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SHUMONA SINHA

KALKUTTA

ROMAN

AUS DEM FRANZÖSISCHEN

ÜBERSETZT

VON LENA MÜLLER

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Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel Calcutta bei Editions de l’Olivier, Paris 2014.

Dieses Werk wurde mit Unterstützung des französischen

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Die Arbeit der Übersetzerin wurde durch ein Elmar-Tophoven-Stipendium der DVA-Stiftung und des Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Guillaume Apollinaire wurde zitiert nach: Guillaume Apollinaire,

Ein Glossar am Ende des Buchs erklärt einige lokal gebräuchliche Begriffe, die sich durch den Text ziehen.

Edition Nautilus GmbH · Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg

Inhalt

Die rote Bettdecke

Der Riesenhibiskus

Die Monsunkröte

Das Versenken der Göttin

Kerzen, die von beiden Enden abbrennen

Kashtanka

Die Schlangen in der Asche

Mensch und Opium

Die heiligen Affen

Annapurna und der Zentaur-Fürst

Ashanti

Die Menschen sind einsame Kakteen

Die Traumwirren

Kalte Pflanzen

Glossar

Mein Vater ist erhängt am Stern,

die Mutter gleitet mit dem Fluss

Edmond Jabès

Ins Feuer das ich trag und ehr

Warf ich – wie flammt es hoch und edel –

Mit raschen Händen fast verzehrt

Dies Gestern diese Totenschädel

Flamme ich tue dein Begehr

Guillaume Apollinaire

Am Schluss schiebt jemand die Asche mit einem Stock auseinander und zeigt mir eine Blume, verdorrt, runzelig, hautfarben. Man sagt mir, dass es sich um den Bauchnabel meines Vaters handelt. Sie darf nicht gepflückt werden, sie muss in der Asche bleiben, mit ihrem kurzen Stiel und ihrer bizarren Blütenkrone.

Einige Stunden zuvor habe ich die weitläufigen Hallen und die nach Krankenhaus riechenden Gänge des Flughafens durchquert. Derselbe Geruch von Desinfektionsmitteln, derselbe unangenehme Eindruck von Sauberkeit. Große Tonfresken mit Szenen aus dem Mahabharata zieren die Wände. In den Schaufenstern der Duty-Free-Shops sind kleine Figuren aus Elfenbein und Sandelholz aufgereiht. Hier und da gießen Statuetten von Tänzerinnen mit beeindruckenden Rundungen Kunstblumen. Eine Menschenmenge wartet am Ausgang. Wie tausend flinke Fischchen im schwarzen Wasser tauchen begierige Augen aus der undurchdringlichen Menge auf. Es ist nicht klar, ob die Leute auf ihre Familien, ihre Bekannten, ihre Freunde oder auf potenzielle Kunden für ihr Taxi oder Hotel warten. Sie klammern sich an die Metallgeländer, die wie Barrikaden zwischen ihnen und dem Flughafen errichtet wurden. Verstört und von der glühenden Sonne verbrannt, recken sie sich den Ankommenden entgegen, ihresgleichen, die müde und benommen von sonstwo zurückkehren. Vielleicht beneiden sie sie um ihre Müdigkeit und ihre Benommenheit, die sie geheimnisvoll erscheinen lassen. Sie haben eine Art Aura um sich, aus Staub, aus Schweiß, aus einer anderen Zeit, anderen Städten, anderen Ländern, anderen Kontinenten.

Meine Freundinnen aus der Kindheit holen mich ab. Kalkutta schmilzt in der Sonne wie ein schmutziges Eis. Auf der Straße sind nur die unterwegs, die offensichtlich keine andere Wahl haben. Sie lungern herum, rennen, schreien und schimpfen. Das Leben ist auf dem Gehsteig ausgebreitet. Die Bäume scheinen den Atem anzuhalten. Die Schnellrestaurants vor dem Flughafen haben die Rollläden heruntergelassen. Auf den weiten Feldern entlang der Autobahn reihen sich Neubauten wie aus Lego in endloser Folge aneinander. Aus dem sumpfigen Boden ragen riesige Tafeln, die unterschiedslos für Mobiltelefone, Computer, das Durga-Fest und Aidsprävention werben … Das weiße Auto, der alte Ambassador, gleitet durch den Verkehr. Zu meinem Vater, zu seinem Bambusbett, zu seiner Asche.

