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Selma Mahlknecht

Im Kokon

Erzählung

Edition Raetia

Zum Buch

„Kann eigentlich eine Frau eine Frau heiraten?“, fragt das junge Mädchen unbedarft beim Abendessen. Alle starren sie an. Das Mädchen liebt nämlich Nelly, eine schwangere Frau, welche sich als Aussteigerin in die heruntergekommene und im Wald liegende Villa Neuwirth zurückgezogen hat.

Aber was ist schon Liebe? Die Suche nach mütterlicher Wärme gegenüber der erwachsenen Frau, oder der Traum nach Körperlichkeit, welcher der pubertierenden Fantasie entspringt? Jedenfalls ist das Mädchen kaum noch zu Hause anzutreffen, sondern im Wald, bei Nelly. Diese liest ihrem ungeborenen Kind täglich aus dem dicken Märchenbuch vor. Das Mädchen ist bei diesem Ritual immer dabei. Als nun Livia, eine junge Frau aus der Umgebung Nelly ihre Hilfe anbietet, reagiert das Mädchen mit Eifersucht, Wut und Trotz.

Im Laufe der Geschichte entwirrt sich die Gefühlswelt des Mädchens, es entwächst dem Kokon mit Erfahrungen und Einsichten in das Leben, welche sich gleichermaßen an Erwachsene und Jugendliche richten.

Zur Autorin

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Selma Mahlknecht, geboren 1979 in Meran, lebt in der Schweiz. Studium Drehbuch und Dramaturgie an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Bei Edition Raetia u. a. „Luba und andere Kleinigkeiten“ (2016) „Auf der Lebkuchenstraße“ (2013) „Helena. Roman“ (2010, ausgezeichnet mit dem Sir-Walter-Scott-Preis), „Es ist nichts geschehen. Roman“ (2009, übersetzt ins Schwedische), „Im Kokon. Erzählung“ (2007).

Für Holger Stern und die wie ihn

© Edition Raetia, Bozen

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Als ich die Stimme zum ersten Mal hörte, hatte ich mir gerade im Gedörn den Oberarm geritzt. Ich war ins niedere Gesträuch, das ein Fichtenwäldchen umgab, gekrochen, um Pilze zu finden oder einen Fuchsbau oder wenigstens eine Maus, und nun rannen mir dünne Blutfäden den Ellbogen hinunter. Ich rieb die Wunde mit speichelverklebten Fingern und spähte schon wieder, wie ich sonst in das Wäldchen hineinkäme, als ich sie hörte. Sehr entfernt, aber doch nicht dumpf, sondern fast singend, drang sie durch das Dickicht, und ich hätte sie nicht bemerkt, hätte ich nicht diesen einen Moment innegehalten. Eine einsame Stimme im Wald, geheimnisvoll wie eine leuchtende Blume im Unterholz. Einen Augenblick lang dachte ich an Rapunzel und Jorinde und Joringel, die Märchen, die ich liebte, weil sie vom Alleinsein erzählten, aber dann fiel mir ein, dass eine Stimme niemals einsam war, eine Stimme zumal, die redete, redete!, eine Tätigkeit, die Zuhörer erfordert, und diese Stimme redete, das war unverkennbar. Eindringlich und fließend schwamm sie bis zu mir, ein erzählender Klang ohne Worte. Ich blies die kleinen Spinnen, die über mein Hemd liefen, fort und strich mein Haar aus dem Gesicht. Obwohl es mich kaum noch reizte, folgte ich der Stimme. Menschen, die sich unterhalten. So etwas hatte mich nie interessiert. Wenn meine Mutter mich zum Einkaufen mitgenommen hatte und plötzlich mit einer Freundin dastand und nicht mehr zu reden aufhörte, riss ich wütend an ihrem Arm, plärrte zornig in das Gespräch, stampfte mit dem Fuß. Nie war mir der Gedanke gekommen zuzuhören. Warum ich also hinging – ich weiß es nicht.

