Brigitta D‘Orazio

Die Tränen des Meeres

Roman

LangenMüller

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© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 2009 by Edition Tosca in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH

Covergestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: © Thinkstockphoto

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8294-1

Die Welt sieht anders aus,

noch glaub ich’s nicht,

es kann nicht sein,

und eine tiefe, leise Stimme spricht:

Wir sind allein.

Kurt Tucholsky

Prolog

Marlene sah vom Monitor auf und lauschte. Aus der Hotelküche drang Lachen zu ihr herüber. Leise nur, wie hinter vorgehaltener Hand, aber eindeutig ein Lachen.

Jetzt kam ein zweites Lachen dazu, es hörte sich beinahe kindlich an.

Marlene erhob sich, den Blick noch auf ihre Abrechnungen gerichtet, den Körper angespannt. Sie wusste, wer in der Küche war, aber es gelang ihr nicht, das Lachen mit diesen beiden Menschen in Einklang zu bringen. Es passte nicht zusammen. Sie kannten doch schon lange keine Heiterkeit mehr.

Nun trat Stille ein, und Marlene war froh darüber. Das Neue hatte ihr Angst gemacht, denn sie hatte gespürt, wie irgendwo tief in ihrem Innern etwas ins Wanken geriet. Gleichzeitig hatte der Boden unter ihren Füßen nachgegeben, wie der Meeressand, wenn er von einer Welle überspült wurde. Das starre Gerüst ihres seelischen Gleichgewichts drohte einzustürzen.

Aber schon wenige Sekunden später setzte das Lachen wieder ein, lauter diesmal, geradezu ausgelassen.

Marlene lächelte plötzlich und merkte es nicht. Auf einmal wollte sie dem Gelächter nachgehen, sich zu den zwei Menschen gesellen, die sie liebte.

Während sie über den langen Flur in Richtung der Hotelküche ging, erst zögernd, dann immer schneller, erinnerte sie sich daran, wie das Schicksal ihr vor sieben Monaten alle Fröhlichkeit genommen hatte. Für immer, hatte sie damals gedacht.

1

Die Strahlen der Morgensonne wanderten über ihre geschlossenen Augenlider und hinterließen eine Spur aus Licht und Wärme. Marlene lächelte im Halbschlaf. Mit ihrer linken Hand tastete sie nach Luca. Er war fort.

Merkwürdig, dachte sie.

Es passierte nur selten, dass ihr Mann vor ihr wach wurde. Marlene stand auf und überlegte, was er für diesen Tag geplant hatte. Es wollte ihr nicht einfallen. Mit wenigen Schritten war sie an der Fensterfront, zog die schwere Schiebetür auf und trat hinaus auf die Dachterrasse. Für einen Moment vergaß sie ihre Grübelei und genoss die Aussicht. Unter ihr lag der Strand von Cattolica, weit und weiß, ohne die unzähligen Sonnenschirme und Liegen, die ihn im Sommer bedeckten. Dahinter erstreckte sich die Adria, scheinbar regungslos, glitzernd in der Morgensonne.

Der Oktober war ihr Lieblingsmonat. Die Sommersaison war zu Ende, die letzten Gäste waren abgereist, und das ›Hotel Bellavista‹ versank in eine Art Dornröschenschlaf. Die fünf Stockwerke blieben bis zum Frühjahr unbewohnt, und nur hier und da wurde die Stille von Handwerkern gestört, die ein neues Badezimmer einbauten oder die veralteten Elektrokabel ersetzten. Ganz oben aber, im Penthouse, ging das Leben weiter. Hier wohnte die junge Familie Pasini und genoss es, endlich wieder ein Privatleben zu haben, nachdem der Hotelbetrieb sie einen ganzen Sommer lang vollkommen vereinnahmt hatte. Jedes Jahr aufs Neue freute sich Marlene auf den Herbst und den Winter. Es war die Zeit, in der sie wieder zur Ruhe kam und sich an ihrem wunderbaren Leben freuen konnte.

Tief sog sie die frische salzhaltige Luft ein, hob die Arme, wollte die ganze Welt umfangen, ließ sie aber schnell wieder sinken, kam sich ein bisschen albern vor.

Sie nahm eine Bewegung hinter sich war, rührte sich nicht, schloss nur kurz die Augen und wartete auf den Moment der Liebe.

Die Schritte, das Schweigen – ihr Herz schien stillzustehen. Aber nur für ein, zwei Sekunden. Dann legte Luca ihr seine Hände auf die Schultern, vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge und flüsterte. »Buongiorno, Amore mio.«

Wärme durchströmte sie, und schon begriff sie nicht mehr, warum sie sich eben so erschreckt hatte. Es liegt am Glück, dachte sie dann. Wenn es so groß ist wie meins, dann zeigt es manchmal sein Schattengesicht, wie zur Warnung: Ich bin nicht selbstverständlich.

»Tutto a posto?« Lucas Atem streichelte ihren Hals, seine Haut war noch feucht von der Dusche.

»Ja«, erwiderte sie schnell. »Alles in Ordnung.«

Er drehte sie zu sich herum, musterte sie aufmerksam. »Und woher kommt dann diese kleine Falte?« Sanft strich er mit den Fingerspitzen die Linie zwischen ihren Augenbrauen nach.

»Es ist nichts.« Marlene lächelte, die Falte verschwand.

Luca küsste sie leicht auf die Nasenspitze und schaute dann aufs Meer hinaus. Marlene musterte sein Profil. Mit fünfunddreißig sah er sogar noch besser aus als mit zwanzig. Die hohen Wangenknochen verrieten seine kroatische Mutter, das breite energische Kinn war ein Erbe seines Vaters Tonio. Beim Gedanken an ihren Schwiegervater zuckte Marlene zusammen. Tonio Pasini hatte sie von Anfang an abgelehnt, und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Als sie vor fünfzehn Jahren zum ersten Mal an Lucas Seite das Hotel betreten hatte, da war sein Vater auf sie zugegangen: »Ein Modepüppchen aus Deutschland können wir hier nicht gebrauchen!«, hatte er sie angefahren. »Geh und lass uns hier in Ruhe.«

Luca hatte sie vorgewarnt. »Mein Vater trauert noch um Mamma. Sie ist viel zu jung gestorben, und das hat ihn verbittert. Also mach dich darauf gefasst, dass sein Empfang nicht sehr herzlich sein wird.«

Was eine glatte Untertreibung war, fand Marlene. Sie versteckte sich hinter Lucas breitem Rücken, aber nach einem kurzen Moment tauchte sie wieder auf und sagte zu seinem Vater: »Ich liebe Luca und ich lasse mich nicht vertreiben.« Dabei zitterte sie zwar am ganzen Körper, aber Tonio Pasini war für den Moment geschlagen.

