroffenen hilft, steht auf einem anderen Blatt.

Vielleicht wäre es an der Zeit, unser Verhältnis zur Arbeit zu hinterfragen. Wir müssen für den Chef nicht ständig erreichbar sein. Und das gilt nicht nur fürs Berufsleben: Der klassische Freizeitstress zwischen Fußballverein hier und Klavierstunde dort – dem sogar schon Kinder ausgesetzt sind – tut nicht gut. Wir brauchen ab und zu auch Muße und seliges Nichtstun. Mein Freund wird seinen stressigen Job übrigens aufgeben.

Eine geruhsame Lektüre wünscht Ihr

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Die gefühlte Epidemie

EPIDEMIOLOGIE Die Zahl der Menschen mit psychischen Störungen scheint stetig zuzunehmen. Doch das könnte vor allem am wachsenden Bewusstsein von Ärzten und Betroffenen liegen.

VON CHRISTIAN WOLF

UNSER AUTOR

Christian Wolf ist promovierter Philosoph und Wissenschaftsjournalist in Berlin.

Auf einen Blick: Umstrittener Zuwachs

1 Die Zahl der dokumentierten Diagnosen und Arbeitsausfälle auf Grund psychischer Störungen steigt seit Jahren kontinuierlich.

2 Die Krankenstatistik spiegelt allerdings nicht die wahre Verbreitung seelischer Leiden wider, die laut Experten immer noch zu oft unerkannt bleiben.

3 Insgesamt scheint eher die gestiegene Akzeptanz und Aufmerksamkeit für Seelenleiden für die Zunahme der Diagnosen verantwortlich zu sein.

Seit Jahren schallt es durch die Medien: Psychische Störungen sind auf dem Vormarsch! Manchmal ist gar von einer neuen Epidemie die Rede. Vor allem »Modekrankheiten« wie Burnout oder ADHS scheinen sich dramatisch auszubreiten. Schlagen der wachsende Stress und die Komplexität des modernen Lebens immer mehr Menschen aufs Gemüt? Oder haben psychische Erkrankungen in Wahrheit gar nicht zugenommen, sondern werden nur häufiger erkannt?

Die Fakten sprechen zunächst einmal für sich: Deutschlands Krankenkassen verzeichnen seit Mitte der 1990er Jahre immer mehr Fälle von Arbeitsunfähigkeit wegen seelischer Leiden unter ihren Mitgliedern – entgegen dem allgemeinen Trend zu sinkenden Fehlzeiten. Arbeitsausfälle auf Grund psychischer Störungen stiegen in Deutschland seit 2001 um gut 50 Prozent, die damit verbundenen Fehlzeiten sogar um mehr als 60 Prozent. Zu diesem Ergebnis kam das Wissenschaftliche Institut der AOK 2013.

»In den letzten Jahren wird das Gesundheitssystem verstärkt wegen psychischer Störungen in Anspruch genommen«, betont der Verhaltenstherapeut Frank Jacobi von der Psychologischen Hochschule Berlin. »Und zwar nicht nur bei Spezialisten wie Psychiatern und Psychotherapeuten, sondern auch bei Hausärzten.« Doch wuchs vielleicht nur die Zahl der dokumentierten Störungen – oder steckt tatsächlich eine echte Zunahme von psychischen Problemen in der Bevölkerung dahinter?

Sicher ist: Psychische Störungen sind weiter verbreitet als lange Zeit angenommen. Dies ergaben repräsentative epidemiologische Studien der vergangenen 20 Jahre, welche die »Prävalenz« erhoben, also die Häufigkeit von Diagnosen. Ein Team um Frank Jacobi und Hans-Ulrich Wittchen von der TU Dresden veröffentlichte 2011 eine groß angelegte Untersuchung, laut der rund jeder dritte EU-Bürger mindestens einmal im Jahr an einer psychischen Erkrankung leidet. Das Risiko, irgendwann im Lauf des Lebens betroffen zu sein, liegt bei schätzungsweise 50 Prozent. Zu den häufigsten Störungen zählen demnach Depressionen und Angstzustände, aber auch Süchte.

Frühere Studien und amtliche Statistiken ermittelten meist deutlich niedrigere Zahlen. Warum? Einerseits richteten Forscher ihr Augenmerk in der Vergangenheit oft nur auf einzelne Erkrankungen wie etwa Psychosen und Depressionen; heute dagegen berücksichtigen sie ein erheblich differenzierteres und breiteres Spektrum.