Als ich mich so weit genähert hatte, dass man bereits einzelne Sätze verstehen konnte, erkannte ich, dass ich im verwilderten Garten der Villa Neuwirth stand. Dieses Haus war seit Jahren unbewohnt, und ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals Menschen dort gesehen zu haben. Nicht einmal Kinder waren hierher zum Spielen gekommen, weil dem Ort jeder Charme fehlte, nichts Überwuchertes, Verwittertes oder Unheimliches hing ihm an, es war einfach nur ein vergessenes Haus mit grauen Mauern, abgeschotteten Türen und Fenstern und viel, viel Unkraut drumherum. Schon der Name war unromantisch und banal, Neuwirth hießen viele in unserer Stadt, und keine der Wahrheiten über dieses Haus faszinierte mich.

Ich besorgte mir nämlich von allem zwei Wahrheiten, von denen eine meist die gängige, die andere eher abwegig war, und weil ich mit beiden nie recht zufrieden sein konnte, legte ich mir noch eine dritte für mich selbst zurecht. Natürlich behielt ich es mir vor, keine dieser Wahrheiten zu glauben und noch eine vierte, höhere zu vermuten, die jedoch niemals von irgendwem entschlüsselt werden würde. Im Falle der Villa Neuwirth aber war jede meiner Wahrheiten enttäuschend, zuallererst natürlich die gängige, die ja so gut wie immer enttäuschend war, und der zufolge die Villa früher ein Jagdhaus gewesen war, karg eingerichtet und feucht, ohne Elektrizität und Wasser und daher nur während der Saison zu gebrauchen und irgendwann nicht einmal mehr das. Die zweite Wahrheit, die ich von Karla Neuwirth hatte, welche aufgrund ihrer Namensgleichheit besondere Glaubwürdigkeit auszustrahlen vermeinte, berichtete von einer tragischen Liebesgeschichte mit heimlicher Heirat, bitterer Armut und Doppelselbstmord. Diese Version mochte für die anderen in meiner Klasse gänsehautträchtig sein, mich ließ sie kalt, vor allem, weil ich nicht einsah, warum man ein Haus so lange leer stehen lassen sollte, nur, weil sich dort welche umgebracht hatten. Was für eine Verschwendung.

Mir selbst allerdings war auch nichts Besseres eingefallen. Ich hatte mich zwar eine Zeitlang darauf verlegt, dass in dem Haus wahrscheinlich chemische Waffen aus dem Ersten Weltkrieg gelagert wurden, aber besonders glaubwürdig war das auch nicht. Am Ende hatte es mich nicht mehr interessiert, und als ich nun davor stand und die Stimme aus dem Haus dringen hörte, empfand ich nur einen ungeduldigen Ärger.

Es mag eigenartig scheinen, dass mich die Tatsache, dass die Villa Neuwirth nicht mehr leer stand, verstimmte. Es hätte mir egal sein können, aber ich empfand ganz deutlich, dass meine Wirklichkeit einen Teil ihrer Gültigkeit eingebüßt hatte. Ich mochte keine Veränderungen, liebte vielmehr die Gleichförmigkeit, das Vorhersehbare, Feststehende, und in der Geradlinigkeit meines Daseins ertrug ich nur sehr sanfte und schonungsvolle Wendungen. Jetzt aber starrte ich auf die grauen Wände der Villa Neuwirth, und für ein Weiterführen meines bisherigen Lebens war es zu spät. Ich erkannte, dass die Stimme jene einer Frau war, einer noch jungen Frau, einer Frau, die etwas erzählte, nein, etwas las, die Stimme einer jungen Frau, die jemandem etwas vorlas, jetzt hatte ich es begriffen. Ich konnte mich nicht rühren, aus Angst, durch eine unbedachte Bewegung die leisen Worte zu übertönen, und ich wollte doch die Geschichte hören, von der ich nichts verstand. So erstarrte ich für Minuten und wagte kaum zu atmen. Dann endlich sagte die Stimme: „Das war doch eine schöne Geschichte, nicht wahr? Jetzt schlaf schön. Gute Nacht, mein Schatz!“ Und es war still.

Ich blieb noch eine Weile im Garten, strich fast lautlos um das Haus, aber ich konnte nichts herausfinden, außer, dass die Fensterläden nicht mehr verrammelt, sondern gegen die Hitze nur noch leicht angelehnt waren, und dass das kleine Gartentor frei von Efeu und wilden Wicken sich wieder schließen ließ.

Auf dem Heimweg sang es in mir „Gute Nacht, mein Schatz! Gute Nacht, mein Schatz!“, und erst, als ich wieder in der Stadt war und die Turmuhr schlug, wurde mir klar, dass es gar nicht Nacht war, sondern acht Uhr abends, keine Zeit zum Schlafen, schon gar nicht im Sommer, wenn es noch hell und heiß war und die Kühle erst langsam herankroch.