Damals hatte Marlene gehofft, ihr Verhältnis würde sich mit der Zeit bessern, aber der Alte blieb stur. Nicht einmal, als sein Enkel Matteo auf die Welt kam, ließ er sich erweichen, seiner Schwiegertochter ein freundliches Wort zu sagen. Dann eben nicht, hatte sie gedacht und war ihm weiterhin aus dem Weg gegangen, wo sie nur konnte. Was nicht einfach war, denn das ›Bellavista‹ war wie alle Hotels der Gegend ein Familienbetrieb, und Tonio Pasini war noch immer der Chef.

Aber er hat es nie geschafft, uns auseinanderzubringen, dachte Marlene jetzt voller Genugtuung und löste den Blick von ihrem Mann. Wir sind glücklich, alles andere ist unwichtig.

Luca fuhr mit der Hand durch ihre Locken. Ihm zuliebe hatte sie ihr Haar wachsen lassen, obwohl sie in jedem heißen Sommer darunter litt und ankündigte, sie werde es jetzt endlich abschneiden.

»Machst du einen Strandlauf?«

Marlene schmiegte sich eng an seine Brust. »Sobald ich Matteo zur Schule geschickt habe. Kommst du mit?«

Er schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass ich heute meine Tour habe.«

Jetzt fiel es ihr wieder ein. Seit Tagen sprach Luca von nichts anderem. Er wollte seine Maschine aus der Garage holen und Richtung Norden fahren, bis nach Venedig, wo Verwandte seiner Mutter lebten. Im Sommer hatte er nur selten Zeit für sein Hobby, aber ein sonniger Oktobertag musste ausgenutzt werden.

Später dachte Marlene, sie hätte in diesem Moment etwas spüren müssen. Eine Ahnung oder ihren Puls, der plötzlich schneller wurde. Aber da war nichts. Nur der schöne Morgen und ihr Mann, der zu einer Motorradtour aufbrach. Sie hatte sich längst mit seinem Hobby arrangiert und zwang sich, keine Angst um ihn zu haben. Luca war ein umsichtiger Fahrer, der lieber einmal mehr vom Gas ging, als etwas zu riskieren. So küsste sie ihn jetzt auf die Lippen, lächelte ihn an und sagte: »Deshalb bist du so früh aufgestanden. Ich habe mich schon gewundert.«

Er lachte. »Erwischt, Bella mia.« Dann löste er sich von ihr, warf ihr noch eine Kusshand zu und verschwand nach drinnen. Sie drehte sich nicht um, hörte nur, wie er seine schwere Lederkluft aus dem Schrank holte und anzog. Die Stiefel quietschten auf dem Parkett, als Luca kurz darauf das Schlafzimmer verließ. Es war das letzte Geräusch, das sie von ihm hörte. Das Quietschen seiner Motorradstiefel.

Nach einer Weile kehrte auch Marlene in die Wohnung zurück und ging ins Zimmer ihres Sohnes. Einen Moment lang beobachtete sie ihn schweigend. Der zwölfjährige Matteo hatte von seinen Eltern zu gleichen Teilen Aussehen und Charakter geerbt. Die braunen Haare und das fröhliche Temperament waren von seinem Vater, die hellblauen Augen und eine gewisse Ernsthaftigkeit von ihr. Dazu aber kam sein ganz eigener Hang zum Perfektionismus, der ihm das Leben viel zu oft schwer machte. Matteo wollte immer alles richtig machen und hatte noch nicht gelernt, dass so etwas nicht möglich war.

In der Schule gehörte er zu den Besten, aber er war niemals der Beste, weil er hin und wieder eine Arbeit schlechter schrieb als andere in seiner Klasse. So wie neulich in Erdkunde. Die ersten von fünf Fragen zu den italienischen Regionen hatte er in aller Ausführlichkeit beantwortet – mit dem Ergebnis, dass ihm keine Zeit mehr für die letzten beiden Fragen blieb. Zwei Tage lang hatte er sich darüber geärgert, und weder Marlene noch Luca war es gelungen, ihm ein wenig von der Last abzunehmen, die er sich selbst auferlegte. Erst als Luca ihn am Sonntag mit zu einer Bootstour nahm, vergaß Matteo seine Enttäuschung, und als sie abends heimkamen, hungrig wie die Wölfe und voller Geschichten über ihren Tag auf dem Meer, da war er wieder der fröhliche Junge, den sie so liebte.

Sanft strich sie ihm jetzt über den Kopf. »Aufwachen, Großer, Zeit für die Schule.«

Matteo war sofort wach. Auch das hatte er von seiner Mutter geerbt. »Guten Morgen«, sagte er. »Heute schreiben wir die Mathearbeit.«

»Ich weiß«, erwiderte Marlene. »Du schaffst das schon.« Sie wusste, wie viele Sorgen er sich machte, denn er war der Meinung, dass er den neuen Stoff, die Bruchrechnung, noch nicht ganz beherrschte.

Matteo antwortete nicht. Er war in einem Alter, in dem die Meinung der Mutter nicht mehr allzu viel zählte. Wenig später beim Frühstück brütete er schweigend vor sich hin, und Marlene beobachtete ihn voller Kummer. Ihr lagen noch einige Ermunterungen auf der Zunge, aber sie schluckte sie hinunter. Erst als er mit seinem Ranzen schon in der Tür stand, strich sie ihm leicht über die Wange. »Viel Glück, Großer.«

Matteo knurrte eine unverständliche Antwort und lief dann zur Bushaltestelle.

Marlene beschloss, sich nicht zu viele Gedanken zu machen. Sie schlüpfte in ihre Sportsachen und joggte kurz darauf am noch menschenleeren Strand entlang.

Vier Stunden später erhielt sie einen Anruf, bei dem sich in ihr alles schmerzhaft zusammenzog.

Gegen Mittag verließ Tanja Kranz die Autobahn und fuhr auf der Staatsstraße weiter in Richtung Süden. Sie war frühmorgens um sieben in München gestartet, und nun spürte sie die Anstrengung der langen Fahrt. Außerdem hatte sie in der Nacht vor Aufregung kaum geschlafen. Ihre erste große Reise, ganz allein. Vor vier Wochen hatte sie ihre Führerscheinprüfung bestanden, und nichts und niemand konnte sie von ihrem Plan abhalten. Schon gar nicht ihre überängstliche Großmutter. Tanja wollte nach Rimini. Zwei Wochen lang die Nächte durchtanzen und tagsüber am Meer faulenzen. Was konnte herrlicher sein? Vorausgesetzt, das Oktoberwetter war noch schön genug für das Strandleben. Aber davon war Tanja einfach überzeugt.

