Copyright © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2001
12., überarbeitete Auflage 2016

Translated from the book Nonviolent Communication: A Language of Life 3rd Edition, ISBN 13 / 10: 9781892005281 / 189200528X by Marshall B. Rosenberg.
Copyright © Fall 2015 PuddleDancer Press, published by PuddleDancer Press. All rights reserved. Used with permission. For further information about Nonviolent Communication (TM) please visit the Center for Nonviolent Communication on the Web at: http://www.cnvc.org.

Übersetzung: Ingrid Holler, München

Fachliche Begleitung der Übersetzung: Andi Schmidbauer, München

Coverfoto: © plainpicture / Folio Images

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2016

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-572-4

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-608-0 (EPUB), 978-3-95571-610-3 (PDF), 978-3-95571-609-7 (MOBI).

Vorwort

von Deepak Chopra

(Gründer des Chopra Center for Wellbeing und Autor von mehr als 80 Büchern, die in über 43 Sprachen übersetzt wurden, darunter 21 New York Times-Bestseller)

Niemand verdient unsere Dankbarkeit mehr als der verstorbene Marshall Rosenberg, der sein Leben genau so lebte, wie es im Titel eines seiner Bücher heißt: Die Sprache des Friedens sprechen in einer konfliktreichen Welt. Er war sich der Maxime (oder auch der Warnung) sehr wohl bewusst, die im Untertitel dieses Buchs zum Ausdruck kommt: Was Sie als Nächstes sagen, wird Ihre Welt verändern. Die persönliche Realität enthält immer eine Geschichte, und die Geschichte, die wir leben – beginnend mit der Kindheit –, ist auf Sprache gegründet. Dies wurde zur Grundlage von Marshalls Ansatz der Konfliktlösung: die Menschen dahin zu bringen, dass Sie ohne Urteile, Schuldzuweisungen und Gewalt miteinander sprechen.

Die verzerrten Gesichter von Demonstranten auf der Straße, die so beunruhigende Bilder für die Abendnachrichten liefern, sind mehr als nur Bilder. Jedes Gesicht, jeder Schrei, jede Geste hat eine Geschichte. Ein jeder hängt mit aller Macht an seiner Geschichte, weil in ihr die eigene Identität verankert ist. Als Marshall sich also für friedliches Sprechen einsetzte, setzte er sich damit zugleich für eine neue Identität ein. Das war ihm völlig klar. Wie er in dieser neuen Auflage über die Rolle des Mediators in der Gewaltfreien Kommunikation ausführt: „Mit der GFK versuchen wir, ein anderes Wertesystem zu leben, und streben deshalb nach Veränderungen.“

Seine Vision eines neuen Wertesystems sieht die Lösung von Konflikten ohne die üblichen frustrierenden Kompromisse vor. Stattdessen nähern sich die streitenden Parteien einander mit Respekt. Sie fragen nach den Bedürfnissen des anderen und schaffen eine Verbindung in einer Atmosphäre, die frei von Leidenschaften und Vorurteilen ist. Wenn wir auf unsere Welt voll von Krieg und Gewalt blicken, in der das Denken in Kategorien von „wir gegen die anderen“ die Norm darstellt und in der Staaten alle Grenzen des zivilisierten Miteinanders durchbrechen und unerträgliche Grausamkeiten begehen, dann scheint uns ein neues Wertesystem in weiter Ferne zu liegen. Auf einem europäischen Mediationskongress kritisierte ein Skeptiker Marshalls Ansatz einmal als Psychotherapie. Einfach gesagt: Fordert dieser Ansatz nicht von uns, die Vergangenheit zu vergessen und einfach Freunde zu sein, was nicht nur an Kriegsschauplätzen, sondern auch in jedem Scheidungsprozess eine fromme Hoffnung darstellt?

Wertesysteme sind Teil einer jeden Weltsicht. Sie sind nicht nur unausweichlich – die Menschen sind auch stolz auf sie: Weltweit gibt es eine lange Tradition des gleichzeitigen Preisens und Fürchtens von Kriegern. Schüler von C. G. Jung lehren uns, dass der Archetyp des Mars, des unbeständigen Kriegsgottes, bei jedem Menschen zum Unbewussten gehört und Konflikte und Aggressionen daher unvermeidbar, eine Art angeborenes Laster sind.

Es gibt jedoch auch eine andere Sicht auf die Natur des Menschen. Sie findet ihren eloquenten Ausdruck in diesem Buch und muss berücksichtigt werden, weil sie unsere einzige echte Hoffnung darstellt. Dieser Sicht zufolge bestehen wir nicht aus unseren Geschichten. Diese Geschichten sind nur Fiktionen, die wir selbst erfunden haben und die durch Gewohnheit, Gruppenzwang, alte Konditionierungsmuster und Mangel an Selbsterkenntnis erhalten bleiben. Selbst die besten Geschichten arbeiten mit an der Gewalt. Will man Gewalt anwenden, um die eigene Familie zu beschützen, sich vor Angriffen zu bewahren, Ungerechtigkeit zu bekämpfen, Verbrechen zu verhindern und einen so genannten guten Krieg zu kämpfen, so ist man vom Sirenengesang der Gewalt vereinnahmt. Wenn man sich dem verweigert, ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass sich die Gesellschaft gegen einen wendet und Vergeltung übt. Kurz gesagt: Einen Ausweg zu finden ist nicht einfach.

In Indien gibt es ein altes Modell dafür, gewaltfrei zu leben. Es ist als Ahimsa bekannt und ist zentral für ein gewaltfreies Leben. Unter Ahimsa versteht man üblicherweise die Gewaltfreiheit, wenngleich die Bedeutung des Begriffs sich von den friedlichen Protesten eines Mahatma Gandhi bis hin zu Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben erstreckt. „Füge kein Leid zu“ ist das erste Axiom des Ahimsa. Marshall Rosenberg starb im Alter von 80 Jahren, gerade einmal sechs Wochen, bevor ich dies hier schreibe. Was mich an ihm so beeindruckt hat, ist, dass er beide Ebenen des Ahimsa begriff – die Handlung und das Bewusstsein.

Die Handlungen finden sich gut beschrieben auf den folgenden Seiten als Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation. Ich muss sie hier nicht wiederholen. Sich im Bewusstsein des Ahimsa zu befinden ist eine viel stärkere Eigenschaft – Marshall besaß sie. Bei keinem der Konflikte, mit denen er sich beschäftigte, bevorzugte er eine der beiden Seiten oder interessierte sich auch nur für ihre Geschichten. Ihm war klar, dass alle Geschichten (sei es offen oder verborgen) zu Konflikten führen, und deshalb konzentrierte er sich auf Verbindungen als psychologische Brücke. Diese Haltung entspricht einem weiteren Axiom des Ahimsa: Nicht was du tust, ist entscheidend, sondern die Qualität deiner Aufmerksamkeit. Im Rahmen des Rechtssystems etwa ist eine Scheidung dann vollzogen, wenn die beiden Parteien sich über die Aufteilung ihres gemeinsamen Besitzes geeinigt haben. Dies jedoch hat nichts mit dem emotionalen Ergebnis für die beiden geschiedenen Parteien zu tun. Zu viel wurde gesagt, das – in Marshalls Worten – ihre Welt verändert hat.