Das Abendessen stand schon auf dem Tisch, Vater las die Zeitung, Mutter erwischte mich beim Hemdkragen und klopfte mir tadelnd den Rücken ab, „alles voll Spinnweben und Tannennadeln, Kind, wo treibst du dich rum“, und Yannick, der doch eigentlich zu alt dafür war, spielte mit dem Kartoffelbrei. „Wo ist Heide?“, lenkte ich ab, obwohl es mich nicht interessierte, und während Mutter etwas von Sophias Geburtstagsfeier murmelte, nahm ich mir Würstchen und griff nach dem Senf.

Wir waren zu dritt, Heide, Yannick und ich, und ich war genau in der Mitte. Man hätte das für ein Zeichen nehmen können, aber bei dreien ist alles ein Zeichen, und das Einzige, was es bewirkte, war, dass wir aufeinander wütend waren. Heide war wütend, weil sie die Älteste war, mit zwei kleinen Bremsklötzen belastet, wie sie es nannte. Yannick war wütend, weil er der Jüngste war, von zwei älteren Schwestern bevormundet als einziger Junge. Ich war wütend, weil ich von zwei Seiten bedrängt wurde und für die eine noch zu jung und für die andere schon zu alt war. Bei dreien gibt es keinen Ausweg, und unsere Wut aufeinander war umso hilfloser und erbitterter, je mehr wir das erkannten.

„Iss doch auch ein bisschen Salat“, sagte Mutter. Vater legte die Zeitung weg und nahm sich noch, bis die Schüssel leer war. „Nicht du“, sagte Mutter. Vater zwinkerte mir zu. Yannick hatte sich ein Kartoffelbreigebirge gebaut, durch das er Soßenbäche lenkte. „Aufessen“, sagte Mutter. Yannick flog mit dem Löffel Kreise über dem Teller und machte dabei „Niiiiiauuu. Mrrrmmmmm.“ „Essen“, sagte Mutter. Ich tauchte mein Würstchen tief in den Senf und dachte „niiiiauuu“, als ich es zum Mund führte. Ich aß auf, nahm meinen Teller, räumte ihn in die Spülmaschine und ging, ehe Mutters Stimme gereizter wurde und Yannick, der doch eigentlich zu alt dafür war, zu weinen anfing.