Natürlich war Veronika dagegen gewesen. »Kind, so ganz allein! Du kennst dich da unten doch gar nicht aus.« Dazu hatte sie verzweifelt die Hände gerungen und ein Gesicht gemacht, als wollte ihre Enkelin allein auf einem Kamel die Wüste Gobi durchqueren.

»Ach, Großmama, mach dir nicht immer so viele Sorgen. Ich bin achtzehn. Ich kann schon auf mich aufpassen. Außerdem hast du mir eine Reise zum Abitur versprochen. Und im Sommer konnte ich nicht weg, weil ich das Praktikum gemacht habe.«

»Aber ich dachte, wir fahren wieder zusammen nach Meran.« Veronika hatte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass die Kleine erwachsen wurde.

Tanja liebte ihre Großmutter, sie war der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Als Tanjas Eltern beim Absturz ihres Sportflugzeugs ums Leben gekommen waren, hatte Veronika die Vierjährige zu sich genommen. Aber Tanja sah auch, wie müde sie in letzter Zeit war. Mit fünfundsiebzig hatte sie eben nicht mehr die Kraft einer jungen Frau. Deshalb spielte Tanja ihren größten Trumpf aus. »Du könntest doch in der Zeit zur Kur nach Bad Tölz fahren. Der Arzt hat dir schon so oft dazu geraten. Dein schwaches Herz braucht Erholung.«

»Mein Herz ist weder schwach noch sonst was. Das schlägt auch noch mit hundert Jahren einwandfrei«, hatte Veronika geantwortet, aber Tanja konnte sehen, dass ihr der Gedanke an eine Kur gefiel. Deshalb gab die Ältere schließlich nach und ließ ihre Enkelin ziehen, nicht ohne ihr tausend Ermahnungen mit auf den Weg zu geben. »Mach alle zwei Stunden eine Pause, und wenn du nicht mehr kannst, übernachtest du irgendwo. Es ist nicht nötig, die Strecke in einem Stück zu schaffen ...« Und so ging es weiter, bis Tanja fast die Geduld verlor.

Aber dann kam der Morgen der Abreise, ihr Koffer war gepackt, und der neue Kleinwagen wartete vor dem Haus auf sie. »Nicht wahr, Hugo, du kannst es auch kaum erwarten, in den sonnigen Süden zu kommen«, sagte Tanja.

»Hugo!«, schnaubte Veronika. »Wie kann man ein Auto bloß Hugo nennen.«

Tanja lächelte nur, stellte den großen Proviantkorb auf den Beifahrersitz und nahm ihre Großmutter in die Arme. Ihr fiel sofort auf, wie zerbrechlich Veronika war. Warum hatte sie das nicht schon früher bemerkt? Was mache ich nur, dachte sie plötzlich und war voller Sorge, wenn sie eines Tages stirbt? »Pass gut auf dich auf, Großmama.«

»Um mich mach dir mal keinen Kopf. Ich fahre ja nicht allein über die Alpen in ein fremdes Land. Sei vorsichtig mit dem Essen da unten, dass du dir nicht den Magen verdirbst. Und denk dran, dass die Italiener angeblich um einiges feuriger sind als die Jungs in München. Wenn du Hilfe brauchst, wendest du dich an das deutsche Konsulat, und versprich mir, dass du nicht telefonierst, solange du hinterm Steuer sitzt, das ist viel zu gefährlich, und denk außerdem dran ...«

Mehr hörte Tanja nicht, denn da ließ sie den Motor an und fuhr los.

Arme Veronika, dachte sie jetzt und rieb sich mit einer Hand über die Augen. Sie wird noch begreifen müssen, dass ich erwachsen geworden bin.

Tanja nahm sich vor, bei ihrer nächsten Rast zu Hause anzurufen. Veronika würde es sofort merken, wenn sie während der Fahrt telefonierte, und bisher hatte sie nur ein Mal ganz kurz angehalten. Da hatte sie den versprochenen Anruf vor lauter Reisefieber glatt vergessen und war schon nach wenigen Minuten weitergefahren. Entgegen Veronikas Ratschlag saß sie jetzt schon seit sieben Stunden ohne richtige Pause am Steuer. Sie war einfach zu ungeduldig. Der Süden lockte, das Meer wartete auf sie. Hinter dem Brennerpass war die Sonne herausgekommen, wie ein Versprechen auf eine wunderschöne Zeit.

Aber das eintönige Fahren auf der Autostrada machte sie müde. Deswegen war sie hinter Verona in Richtung Venedig abgebogen und hatte sich dann kurz vor der Lagunenstadt bei Mestre in den einspurigen Verkehr auf der Staatsstraße eingefädelt. Tanja hoffte, so wieder munter zu werden. Hier gab es mehr Abwechslung, sie fuhr durch kleinere und größere Orte, konnte von Zeit zu Zeit die Adria sehen und musste sich viel mehr konzentrieren. Das beste Mittel, um wach zu bleiben.

Noch einmal rieb sie sich die Augen und legte dann wieder beide Hände vorschriftsmäßig ans Lenkrad. In spätestens zwei Stunden würde sie Ravenna erreichen. Dann mache ich eine längere Pause, versprach sie im Geiste ihrer Großmutter.

2

Marlene vergrub beide Hände tief im Hackfleisch und vermischte die Masse mit Ei, Salz und altbackenen Brötchen. Luca mochte keine deutsche Küche, aber er war heute unterwegs. Deswegen würde es für sie und Matteo Frikadellen mit Kartoffelsalat geben. Im Gegensatz zu seinem Vater konnte der Junge gut mal auf Pasta oder Risotto verzichten.

Als das Telefon klingelte, fluchte Marlene leise. »Ausgerechnet jetzt.«

»Soll ich rangehen?« Ihre beste Freundin Vincenza stellte ihr Weinglas ab und stand auf. Die beiden kannten sich seit vielen Jahren. Vincenzas Mann Massimo war Lucas bester Freund, und so hatte es sich ganz von selbst ergeben, dass auch ihre Frauen sich anfreundeten. Die Tatsache, dass Vincenza einen Studienabschluss in deutscher Sprache besaß, hatte sie nur noch mehr zusammengeschweißt. Vincenza liebte es, ihr Deutsch zu üben, Marlene genoss es, in ihrer Muttersprache zu plaudern.