Am Ende der Reise: das Feuer. Kleine Flammen. Große Flammen. Hungrige, gierige und dennoch ruhige Flammen. Als wüssten sie, dass es unwiderruflich ist, unabänderlich. Als wüssten sie, dass unter ihrer Berührung nichts ist und nichts sein kann, dass unter ihrer Berührung der Körper zu Asche zerfällt. Die Rippen werden ihre Form behalten, krumm wie ein Geisterschiff, aber bei der ersten Berührung werden auch sie zu Staub zerfallen, Staub zu Staub, der Wind wird ihn davontragen. Nach dem Tod meines Vaters wird mir auch die Erinnerung an meinen Vater genommen werden, die Erinnerung an seinen unversehrten Körper, jede Vorstellung von seinem Leben wird mir genommen werden. Der Priester des Krematoriums wird meinen toten Vater noch einmal töten, seinen Körper auslöschen, ihn rauben, ihn plündern, ihn verschwinden lassen. Ich werde mich aufrecht halten, vor meinen Füßen mein Vater, Asche, Staub, Nichts.

Ich sitze im alten weißen Ambassador zwischen meinen beiden Freundinnen aus der Kindheit und antworte auf ihre gut gemeinten Fragen. Das Beruhigungsmittel, das ich im Flugzeug genommen habe, zieht mir den Boden unter den Füßen weg, ich fühle mich, als schwebte ich in der Luft, von allem abgeschnitten, wie in Luftpolsterfolie und Watte gepackt. Ich sehe die Welt durch dichte Filter, ich sehe, wie ich rede, handele, atme, ja atme und weiterlebe.

Der Körper meines Vaters liegt auf einem Bett aus Bambus. Ich gieße ein wenig zerstoßenen Reis mit Milch in seinen violetten, schmerzverzerrten Mund. Ich gieße Wasser hinterher. Sein Körper in einem neuen weißen Gewand aus billigem Stoff, sein Körper unter einer Decke aus weißen Blüten nimmt die Wassertropfen auf, im langsamen, gellenden Rhythmus der Mantras des Priesters verfliegt der Duft von Sandelholz auf seiner Brust. Ich verneige mich und beuge meinen Oberkörper waagerecht nach vorne. Ich begegne seinem starren Blick unter den schweren Augenlidern, ein blau-schwarzer, verdichteter, versteinerter Blick, als hätte man seine Augen mit Tinte versiegelt. Sein Tintenblick, sein Kummerblick verfolgt mich. Ich versuche zu erraten, ob er bis zuletzt Schmerzen hatte, ob es ihn schmerzte, uns zu verlassen, ob er an mich dachte, ob es ihn schmerzte, zu sterben, ohne mich wiederzusehen. Ob es ihn geschmerzt hätte zu sehen, wie an ihm jene religiösen Riten vollzogen werden, die er sein ganzes Leben lang abgelehnt hat. Seine Genossen, ein paar Bezirksvorsitzende sind gekommen. Niemand stört sich an dem Priester und seinen Mantras, seinen Räucherstäbchen mit dem schweren Duft und seinen mit Sindur bedeckten Tongefäßen. Niemand hat mich um meine Meinung zur Erweisung der letzten Ehre gebeten, ich bin zwei Tage nach seinem Tod angekommen, schon während der Trauerfeierlichkeiten, organisiert von unseren treuen Nachbarn, die aus Rücksicht auf mich auch seinen Leichnam auf einen Block Eis gelegt hatten.

Diese Augen wie die eines toten Vogels, diese tintenblauen Augen werden mich den ganzen Tag verfolgen. In der Luft, in der Leere werden tausend Augen auftauchen, tausend Tintenflecken werden den weißen Sommertag überziehen.

Aber zunächst umkreise ich seinen Leichnam im Rhythmus der Mantras, umkreise die Geschichte eines Lebens, das meines Vaters. Dann wird eine Fackel angezündet. Das Feuer muss an seinen Mund geführt werden, zum Ursprung der Dinge und der Worte, bevor der Körper ganz in die Brennkammer geschoben und der eiserne Vorhang hinuntergelassen wird.

