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Marina Wenn

Argatai

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© 2016 Marina Wenn

Umschlag, Foto: niekverlaan/www.pixabay.com
Lektorat & Korrektorat: Dr. Anja Wenn

Weitere Mitwirkende: Stefanie Radlmaier

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

PaperbackISBN 978-3-7345-6541-0
HardcoverISBN 978-3-7345-6542-7
e-BookISBN 978-3-7345-6543-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

PROLOG

Mitleidig betrachteten die strahlend grünen Augen des Kriegers die regungslosen Vermummten vor sich. Ein weiterer Auftrag war zu Ende gegangen und über die Hälfte der Rekruten waren tot. Er, Nummer 5, hatte als einer der wenigen überlebt. Nur Francesco hatte es noch mit Mühe und Not lebend zurückgeschafft.

Selbst die Kinder der Athene hatten sie geopfert, bevor sie den Rückzug angeordnet hatten.

Was mit ihren Toten passierte, wusste niemand und die meisten scherten sich auch nicht darum. Wahrscheinlich wurden sie verbrannt oder irgendwo im Boden verscharrt. Angehörige, die um sie trauern würden, hatten sie ja alle nicht mehr.

Von ihnen wurde erwartet, die Verstorbenen zu vergessen und nach vorne sehen. Ihre Arbeit davon nicht beeinflussen zu lassen. Niemals Vertrauen oder – noch schlimmer – Gefühle zu entwickeln. Jeden, einschließlich sich selbst, als eine Nummer zu betrachten. Als eine anonyme Spielfigur des Systems.

Der große, dunkelhaarige Junge warf noch einen letzten Blick auf die eiskalten, erstarrten Körper und wandte sich dann um. Bisher hatte er alles getan, was sie wollten. Widersetzte sich nie einer Anweisung. Hinterfragte keinen einzigen Befehl. Er hatte an das System und seine Arbeit darin geglaubt. Er war sich sicher, dass er Gutes tun würde und dass er etwas bewirken konnte. Immer hatte er geglaubt, dass Verluste für die größere Sache nötig seien. Hatte die Toten tatsächlich vergessen … Und dennoch spürte er nun ein für ihn sonst unbekanntes Gefühl. Misstrauen.

Zum ersten Mal in seinem Leben zweifelte er an seinen Prinzipien, als er dabei zusah, wie die Toten hinausgetragen, Zimmer ausgeräumt und nach neuen Rekruten gesucht wurde. Neue Rekruten. Neue Opfer, die ihre Familien und Freunde unfreiwillig hinter sich lassen und das Kämpfen erlernen mussten. Ihnen blieb nichts anderes übrig. Würden sie nicht kämpfen, würden sie sterben.

Wie benommen setzte Nummer 5 seinen Weg durch das große Gebäude fort. Es war so unheimlich still. Nirgends war Lachen, oder angestrengtes Keuchen von Rekruten beim Training zu hören. Bald hatte er den „Krankentrakt“ erreicht, in dem mehr Treiben herrschte. Kaum zwei Tage waren vergangen, seitdem der Auftrag offiziell als gescheitert benannt wurde und schon lagen hier neue, junge Krieger. Aus manchen Räumen waren Schluchzer zu hören, aus anderen wütendes Schreien und aus wieder anderen gar nichts. Kein einziger Mucks. Das waren die, die am schnellsten starben. Die, die mutig genug waren, nicht zu kämpfen und schon bei ihrer Aufnahmeprüfung ihr Leben ließen. An einer Tür blieb er stehen und betrachtete das stille kleine Mädchen mit den dunklen kurzen Haaren. Nummer 6 sollte sie werden. Wahrscheinlich war sie kaum 14 Jahre alt. Wie er, als er hierher kam. Und dennoch ließ sie alles ohne Geschrei über sich ergehen.