Jetzt hielt sie ihre mit Hackfleischpaste vollgeschmierten Hände hoch. »Ja, bitte.«

Vincenza ging hinüber ins Wohnzimmer, kam mit dem schnurlosen Telefon in der Hand wieder und meldete sich. Während sie sich die Hände wusch, sah Marlene, dass Vincenza die Stirn runzelte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, das Atmen fiel ihr schwer, und die Angst, die sie seit Jahren unterdrückte, war wieder da. Erst als Vincenza ihr das Telefon reichte und sagte: »Es geht um Matteo«, bekam sie wieder Luft. Aber dann erschrak sie wieder, als sie die geflüsterte Stimme von Matteos bestem Freund Emanuele hörte: »Ist Matti krank? Er geht nicht an sein Handy.«

»Krank? Nein. Wieso?« Aber sie wusste die Antwort schon, bevor Emanuele hastig weitersprach. »Er fehlt heute. Ich muss auflegen, der Mathelehrer ist da.«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Marlene gab Vincenza das Telefon zurück. »Matteo ist nicht zur Schule gegangen.« Sie ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken.

Vincenza goss ihr ein Glas Wein ein. »Hier, trink das. So was soll vorkommen. Der Junge hatte eben Angst vor der Mathearbeit.«

»Aber Matteo hat noch nie geschwänzt. Er ist ein guter Schüler.«

»Es gibt immer ein erstes Mal. Wart’s nur ab. In einer Stunde ist er wieder hier und er wird so tun, als wäre alles in Ordnung.«

Als Matteo tatsächlich pünktlich um halb zwei nach Hause kam, mit einem verlegenen Grinsen im Gesicht und bereit, seiner Mutter alles zu gestehen, da achtete niemand mehr auf ihn, und sein Schwänzen war in Vergessenheit geraten.

Kurz vor Venedig hatte Luca Pasini seine Meinung geändert. Ihm stand nicht mehr der Sinn nach einem Treffen mit den Verwandten in der Lagunenstadt. Er genoss viel zu sehr die Motorradtour und hatte keine Lust, stundenlang beim Mittagessen zu verbringen. Lieber wollte er umdrehen, wieder südwärts fahren und früher als geplant zurück bei seiner Familie sein. Das gleichmäßige Brummen seines Bikes entspannte ihn, und er lächelte unter seinem Visier. Marlene würde sich freuen, wenn er wieder da war, und ihm wahrscheinlich irgendein deutsches Essen anbieten. Luca liebte seine Frau über alles, aber die Gerichte aus ihrer Heimat waren einfach nicht nach seinem Geschmack. Bald würde er in Ravenna sein, und er beschloss, irgendwo eine Kleinigkeit zu essen. Dann wäre er trotzdem früher wieder zu Hause, aber mit einem vollen Magen.

Tanja spürte, wie ihr der Schweiß über den Rücken rann. Obwohl sie bei offenem Fenster fuhr, nahm die Hitze im Auto mit jeder Minute zu. Und das im Oktober! Eigentlich freute sich Tanja darüber, denn das bedeutete, dass ihr Traum von Sonne und Meer in Erfüllung ging. Aber die Hitze machte ihr zu schaffen, und sie konnte auch nicht mehr leugnen, wie erschöpft sie war. Ihre Muskeln schmerzten, hinter ihrer Stirn pochte ein gleichmäßiger Schmerz, und die Augen brannten. Tolle Art, einen Urlaub zu beginnen, schoss es ihr durch den Kopf. Dann wurde es dunkel.

Luca setzte den Blinker, um den deutschen Kleinwagen vor ihm zu überholen. Die Strecke war schnurgerade, auf weite Sicht kam kein Gegenverkehr, und der Wagen war in den letzten zwei, drei Minuten immer langsamer geworden.

Luca gab Gas, preschte vor, und er war auf gleiche Höhe, als der Wagen plötzlich nach links ausscherte. Er sah das Unglück kommen, aber er konnte nichts mehr tun.

Marlene, dachte er noch. Marlene, Amore mio.

Wieder klingelte das Telefon, diesmal ging Marlene ran. Die Frikadellen brutzelten in der Pfanne, der Kartoffelsalat war angerührt.

»Das ist Matteo«, sagte sie zu Vincenza. »Mal hören, was er für eine Ausrede hat.«

Vincenza nickte. Sie hatte sich gerade selbst zum Essen eingeladen. Ihr Mann Massimo, ein Leutnant der Carabinieri, nahm an einem Fortbildungsseminar in Rimini teil, und sie fühlte sich einsam in ihrem großen leeren Haus. Im Gegensatz zu Luca und Marlene hatten sie keine Kinder. Noch keine, korrigierte sie sich schnell aus altem Aberglauben. Sie waren jung genug, warum sollte bei ihnen nicht klappen, was allen anderen Paaren, die sie kannten, gelang?

Vincenza ging zum Herd, wendete die Frikadellen und wollte gerade etwas sagen, als sie den hellen Schlag hörte. Sie wirbelte herum.

Zuerst sah sie das Telefon auf dem Küchenfußboden liegen, der Akku war herausgesprungen und einen halben Meter weit weggeschliddert. Merkwürdigerweise konnte Vincenza den Blick eine ganze Weile nicht von dem kleinen schwarzen Kästchen lösen. Erst ein kaum hörbares Stöhnen riss sie aus ihrer Erstarrung und sie sah auf. Marlene wankte hin und her, in ihren Augen stand Panik, ihr Mund war wie zu einem Schrei geöffnet. Doch sie gab keinen Laut von sich.

Dio mio!, dachte Vincenza und begann, im Geiste das Ave Maria zu beten.

Etwas Furchtbares war passiert, und sie wünschte sich, weit, weit fort zu sein. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, und sie trat auf Marlene zu.

»Komm, setz dich«, sagte sie leise.

Aber Marlene rührte sich nicht.

»Was ist denn los?«

Marlene blickte zum Telefon am Fußboden. »Das ... war ein Oberst der Carabinieri aus Ravenna. Luca hat einen Unfall gehabt. Er ... ist im Krankenhaus.«

Vincenza hielt den Atem an, wartete auf das Schlimmste, aber Marlene fuhr nur fort: »Mehr wollen sie mir nicht sagen.«

»Okay, ganz ruhig, Vielleicht ist es nur halb so schlimm. Du setzt dich jetzt hin, und ich rufe mit meinem Handy da an und informiere mich, ja?«

»Hinsetzen? Warum?«

»Ich halte es einfach für eine gute Idee. Nun komm schon.« Sie rückte ihr einen Stuhl am Küchentisch zurecht und biss sich hart auf die Lippen, um nicht zu schreien.