Die Macht der Worte kennt keine Grenzen, keine Schwachstelle, sie beherrscht die Dinge, die Tatsachen, unsere Vorstellungen und unsere Gefühle. Manchmal aber dienen Worte auch dazu, das Schweigen hörbar zu machen, es einzufassen wie ein Mäuerchen einen Brunnen. In diesem umgrenzten Raum wird das Schweigen unendlich, unermesslich.

Nach der Einäscherung boten die Freundinnen mir an, bei ihnen zu übernachten. Ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund, Müdigkeit oder Trägheit, ich ihre Einladung ausgeschlagen habe. Obwohl ich mich seit Jahren geweigert habe, in diese Stadt, in diese Wohnung zurückzukehren, überlasse ich mich ihr jetzt, wo ich dort bin, ganz und gar und verliere mich in ihrem Bauch. Ich ertrinke in ihrem Schweigen.

Auch wenn ich es mir nicht eingestehen will, hat es mir gutgetan, Paris zu verlassen. Der Tod meines Vaters hat mich aus dem Chaos gerettet, in das mein Leben in der letzten Zeit versunken ist. Der Mann, mit dem ich mich traf, war und blieb mir ein Rätsel. Ich wusste nicht, wo er wohnte, wo er arbeitete, ob er arbeitete, ob er alleine lebte oder mit jemandem zusammen war, ob er hin und wieder ausbrechen musste. Er wirkte auf mich wie ein Mann im freien Fall, der in mir die perfekte Verbündete gefunden hatte. Sein Sturz schien mir endlos. Mit ihm verstand ich, dass die Nacktheit nicht nackt ist, dass sie vielleicht der beste Weg ist, sich zu verstecken, zu verbergen, zu entziehen. Meine Liebe für ihn war anders als alles, was ich bis dahin gekannt hatte. Jede unserer Verabredungen ließ mich verstörter, durstiger, unsicherer zurück. Er weckte in mir einen unbekannten Zorn, einen ungekannten Rausch. Ich hatte den Eindruck, dass ich aus Liebe zu ihm scharfkantige Ringe tragen und in üblen Bars Leute zusammenschlagen könnte.

Der Tod meines Vaters hat mich aus diesem endlosen Tunnel geholt, und nun nehme ich die Welt um mich herum wieder wahr. Das leere Haus tut mir gut, jedes Möbelstück ist ein Grab aus Schweigen, in dessen feinen Rissen ich Tierchen vermute, die, von meinen Schritten überrascht, Reißaus nehmen.

Durch meine geschlossenen Augen sehe ich einen weißen Stapel. Blaue und weiße Zigarettenschachteln. Vater rauchte, und ich baute aus den leeren Schachteln Burgen. Ich sehe zu, wie milchiger Winternebel das Haus verschluckt. Durch seinen Schleier höre ich ein sanftes Läuten. Dann sehe ich, wie sich lange, spitze Hörner durch den Schleier bohren. Es ist eine dicke Kuh, sie hat eine schmale Schnauze und dünne Beine, aber ihr Rücken und ihr Hinterteil sind breit. Sie wiegt den Kopf, und die Glocke um ihren Hals rührt behutsam im morgendlichen Nebel. Vater und ich gehen auf die Benaresstraße und kaufen Gewürztee mit dickflüssiger Milch. Der Verkäufer gießt den mehrfach aufgekochten Sud von einem Kupferbecher in einen anderen und dann wieder zurück. Die Leute, die Arbeiter und Händler, hocken um ihn herum und schauen zu. Die Ghats von Benares riechen plötzlich nach Rauch.

Ich bin alleine auf dem Gehsteig, keine Kuh, kein Tee, keine Hörner, keine Glocke mehr. Ich bin allein mit einer verdorrten, runzeligen, hautfarbenen Blume in meiner Hand. Ich halte sie am Stiel und drehe sie. Kann sie denn tot sein, diese unzerstörbare Blume, die Illusion von Unendlichkeit, das unvergängliche Band mit dem Leben, mit mir?

Nachts im Schlaf spüre ich, wie Hitze waagerecht aus meinem Bauchnabel aufsteigt. Kurz vor dem Ausbruch. Ein Spalt, der sich mit rotem und gelbem Feuer füllt. Wie die verbrannte Haut eines mit Lava bedeckten Tals, an dessen Sohle das Feuer grollt. Ich stehe aufrecht, ich spreche. Mit einer Kerbe voll Feuer in meinem Bauch. Mit einer Blume aus Fleisch und Asche, die aufblüht und den Himmel überwuchert.