Außerdem bezog man früher häufig nur die Fälle mit ein, die eine entsprechende Behandlung erhielten. Dazu kommt es aber nur bei einem Teil der Betroffenen – und zwar meist erst Jahre nach Beginn der Störung. Die Zahl der Therapien spiegelt folglich nicht die tatsächliche Verbreitung der Störungen wider.

Heute greift man daher auf repräsentative Stichproben der Bevölkerung zurück. Dass Forscher die Zahl seelischer Leiden mittlerweile nach oben korrigierten, muss also nicht zwangsläufig eine »echte« Zunahme bedeuten.

Den Verdacht, seelische Leiden könnten sich dennoch epidemisch ausbreiten, legten zunächst so genannte Querschnittsstudien nahe. Hierbei fragen Forscher zu mehreren Zeitpunkten bei den gleichen Personen verschiedenen Alters Symptome für psychische Störungen ab, zum Beispiel: »Haben Sie in den letzten zwölf Monaten einmal an Suizid gedacht?« Dabei fanden sich keine großen Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Alterskohorten, und das, obwohl ältere Jahrgänge schon auf Grund der längeren Lebenszeit eher einmal eine psychische Störung entwickelt haben müssten. Entsprechend nahmen die Erkrankungsraten unter den Jüngeren offenbar zu.

Querschnittsuntersuchungen weisen allerdings ein methodisches Manko auf: Die geringen Prävalenzen bei älteren Befragten könnten auf einer verzerrten Erinnerung basieren. Wahrscheinlich vergessen Senioren Symptome eher, die sie in jungen Jahren hatten, und hinzu kommt ein kultureller Wandel. Besonders bei Männern war es wegen der Stigmatisierung psychischer Leiden früher kaum üblich, eine solche Diagnose in Betracht zu ziehen. Ältere Jahrgänge geben schon aus diesem Grund vermutlich weniger Symptome zu Protokoll als jüngere.

Um verlässliche Zahlen zu erhalten, müssen Forscher daher einen anderen Weg beschreiten. Zum Beispiel, indem sie die gleiche, repräsentative Stichprobe von Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt untersuchen – und zwar anhand der gleichen Diagnosekriterien. 2008 trug der Gesundheitsforscher Dirk Richter von der Fachhochschule Bern gemeinsam mit Kollegen genau solche Untersuchungen für eine Metaanalyse zusammen. 41 Studien genügten den strengen Kriterien. Sie stammten aus Nordamerika, Australien und Europa – darunter fünf aus Deutschland.

Manche Autoren waren auf eine Zunahme von seelischen Störungen gestoßen, andere hatten dagegen keine Veränderungen oder sogar einen Rückgang ausgemacht. Fazit: Es gebe keine eindeutigen Hinweise auf eine stetige Zunahme psychischer Störungen in westlichen Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg.

Zusammen mit dem Epidemiologen Klaus Berger vom Universitätsklinikum Münster gelangte Richter beim Sichten neuerer Studien 2013 zu ähnlichen Resultaten. Die Mehrzahl der Untersuchungen ergab keinen Anstieg seelischer Erkrankungen. Dafür sprechen auch andere, indirekte Hinweise: So sank die Suizidrate in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, und die Lebenszufriedenheit in Westeuropa und Nordamerika blieb relativ konstant.

»Wenn man sich über die letzten zehn Jahre hinweg anschaut, welche psychischen Störungen in der Bevölkerung auftreten, findet man insgesamt keine Zunahme«, bestätigt Frank Jacobi. »In unserer aktuellen Erhebung für Deutschland fällt lediglich auf, dass jüngere Menschen etwas mehr psychische Erkrankungen im Vergleich zu früher aufweisen. Auch scheint das Alter gesunken zu sein, in dem die Störungen zum ersten Mal diagnostiziert werden.«

Ein Sonderfall sind Demenzerkrankungen. Sie nahmen im Zuge des demografischen Wandels deutlich zu, und das, obwohl die betroffenen Menschen im Schnitt erst später entsprechende Symptome zeigen. Senioren zwischen 60 und 75 Jahren sind heute meist fitter, als es Menschen dieses Alters ehemals waren.