Marlene ließ sich auf den Stuhl sinken. Sie wirkte völlig normal. Im nächsten Moment stand sie schon wieder auf. »Das Fleisch brennt an.«

In diesem Moment kam Matteo in die Küche. »Was gibt es zu essen?«

Marlene sah ihren Sohn an. »Frikadellen mit Kartoffelsalat«, sagte sie automatisch.

Er kam ganz dicht an sie heran. Es war lange her, dass Matteo ihre Nähe gesucht hatte. Er wolle nicht mehr von ihr umarmt werden, hatte er ihr mehrmals zu verstehen gegeben. Er sei doch kein Kind mehr. Und auch auf den Gute-Nacht-Kuss verzichtete er seit Neuestem. Aber nun schmiegte er sich an sie, legte ihr einen Arm um die Hüfte und schnupperte über der Pfanne. »Lecker!«

Marlene sah ihn an. »Du bist groß geworden.«

»Klar, Mamma.« Er grinste. »Seit heute früh bin ich mindestens zwanzig Zentimeter gewachsen.«

Sie lächelte nicht, wunderte sich nur, warum ihr bisher nicht aufgefallen war, dass aus ihrem Kind ein Mann wurde. Sein Gesicht war viel kantiger als früher, die Schultern wirkten breit und stark, und seine Stimme verlor langsam ihren hellen Klang.

»Mammina, ich muss dir was sagen.«

»Sei so gut und deck den Tisch. Vincenza ist auch da und wird mit uns essen. Sie ... telefoniert im Wohnzimmer.«

»Aber Mamma, wegen der Schule.«

»Nun mach schon, Junge. Du musst doch Hunger haben.«

»Klar, aber ...«

»Du kannst mir alles nachher erzählen. Jetzt wird gegessen.«

»Warum liegt das Telefon auf dem Fußboden?«

»Das, ach, ich bin vorhin ausgerutscht. Heb es doch bitte auf.«

»Du bist ausgerutscht? Hast du dir wehgetan?«

»Quatsch.«

»Aber du ... du siehst irgendwie blass aus.«

»Und du redest zu viel.«

Marlene häufte Essen auf die Teller, goss ihrem Sohn ein Glas Wasser ein, setzte sich zu ihm an den Tisch. Sie sah ihm dabei zu, wie er ein Stück von seiner Frikadelle nahm. Ihr fiel etwas ein. »Wie ist eigentlich die Mathearbeit gelaufen? Du hast dir doch bestimmt unnötig Sorgen gemacht.«

Matteo verschluckte sich, musste husten. Erstaunt klopfte sie ihm auf den Rücken und reichte ihm sein Glas.

Er trank vorsichtig. »Ich dachte, ich soll erst essen?«

»Ja, sicher. Ich war in der Schule ganz gut in Bruchrechnung. Habe ich dir das schon mal erzählt?«

»Äh, nein. Mamma, hast du keinen Hunger?«

»Wieso?«

»Du isst ja gar nicht.«

»Oh.«

Sie nahm Messer und Gabel in die Hand, konzentrierte sich, schob etwas Kartoffelsalat in den Mund. Komisch, er schmeckte wie Pappe. »Ich muss irgendwas vergessen haben. Vielleicht die Zitrone? Findest du nicht, da fehlt was?«

»Er ist okay.«

»Merkwürdig. Aber wenn du es sagst ... Übrigens, Emanuele hat angerufen.«

Matteo wurde blass. »Emanuele? Wann denn? Was wollte er?«

Sie versuchte, sich zu erinnern. »Ich weiß nicht mehr genau. War wohl nicht so wichtig.«

Vincenza kam in die Küche zurück, ihr Handy fest umklammert.

Marlene sprang auf. »Deine Frikadellen sind kalt geworden. Ich stelle sie dir schnell in die Mikrowelle.«

»Ist schon gut. Ich habe keinen Hunger. Hör mal, wegen Luca ...«

Matteo ließ sein Besteck fallen. »Ist was mit Papa?«, fragte er, die Stimme war auf einmal wieder die eines kleinen Jungen.

Marlene lächelte ihm zu. »Keine Angst, Großer. Bist du fertig? Willst du zu Emanuele gehen?«

»Ja, aber ...«

»Ach, wisst ihr«, Vincenza bemühte sich um einen leichten Tonfall. »Ich würde mich freuen, wenn Matteo vielleicht lieber mit zu mir käme. Oder ... du kannst ja deinen Freund anrufen, und ihr kommt beide. Dann könnt ihr mit Massimos neuer Playstation spielen.«

»Echt? Aber Massimo will doch nicht, dass da einer rangeht.«

»Das lass nur meine Sorge sein. Ich werd’s meinem Mann schon erklären.«

»Darf ich, Mamma?«

»Sicher.«

»Am besten ...« Vincenza geriet ins Stocken. »Am besten rufe ich Massimo gleich an und frage ihn. Dann kann er auch gleich herkommen und ...«

»Aber er ist doch in Rimini«, protestierte Matteo. »Hat er mir selber erzählt. Auf einem Seminar.«

»Stimmt.«

Es wurde plötzlich still. Marlene sah von einem zum anderen. Verwundert. Alles war doch wie immer. Alles musste wie immer sein. Sie saß mit ihrem Sohn und ihrer besten Freundin am Tisch. Es sah normal aus, auch wenn keiner das Essen mehr anrührte. Gut, Luca hatte einen kleinen Unfall, aber er würde wieder in Ordnung kommen. Etwas anderes kam nicht infrage.

»Ich finde«, sagte sie laut, so laut, dass Matteo und Vincenza zusammenzuckten, »ich finde, das ist eine prima Idee. Und wenn Massimo herkommt, kann er mich vielleicht nach Ravenna fahren.«

»Hä?«, machte Matteo. »Was willst du denn da? Und wieso kannst du nicht allein fahren?«

»Warum gehst du nicht eine Weile auf dein Zimmer?«

»Mamma, ich verstehe überhaupt nichts mehr.« Seine Augen waren groß, voller Angst. Plötzlich fiel ihr etwas wieder ein. »Du könntest in Ruhe eine Weile darüber nachdenken, warum du mir gar nicht erzählt hast, dass du heute nicht in der Schule warst.«

»Aber ich ...«

Vincenza legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Tu, was deine Mutter sagt.«

Schweigend verließ er die Küche.