Ich schrecke hoch. Und mir fällt ein, dass ich meine Mutter seit meiner Ankunft weder angerufen noch besucht habe. Sie ist nicht zum Krematorium gekommen. Die Vorstellung, zu ihren Eltern zu gehen, deprimiert mich. In letzter Zeit hatten ihre Briefe einen ruhigeren, klareren Eindruck auf mich gemacht. Aber das geschriebene Wort verrät nicht immer die dahinter verborgene Unruhe. Ich hatte Angst, dass ihre scheinbare Ruhe nur eine List war, um mich anzulocken. Ich hatte Angst vor meiner Mutter, ich hatte Angst vor dem, was man ihren Wahnsinn nannte.

Die rote Bettdecke

Vom Flugzeugfenster aus erscheint Kalkutta ihr kompakt und eng, langsam wie eine Pythonschlange, die nicht verdauen kann, was sie gefressen hat. Beim Aussteigen fühlt Trisha sich benommen von den Geräuschen, dem Lärm der Stadt. Der Flughafenzubringer befördert sie an Baustellen vorbei ins Herz der Metropole, wo aus glänzenden, bienenstockartigen Shopping Malls das Geld wie Honig quillt und die berauschten Menschen anlockt. Es scheint, als würde sich eine neue Stadt in der alten breitmachen, in der grauen, staubigen, die noch ihre leprösen Mauern und ihre grünen, schief in den Angeln hängenden Fensterläden hat, ihre Teestuben, in denen räudige, schreckhafte Straßenköter auf der schwarzen Erde liegen und hin und wieder freundschaftlich mit dem Schwanz wedeln, während der Betreiber mit nacktem Oberkörper und bis über die Knie hochgekrempelten Sarong Beignets in Fett bäckt, das so alt und schwarz ist wie die Erde. Dann wird die Straße schmaler, verstopft vom zähen, lärmenden Verkehr und den von beiden Seiten überbordenden Auslagen der Läden, bis sie schließlich in das unglaubliche Durcheinander eines Kreisverkehrs mündet, wo Hunderte von Autos auf eine gereizte Menschenmenge treffen.

Trisha erkennt den Himmel über ihrer Stadt nicht wieder. Mitten am Tag scheint ihr das Licht gedämpft, schwarzfleckig. Straßenbrücken durchkreuzen den Himmel über Kalkutta, fassen die Leere ein, als ob sie die Geometrie der Erde zum Himmel hin fortsetzen wollten. Wieder steigt Beklemmung in ihr auf. Mit der Geschwindigkeit des fahrenden Autos verblassen ihre Erinnerungen, gehen verloren, gleiten ins Vergessen hinüber.

Im Haus ihrer Eltern steigert sich ihre Beklemmung noch. Sie fragt sich, ob sie die Einladung ihrer Freundinnen nicht hätte annehmen sollen, ob es vielleicht keine gute Idee war, nach der Einäscherung ihres Vaters alleine zu bleiben. Unter dem Einfluss der Beruhigungsmittel irrt sie taumelnd, unsicher durchs Haus.

Die Zimmer im Erdgeschoss riechen nach Ratten. Der feuchte Boden ist so blankpoliert, dass sie den Eindruck hat, von ihrem eigenen Schatten verfolgt zu werden. Unzählige Frauen, die als Haushaltshilfen aus weit entfernten Dörfern gekommen waren, haben sich mit diesem Boden herumgeplagt. Die Zeit ist glatt. In diesen Räumen mit den schweigenden Wänden gefangen.

Wände voller Bücherregale. Vergilbte Bücher, auf denen die Sonne Spuren hinterlassen hat. Man weiß nicht recht, was sie davon abhält, zu Staub zu zerfallen, was ihre geheimnisvolle Aura bewahrt, als ob sich zwischen den Worten eine Zaubertür öffnen könnte.