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Am nächsten Tag belegte ich drei Semmeln fingerdick mit Wurst und Käse, warf sie zusammen mit zwei Birnen zu meinem Mickey-Maus-Feldstecher in den Rucksack und fuhr ohne Umwege zur Neuwirth-Villa. Ich hatte eine kleine Anhöhe ausgemacht, von der aus ich das Haus beobachten konnte. Ich legte mich bäuchlings auf den Boden, stützte die Ellenbogen auf und wartete. Als ich bereits zwei Brote und eine Birne gegessen hatte und mein Wasserfläschchen leer war, ging die Tür auf. Im selben Augenblick rutschte ich einen Meter nach hinten, tiefer in das Gestrüpp hinein, und lauschte mit klopfendem Herzen. Ich wagte es nicht hinzusehen, das Blut raste in meinem Schädel, ich fühlte mich ertappt und bedroht. Die Frau machte ein paar Schritte in den Garten hinaus, summte vor sich hin. Irgendwann kehrte sie wieder um, die Tür klappte ins Schloss. Ich atmete auf, robbte nach vorn, griff mir den Feldstecher. Es war nichts mehr zu sehen. Ich nahm mein letztes Brot und beschloss, dass es besser so war. Wenn ich sie gesehen hätte, wäre ich enttäuscht gewesen, ganz bestimmt, und mit jedem Bissen überzeugte ich mich mehr davon. Dann schaute ich auf die Uhr. Viertel vor sieben. Ein halber Nachmittag für nichts verplempert. Ich setzte mich auf. Mein Hemd war völlig verdreckt, und ich hörte schon Mutter schimpfen. Also blieb ich noch ein Weilchen sitzen, popelte ein bisschen in der Nase und kratzte mir den Schorf von den verschiedenen Wunden, die ich an Armen und Beinen so hatte. Und dann begann die Frau wieder vorzulesen. Ich hatte es nicht erwartet, und jetzt war ich zu weit weg, um wirklich gut zuhören zu können. Nur verwehte Wortfetzen drangen zu meinem Beobachtungsposten. Ich rutschte den kleinen Abhang hinunter, näher zum Haus hin, bis ich verstehen konnte, was sie las. Ich hatte den Anfang verpasst, und zunächst fand ich mich nicht in die Geschichte hinein. Dann aber wurde sie langsam lebendig, ein Prinz trat aus dem Gewirr der Worte heraus mit seidener Hose und schimmernder Weste, er trug einen Turban über seinem kohlschwarzen Schopf und ritt auf einer gewaltigen Eidechse, die smaragdfarben und schillernd war wie jene, die ich manchmal einfing und in Gläser sperrte. Mit ihr durchmaß er weite Länder, immer auf der Suche nach ihr – ich stellte mir vor, dass es natürlich um eine Prinzessin ging. Aber „sie“ war keine Prinzessin, „sie“ war eine kleine Truhe, in welcher der Vater des Prinzen den Stein der Weisen versteckt hatte, und der Prinz, der nur König werden konnte, wenn er wahrhafte Weisheit erlangt hatte, musste unzählige Abenteuer bestehen, um sie zu erreichen. Ich war enttäuscht und noch enttäuschter, als sich am Ende des beschwerlichen Weges herausstellte, dass der Stein der Weisen gar kein Stein war, sondern ein kleiner Same, wie sie zu Hunderten in den Speichern des Königs lagerten. Der Prinz aber, der eine so weite Reise nur für einen Samen gemacht hatte, war nicht verbittert. Er kehrte zu seiner Eidechse zurück, streichelte ihre Haut und sprach: „Lass uns nach Hause zurückkehren.“ Seine Gefährten, die er unterwegs kennengelernt hatte und die mit ihm mitgekommen waren, fragten ihn, warum er die Truhe nicht mitnahm. „Ich könnte sie freilich mitnehmen“, antwortete der Prinz. „Es würde aber nichts nützen. Nicht die Truhe hat mir zu Weisheit verholfen, sondern die Reise dorthin.“ Und so kehrte er zurück und heiratete ein Bauernmädchen, das ihm auf dem Weg begegnet war, und er regierte viele Jahre weise und umsichtig.

„Das war doch eine schöne Geschichte, nicht wahr? Jetzt schlaf schön. Gute Nacht, mein Schatz!“

Ich sprang zornig auf. Das sollte es gewesen sein? Ein lächerliches Märchen mit einem noch lächerlicheren Schluss, erzählt wahrscheinlich für ein Kleinkind, das noch nicht sprechen konnte? Ich schnaubte und spuckte verächtlich aus. Ein Teil meiner Abscheu betraf dabei mich selbst. Ich hatte viel zu viel Zeit für diesen Blödsinn vergeudet. Das sollte mir eine Lehre sein. Nie wieder würde ich hierher kommen. Ich war eindeutig zu alt für solchen Kram.

Aus heutiger Sicht gibt es durchaus Erklärungen dafür, warum ich in den folgenden Tagen und Wochen wie besessen zu dem Haus hinlief, Abend für Abend, teilweise noch atemlos dort anlangte und mich ins Gras warf, mich irgendwann sogar bis unter das Fensterbrett hinwagte und dann dasaß, andächtig darauf wartend, dass pünktlich um sieben die Geschichte vorgelesen würde. Alles andere ließ ich sausen, und wenn es der sichere Sieg in einem Spiel war. Damals begriff ich den Grund nicht, wollte auch nicht darüber nachdenken. Es blieb einfach dabei: Was immer ich auch sonst gerade tat – kurz vor sieben brach ich ab, packte meine Sachen und fuhr los. Dabei erzählte ich keinem, wo es hinging. Es war mein Geheimnis, und ich trug es voll Stolz. Ich saß unter dem Fensterbrett, lauschte der Stimme, folgte ihr in fremde Länder, in Wolkenburgen oder unter das Meer, und ich zitterte mit den Helden und war wütend mit ihnen, und manchmal rannen mir nur ganz leise Tränen aus den Augen, wenn die Geschichte traurig wurde und fast aussichtslos. Und am Ende, wenn die Schlussformel kam und „Gute Nacht, mein Schatz!“, erhob ich mich, schlug mir den Sand vom Hosenboden, zeigte mich verärgert und schwor, nie wieder zu kommen. Ich war eindeutig zu alt für solchen Kram.