Aggression ist eine immanente Eigenschaft des Ego-Systems, das sich ausschließlich auf „Ich, mir und mein“ konzentriert, wann immer ein Konflikt aufkommt. Die Gesellschaft legt gegenüber Heiligen Lippenbekenntnisse ab und schwört, Gott und nicht sich selbst zu dienen, doch es gibt einen tiefen Graben zwischen den Werten, für die wir eintreten, und unserer tatsächlichen Lebensweise. Diesen Graben überbrückt Ahimsa durch die Erweiterung des Bewusstseins des Menschen. Wir können Aggression nur beseitigen, indem wir unsere Geschichten aufgeben. Es gibt keine Aufklärung für den, der ein handfestes weltliches Interesse hat – so könnte das dritte Axiom des Ahimsa lauten. Eine solche Lehre jedoch erscheint so radikal wie diejenige von Jesus in der Bergpredigt, als er den Sanftmütigen versprach, sie würden das Erdenreich besitzen.

In beiden Fällen geht es nicht um eine Veränderung des Handelns, sondern um eine Veränderung des Bewusstseins. Um dies zu erreichen, müssen wir einen Weg von A nach B gehen, wobei A für ein Leben auf Basis der fortwährenden Anforderungen des Egos steht und B für selbstlose Bewusstheit.Aber offen gestanden sehnt sich niemand nach selbstloser Bewusstheit; aus der Perspektive dessen, der danach strebt, die Nummer eins zu sein, hört sich das beängstigend und unerreichbar zugleich an. Und worin besteht der Lohn dafür, sich des Egos zu entledigen, das schließlich überhaupt nur für Belohnungen existiert? Wenn das Ego nicht mehr da ist, sitzt man dann nur noch passiv herum wie eine Art spiritueller Sitzsack?

Die Antwort darauf geben uns jene Augenblicke, in denen das persönliche Selbst ganz natürlich und spontan schwindet. Dies können Augenblicke der Meditation oder auch einfach der tiefen Zufriedenheit sein. Selbstlose Bewusstheit ist der Zustand, in dem wir uns befinden, wenn Natur, Kunst oder Musik ein Erlebnis des Wunderbaren erschaffen. Der einzige Unterschied zwischen solchen Augenblicken – und wir können hier alle Erfahrungen der Kreativität, der Liebe und des Spiels ergänzen – und dem Ahimsa besteht darin, dass sie kommen und gehen, während Ahimsa ein andauernder Zustand ist. Ahimsa offenbart, dass alle Geschichten und die Egos, die sie antreiben, Illusionen sind, selbst geschaffene Modelle für das Überleben und den Eigensinn. Der Lohn von Ahimsa besteht nicht in einer höheren Stufe der Illusion, wonach das Ego per Einsatz von Geld fortwährend strebt. Der Lohn besteht darin, der zu werden, der man wirklich ist.

Höheres Bewusstsein ist ein zu hochtrabender Begriff für Ahimsa. Normales Bewusstsein ist da schon angemessener in einer Welt, die so abnormal ist, dass es schon an Psychopathologie grenzt. Es ist eben nicht natürlich, in einer Welt zu leben, in der Tausende von nuklearen Sprengköpfen auf Feinde gerichtet sind und Terrorismus als ein zulässiger religiöser Akt gilt – dies ist nicht normal, sondern nur die Norm.

Für mich besteht das Vermächtnis von Marshalls Lebensleistung nicht darin, wie er die Rolle des Mediators revolutioniert hat, so wertvoll dies auch war. Es besteht vielmehr in dem neuen Wertesystem, nach dem er lebte, das in Wahrheit ein uraltes ist. Ahimsa muss in jeder Generation aufs Neue mit Leben gefüllt werden, weil die Natur des Menschen zwischen Frieden und Gewalt hin- und hergerissen ist. Marshall Rosenberg hat bewiesen, dass der Eintritt in diesen Zustand erweiterter Bewusstheit real und zugleich – etwa bei der Beilegung von Streitigkeiten – sehr praktisch ist. Er hat Spuren hinterlassen, denen wir folgen können. Wenn uns wahrhaftiger Eigennutz am Herzen liegt, werden wir ihnen folgen. Denn dies ist unsere einzige Alternative in einer Welt, die so verzweifelt nach Weisheit und dem Ende von Streit sucht.

Deepak Chopra

Vorwort zur deutschen Neuauflage

von Ingrid Holler

Seit der ersten Auflage dieses Grundlagenwerks Gewaltfreie Kommunikation im Jahr 2001 ist viel geschehen: Damals gab es eine Handvoll Trainerinnen und Trainer, heute sind es im deutschsprachigen Raum allein ca. 500, die die Gewaltfreie Kommunikation mit Engagement weitergeben. Man kann schätzen, dass durch dieses Engagement gemeinsam mit dem Buch und auch durch die Verbreitung der Mediation mittlerweile ca. ein bis zwei Millionen Menschen deutscher Sprache mit der gewaltfreien Klärung von Konflikten erreicht worden sind. Hinzu kommt, dass die GFK in jedem Studien- und Ausbildungsgang, der mit Menschen zu tun hat, ein Thema ist. Dass sie überall dort, wo Menschen zusammenkommen, sei es in der Schule, am Arbeitsplatz, im Alltag oder in der Familie und in persönlichen Beziehungen, auch gelebt wird.

Es ist also schon viel geschehen seit 2001. Vor noch viel längerer Zeit, vor ca. 100 Jahren, wurde Mahatma Gandhi zum gewaltlosen Führer des indischen Volkes und hat sein Volk auf diese Weise in die Freiheit von der englischen Vorherrschaft geführt. Er hat es uns vorgemacht: sich ganz klar und konsequent einsetzen für die eigenen Bedürfnisse und dabei immer in Verbindung zum Gegenüber bleiben; und die Vergeblichkeit gewaltvoller Auseinandersetzungen verstehen. Diese Einsichten haben auch in Europa dazu geführt, dass wir uns jetzt bereits über mehr als 70 Jahre kontinuierliche Friedenszeit freuen können.

Ein solcher Frieden unter den Völkern ist nicht selbstverständlich, wie uns die gewaltsamen Auseinandersetzungen und die aktuellen Anschläge auch in Europa zeigen. Hier sehen wir: Es gibt noch viel zu tun! Um unseren Frieden zu erhalten und um beizutragen zum Frieden zwischen anderen Völkern. Das war auch ein sehr wichtiges Anliegen für Marshall Rosenberg, der Anfang 2015 verstorben ist. Das neue Kapitel in diesem Buch konnte er gerade noch fertigstellen. Darin geht es um die persönliche Konfliktklärung und um Mediation und ihre Wirksamkeit in persönlichen wie auch in politischen Konflikten. Dr. Rosenberg betont in diesem Kapitel erneut die außerordentliche Bedeutung der Verbindung zwischen Menschen auf der Beziehungsebene für die Klärung aller Konflikte.