Marlene sah die Freundin an. »Danke. Willst du jetzt nicht Massimo anrufen?«

»Ja, klar. Ich mach das besser auf der Terrasse. Irgendwie habe ich hier drinnen keinen guten Empfang.«

»Das Penthouse liegt nicht gerade in einem Funkloch«, meinte Marlene, ließ Vincenza aber gehen. Der Tisch musste abgeräumt werden, und sie wollte sich auch noch umziehen. Auch ein bisschen schminken vielleicht, Luca sollte ihr nicht ansehen, wie viel Angst sie um ihn hatte.

Massimo Cecchini hatte gerade den Schulungsraum verlassen, um eine Zigarette zu rauchen, als ihn der Anruf seiner Frau erreichte. In der Sekunde, als ihr Name auf dem Display erschien, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Vincenza würde ihn nur im Notfall stören. Er meldete sich mit heiserer Stimme.

»Du musst kommen«, sagte sie. »Sofort.«

»Ist etwas mit Mamma?« Innerlich zitternd wartete er auf die Antwort. Seine Mutter litt seit Jahren unter fortschreitender Demenz, und sein Vater weigerte sich, sie ins Heim zu geben. Obwohl sie schon ein paar Mal draußen umhergeirrt war und nicht mehr nach Hause gefunden hatte, blieb der alte Cecchini stur. Nie konnte man sicher sein, was als Nächstes passierte.

»Nein«, erwiderte Vincenza. »Luca ist mit dem Motorrad verunglückt. Du musst Marlene nach Ravenna fahren, ich kann hier nicht weg. Matteo darf jetzt auf keinen Fall allein bleiben.«

Massimo zerdrückte die ungerauchte Zigarette zwischen den Fingern. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sein Kamerad Davide Velto auf ihn zukam. Davide war erst Mitte zwanzig, zehn Jahre jünger als Massimo, aber der Altersunterschied hatte für sie beide nur ganz am Anfang eine Rolle gespielt. Als Davide bei den Carabinieri eingetreten war, hatte Massimo sich wie ein Vater um ihn gekümmert, aber schnell war der Neuling zu einem verantwortungsbewussten und fähigen Polizisten herangereift. Inzwischen waren die beiden Männer eng befreundet.

Es war gut zu sehen, wie Davide jetzt näher kam, die Hände zu einer fragenden Geste erhoben.

Luca konzentrierte sich wieder auf seine Frau. »Wie schlimm ist es?« Seine Stimme klang ganz ruhig, und das wunderte ihn.

»Luca ist tot«, sagte Vincenza – so langsam, als übte sie zum ersten Mal Worte in einer fremden Sprache.

Luca? Sein bester Freund? Massimo hielt das Handy ein Stück weg, starrte es an. Luca doch nicht! Unmöglich! Er schaute in den Himmel, und ein seltsamer Gedanke ging ihm durch den Kopf: Es ist ein viel zu schöner Tag zum Sterben.

Davide Velto sah Massimo in die Knie sinken. Er eilte zu ihm. »Was ist los?«

»Luca ist tot.«

Wurden Worte begreifbar, wenn man sie laut aussprach? Wurde die Wahrheit real?

Massimo ließ sich aufhelfen von seinem Freund, dem einzigen, der ihm geblieben war. »Kommst du mit?«

3

Massimo kam, zusammen mit Davide.

»Das ging aber schnell«, sagte Marlene, als sie öffnete. »Ich bin noch gar nicht fertig.«

Die beiden Männer starrten sie an.

Verlegen fuhr sich Marlene durchs Haar. »Ich muss mich noch frisieren. Möchtet ihr einen Espresso? Vincenza kann schnell einen aufsetzen.«

»Nein ... danke«, sagte Massimo.

»Ein paar Minuten müsst ihr trotzdem warten. Ich war heute Morgen am Strand zum Laufen. Seitdem bin ich noch gar nicht dazu gekommen, mich herzurichten. So kann ich mich nirgendwo sehen lassen. Jetzt kommt doch erst mal rein, am besten in die Küche. Das Wohnzimmer ist nicht aufgeräumt. Außerdem geht es da auch mit dem Espresso schneller ...« Die Worte sprudelten aus ihr heraus, sie konnte nicht von allein aufhören.

»Wir möchten keinen Kaffee«, sagte Massimo langsam und deutlich.

»Mach dir bitte keine Umstände, Marlene«, fügte Davide hinzu.

»Ach was, das sind doch keine Umstände. Wie gesagt, Vincenza kann ihn kochen, und etwas Kuchen ist auch noch da.«

»Marlene ...«

Vincenza trat hinzu.

Marlene bemerkte den Blick, den Massimo seiner Frau zuwarf, sah ihr kurzes Kopfschütteln.

»Was habt ihr denn? Nur weil wir ins Krankenhaus fahren, müssen wir doch nicht unsere guten Manieren vergessen. Luca legt Wert auf gute Gastfreundschaft, das wisst ihr genau.«

Betretenes Schweigen.

Es war Massimo, der als Erster wieder sprach. »Wo ist Matteo?«

»In seinem Zimmer«, gab Marlene zurück. »Er brütet über einer glaubhaften Ausrede, weil er heute die Schule geschwänzt hat.«

»Ich gehe kurz nachschauen«, bot Vincenza an, verschwand und kehrte kurz darauf wieder. »Er hört Musik«, teilte sie den anderen mit. Und, als ob das wichtig wäre: »Mit Ohrstöpseln.«

Marlenes Beine fühlten sich seltsam weich an. »Er sollte lieber Mathe büffeln«, murmelte sie, suchte nach dem passenden Gefühl, Ärger oder Zorn, fand keines. »Was stehen wir denn immer noch hier im Flur rum? Nun kommt schon.« Sie drehte sich um, ging voran in die Küche, setzte sich.

Die anderen folgten ihr.

Massimo wandte sich an seine Frau. »Du hast es ihr nicht gesagt.«

»Nein.«

Obwohl sie jetzt saß, fühlte sich Marlene noch schwächer. »Was ist das für eine Geheimniskrämerei? Jetzt sagt mir doch endlich, was los ist!«

Vincenza sprach mit leiser Stimme. »Luca hat den Unfall nicht überlebt.«

Marlene fuhr mit der Hand über den alten Küchentisch aus Pinienholz. Er hatte schon in dem Penthouse gestanden, als es noch Lucas Elternhaus gewesen war. Luca hatte ihr oft erzählt, wie er als Junge an diesem Tisch seine Hausaufgaben gemacht hatte, bis die Mutter ihn verscheucht hatte, weil sie für das Mittagessen eindecken musste. »Du hast doch deinen schönen neuen Schreibtisch in deinem Zimmer«, hatte sie gesagt. Aber er hatte viel lieber in der Küche gelernt, in ihrer Nähe. Mit dem Fingernagel zeichnete Marlene die alten Kratzer nach. War Luca vielleicht an dieser Stelle mit der Schere ausgerutscht? Oder hatte er dort mit dem Kugelschreiber zu fest aufgedrückt? So ein Tisch konnte ein ganzes Leben erzählen. Sie verstand auf einmal, warum er sich von dem alten Möbelstück nicht hatte trennen wollen, obwohl es überhaupt nicht in ihre moderne Küche passte.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?« Vincenzas Stimme drang in ihre Gedanken.