Auf diese Weise waren bald drei Wochen vergangen, ohne dass ich gewusst hätte, warum es mich immer noch und immer mehr zu dem Haus und seiner unsichtbaren Vorleserin hinzog. Ich war ein unsentimentales Kind, prügelte mich mit Schulkameraden und konnte stundenlang sinnlos Steine in den kleinen Waldsee werfen. Ich malte mir keine zauberhaften Geschichten aus, wenn es dunkel wurde. Ich träumte nicht von Heldentaten oder dem Leben in anderen Zeiten. Ich las niemals. Jetzt aber war ich wie verhext, und ich könnte sagen, es lag an der Stimme oder am Geheimnis, das sie umgab, aber alles das erklärt nichts. Es blieb eine Ungereimtheit, unmerklich und schleichend zwar nur, aber eine Ungereimtheit, die allmählich und für immer mein Leben verbog.

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Und eines Tages dann kam ich eine Stunde zu früh. Natürlich wusste ich, dass es noch nicht Zeit war, es war kein Versehen und kein Missverständnis. Es war noch nicht einmal sechs, aber ich hockte schon unter dem Fensterbrett und schaute in den blauen Himmel über mir. Da hörte ich die Stimme. „Wir haben Besuch, Kim.“ Aber sie kam nicht vom Fenster. Sie war direkt neben mir. Ohne zu erschrecken, drehte ich den Kopf und sah die Frau an. Sie trug ein grünes Schürzenkleid mit weißen Tupfen, ihr helles Haar war lose zusammengebunden und flammte unzähmbar um ihr gebräuntes Gesicht. Sie hatte eine Hand in die Seite gestützt und war ganz allein. Ich blieb einfach sitzen und schaute wortlos zu ihr hin, ohne ihr direkt in die Augen zu sehen. „Komm rein. Kriegst was zu trinken.“ Mechanisch stand ich auf, ging hinter ihr ins Haus. Auch dort war niemand zu sehen. „Setz dich.“ Ich rutschte in die Bank hinter den Küchentisch. Als die Frau ein Glas für mich darauf stellte, kippte er leicht auf die andere Seite. Sie setzte sich mir gegenüber und wartete, bis ich getrunken hatte. Vielleicht hätte ich etwas sagen sollen, aber ich schwieg und drehte mein Glas. Da reichte sie mir über den Tisch hinweg die Hand und sagte „Ich bin Nelly.“ Ich nickte nur wortlos. Sie zog die Hand wieder zurück und legte sie auf ihren Bauch. „Und das ist Kim.“ Ich starrte auf ihre Hand, die über den getupften Schürzenstoff strich. Ich schluckte ein paar Mal und konnte mich zu keiner Erwiderung durchringen. Nelly füllte erneut Wasser in mein Glas. Obwohl ich sie nicht ansah, fühlte ich, dass sie die ganze Zeit mild lächelte. Ich saß nur stumpf da und ließ die Beine baumeln. „Das ist Kim.“ Dabei war da gar nichts zu sehen unter dem Schürzenstoff. Kein hochgewölbter Bauch, kein ungeschicktes Kugelunding wie sonst bei anderen Frauen. Nur eine weiche Rundung, unauffällig und sanft. Endlich stand Nelly auf. „Es ist Zeit“, sagte sie. Ich rührte mich nicht. „Ich muss Kim zu Bett bringen.“ Erst jetzt verstand ich. Ich kletterte von der Bank. „Du kannst noch bleiben, wenn du willst“, sagte Nelly. „Setz dich einfach zu mir ins Zimmer.“ Ich zögerte. Dann folgte ich Nelly ins Schlafzimmer, wo sie ihr Schürzenkleid auszog, unter dem sie nur ein leichtes Untergewand trug. Sie legte sich ins Bett und nahm ein Buch vom Nachttisch, das dick war und schwer aussah. Ich setzte mich neben die Tür auf den Boden. Dann begann sie zu lesen, und ich schloss die Augen, um sie nicht anzusehen. Ihre Stimme trug mich fort nach China zum Vogelfänger des Mandarins und dessen blinder Tochter. Ich ließ mich von der Vielfalt der wunderbaren Vögel berauschen, durchschritt die prachtvollen Prunksäle des Palastes und lag zitternd zu Füßen des gestrengen Herrschers. Mir stockte der Atem, als der kupferne Kranich zu sprechen begann und das Mädchen ganz allein auf den Nebelberg stieg. Nelly las und las, und ich vergaß alles um mich herum. Dann sagte sie plötzlich „Gute Nacht, mein Schatz!“ Ich schreckte hoch, machte die Augen auf. Nelly hatte das Buch beiseite gelegt und hielt die Lider gesenkt, oder schlief sie schon?, beide Hände wie schützend über den Bauch gelegt, sie beachtete mich nicht mehr. Ich stand auf, tastete nach der Tür, rannte über den Flur aus dem Haus und fort und rannte und rannte, bis mir die Beine wegbrachen und ich keuchend ins Gras fiel und dort liegen blieb wie gelähmt.