Für die aktuellen Probleme gilt es daher, die eigene innere Haltung zu verändern: weg vom Kampf und hin zum Miteinander – weg von der Stärke, die andere schwach machen muss, und hin zur Stärke für alle – weg vom Entweder-Oder und hin zur Berücksichtigung aller Bedürfnisse – weg von der Konkurrenz und hin zur Kooperation. Kurz gesagt: weg von der Trennung und hin zur Verbindung. Um die persönliche Einstellung entsprechend zu wandeln, braucht es einfach Übung, denn besonders wer von Kindesbeinen an Gewalt gewöhnt ist, hält sie für ein probates Mittel. Um hier im eigenen Herzen und Denken eine Änderung zu bewirken, braucht es die Pflege der Beziehungen – der Beziehung zu sich selbst und auch der Beziehung zu anderen Menschen. Immer wieder die Aufmerksamkeit lenken auf das, was ich fühle und das, was ich brauche – auf das, was du brauchst und wie es dir geht.

Dann wird es gelingen, für unsere kleinen und großen Probleme Lösungen zu finden, die das Leben für alle Beteiligten verbessern. Und dann können wir mit dem Dalai Lama sagen: „Gewalt ist eine Methode von gestern“ (Dalai Lama in „Ethik ist wichtiger als Religion“, Benevento Verlag, S. 39).

Ingrid Holler

Dank

Ich bin dankbar, dass ich mit Professor Carl Rogers während der Zeit studieren und arbeiten konnte, als er die Komponenten einer positiven zwischenmenschlichen Beziehung erforschte. Die Ergebnisse dieser Forschung haben eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung des Kommunikationsprozesses gespielt, den ich in diesem Buch beschreibe.

Ich werde Professor Michael Hakeem immer dafür dankbar sein, dass er mir geholfen hat, die wissenschaftlichen Einschränkungen und die sozialen und politischen Gefahren der psychiatrischen Behandlung, wie ich sie gelernt hatte, zu erkennen: basierend auf einer Betrachtung des Menschen als krankhaft. Das Verständnis der Beschränktheit dieses Modells inspirierte mich, nach Möglichkeiten zu suchen, wie ich Psychologie anders praktizieren kann. Dabei wuchs eine Klarheit in mir darüber, wie das Leben der Menschen ursprünglich gedacht war.

Ich möchte auch George Miller und George Albee für ihre Bemühungen danken, Psychologen anzutreiben, dass sie bessere Wege finden, um die „Psychologie schneller unter die Leute zu bringen“. Durch sie habe ich erkannt, dass das Ausmaß des Leidens auf unserem Planeten wirksamere Verteilungswege der dringend benötigten Fähigkeiten erfordert, als ein klinischer Ansatz sie bereitstellen kann.

Ich möchte mich bei Lucy Leu für das Lektorat und das endgültige Manuskript dieses Buchs bedanken; bei Rita Herzog und Kathy Smith für ihre Hilfe beim Redigieren; und auch für die Unterstützung von Darold Milligan, Melanie Sears, Bridget Belgrave, Marian Moore, Kittrell McCord, Virginia Hoyte und Peter Weismiller.

Zum Schluss möchte ich meiner Freundin Annie Muller meine Dankbarkeit ausdrücken. Ihre Ermutigung, das spirituelle Fundament meiner Arbeit klarer herauszustellen, hat dieser Arbeit Kraft gegeben und mein Leben bereichert.

Worte sind Fenster
(Oder sie sind Mauern)

Ich komme mir so verurteilt vor von deinen Worten,
Ich komme mir so abgewertet und weggeschickt vor,
Bevor ich gehe, muss ich noch wissen,
Hast du das wirklich so gemeint?

Bevor ich meine Selbstverteidigung errichte,
Bevor ich aus Verletzung und Angst heraus spreche,
Bevor ich diese Mauer aus Worten baue,
Sage mir, habe ich richtig gehört?

Worte sind Fenster oder sie sind Mauern,
Sie verurteilen uns oder sprechen uns frei.
Wenn ich spreche und wenn ich zuhöre,
Licht der Liebe, scheine durch mich hindurch.

Es gibt Dinge, die ich sagen muss,
Dinge, die mir so viel bedeuten.
Wenn sie durch meine Worte nicht klar werden,
Hilfst du mir, mich freizusprechen?

Wenn es so schien, als würde ich dich herunterputzen,
Wenn du den Eindruck hattest, du wärst mir egal,
Versuch doch bitte, durch meine Worte hindurch zu hören
Bis zu den Gefühlen, die wir gemeinsam haben.

Ruth Bebermeyer

1. Von Herzen geben: Das Herz der Gewaltfreien Kommunikation

„Was ich in meinem Leben will, ist Einfühlsamkeit, ein Fluss zwischen mir und anderen, der auf gegenseitigem Geben von Herzen beruht.“

Marshall B. Rosenberg

1.1 Einleitung

Weil ich glaube, dass die Freude am einfühlsamen Geben und Nehmen unserem natürlichen Wesen entspricht, beschäftige ich mich schon viele Jahre meines Lebens mit zwei Fragen: Was geschieht genau, wenn wir die Verbindung zu unserer einfühlsamen Natur verlieren und uns schließlich gewalttätig und ausbeuterisch verhalten? Und umgekehrt, was macht es manchen Menschen möglich, selbst unter den schwierigsten Bedingungen mit ihrem einfühlsamen Wesen in Kontakt zu bleiben?

Ich begann, mich mit diesen Fragen in meiner Kindheit, während des Sommers 1943, zu beschäftigen, als unsere Familie nach Detroit, Michigan, umzog. In der zweiten Woche nach unserer Ankunft brach wegen eines Zwischenfalls in einem Park ein Rassenkrieg aus. Mehr als 40 Menschen wurden in den nächsten Tagen getötet. Unser Viertel lag im Zentrum der Gewalt, und wir sperrten uns drei Tage lang zu Hause ein.

Nachdem die Rassenunruhen geendet hatten und die Schule wieder anfing, entdeckte ich, dass ein Name genauso gefährlich sein kann wie eine Hautfarbe. Als der Lehrer bei der Anwesenheitskontrolle meinen Namen aufrief, starrten mich zwei Jungs an und zischten: „Bist du ein ‚kike‘?“ Ich hatte dieses Wort noch nie gehört und wusste nicht, dass es eine abfällige Bezeichnung für Juden ist. Nach der Schule warteten die beiden auf mich. Sie warfen mich zu Boden, traten und verprügelten mich.