Weshalb steigt die Zahl der Diagnosen und Behandlungen psychischer Leiden augenscheinlich dennoch? Epidemiologen um Ronald Kessler von der Harvard Medical School fanden 2005 heraus, dass zwar die Zahl der Behandlungen innerhalb von gut zehn Jahren um 50 Prozent zugenommen hatte; die Häufigkeit der zu Grunde liegenden Erkrankungen war allerdings unverändert geblieben. Vermutlich, so eine Erklärung, sei das Bewusstsein für psychische Krankheiten gewachsen.

Dies legt auch eine Studie von Medizinern um Steffi Riedel-Heller von der Universität Leipzig nahe. Die Forscher befragten Probanden einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe dazu, was sie einem Menschen mit Schizophrenie oder Depressionen raten würden. Die meisten Interviewten empfahlen, professionelle Hilfe von Psychiatern oder Psychologen in Anspruch zu nehmen. Das mag selbstverständlich klingen, doch in früheren Befragungen hatten Interviewte eher dazu geraten, auf die Unterstützung einer engen Vertrauensperson oder einer Selbsthilfegruppe zu zählen. Wenn professionelle Hilfe überhaupt in Betracht gezogen wurde, schwebte den Befragten vielmehr der Hausarzt vor.

»Die Bereitschaft ist gewachsen, mit psychischen Problemen ärztliche Hilfe zu suchen«, sagt Frank Jacobi. »Psychische Störungen sind dadurch sichtbarer geworden.« Zudem lassen die Anforderungen der modernen Arbeitswelt seelische Leiden heute verstärkt zu Tage treten. So nehmen laut Statistiken der Krankenkassen die Arbeitsunfähigkeitstage besonders in der Dienstleistungsbranche zu. »Hier ist der Bedarf an Kommunikation deutlich größer als früher«, so Jacobi. »Viele Arbeitnehmer müssen Emotionsarbeit leisten, also etwa mit Kunden und Kollegen umgehen und stets positiv sein, selbst wenn ihnen gerade nicht danach zu Mute ist.« Diese Anforderungen könnten Menschen mit psychischen Störungen schwerer bewältigen, so dass ihre Probleme nicht so leicht verborgen bleiben. Entsprechend wachse der Bedarf an Rat und Hilfe.

Doch auch Mediziner – vor allem Hausärzte – sind offenbar sensibler für seelische Leiden geworden. »Psychische Störungen werden inzwischen häufiger erkannt und behandelt«, erklärt der Psychologe. »Während man früher wegen Rückenschmerzen oder anderer körperlicher Beschwerden vom Arzt krankgeschrieben wurde, werden psychische Störungen inzwischen eher beim Namen genannt.«

Das US-amerikanische Diagnosesystem DSM (kurz für: Diagnostic and Statistical Manual) sowie das Pendant der Weltgesundheitsorganisation, das ICD (International Statistical Classification of Diseases), erlauben es heute, psychische Störungen sehr differenziert zu erfassen. Mit jeder neuen Ausgabe sind mehr Krankheitsbilder hinzugekommen. Manche Fachleute sehen hierin ein Problem: Die immer längeren Störungskataloge könnten Ärzte dazu verleiten, mehr Diagnosen zu stellen – auch bei eigentlich gesunden Menschen.

Ein prominenter Vertreter dieser Ansicht ist der US-Psychiater Allen Frances. Unter seiner Federführung entstand 1994 die vierte Version des DSM. Pünktlich zur Veröffentlichung der umstrittenen fünften Auflage im Mai 2013 geißelte er die »Inflation der Störungen« im neuen DSM-5. Darin würden immer mehr »leichte Beschwerden« aufgenommen, die zumeist noch in den Bereich des »Normalen« fallen. So sei etwa unter dem Etikett »Soziale Phobie« banale Schüchternheit zur dritthäufigsten psychischen Störung in den USA avanciert.

Das Herabsetzen von diagnostischen Schwellen trage außerdem zur Flut der Seelenleiden bei: So galt etwa laut DSM-III ein Patient auch dann als gesund, wenn er ein Jahr lang um einen verstorbenen Angehörigen trauerte. Das DSM-IV empfahl Psychiatern, nur noch zwei Monate abzuwarten, bevor sie Traurigkeit, Schlaflosigkeit und Apathie als behandlungsbedürftige »komplizierte Trauer« einstuften. Das neue DSM-5 verkürzt diesen Zeitraum nun auf zwei Wochen.