Nie wieder, nie wieder, schwor ich mir, würde ich hingehen.

Und am nächsten Tag stand ich um sechs an der Tür.

Nelly fragte mich nie etwas. Sie nahm mich hin, begann sogar, mich mit Tee und Beeren zu empfangen, karg alles, fast ärmlich, aber ich legte beide Hände um die Tasse und trank, als ob ich nichts Besseres gewohnt sei. Dabei sah sie mich gelassen an, ohne Ungeduld oder Missmut, und als ich Fragen zu stellen begann, antwortete sie mit freundlicher Stimme und so, als ob sie ein ständiges Achselzucken begleite.

„Wohnst du hier ganz allein?“

„Ich hab ja Kim.“

„Aber da ist ja nur der Wald.“

„Nur?“

„Hast du denn keine Angst?“

„Was sollte ich fürchten?“

„Räuber. Böse Menschen.“

„Es gibt keine bösen Menschen.“

„Es gibt aber Menschen, die böse Dinge tun.“

„Sie tun keine bösen Dinge. Sie tun, was sie tun müssen.“

„Müssen?“

„Alles geschieht nur aus Notwendigkeit.“

„Alles?“

„Alles.“

„Sie tun böse Dinge, weil es notwendig ist?“

„Alle tun das, was sie tun, weil es notwendig ist. Sie wissen es nur nicht.“

„Notwendig wofür?“

„Für das Große.“

„Was ist das Große?“

„Das Große ist die Bedeutung von allem. Man kann das nicht so leicht verstehen. Man muss einfach darauf vertrauen. Irgendwann löst sich alles auf.“

„Was löst sich auf?“

„Das Rätsel.“

„Welches …“

„Warum wir hier sind. Warum wir fortgehen. Was mit uns geschieht. Alles hat eine Bedeutung, die wir nicht erfassen können. Vertrauen, nur das ist uns gegeben.“

Ich konnte nicht ganz verstehen, wovon sie sprach. Aber ihre Worte waren so fest und überzeugt gesprochen, zugleich so abgeklärt und ohne sich zu ereifern, dass ich zumindest begriff, dass Nelly selbst genau wusste, was sie meinte. Sie hatte ihre eine Weltwahrheit gefunden, sie ließ keine Varianten mehr zu, sie hielt ein Band, mit dem sie das Leben umfassen konnte, und sie brauchte niemanden, der ihr bestätigte, dass sie im Recht war, brauchte keine Brüder und Schwestern im Glauben und kein heiliges Buch. Ihre Gewissheit allein war genug, auch wenn niemand da war, sie mit ihr zu teilen.

Als ich das erkannte, überschauerte es mich wie von einer heißen Woge. Ich wollte auch so sein können, so unantastbar, so beständig verankert, wollte auch aufhören, Fragen zu stellen und Wahrheiten zu suchen, wollte auch alles auf mich zukommen lassen, ohne etwas zu fürchten, im Grunde war doch genau das meine große Sehnsucht, dieses Verlangen nach Sicherheit, nach Letztgültigkeit, der Wunsch, unverrückbar fest zu stehen in der Welt, die ringsum dröhnt und scheppert und sich stets neu mit sich selbst überwirft. Ich sah Nelly an, und zum ersten Mal mischte sich in meine Scheu tiefe Bewunderung. Einen Augenblick lang dachte ich, ich müsste ihr zu Füßen fallen und so liegen bleiben, die Stirn auf den Boden gepresst, ein Wurm unter ihrem Blick, und ich empfand deutlich, dass ich glücklich sein würde und auf geheimnisvolle Weise erlöst.