Neben einem Bücherregal, hinter dem Schreibtisch entdeckt Trisha einen hellen Fleck auf der weißen, rauen Wand: Ihr Vater hatte sich immer nach hinten gelehnt und den Kopf auf die Lehne des Sessels gelegt, seine Pausen, die Minuten und Stunden, haben ihre Spuren hinterlassen. Würde sie die Wände der Zimmer genauer begutachten, fände sie noch weitere helle Flecken, die Schatten der Kerzen, so schwach, dass sie zu verblassen scheinen, sobald man sie berührt. Das breite Bett an der Wand fehlt. Ein ausladendes Bett, wie ein Kahn, der sich am Strand in den Sand gegraben hat, ein Bett zum Faulenzen und für die langen Sonntage der Kindheit. Wenn er schläfrig neben Mutter lag, verlangte Vater eine Massage. Trisha legte die Hand an die Wand, rechts, links, links, rechts, um das Gleichgewicht zu halten und wanderte ganze Nachmittage lang mit ihren kleinen Schritten über seinen Rücken. Sie durchquerte das gebräunte, muskulöse V, das zu einem Y wurde, wenn er die Arme ausstreckte. Wenn ihre kleinen Beine müde waren, versteckte sie sich zwischen den tiefschwarzen Haaren ihrer Mutter. Ihr Spielzeug blieb in den Vertiefungen ihrer Körper zurück.

Obwohl der Himmel wie blankgeputzt scheint, weht nun ein feuchter Wind, und die Kälte sickert in den Tag, in die Mauern des Hauses. Eine niederträchtige Kälte dringt in ihre Schlüsselbeine und jagt ihr einen Schauer über den Rücken und die Brust. Trisha verlässt die dunklen Räume und steigt auf die Terrasse. Inmitten der Bäume und Blätter wirkt das weiße Quadrat wie ein Wachturm. Die runden, samtigen Köpfe der Bäume wiegen sich im Wind wie eine Elefantenherde. Ihre Augen gewöhnen sich an die dichte, undurchdringliche Vegetation, und langsam macht sie hier und da Wohnhäuser aus, die grellen Farben der Mauern, gelb, blau, rosa, die glänzenden Geländer der Veranden, die neuen Mopeds, über deren Sitz zum Schutz hier und da ein altes rotes Handtuch liegt. Sie hört auch die Schreie der Kinder, die der rennenden und die derjenigen, die noch in der Wiege liegen.

Sie wendet den Kopf nach links und sieht den Brunnen. Die Nachbarn konnten sich lange nicht für einen geeigneten Platz entscheiden. In einem Jahr gruben sie hier, im nächsten dort, schütteten das alte Loch mit Abfall zu und bedeckten das neue mit großen, breiten Palmblättern. Die Kinder sprangen darüber und die Mütter schimpften und drohten damit, sie hineinzuwerfen. Trisha lächelt bei dem Anblick, dann senkt sie den Kopf, ihre Augen brennen. Anstelle des Brunnens sieht sie ein Grab. Anstelle des Hofs einen Friedhof. Als ob der Abfall und die Blätter, die Büsche und die Bäume die unter ihnen begrabenen Geschichten und Leben für immer ersticken und verbergen wollten.

Sie geht wieder ins Haus, rollt sich auf dem breiten Bett zusammen und schläft ein. Wenig später entlädt sich ein Gewitter. Große Tropfen trommeln aufs Dach. Klare Tropfen, die ohne Umwege ihr Ziel erreichen. Bald regnet es so stark, dass die ganze Stadt im Bauch des Regens verschwindet. Das Haus liegt offen da wie eine Schachtel aus Papier, die Mauern lösen sich auf. Trisha scheint es, als könnte sie, wenn sie die Hand ausstreckt, den Regenvorhang berühren, der sich um das Haus gelegt hat. Ein gellender, durchdringender, verzweifelter Schrei reißt sie aus dem Schlaf. Der Schrei wird immer panischer, und dann erkennt sie ihn: ihr Kater! Ein großer Kater, weiß wie Mehl, der auch riecht wie Mehl. Seit Monaten völlig außer Kontrolle. Er streunt umher, verschwindet, bis Trisha sich Sorgen macht, taucht schmutzig und griesgrämig wieder auf und bleibt im Garten, als ob er erst wieder zu Atem kommen müsste. Trisha steckt den Kopf unter das Kissen, unter die Decke und versucht, weiterzuschlafen und die Schreie ihres Katers im Schlaf zu ertränken. Dann sieht sie ihren Vater, er wirkt verstört, rüttelt sie wach. »Ich habe eine schlechte Nachricht. Gablou ist ertrunken!«

Der Kater, eine Mozzarellakugel, als er noch klein war. Die dünnen Härchen auf seinem Kopf schimmerten bläulich. Um ihn ständig bei sich zu haben, setzte sie ihn in die Tasche ihrer Bluse. Dann wurden ihm ihre Tasche, ihre Arme und ihr Schoß zu klein.