»Sie sollte einen Schnaps trinken«, schlug Davide vor.

Massimo stand wieder auf. »Ich werde euren Hausarzt anrufen.«

»Warum?«, fragte Marlene verwundert. »Mir geht es gut. Wir können jetzt fahren.«

»Ich bleibe bei Matteo«, bot Vincenza an. »Oder nein. Ich rufe seinen Freund an und dann nehme ich beide mit zu mir, wie wir es vorhin besprochen haben. Das wird das Beste ein. Was meinst du?«

Die Frage überforderte Marlene. »Du tust schon das Richtige. Danke.«

Die anderen ließen sie nicht aus den Augen, als sie zur Haustür ging. Unten auf der Straße stellte sie überrascht fest, wie warm es geworden war. Fast wie im August. Sie folgte Massimo zu seinem Auto und dachte daran, wie sie mit Luca an Mariä Himmelfahrt Pläne geschmiedet hatte. Es war ein schöner Tag wie heute gewesen, nur heißer, und sie hatten beide unter dem Stress im Hotel und unter der Hitze gestöhnt. Zu Ferragosto, wie der 15. August in Italien hieß, war das ›Bellavista‹ bis unters Dach ausgebucht gewesen.

»Hoffentlich ist der Sommer bald vorbei«, hatte Marlene gestöhnt. »Ich bin völlig fertig.«

Luca hatte sie in die Arme genommen, ganz kurz nur, aber lange genug, um ihr wieder Kraft zu geben. »Ich weiß, Amore mio. Es ist hart. Aber halte noch ein Weilchen durch. Im Herbst können wir uns ausruhen.«

»Und vielleicht eine kleine Reise machen?«

»Eine Reise, ja. Matteo kann bei Vincenza und Massimo schlafen, und wir beide gönnen uns eine Woche Erholung. Wo möchtest du denn gern hin?«

»Keine Ahnung. Vielleicht wieder nach Capri? Oder in die Berge, wo es schön kühl ist.«

»Kühl ist es bei uns im Oktober auch«, hatte Luca sie geneckt.

Stimmt gar nicht, dachte Marlene und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Wir könnten auch hier Urlaub machen. Einfach jeden Tag an den Strand gehen, abends oben in Gabicce Monte Fisch essen und die Aussicht auf die Küste genießen. Wir könnten ...

»Komm«, sagte Massimo sanft. »Steig ein.«

Mit einem Ruck kam sie zu sich, fühlte auf einmal einen krampfartigen Schmerz in ihrem Innern, krümmte sich. Massimo war da, um sie festzuhalten.

Worte fielen ihr ein, die sie vor Jahren irgendwo gelesen hatte. Damals hatte Marlene sie nicht verstanden, jetzt schon: Glücklich war die Zeit, von der wir dachten, dass sie erst noch kommen sollte.

Die Fahrt nach Ravenna – wer erinnerte sich später daran? Wer wusste noch, dass Massimo kurz hinter Rimini anhielt, damit Marlene sich übergeben konnte? Wer sprach je darüber, dass er wenig später Davide das Steuer übergeben musste, weil das Zittern in seinen Händen sie alle in Gefahr brachte? Eine Stunde – zwei – wie ausgelöscht im Leben einer Familie, die nicht mehr vollzählig war.

Sie brachten Marlene zum Krankenhaus, wo ihr Mann aufgebahrt lag, und ließen sie mit ihm allein. In dem kahlen, klimatisierten Raum kroch die Kälte in Marlene hoch, sie spürte kaum noch ihren Herzschlag. Luca, wie er dort lag, friedlich, als schliefe er. Es war alles nur ein Irrtum! Er sah doch gar nicht tot aus. Marlene machte einen Schritt auf ihn zu, darauf gefasst, dass er gleich aufspringen und rufen würde: »Da bist du ja endlich, Amore mio! Ich dachte schon, ich muss hier in diesem schrecklichen Raum bleiben.«

Noch ein Schritt. Ihre Hüfte stieß an die Bahre, es machte ein kleines Geräusch.

Seine Augenlider. Zuckten sie nicht gerade?

Wo blieb sein ansteckendes Lächeln?

Warum griffen seine Hände nicht nach ihr, so, wie sie es immer taten?

Da! Der Fleck auf Lucas Wange. Gras oder Erde. Marlene hob die Hand, um ihn wegzuwischen. Es war eine automatische Bewegung, schon hunderte Male in ihrem gemeinsamen Leben ausgeführt. Dann wusste sie es. Er war tot. Seine Wärme hatte ihn verlassen.

»Komm, Marlene.« Davide stand auf einmal hinter ihr und fasste sie sanft am Arm. Sie hatte ihn nicht hereinkommen gehört. »Es ist zu viel für dich, lass uns gehen.«

Draußen auf dem Flur stand Massimo. Er kam auf sie zu. Sie wich zurück.

»Niemand konnte etwas für ihn tun«, sagte er leise. »Er war schon ...«

»Still!«, keuchte sie.

»Marlene, bitte.« Grausames, unerträgliches Mitleid in seinen Augen.

Fieberhaft suchte Marlene nach einem anderen Gedanken, irgendeinem, der sie davor bewahren konnte, zusammenzubrechen.

»Wie ist es passiert?« Sie richtete die Frage an Massimo. Er zuckte wie unter Schmerzen zusammen. »Eine junge deutsche Autofahrerin war daran beteiligt. Letzte Woche achtzehn geworden. Wahrscheinlich ist es bei einem Überholmanöver zu dem Unfall gekommen. Luca hätte vielleicht überleben können, aber da war die Brücke, der Pfeiler ...«

»Stopp! Was ist mit dem Mädchen? Auch tot?«

Massimos Augen weiteten sich vor Überraschung, Davides Griff wurde noch fester, als fürchtete er, Marlene würde erst den Verstand verlieren und dann umfallen.

»Warum willst du das wissen?«, fragte Massimo.