Solche Anwandlungen überkamen mich aber ausschließlich in Nellys Gegenwart. Im Umgang mit meiner Familie, weitläufigen Bekannten, Hundewelpen und Fröschen zeigte sich keine Änderung. Das ging so weit, dass ich in stillen Momenten am Teich gar nicht verstehen konnte, warum Nelly – am Teich hieß sie immer „diese Nelly“ – mich überhaupt interessierte. Was war schon so einzigartig an ihr? Ihre vorsehungsgläubige Schicksalsergebenheit? Auch nur ein religiöser Wahn. Wir hatten ein Kloster in der Stadt, Barmherzige Schwestern mit Exerzitien, Schweigegelübde und allem Drum und Dran. Hatten mich immer kalt gelassen. Was dann? War sie besonders klug? Sie lebte in einem Haus ohne Wasser, ohne Strom, kochte nie, ernährte sich von Beeren und den Früchten ihres verwilderten Gartens. Das konnte man doch kaum klug nennen. War sie reich? Sie ließ nicht einmal die eingefallenen Fenster reparieren. Geschickt? Ich hatte ihr drei Mal vergeblich gezeigt, wie man am Fahrrad eine ausgesprungene Kette wieder einlegt. Schön? Was sollte an diesem etwas fahlen Gesicht, an dieser seltsam bäuerlichen Gestalt schön sein? Sie hatte leichte O-Beine, längst war es mir aufgefallen, und ihre Zehen waren zu kurz und gedrungen. Ihr Kopf war ein wenig zu groß, und jetzt, da ihr Bauch zu wachsen begann, bemerkte man auch, dass ihre Hüften zu schmal waren. Nein, schön war Nelly nicht.

Ihre Augen etwa? Wenn sie einen nicht eben ansah, dann lagen sie müde in den Höhlen, klein und blinzelnd und wie kurzsichtig. Nur, wenn sie plötzlich aufblickte, mir geradewegs ins Gesicht, dann kam Glanz in sie, ein Schimmer von zuversichtlicher Freundlichkeit, ja, Freundschaftlichkeit, und erst sehr spät erkannte ich die leise Trauer dahinter, den lautlosen Schmerz, der mich umso tiefer berührte.

Sie ist eine tragische Figur, dachte ich mitleidslos. Ganz allein dort im Wald, und keiner besucht sie. Außer mir. Und das ist ein Irrtum. Wird sich bald aufhören. Heute schon, spätestens morgen. Sie mit ihrem Kim. Dabei weiß sie noch nicht einmal, ob’s ein Junge wird. „Das ist Kim“, hat sie einfach gesagt. „Egal, wofür Kim sich entscheidet.“ Als ob ein Baby im Bauch selbst entscheidet. Als ob ich entschieden hätte. Oder Heide. Oder Yannick. Alles nur eine Frage von Glück oder Pech. Und dann liest sie immer, liest und liest, als ob ein Baby im Bauch was verstehen könnte. Meine Mutter hat nie gelesen. Nicht einmal, als wir größer waren und hätten verstehen können. Und ich spürte, wie mich Neid durchflutete, kalter, das Herz zerdrückender Neid. Ich hasste Kim und die Zärtlichkeit, mit der Nelly über ihren Bauch und Kim darin strich. Kim war nur eine Idee, eine fixe Vorstellung, im Grunde ein Garnichts. Und doch stand dieses Garnichts schon übergroß und patzig zwischen mir und Nelly, die ich dafür verachtete, die ich im Innersten verspottete und erniedrigte, die ich bewunderte und verehrte und liebte, liebte wie noch nie jemanden.

Zunächst war ich entsetzt gewesen. Lieben, ich? Undenkbar. Ich war aufgebracht, mein eigener Gedanke war mir zu nahe getreten. Ich stand über allem Gefühl, legte mir ein Leben ohne Zwänge zurecht, und längst hatte ich Liebe als den größten Zwang überhaupt durchschaut. Pflichtgefühl, Zuverlässigkeit, Treue, alles leitete sich von ihr her und trieb die Menschen in eine Teufelsspirale der Verantwortungen, aus der sie nicht mehr entrinnen konnten. So etwas kam für mich gar nicht in Frage.