Seit jenem Sommer 1943 widme ich mich der Erforschung der beiden besagten Fragen. Was gibt uns die Kraft, die Verbindung zu unserer einfühlsamen Natur selbst unter schwierigsten Bedingungen aufrechtzuerhalten? Ich denke an Menschen wie Etty Hillesum, die sich ihr Einfühlungsvermögen sogar erhielt, als sie den unbeschreiblichen Bedingungen eines deutschen Konzentrationslagers ausgesetzt war. So schrieb sie damals in ihr Tagebuch:

„Mir kann man nicht so leicht Angst machen. Nicht weil ich tapfer wäre, sondern weil ich weiß, dass ich es mit menschlichen Wesen zu tun habe und dass ich so intensiv wie nur möglich versuchen muss, alles, was ein jeder jemals tut, zu verstehen. Und darum ging es genau heute Morgen: Es war nicht wichtig, dass ich von einem missmutigen Gestapooffizier angeschrien wurde, sondern dass ich darüber keine Entrüstung empfand und stattdessen echtes Mitgefühl mit ihm hatte. Ich hätte ihn gerne gefragt: ,Hatten Sie eine sehr unglückliche Kindheit, hat Ihre Freundin Sie im Stich gelassen?‘ Ja, er sah mitgenommen und angespannt aus, finster und dünnhäutig. Am liebsten hätte ich ihn gleich in psychologische Behandlung genommen, denn ich weiß, dass solche bedauernswerten jungen Männer gefährlich werden, wenn man sie auf die Menschheit loslässt.“ (Etty Hillesum: Tagebücher 1941–1943)

GFK: Kommunikation, die uns dazu bringt, von Herzen zu geben.

Als ich mich mit den Umständen beschäftigte, die unsere Fähigkeit beeinflussen, einfühlsam zu bleiben, war ich erstaunt über die entscheidende Rolle der Sprache und des Gebrauchs von Wörtern. Seitdem habe ich einen spezifischen Zugang zur Kommunikation entdeckt – zum Sprechen und Zuhören –, der uns dazu führt, von Herzen zu geben, indem wir mit uns selbst und mit anderen auf eine Weise in Kontakt kommen, die unser natürliches Einfühlungsvermögen zum Ausdruck bringt. Ich nenne diese Methode Gewaltfreie Kommunikation und benutze den Begriff Gewaltfreiheit im Sinne von Gandhi: Er meint damit unser einfühlendes Wesen, das sich wieder entfaltet, wenn die Gewalt in unseren Herzen nachlässt. Wir betrachten unsere Art zu sprechen vielleicht nicht als „gewalttätig“, dennoch führen unsere Worte oft zu Verletzung und Leid – bei uns selbst oder bei anderen. In einigen Gruppen ist der Prozess, den ich beschreibe, auch als Einfühlsame Kommunikation bekannt; die Abkürzung „GFK“ steht in diesem Buch daher für Gewaltfreie oder Einfühlsame Kommunikation.

1.2 Wie wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren können

Die GFK gründet sich auf sprachliche und kommunikative Fähigkeiten, die unsere Möglichkeiten erweitern, selbst unter schwierigen Umständen menschlich zu bleiben. Sie beinhaltet nichts Neues; alles, was in die GFK integriert wurde, ist schon seit Jahrhunderten bekannt. Es geht also darum, uns an etwas zu erinnern, das wir bereits kennen – nämlich daran, wie unsere zwischenmenschliche Kommunikation ursprünglich gedacht war. Und es geht auch darum, uns gegenseitig bei einer Lebensweise zu helfen, die dieses Wissen wieder lebendig macht.

Die GFK hilft uns bei der Umgestaltung unseres sprachlichen Ausdrucks und unserer Art zuzuhören. Aus gewohnheitsmäßigen, automatischen Reaktionen werden bewusste Antworten, die fest auf dem Boden unseres Bewusstseins dessen stehen, was wir wahrnehmen, fühlen und brauchen. Wir werden angeregt, uns ehrlich und klar auszudrücken und gleichzeitig anderen Menschen unsere respektvolle und einfühlsame Aufmerksamkeit zu schenken. Unabhängig vom Thema eines Gesprächs gelingt es uns dann immer besser, unseren eigenen zugrunde liegenden Bedürfnissen wie auch denen unserer Gesprächspartner auf die Spur zu kommen. Die GFK trainiert uns, sorgfältig zu beobachten und die Verhaltensweisen und Umstände, die uns stören, genau zu bestimmen. Wir lernen, in einer bestimmten Situation zu erkennen, was wir konkret brauchen, und es klar auszusprechen. Die Form ist einfach und hat doch starke Transformationskraft.

Wir sehen Beziehungen in einem neuen Licht, wenn wir mithilfe der GFK unsere eigenen, zugrunde liegenden Bedürfnisse und die der anderen wahrnehmen.

Da die GFK unsere alten Muster von Verteidigung, Rückzug oder Angriff angesichts von Urteilen und Kritik umwandelt, kommen wir immer mehr dahin, uns selbst und andere sowie unsere innere Einstellung und die Dynamik unserer Beziehungen in einem neuen Licht zu sehen. Widerstand, Abwehr und gewalttätige Reaktionen werden auf ein Minimum reduziert. Wir entdecken das Potenzial unseres Einfühlungsvermögens, wenn wir uns auf die Klärung von Beobachtung, Gefühl und Bedürfnis konzentrieren, statt zu diagnostizieren und zu beurteilen. Dadurch, dass die GFK die Betonung auf intensives Zuhören nach innen und nach außen legt, fördert sie Wertschätzung, Aufmerksamkeit und Einfühlung und erzeugt auf beiden Seiten den Wunsch, von Herzen zu geben.

Obwohl ich von der GFK als einen „Prozess der Kommunikation“ oder einer „Sprache der Einfühlsamkeit“ spreche, ist sie mehr als ein Prozess oder eine Sprache. Auf einer tieferen Ebene ist sie eine ständige Mahnung, unsere Aufmerksamkeit in eine Richtung zu lenken, in der die Wahrscheinlichkeit steigt, dass wir das bekommen, wonach wir suchen.

Es gibt da die Geschichte von einem Mann, der unter einer Straßenlaterne auf allen vieren nach etwas sucht. Ein Polizist, der gerade vorbeikommt, fragt ihn, was er da macht. „Ich suche nach meinen Autoschlüsseln“, erwidert der Mann, der scheinbar beschwipst ist. „Haben Sie sie hier verloren?“, erkundigt sich der Beamte. „Nein“, antwortet der Mann, „ich habe sie auf dem Weg verloren.“ Als er den verblüfften Gesichtsausdruck des Polizisten sieht, fügt er schnell hinzu: „Aber das Licht ist hier viel besser.“

Lasst uns das Licht des Bewusstseins dorthin richten, wo wir hoffen dürfen, das zu finden, was wir suchen.