»Antworte mir einfach.«

»Keine Ahnung. Hab nur gehört von den Kollegen, gehört, dass der Wagen ins Schleudern geraten ist und sich zweimal überschlagen hat.«

Marlene bewegte sich so schnell, dass Davide sie vor Schreck losließ. Dann wirbelte sie herum und lief den langen Flur hinunter, stieg Treppen, verlor die Orientierung, hörte die beiden Männer hinter sich herlaufen und nach ihr rufen, achtete nicht darauf, fand endlich den Pronto Soccorso, die Notaufnahme, stürzte zur Anmeldung. »Ist hier eine junge Frau eingeliefert worden?«, fragte sie atemlos die Krankenschwester. »Ein deutsches Mädchen? Achtzehn Jahre alt.«

Die Freunde kamen hinzu, Davide nahm wieder seine Position neben Marlene ein, verfolgte das Geschehen stumm, bereit, jederzeit einzugreifen. Die Krankenschwester sah von einem zum anderen und schaute dann auf ihre Liste.

»Ja«, sagte sie. »Zusammen mit einem Toten ...«

»Danke!« Marlene schrie fast, wollte wieder fortlaufen, zwang sich zu bleiben. »Ist sie noch hier?«

Die Krankenschwester schüttelte den Kopf. »Auf der Intensivstation. Sie hat schwere Beinverletzungen und ...«

»Wie komme ich dahin?«

»Erster Stock.«

»Moment mal!« Massimo baute sich vor ihr auf, versperrte den Weg. »Was soll das? Wieso willst du zu diesem Mädchen?«

Sie sah ihn an wie jemanden, der ihr völlig fremd war.

»Braucht die Signora Hilfe?«, erkundigte sich die Krankenschwester.

»Ich?«, rief Marlene und hörte selbst den hysterischen Ton in ihrer Stimme. »Nein! Mir geht es gut!« An Massimo gewandt fuhr sie fort: »Versteh doch! Luca ist vielleicht schuld daran, dass ...«

»Von Schuld kann überhaupt keine Rede sein! Der Unfallhergang ist noch nicht rekonstruiert worden. Wir wissen also nicht, was vorgefallen ist. Außerdem, was hast du damit zu tun?«

Er würde es nicht verstehen. Nie. Sie vergeudete hier nur ihre Zeit. Dennoch versuchte sie es mit anderen Worten: »Vielleicht nichts. Aber darauf kommt es jetzt nicht an. Wir sprechen hier von einem jungen Mädchen.« Sie ging ganz nah an ihn heran, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Eine Deutsche, ganz allein in einem italienischen Krankenhaus. Sie kann sich doch nicht einmal verständigen. Begreift das hier denn keiner? Niemand kann ihr sagen, was passiert ist, niemand kann sie trösten.«

»Santo Dio!«, rief Massimo.

»Povera piccola«, murmelte Davide. Arme Kleine.

Die Krankenschwester schwieg, verbarg ihre Gefühle hinter einem professionellen Blick.

»Du hast recht«, sagte Massimo dann. »Ich werde mich darum kümmern, dass jemand, der deutsch spricht, herkommt.« Er überlegte einen Moment, traf dann eine Entscheidung. »Ich rufe meine Frau an. Sie hat lange genug Deutsch studiert, um der Verletzten beizustehen.«

»Nein«, versetzte Marlene. »Vincenza kümmert sich um Matteo. Ich muss dahin. Ich fühle das. Das Mädchen braucht mich.«

Niemand wandte ein, dass eine Mutter zu ihrem eigenen Kind gehörte. Niemand sagte, dass auch Matteo sie in diesem Augenblick brauchte. Marlene wich den ratlosen Blicken ihrer Freunde aus und verschwieg ihnen, was sie tief im Innern fühlte: Die junge Deutsche benötigte ihre Hilfe, doch gleichzeitig würde sie Marlene helfen, an etwas anderes als an ihren entsetzlichen Verlust zu denken. Der tote Mann in der Kältekammer – nicht denken, nicht denken. Etwas tun, egal was.

»Wie du meinst«, stimmte Massimo zu, aber in seinen Augen stand etwas anderes geschrieben. Verblüffung. Verständnislosigkeit. »Ich werde dich begleiten.«

»Ich komme auch mit«, sagte Davide schnell.

Dankbar sah Marlene von einem zum anderen.

»Aber vorher«, fügte Massimo hinzu, »musst du noch ein paar Formalitäten über dich ergehen lassen.«

4

Die nächste Stunde überstand Marlene nur, indem sie sich fest auf das Mädchen konzentrierte, das auf ihre Hilfe wartete. Sie ertrug es mit unglaublicher Fassung, als ein Beamter ihr Lucas persönliche Sachen übergab, seine Kleidung, den Inhalt seiner Taschen, das Geld in seinem Portemonnaie bis auf die letzten Cents, sorgfältig vorgerechnet und abgezeichnet.

Aus einem Seitenfach fiel ein alter vergilbter Zettel heraus. Marlene hob ihn auf. Sieben Uhr auf der Piazza stand darauf in verblassten Buchstaben. Sie erinnerte sich genau daran, wie ein Zimmermädchen in ihrem Hotel ihr damals den Zettel zugesteckt hatte. Ihre Eltern nahmen an einem Bootsausflug teil, und die siebzehnjährige Marlene kämpfte lange mit sich. Sollte sie den gut aussehenden Jungen vom Strand wirklich treffen? Sie war doch bestimmt nur ein Urlaubsflirt für ihn. Und ihrem Vater, einem Geschichtsprofessor, der seine Tochter jeden zweiten Tag zu irgendwelchen Ausgrabungen schleppte, würde das überhaupt nicht gefallen, wenn er dahinterkäme. Aber schließlich hörte sie allein auf ihr Gefühl und ging zu dem Treffen, vielleicht schon mit einer winzigen Ahnung im Herzen, dass Luca Pasini, dieser charmante Hotelierssohn, die große Liebe ihres Lebens werden würde.

Drei Jahre und vier Urlaubsreisen nach Cattolica später bat er sie, seine Frau zu werden.

Marlene drehte den Zettel um. Auf die Rückseite hatte sie ihm an jenem ersten Abend ihre Adresse in Köln aufgeschrieben und dazu ein winziges Herz gemalt. Deswegen hatte er dieses kleine, aber kostbare Stück Papier so viele Jahre aufgehoben.

Endlich machten sie sich auf den Weg zur Intensivstation. Der Fahrstuhl hielt, Massimo ließ Marlene den Vortritt. »Was ist mit Tonio? Irgendjemand muss deinen Schwiegervater benachrichtigen.«