Trisha bricht in Tränen aus, aber ihre Lippen schmecken nicht salzig. Sie umarmt ihren Vater, sein himmelblaues Hemd ist ganz weich, er hat die Ärmel hochgekrempelt, sie streicht über die hervortretenden blauen Adern auf seinen Armen, er lässt sie weinen, lange, bis sie sein Hemd und seine Arme nicht mehr spürt, seine Stimme wird immer schwächer, sein Flüstern wird zum Schweigen.

Im Schlaf weint Trisha weiter, im leeren Haus ihrer Eltern, überzeugt davon, dass ihr Kater im Hof noch immer versucht, aus dem Brunnen zu klettern, der Regen drückt seinen Kopf unter Wasser, er kommt wieder an die Oberfläche, der Regen drückt ihn wieder hinunter, erschöpft überlässt er sich dem schlammigen Wasser. Sein verzweifelter Schrei ist so nah, auf der anderen Seite der Wand, auf der linken Seite ihres Gehirns, dass er einen Knoten in ihrem Bauch formt, einen Knoten aus Schuld, Scham und Ohnmacht.

Trisha irrt von einem Raum zum nächsten. Die Schlafzimmer. Der quadratische Raum, der eigentlich das Esszimmer werden sollte, in dem dann aber die Küche untergebracht wurde, zum großen Leidwesen der Hausangestellten, die sich nicht vorstellen konnten, stehend zu kochen, auf einer Arbeitsplatte aus Zementputz, die Vater eigenhändig poliert hatte. Nichts fand mehr auf dem Boden statt, und das war, als würde man auf Händen laufen. Sie saßen nicht mehr stundenlang auf dem Boden, um das Gemüse zu schneiden, während sich die Schalen um sie herum auftürmten und die Katzen mit ihren blutigen Schnauzen darin herumwühlten, sie kratzten Mutter und die Köchin, um an die Fischreste zu kommen, Fischköpfe, die so groß waren wie ihre eigenen. Von einem Tag auf den anderen hatten diese kleinen Bestien keinen Zugang mehr zu ihren täglichen Leckerbissen. Sie sprangen und riskierten die Unversehrtheit ihrer weichen, rosafarbenen Tatzen, kamen aber nicht an die Arbeitsplatte, die wie ein Opferstein in die Höhe ragte. Die Bediensteten wischten den Boden mit einem zerrupften, stinkenden Wischlappen, aus dem schmutziges Wasser mit langen, schwarzen Haaren darin tropfte, sie vermissten die alte Küche mit den Fenstern zum Hof der Nachbarn und ihre Gespräche über alles und nichts, von morgens bis abends, und hielten wenig von dem Boden aus Beton, auf den sie sich nicht mehr breitbeinig setzen konnten, um die Resultate ihrer Kochkünste den Vormittag lang vor sich aufzubauen. Das Senkrechte verkörperte die moderne Zeit.

Danach hatten ständig neue Veränderungen Einzug gehalten. Ihr Vater hatte den Esstisch auf die Veranda gestellt. Wenn sie bei Tisch waren, grüßten die Nachbarn und Händler sie im Vorbeigehen. Ihrer Mutter war das unangenehm, aber gegen diesen erfinderischen Mann, der damit drohte, den Tisch im Sommer auf die Dachterrasse zu stellen und darüber ein buntes Laken wie ein Beduinenzelt zu spannen, konnte sie nichts ausrichten.