»Die Grenze zwischen psychischer Störung und Normalität ist inzwischen derart verschwommen, dass man Menschen allzu leicht als Psychiatriepatienten abstempelt«, erklärt Frances. Und er streut Salz in eine alte Wunde: Psychiatrische Erkrankungen lassen sich nicht an objektiven, etwa neurobiologisch fundierten Testergebnissen festmachen; die Störungen werden vielmehr über Listen von Symptomen definiert. Liegen diese in bestimmter Kombination über einen Zeitraum X vor, kann ein Arzt die entsprechende Diagnose stellen. Was als krank oder gesund gilt, bleibt somit zu einem gewissen Grad willkürlich.

Laut Frances fördern Modekrankheiten die Diagnoseflut am stärksten. Schlagendes Beispiel ist für ihn die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Studien zufolge stieg die Zahl der Diagnosen in den letzten Jahren um mehrere hundert Prozent (siehe Gehirn&Geist 9/2012, S. 30). Frances hält das für den falschen Weg: »Heutzutage diagnostizieren wir Konzentrationsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten als psychische Störungen, die bis vor Kurzem noch zum Leben dazugehörten und individuelle Charaktereigenschaften waren.«

Tatsächlich nähren Studien den Verdacht, dass so manche Diagnose leichtfertig gestellt wird. 2012 berichtete ein Team um den Gesundheitsforscher Richard Morrow von der University of British Columbia (Kanada): Früh eingeschulte Kinder werden wesentlich eher als »Zappelphilippe« diagnostiziert als ihre später eingeschulten Klassenkameraden. Die Jüngsten eines Jahrgangs würden überdiagnostiziert. »Aus dem unreifen Kind wurde ein krankes, das medikamentös behandelt werden muss«, beklagt Frances.

Ob diese Interpretation trägt, lässt sich nicht ohne Weiteres sagen. Forscher um Katrin Bruchmüller von der Universität Basel befragten im Jahr 2012 mehr als 450 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten in Deutschland. Die Interviewten bekamen fiktive Fälle vorgelegt, zu denen sie eine Diagnose und Therapie vorschlagen sollten. Rund jeder sechste Therapeut diagnostizierte dabei ADHS sogar in Fällen, in denen die Diagnosekriterien nicht erfüllt waren. Deutlich seltener stellten die Befragten eine andere Diagnose, wenn eigentlich die Kriterien für ADHS erfüllt waren.

Außerdem diagnostizierten die Experten fälschlicherweise ADHS leichter, wenn in der Fallgeschichte von einem Jungen und nicht von einem Mädchen die Rede war – und zwar bei identischen Symptomen! Da sich Therapeuten bei ihrer Entscheidung auch auf Faustregeln verlassen, statt die Kriterien der Diagnosemanuale bis ins letzte Detail abzuprüfen, werde bei Jungen wohl oft vorschnell von ADHS ausgegangen.

Der Epidemiologe Ronald Kessler ist sogar davon überzeugt, dass die Hälfte aller in den USA wegen seelischer Leiden Behandelten keine psychische Störung nach dem DSM aufweist. Gleichzeitig erhalte nur ein kleiner Teil tatsächlich Betroffener eine adäquate Behandlung. Frank Jacobi gibt zu bedenken, dass Überdiagnostizierung in der Praxis weit weniger vorkomme als Unterversorgung. Seelische Leiden würden in Deutschland immer noch zu selten diagnostiziert und angemessen therapiert. Um das langfristig zu ändern, helfe nur die Einsicht: »Psychische Störungen gehören zum Leben dazu!«

 

Laut dem »Fehlzeiten-Report 2013« der AOK ging jeder zehnte Arbeitsausfall unter den gesetzlich Versicherten auf das Konto psychischer Störungen, knapp die Hälfte davon wegen Depressionen oder Burnout.

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QUELLEN

Richter, D., Berger, K.: Nehmen psychische Störungen zu? Update einer systematischen Übersicht über wiederholte Querschnittsstudien. In: Psychiatrische Praxis 40, S. 176–182, 2013

Wittchen, H.-U. et al.: The Size and Burden of Mental Disorders and Other Disorders of the Brain in Europe 2010. In: European Neuropsychopharmacology 21, S. 655–679, 2011

Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1281556

Elf Mythen über Burnout

FAKTENCHECK Über das Burnout-Syndrom kursieren viele Wahrheiten. Doch etliche halten einer Prüfung nicht stand.