Gerade wollte er hineingehen, als ihm Francesco entgegenlief. Das warme Lächeln, das er sonst trug, war in den letzten Tagen aus seinem Gesicht gewischt worden. Auch er hegte Zweifel an der Organisation und seinem eigenen Vater, der diese führte. Er hatte sich Nummer 5 anvertraut und so hatten die beiden die oberste Regel des Hauses gebrochen. Verschwörung.

Öfter als in seiner gesamten Zeit hier, hatten sie darüber nachgedacht, zu fliehen und all das hinter sich zu lassen. Aber sie brachten es nicht über sich. Zu wem sollten sie auch … sie würden sie überall finden. Der Tod wäre der einzige Ausweg. Und dafür waren sie beide zu feige. Nicht einmal das konnten sie leugnen.

Stirnrunzelnd betrachteten die smaragdgrünen Augen die bläulichen Ringe, die einen dunklen Schatten über das Gesicht des Italieners vor ihm legten. Es schien keine gute Nachricht zu sein.

„Du musst in die Zentrale kommen. Wie es aussieht, holen wir die nächste“, stieß Francesco keuchend hervor.Wahrlich keine schöne Nachricht. Ein weiteres Mal würden sie aufbrechen müssen, um einen armen jungen Teenager aus seinem Leben zu reißen und ihn in unsere grausame Welt führen. Der Braunhaarige nickte knapp, versuchte seine Missgunst darüber zu verbergen, doch der Italiener kannte ihn zu gut.

„Sie scheint dieses Mal älter zu sein. So alt wie wir. Sie wird es leichter verkraften.“

Worte, die nicht viel bedeuten mögen, doch bringt einem 14-jährigen Mädchen mal bei, dass sie ihre Mutter nie wiedersehen wird. Grausam. Da ist es bei einer 18jährigen jungen Frau leichter. Immer noch schrecklich, aber dennoch leichter.

Wortlos eilten die beiden in Richtung Zentrale, wo ihr Anführer, Francescos Vater, bereits auf sie wartete. Ohne auf seine Worte zu achten, die sowieso jedes Mal die gleichen waren, betrachtete er die Bildschirme. Sie war hübsch, keine Frage. Die rostbraunen Locken hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und sie trug nur schwarze Pyjamashorts und T-Shirt.

Ja, ihre Organisation spionierte sie aus bis es soweit war. Analysierte Gewohnheiten und ihren Tagesablauf. Plante alles bis ins kleinste Detail, damit auch ja nichts schief ging. So auch bei ihr. Es schien, als würde sie eine Pyjamaparty mit Freundinnen planen, die schon alle in einem Zimmer versammelt waren und sich angeregt unterhielten. Aufmerksam betrachtete der Krieger jedes Bild genau, doch schon nach kurzer Zeit fanden seine Augen wie von alleine wieder die hübsche Nummer 12. Sie hatte etwas Faszinierendes an sich, das den Jungen fesselte. Ihn dazu brachte, die Augen nicht von ihr lösen zu können. Schon lange Zeit hatte er so etwas nicht mehr gefühlt, sich vor jedem Mädchen in seinem Alter verhalten, wie vor allen anderen.

Distanziert.

Kalt.

Gefühllos.

Aber irgendetwas hatte dieses Mädchen auf den Bildschirmen. Er konnte seinen Blick kaum von ihr abwenden, wusste, dass sie für ihn Ärger bedeuten würde. Jedes Mal, wenn sich zwei der Rekruten näher füreinander interessierten, verschwanden sie wie all die anderen, die gegen Regeln verstießen. Sie kamen nie wieder und wurden durch unerfahrene Krieger ersetzt. Wie Puppen, die einem irgendwann nicht mehr gefielen und weggeschmissen wurden.

Auch wenn es ihm schwer fiel, wandte sich Nummer 5 schließlich an den Anführer.

„Wann geht es los?“, waren seine Worte.

„In zwei Stunden“, lautete die schlichte Antwort.