Ich stelle fest, dass meine kulturellen Wurzeln meine Aufmerksamkeit in eine Richtung lenken, wo ich sehr wahrscheinlich nicht das bekomme, was ich haben möchte. Und so habe ich die GFK als eine Methode entwickelt, die meine Wahrnehmung trainiert, damit das Licht der Bewusstheit in eine Richtung scheint, die das Potenzial hat, mir das zu geben, wonach ich suche. Was ich in meinem Leben möchte, ist Einfühlsamkeit, ein Fluss zwischen mir und anderen, der auf gegenseitigem Geben von Herzen beruht.

In dem nun folgenden Gedicht meiner Freundin Ruth Bebermeyer kommt die Art der Einfühlung zum Ausdruck, die ich meine, wenn ich sage „von Herzen geben“:

Ich bin ungemein beschenkt, wenn Du etwas von mir annimmst –
wenn Du an der Freude teilhast, die in mir ist, sobald ich Dich beschenke.
Und Du weißt, ich gebe nicht in der Absicht, Dich in meine Schuld zu bringen,
sondern weil ich die Zuneigung leben möchte, die ich für Dich empfinde.

Annehmen mit Würde
ist vielleicht das größte Geschenk.
Unmöglich kann ich die beiden Seiten voneinander trennen.
Wenn Du mich beschenkst, schenke ich Dir mein Annehmen.
Wenn Du von mir nimmst, fühle ich mich sehr beschenkt.

Song „Given To“ (1978) von Ruth Bebermeyer von der LP Given To

Wenn wir von Herzen schenken, dann tun wir das aus der Freude heraus, die immer dann entsteht, wenn wir das Leben eines anderen Menschen bewusst bereichern. Auf diese Weise zu schenken ist sowohl für den, der gibt, als auch für die, die nimmt, ein Gewinn. Die Beschenkte freut sich über die Gabe, ohne sich über Konsequenzen, die Geschenke aus Angst, Schuldgefühl, Scham oder Profitstreben mit sich bringen, Gedanken zu machen. Der Gebende gewinnt durch die Stärkung seiner Selbstachtung, die sich einstellt, wenn wir erleben, dass unsere Handlungsweise zum Wohlergehen eines anderen Menschen beiträgt.

Um die GFK anzuwenden, müssen die Menschen, mit denen wir kommunizieren, nicht in der GFK ausgebildet sein. Sie müssen nicht mal die Absicht haben, sich im Kontakt mit uns einfühlsam zu verhalten. Wenn wir selbst mit den Prinzipien der GFK im Einklang bleiben – einzig und allein, um einfühlend zu geben und zu nehmen – und alles tun, was wir können, um anderen zu vermitteln, dass dies unser einziges Motiv ist, dann werden sie mit uns in den Prozess hineingehen, und wir sind am Ende in der Lage, einfühlsam miteinander zu kommunizieren. Ich sage nicht, dass es immer schnell geht. Aber ich bleibe dabei, dass sich das Einfühlungsvermögen unvermeidlich entfaltet, wenn wir den Prinzipien der GFK treu bleiben.

1.3 Der Prozess der Gewaltfreien Kommunikation

Um den uns allen gemeinsamen Wunsch, von Herzen zu geben, Wirklichkeit werden zu lassen, richten wir das Licht unseres Bewusstseins auf vier Bereiche – wir sprechen von den vier Komponenten des GFK-Modells.

Die vier Komponenten der GFK:
1. Beobachtungen
2. Gefühle
3. Bedürfnisse
4. Bitten

Zuerst beobachten wir, was in einer Situation tatsächlich geschieht: Was hören wir andere sagen, was sehen wir, was andere tun, wodurch unser Leben entweder reicher wird oder auch nicht? Die Kunst besteht darin, unsere Beobachtung dem anderen ohne Beurteilung oder Bewertung mitzuteilen – einfach zu beschreiben, was jemand macht, und dass wir es entweder mögen oder nicht. Als Nächstes sprechen wir aus, wie wir uns fühlen, wenn wir diese Handlung beobachten. Fühlen wir uns verletzt, erschrocken, froh, amüsiert, irritiert usw.? Im dritten Schritt sagen wir, welche unserer Bedürfnisse hinter diesen Gefühlen stehen. Das Bewusstsein dieser drei Komponenten ist uns gegenwärtig, wenn wir die GFK einsetzen, um klar und ehrlich auszudrücken, wie es uns gerade geht.

Eine Mutter kann z. B. diese drei Bestandteile ihrem Sohn gegenüber ausdrücken, indem sie sagt: „Felix, wenn ich in unseren gemeinsamen Räumen zwei zusammengerollte schmutzige Socken unter dem Kaffeetisch sehe und noch drei neben dem Fernseher, dann bin ich irritiert, weil mir Ordnung wichtig ist.“

Sie macht dann sofort weiter mit der vierten Komponente – einer sehr spezifischen Bitte: „Würdest du bitte deine Socken in dein Zimmer oder in die Waschmaschine tun?“ Dieses vierte Element bezieht sich darauf, was wir vom anderen wollen, so dass unser beider Leben schöner wird. Was kann er oder sie konkret tun, um unsere Lebensqualität zu verbessern?

So besteht die eine Seite der GFK darin, diese vier Informationsteile ganz klar auszudrücken, mit Worten oder auf andere Weise. Auf der anderen Seite nehmen wir die gleichen vier Informationsteile von unseren Mitmenschen auf. Wir treten mit ihnen in Kontakt, indem wir uns darauf einstimmen, was sie beobachten, fühlen und brauchen, und wenn wir dann den vierten Teil hören, ihre Bitte, entdecken wir, was ihre Lebensqualität verbessern würde. Während wir unser Augenmerk auf diese vier Bereiche richten und anderen dabei helfen, das Gleiche zu tun, bauen wir einen Kommunikationsfluss auf, der sich hin und her bewegt: Was ich beobachte, fühle und brauche; um was ich bitte, um mein Leben zu verschönern; was du beobachtest, fühlst und brauchst; worum du bittest, um dein Leben zu verschönern ...

Der Prozess der Gewaltfreien Kommunikation

Die beiden Teile der GFK:
1. Sich mithilfe der vier Komponenten ehrlich ausdrücken.
2. Mithilfe der vier Komponenten empathisch zuhören.

Wenn wir mit dem Modell arbeiten wollen, können wir entweder damit anfangen, uns selbst in dieser Sprache auszudrücken, oder die vier Informationsteile von anderen Menschen einfühlsam aufzunehmen. Auch wenn wir in den Kapiteln 3 bis 6 lernen, auf die einzelnen Komponenten zu hören und sie verbal auszudrücken, ist es doch wichtig, im Gedächtnis zu behalten, dass die GFK nicht auf einer feststehenden Formel beruht, sondern sich unterschiedlichen Situationen ebenso anpasst wie persönlichen und kulturellen Gegebenheiten. Obwohl ich die GFK zweckmäßigerweise als „Prozess“ oder „Sprache“ bezeichne, ist es genauso gut möglich, alle vier Teile des Modells auszudrücken, ohne dabei ein einziges Wort zu verlieren. Das Wesentliche der GFK findet sich in unserem Bewusstsein über die vier Komponenten wieder und nicht in den tatsächlichen Worten, die gewechselt werden.