VON MARTIN MELCHERS UND THOMAS PLIEGER

UNSERE EXPERTEN

Martin Melchers und Thomas Plieger sind Psychologen und promovieren in der Abteilung Differentielle und Biologische Psychologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Beide forschen an den neurobiologischen Grundlagen des Burnout-Syndroms.

Auf einen Blick: Soziodemografie des Burnout

1 Burnout gilt als ein junges Phänomen unserer Arbeitswelt – dabei ist das Syndrom bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts bekannt. Einige Mediziner betrachten es als Vorstufe der Depression.

2 Geschlecht, Alter, familiäre Bindungen und Persönlichkeitseigenschaften tragen in unterschiedlichem Maß zum Burnout-Risiko bei.

3 Traumatische Erlebnisse erhöhen das Depressionsrisiko – für Burnout ist ein solcher Zusammenhang aber nicht nachgewiesen.

»Burnout ist wie Pornografie – ich bin nicht sicher, ob ich es definieren kann, aber wenn ich es sehe, weiß ich, was es ist«, brachte scherzhaft Richard Bolles, US-amerikanischer Geistlicher und Autor von Ratgeberbüchern für das Berufsleben, seine Wahrnehmung auf den Punkt. Tatsächlich ist Burnout in aller Munde; jeder hat eine gewisse Vorstellung davon, was sich hinter dem Begriff verbirgt. Doch vieles, was wir darüber zu wissen glauben, gehört ins Reich der Mythen. Welche Annahmen zum Thema Burnout sind wirklich fundiert – und wo handelt es sich um Irrtümer?

 

1. Burnout ist ein Phänomen unserer Zeit

Ein weltbekannter Architekt sieht plötzlich keinen Sinn mehr in seiner künstlerischen Arbeit und den Freuden seines Lebens. Er beschließt, seine Karriere an den Nagel zu hängen und Europa den Rücken zu kehren, um in einem Leprakrankenhaus in Afrika zu arbeiten. Dort blüht er regelrecht auf. Davon handelt, kurz gesagt, der Roman »A Burnt-Out Case« des britischen Schriftstellers Graham Greene (1904–1991). Das Buch stammt aus dem Jahr 1960.

Burnout wird heute als Epidemie wahrgenommen, doch das Phänomen ist längst nicht so jung, wie man glauben mag (siehe Artikel). Bereits Mitte des 20. Jahrhunderts begannen Wissenschaftler sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Als Pioniere der Forschung in diesem Feld gelten der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Herbert Freudenberger (1926–1999) sowie die US-amerikanische Sozialpsychologin Christina Maslach, die 1974 beziehungsweise 1976 erste wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Syndrom veröffentlichten. Aus dieser Zeit stammt auch die ursprüngliche Bezeichnung »Staff Burnout«. Freudenberger fasste darunter die Beschwerden zusammen, die er bei überforderten und überlasteten Angestellten in Sozial- und Pflegeberufen beobachtete.

Freudenberger, H. J.: Staff Burn-Out. In: Journal
of Social Issues 30, S. 159–165, 1974;
Greene, G.: A Burnt-Out
Case. Heinemann, London 1960 (deutsch: Ein ausgebrannter
Fall. dtv, München 2000); Maslach, C.: Burned-out.
In: Human Behavior 5, S. 16-22, 1976

2. Burnout ist eine eigenständige Diagnose

Die am weitesten verbreitete Definition des Burnout-Syndroms stammt von Wissenschaftlern um Christina Maslach. Sie formulierten 1996 drei Kernsymptome: emotionale Erschöpfung, eine subjektiv empfundene verminderte Leistungsfähigkeit oder Wirkungslosigkeit sowie Depersonalisierung, also einen Zustand, in dem sich Betroffene als leblos oder unwirklich empfinden, so dass Körper und Geist wie voneinander losgelöst erscheinen. Dieses Gefühl kann sich auch gegen Mitmenschen oder die Arbeit richten: Man distanziert sich zunehmend von Job und Kollegen oder beginnt diese durch eine zynische Haltung abzuwerten (siehe »Woran kann man Burnout erkennen?«).