Früher hatten sie wie ihre Nachbarn gegessen, das heißt im Lotossitz auf dem Boden, auf kleinen, bunten Baumwollteppichen. Trisha kannte die Muster auswendig, eine Reihe ineinander verschachtelter roter und beigefarbener Quadrate, die auf ein unbestimmtes Zentrum zuliefen. Heimlich zog sie unter ihren Beinen mit der linken Hand an den lose heraushängenden Fäden. Die Teller und Becher aus Messing klirrten leise auf dem Boden. Die Körper waren der Erde nah, sie berührten den Boden, überließen sich dem Lauf der Zeit und ihrer Trägheit. Die mutigsten Katzen kamen und schnupperten an den zerkauten Fischgräten neben den Tellern. Bis zu dem Tag, an dem das Leben senkrecht geworden war. Der Vater schritt wie der König der Gaukler vor den vier Arbeitern her, die auf ihren Köpfen eine große Anrichte aus Holz trugen, und die Kinder des Viertels liefen ihnen begeistert hinterher und feuerten sie an. Die damalige Hausangestellte – eine andere, denn Mutter jagte sie regelmäßig davon, bevor sie sich durchsetzten, bevor sie die Ordnung der Küche oder die Gewürze in den Gerichten verändern konnten – schwankte zwischen Faszination und Entrüstung. All das bot ihr neuen Anlass zum Klatsch, während sie sich gleichzeitig rühmen konnte, bei einer Familie zu arbeiten, die ihrer Zeit voraus war. Schon bald kamen Tische fürs Esszimmer in Mode, immer schönere, in vielen Formen und Farben, aus Resopal. Ihr Vater hatte mal wieder die Nase vorn gehabt. Vater, Mutter und Trisha, die für diese Aufgabe ebenfalls hinzugezogen worden war, wählten das hochwertigste Resopal, ein Marmorimitat. Die alte Tischdecke aus rotem, geriffeltem Plastik wurde als Hundedecke wiederverwertet.

Anstelle der Dachterrasse gibt es nun eine zweite Wohnung, die mit der Erdgeschosswohnung identisch ist. Beim Eintreten wird Trisha von der Kühle überrascht. Diese Schlafzimmer, dieses Wohnzimmer, dieser Balkon, vor dem inzwischen eine Bougainvillea blüht, all das löst bei ihr nichts aus, außer vielleicht das unangenehme Gefühl, ein Eindringling zu sein. Vater und Mutter hatten den Anbau nach Trishas Auszug machen lassen. Er erinnert sie an die Verbundenheit zwischen den beiden, um die sie sie immer beneidet hatte. Die Wände, bei denen unter der frischen Farbe noch der raue Beton durchscheint, das helle Holz der Fensterläden, die vergitterten Fenster, die Lampen, all das ergibt in ihren Augen eine unergründliche Geometrie.

Eine Hitze steigt von ihren Fußsohlen auf. Mörderischer Mai. Exilantin in ihrem eigenen Haus. Schnell durchquert sie die Räume.

Nur dem Erdgeschoss fühlt sie sich verbunden. Dort haben die Räume den Atem angehalten, die Wände kennen ihren Abdruck, der Boden erinnert sich an ihren trägen Körper, wenn die Sommerhitze ihnen zu Kopf stieg, ihr und Mutter, wenn sie sich nackt auszogen und sich der kalten Liebkosung des Bodens überließen, Haut an Beton, weich an hart, Herz an Herz. Ihr früheres Leben ist dort unten.

Sie steigt eine weitere Treppe hinauf, um den neu ausgebauten Dachboden zu besichtigen, und plötzlich fällt ihr alles wieder ein, dunkler Haufen, Wolken in der Lunge. Baumwollflocken. Diese Samenfasern, die durch ihre Tage flogen, lange bevor es Frühling wurde. Und wenn sie sich wieder gelegt hatten, etwas Rotes, Warmes, Weiches auf dem Boden. Die rote Bettdecke. Der Winter kündigte sich mit der Fieberhaftigkeit an, mit der man diesem flüchtigen Bild, dem Baumwollpollen nachjagte, der über dem Feld schwebte, in die Nasenlöcher der Kinder eindrang und sie zum Niesen brachte, sich in ihren Haaren verfing und ihnen in der Dämmerung Heiligenscheine verlieh. Mit ihren Zuckerwatteköpfen jagten die Kinder dem Traumbild nach, rannten bis zum Horizont, der nicht über die Grenzen ihres Viertels hinausging, dieser Aneinanderreihung von ocker- und orangefarbenen Mauern und grünen Fensterläden, die im Laufe des Nachmittags langsam die Wärme aufnehmen.