1.4 Wie wir die Gewaltfreie Kommunikation in unserem Leben und in unserer Umgebung anwenden können

Wenn wir die GFK in Interaktionen anwenden – mit uns selbst, mit einem anderen Menschen oder in einer Gruppe –, beginnen wir damit, uns immer stärker auf dem Boden unseres natürlichen Einfühlungsvermögens zu bewegen. Deshalb ist sie auch eine Tür, die auf allen Ebenen der Kommunikation und in den unterschiedlichsten Situationen erfolgreich geöffnet werden kann:

Manche Menschen nutzen die GFK, um in ihren Beziehungen mehr Tiefe und Achtsamkeit zu entwickeln:

„Als ich lernte, wie ich mithilfe der GFK ebenso nehmen (hören) wie geben (mich mitteilen) kann, ließ ich das Gefühl, angegriffen oder als Fußabtreter benutzt zu werden, hinter mir und fing an, wirklich zuzuhören und die Gefühle aufzuspüren, die hinter den Worten liegen. Ich entdeckte einen sehr verletzten Mann, mit dem ich seit 28 Jahren verheiratet war. Am Wochenende vor unserem GFK-Workshop hatte er mich um die Scheidung gebeten. Um es kurz zu machen, wir sind heute hier – zusammen, und ich weiß den Anteil der GFK an unserem Happy End sehr zu schätzen. ... Ich habe gelernt, auf Gefühle zu hören, meine Bedürfnisse auszudrücken, Antworten, die ich nicht immer hören wollte, zu akzeptieren. Er ist nicht dazu da, mich glücklich zu machen, und ich bin nicht dazu da, ihm Glück zu bereiten. Wir haben beide gelernt zu wachsen, zu akzeptieren und zu lieben, sodass jeder von uns erfüllt leben kann.“ (Eine Workshop-Teilnehmerin in San Diego)

Andere nutzen sie, um die Beziehungen an ihrem Arbeitsplatz zu verbessern. Ein Lehrer schreibt:

„Seit etwa einem Jahr wende ich die GFK in meiner Sonderschulklasse an. Es kann sogar mit Kindern funktionieren, die in ihrer Sprachentwicklung zurück sind, die Lernprobleme und Verhaltensstörungen haben. Ein Schüler spuckt in unserem Klassenzimmer, er flucht, schreit und piekst seine Mitschüler mit Stiften, wenn sie in die Nähe seiner Bank kommen. Ich gebe ihm dann folgendes Stichwort:

,Bitte sag das anders. Sag es in Giraffensprache.‘ (In manchen Workshops werden Giraffenpuppen als Unterstützung eingesetzt, um die GFK zu demonstrieren.) Er steht dann sofort auf, schaut denjenigen an, über den er sich ärgert, und sagt ruhig:

,Würdest du bitte von meiner Bank weggehen? Ich werde sauer, wenn du so nahe bei mir stehst.‘ Der Mitschüler antwortet dann vielleicht so: ,Entschuldige! Ich hatte vergessen, dass dich das stört.‘

Ich fing an, über meine Frustration mit diesem Kind nachzudenken, und versuchte herauszufinden, was ich von ihm brauchte (abgesehen von Harmonie und Ordnung). Mir wurde klar, wie viel Zeit ich in die Unterrichtsvorbereitung gesteckt hatte und wie sehr meine Bedürfnisse nach Kreativität und danach, einen sinnvollen Beitrag zum Unterricht zu leisten, auf der Strecke blieben, weil ich dauernd mit seinem Verhalten beschäftigt war. Ich hatte auch den Eindruck, dass ich zu wenig auf die Lernbedürfnisse der anderen Schüler einging. Wenn er sich jetzt in der Klasse ausagiert, sage ich zu ihm: ,Mir ist es wichtig, dass du mit deiner Aufmerksamkeit bei mir bist.‘ Vielleicht braucht er diese Aufforderung hundertmal am Tag, aber er versteht, was ich meine, und beschäftigt sich dann meistens wieder mit dem Unterricht.“

Eine Ärztin schreibt:

„Ich wende die GFK immer öfter in meiner Arztpraxis an. Manche Patienten fragen mich, ob ich Psychologin bin, weil sich ihre Ärzte normalerweise nicht dafür interessieren würden, wie ihre Patienten ihr Leben leben oder mit ihren Krankheiten umgehen. Die GFK hilft mir, die Bedürfnisse meiner Patienten zu verstehen und auch, was für sie in einem bestimmten Moment wichtig ist zu hören. Gerade im Kontakt mit Patienten, die Aids haben oder Bluter sind, finde ich das besonders hilfreich, denn da gibt es so viel Ärger und Schmerz, und das beeinträchtigt die Beziehung zwischen Patient und Behandler oft ernsthaft. Kürzlich erzählte mir eine Frau, die Aids hat und die ich seit fünf Jahren behandle, was ihr am allermeisten geholfen hat: mein Bestreben, immer wieder etwas zu finden, das ihr im täglichen Leben Freude macht. Mit der GFK zu arbeiten hilft mir sehr auf diesem Gebiet. In der Vergangenheit war ich immer wieder in meinen Prognosen gefangen, wenn ich wusste, dass ein Patient eine schlimme Krankheit hatte, und es fiel mir schwer, die Patienten wirklich zu ermutigen, ihr Leben zu leben. Mit der GFK habe ich ein neues Bewusstsein entwickelt und auch eine neue Sprache. Ich bin erstaunt, wenn ich sehe, wie gut das in meine ärztliche Praxis passt. Je mehr ich mich in den ,Tanz‘ der GFK hineinbegebe, desto mehr Energie und Freude habe ich bei meiner Arbeit.“

Wieder andere bedienen sich des Prozesses in der politischen Arena. Einer französischen Ministerin, die ihre Schwester besuchte, fiel auf, wie anders diese Schwester und ihr Mann miteinander kommunizierten und aufeinander eingingen. Ermutigt durch deren Beschreibungen der GFK erwähnte sie, dass in der kommenden Woche Verhandlungen zwischen Frankreich und Algerien auf ihrem Plan stünden, bei denen es um einige heikle Themen bezüglich der Durchführung von Adoptionen gehe. Da nur wenig Zeit zur Verfügung stand, kam eine Trainerin ins Haus, die mit der Ministerin arbeitete. Diese sagte später, sie verdanke viel von dem Erfolg, den sie bei ihren Verhandlungen in Algerien hatte, ihren neu erworbenen Kommunikationstechniken.

In Jerusalem, während eines Workshops mit Israelis unterschiedlicher politischer Couleur, äußerten die Teilnehmer ihre Meinung zur heiß umkämpften Westbank mithilfe der GFK. Viele der israelischen Siedler, die sich auf der Westbank eingerichtet haben, glauben, dass sie damit einen religiösen Auftrag erfüllen. Sie sind festgefahren in einem Konflikt nicht nur mit den Palästinensern, sondern auch mit Israelis, die die palästinensische Hoffnung auf nationale Souveränität in dieser Region anerkennen. In einer Sitzung machte ich mit einem Trainer vor, wie man in der GFK empathisch zuhört, und lud dann die Teilnehmer ein, abwechselnd im Rollenspiel die gegenseitigen Positionen auszuprobieren. Nach 20 Minuten sprach eine Siedlerin ihre Bereitschaft aus, ernsthaft in Betracht zu ziehen, ihre Siedlungsansprüche aufzugeben und von der Westbank in international anerkanntes israelisches Gebiet umzuziehen, wenn ihre politischen Gegner in der Lage wären, ihr so zuzuhören, wie sie es eben gerade erlebt hatte.

Auf der ganzen Welt dient die GFK jetzt als wertvoller Lösungsansatz für Gemeinwesen und Gemeinschaften, die mit gewalttätigen Konflikten und ernsten ethnischen, religiösen oder politischen Spannungen zu kämpfen haben. Die Verbreitung der Ausbildung in GFK und ihre Anwendung in Mediationen durch Menschen im Konflikt in Israel, bei den palästinensischen Verwaltungsbehörden, in Nigeria, Ruanda, Sierra Leone und anderen Ländern ist für mich eine besondere Quelle der Freude. Mein Team und ich waren einmal in Belgrad und haben in drei sehr belasteten Tagen Mitbürger trainiert, die für den Frieden arbeiteten. Als wir dort ankamen, war die Verzweiflung auf den Gesichtern der Teilnehmer deutlich zu sehen, denn ihr Land war in einen brutalen Krieg mit Bosnien und Kroatien verstrickt. Im Verlauf des Trainings hörten wir jedoch auch wieder lachende Stimmen, als die Gruppe ihre tiefe Dankbarkeit und Freude darüber ausdrückte, dass sie jetzt im Besitz der wirksamen, kommunikativen Fähigkeiten war, nach denen sie gesucht hatte. Während der nächsten beiden Wochen, in Ausbildungsworkshops in Kroatien, Israel und Palästina, erlebten wir erneut, wie verzweifelte Mitmenschen in kriegszerrissenen Ländern durch das Training der GFK ihren Elan und ihre Zuversicht wiedergewinnen.

Ich schätze mich glücklich, dass ich um die ganze Welt reisen und überall den Menschen eine Art der Kommunikation vermitteln kann, die ihnen Stärke und Freude gibt. Jetzt, mit diesem Buch, kann ich den Reichtum der GFK auch mit Ihnen teilen – das freut und begeistert mich.

1.5 Zusammenfassung

Die GFK hilft uns, mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen so in Kontakt zu kommen, dass sich unser natürliches Einfühlungsvermögen wieder entfalten kann. Die GFK zeigt uns, wie wir unsere Ausdrucksweise und unser Zuhören durch die Fokussierung unseres Bewusstseins auf vier Bereiche umgestalten können: was wir beobachten, fühlen und brauchen und worum wir bitten wollen, um unsere Lebensqualität zu verbessern. Die GFK fördert intensives Zuhören, Respekt und Empathie, und sie erzeugt einen beiderseitigen Wunsch, von Herzen zu geben. Die einen nutzen die GFK, um mit sich selbst einfühlsam umzugehen, andere vertiefen damit ihre persönlichen Beziehungen, und wieder andere bauen sich so bessere Kontakte am Arbeitsplatz oder in der Politik auf. Auf der ganzen Welt wird die GFK eingesetzt, um bei Auseinandersetzungen und Konflikten auf allen Ebenen zu vermitteln.

 GFK in der Praxis

„Mörder, Attentäter, Kinderkiller!“

Eingestreut in das Buch sind Dialoge mit dem Titel „GFK in der Praxis“. Diese Dialoge wollen einen Eindruck von echten Gesprächen geben, in denen einer der Gesprächsteilnehmer die Prinzipien der GFK anwendet. Dennoch ist GFK nicht einfach eine Sprache oder ein Satz Techniken für den Umgang mit Wörtern. Das Bewusstsein und die innere Einstellung, die das Ganze erst richtig erfassen, können auch durch Schweigen ausgedrückt werden, durch eine hohe Qualität der Präsenz oder auch durch den Gesichtsausdruck und die Körpersprache. Die Dialoge „Gewaltfreie Kommunikation in der Praxis“, die Sie gleich lesen werden, sind notwendigerweise gestraffte und gekürzte Fassungen von echten Gesprächen, in denen die Augenblicke schweigender Empathie, Geschichten, Humor, Gesten usw. zu einem natürlicheren Fließen zwischen zwei Menschen beitragen, als es möglicherweise in der gedruckten Fassung zum Ausdruck kommt.

Einmal präsentierte ich die GFK in einer Moschee im Flüchtlingslager Deheisha in Bethlehem vor etwa 170 palästinensischen, männlichen Moslems. Die Haltung der Palästinenser gegenüber Amerikanern war zu der Zeit nicht gerade freundlich. Während ich redete, merkte ich plötzlich, wie eine Welle gedämpfter Aufregung durch die Menge ging. „Sie flüstern, dass du Amerikaner bist!“, warnte mich gerade mein Übersetzer, als ein Mann aus dem Publikum aufsprang. Er sah mir direkt ins Gesicht und schrie aus vollem Hals: „Mörder!“ Augenblicklich fiel ein Dutzend Männer mit ihm in einen Chor ein: „Attentäter!“, „Kinderkiller!“, „Mörder!“.

Glücklicherweise war ich in der Lage, meine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was der Mann fühlte und brauchte. In diesem Fall hatte ich einige Anhaltspunkte: Auf meinem Weg in das Flüchtlingslager hatte ich einige leere Tränengasdosen gesehen, die in der Nacht zuvor in das Lager geschossen worden waren. Auf jeder Dose stand deutlich lesbar die Aufschrift „Made in USA“. Ich wusste, dass die Flüchtlinge viel Ärger gegen die Vereinigten Staaten aufgestaut hatten wegen der Versorgung Israels mit Tränengas und anderen Waffen.

Ich sprach zu dem Mann, der Mörder zu mir gesagt hatte:

Ich: Ärgern Sie sich, weil Sie möchten, dass meine Regierung ihre Mittel anders einsetzt? (Ich wusste nicht, ob ich mit meiner Vermutung richtig lag, entscheidend ist jedoch mein ernst gemeinter Versuch, mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen in Kontakt zu kommen.)

Er: Verdammt noch mal, ja, ich ärgere mich! Sie glauben, wir brauchen Tränengas? Wir brauchen eine Kanalisation und nicht euer Tränengas! Wir brauchen Wohnungen! Wir brauchen ein eigenes Land!

Ich: Sie sind also wütend und hätten gerne Unterstützung, um Ihre Lebensbedingungen zu verbessern und auch für Ihre politische Unabhängigkeit?

Er: Wissen Sie, wie es ist, hier 27 Jahre lang zu leben, so wie ich mit meiner Familie – Kindern und allem? Haben Sie auch nur den blassesten Schimmer, wie das die ganze Zeit für uns ist?

Ich: Das klingt so, als wären Sie sehr verzweifelt und würden sich fragen, ob ich oder jemand anders wirklich verstehen kann, wie es ist, unter solchen Bedingungen zu leben.

Er: Sie wollen das verstehen? Sagen Sie, haben Sie Kinder? Gehen die zur Schule? Haben sie Spielplätze? Mein Sohn ist krank! Er spielt in offenen Abwässern! In seiner Klasse gibt es keine Bücher! Haben Sie schon mal eine Schule gesehen, die keine Bücher hat?

Ich: Ich höre, wie weh es Ihnen tut, Ihre Kinder hier aufzuziehen; Sie möchten, dass ich verstehe, dass Sie wollen, was alle Eltern für ihre Kinder wollen – eine gute Ausbildung, Möglichkeiten zum Spielen und in einer gesunden Umgebung aufwachsen ...

Er: Stimmt genau, die Grundbedingungen! Menschenrechte – nennt ihr Amerikaner es nicht so? Warum kommen nicht mehr von euch hierher und schauen sich an, welche Art von Menschenrechten ihr uns bringt!

Ich: Sie hätten gerne, dass sich mehr Amerikaner über das Ausmaß des Leids hier klar werden und sich die Konsequenzen ihrer politischen Entscheidungen genauer überlegen?

Unser Dialog ging noch weiter; er brachte fast 20 Minuten lang seinen Schmerz zum Ausdruck, und ich hörte auf die Gefühle und Bedürfnisse hinter jeder Aussage. Ich stimmte nicht zu und lehnte nicht ab. Ich nahm seine Worte auf, aber nicht als Angriffe, sondern als Geschenke eines Mitmenschen, der bereit ist, sein Innerstes und seine tiefe Verletzlichkeit mit mir zu teilen.

Sobald sich der Mann verstanden fühlte, konnte er mir zuhören, als ich den Grund meiner Anwesenheit im Lager erläuterte. Eine Stunde später lud mich derselbe Mann, der mich Mörder genannt hatte, zu einem Ramadan-Essen nach Hause ein.

2. Wie Kommunikation Einfühlungsvermögen blockiert

„Verurteile nicht, und du wirst nicht verurteilt werden. Denn wenn du andere verurteilst, so wirst du selbst verurteilt werden ...“

Matthäus 7.1

Bestimmte Arten der Kommunikation entfremden uns von unserer natürlichen, einfühlsamen Natur.

Bei meinem Studium der Frage, was uns von unserer einfühlenden Natur entfremdet, habe ich spezifische Formen der Sprache und der Kommunikation identifiziert, von denen ich glaube, dass sie zu unserem gewalttätigen Verhalten uns selbst und anderen gegenüber beitragen. Mit dem Begriff „lebensentfremdende Kommunikation“ meine ich diese Kommunikationsformen.

2.1 Moralische Urteile

Eine Variante lebensentfremdender Kommunikation sind moralische Urteile, die anderen Leuten unterstellen, dass sie unrecht haben oder schlecht sind, wenn sie sich nicht unseren Wünschen gemäß verhalten. Beispiele für solche Urteile sind etwa: „Dein Problem ist, dass du zu selbstsüchtig bist“; „Sie ist faul“; „Die haben Vorurteile“; „Es ist unangemessen“. Schuldzuweisungen, Beleidigungen, Niedermachen, in Schubladen stecken, Kritik, Vergleiche und Diagnosen sind alles Formen von Verurteilungen.

In der Welt der Urteile drehen sich unsere Gedanken um die Frage: „Wer ist was?“

Der Sufi-Poet Rumi schrieb einst: „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“ Lebensentfremdende Kommunikation jedoch lockt uns in die Falle einer Welt von Annahmen darüber, was richtig und was falsch ist – einer Welt der Urteile. Dazu gehört eine Sprache, reich an Worten, die Handlungen abstempeln und bewertend voneinander trennen. Wenn wir diese Sprache sprechen, verurteilen wir andere und ihr Verhalten, während wir damit beschäftigt sind, wer gut oder böse ist, normal, unnormal, verantwortlich, unverantwortlich, gescheit, dumm usw.

Analysen von anderen Menschen sind in Wirklichkeit Ausdruck unserer eigenen Bedürfnisse und Werte.

Lange bevor ich erwachsen wurde, lernte ich, in einer unpersönlichen Art zu kommunizieren: Es war nicht nötig, anderen das zu zeigen, was in mir vorging. Wenn mir Menschen begegneten, deren Verhalten ich entweder nicht mochte oder nicht verstand, dann reagierte ich darauf, indem ich ihr Fehlverhalten definierte. Wenn meine Lehrer mir eine Aufgabe zuwiesen, die ich nicht tun wollte, waren sie „gemein“ oder „unvernünftig“. Wenn jemand im Verkehr direkt vor mir ausscherte, war meine Reaktion: „Du Idiot!“ Wenn wir diese Sprache sprechen, dann kommunizieren wir in Kategorien von „was mit den anderen nicht stimmt, wenn sie sich so und so verhalten“, oder auch gelegentlich „was mit uns selbst nicht stimmt, wenn wir etwas nicht verstehen oder nicht so reagieren, wie wir es gerne tun würden“. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich eher darauf, zuzuordnen, zu analysieren und Ebenen des Fehlverhaltens zu identifizieren, als auf das, was wir und andere brauchen und nicht bekommen. So ist dann auch meine Partnerin „bedürftig und abhängig“, wenn sie mehr Zärtlichkeit möchte, als ich ihr gebe. Aber wenn ich mehr Zärtlichkeit möchte, als sie mir gibt, dann ist sie „unnahbar und unsensibel“. Wenn sich mein Kollege mehr Gedanken über Details macht als ich, ist er „pingelig und zwanghaft“. Andererseits, mache ich mir mehr Gedanken über die Details als er, ist er „schlampig und schlecht organisiert“.

Es ist meine Überzeugung, dass diese ganzen Analysen des Verhaltens anderer Menschen tragischer Ausdruck unserer eigenen Werte und Bedürfnisse sind. Tragisch aus folgendem Grund: Wenn wir unsere Werte und Bedürfnisse auf diese Weise ausdrücken, erzeugen wir genau bei den Menschen Abwehr und Widerstand, an deren Verhalten uns etwas liegt. Oder: Wenn sie wirklich damit einverstanden sind, sich in Übereinstimmung mit unseren Werten zu verhalten, weil sie unserer Analyse ihres Fehlverhaltens zustimmen, werden sie es sehr wahrscheinlich aus Angst, Schuldgefühl oder Scham tun.