Schwer schluckend wandte er sich wieder den Bildschirmen zu und betrachtete abermals die junge Alice Brown. In zwei Stunden würden sie ihr diesen Namen und ihr Leben nehmen. In zwei Stunden würde sie vor ihm gefesselt und bewusstlos auf einer Liege liegen. In zwei Stunden würde Alice Brown nicht mehr existieren.

 

„Wenn du die Wahrheit suchst, sei offen für das Unerwartete, denn es ist schwer zu finden und verwirrend, wenn du es
findest.“

– Heraklit -

KAPITEL 1

Lachend stand ich auf und folgte meinem pelzigen besten Freund nach unten. Schon seit mehreren Minuten versuchte er das Gespräch mit meinen Freundinnen zu stören und mich dazu zu bringen, ihm was zu Futtern zu geben. Dass die Chips leer waren, hatte ich als Anlass dazu genommen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.

Auf dem Weg in die Küche begegnete mir der schwarze Lockenkopf meiner Schwester Eva. Unsere Eltern waren auf eine Geburtstagsfeier eingeladen und ich endlich volljährig. Eine perfekte Gelegenheit also, einen ungestörten Abend mit Freunden zu verbringen, wenn da nicht die kleine, nervige Schwester wäre. Immer wollte sie irgendetwas von mir oder brauchte Hilfe. „Alice?“, erklang es da auch schon. (War ja klar, warum sollte es dieses Mal auch anders sein …)

Die Augen verdrehend wandte ich mich zu ihr um und zog ungeduldig eine meiner Augenbrauen hoch.

„Ich glaube Ma hat den Gartenschlauch angelassen, vielleicht könntest Du mal danach schauen?“

Genervt schnaubte ich auf. „Kannst Du das nicht selbst machen? Du weißt doch, dass Danielle und die anderen oben warten.“ (Danielle und Ben – ihr Freund – waren meine besten Freunde, doch Ben hatte heute irgendetwas wie einen Männerabend mit William – meinem Freund – vor, deshalb konnten die beiden nicht kommen.)

Erstaunt beobachtete ich, wie Eva nervös begann, ihre Hände zu kneten und betreten zu Boden sah. (So sah man sie wirklich nicht oft.)

„Ja, könnte ich … nur es gewittert so heftig, und dunkel ist es auch schon …“

Nur schwer konnte ich mir ein Lachen verkneifen. Wo Eva von uns beiden doch die viel Hübschere und Talentiertere war, war sie doch ein ganz schöner Angsthase. Mit einem – trotz meiner Bemühungen – belustigten Lächeln auf den Lippen nickte ich und drückte ihr die leere Schüssel in die Hand, bevor ich meine Jacke von der Garderobe riss und die gläserne Tür zum Garten aufschob. Eva hatte Recht gehabt. Ein heftiges Gewitter tobte über meinem Kopf, das den Abendhimmel unnatürlich dunkel färbte. Es war zwar Mitte November, doch so dunkel sollte es erst in einer Stunde sein …

Fröstelnd zog ich den warmen Stoff meiner Jacke etwas enger um mich und trat ins Freie. Eigentlich hätte ich mir den dünnen Mantel auch sparen können. Schon nach ein paar Sekunden war ich bis auf die Haut durchnässt. (Das würde eine heftige Rache für Eva geben!)

So schnell es in der Dunkelheit möglich war, suchte ich nach dem tollen Gartenschlauch, den meine Mutter jeden Abend vergaß auszumachen. Das Ende lag in der Hundehütte von Jin – meinem Hund – (fragt mich nicht, wie es dahin gekommen ist) und das Wasser lief tatsächlich noch. Hastig beugte ich mich in die Hütte und streckte meine kalten Finger nach dem Schlauch aus, als ein Blitz mit einem lauten Knall ganz in der Nähe einschlug.

Erschrocken ruckte mein Kopf nach oben und – wie sollte es anders sein – stieß hart auf Holz. Fluchend und mit dem Schlauch in der Hand richtete ich mich wieder auf und rieb mir meinen Hinterkopf. Das würde eine saftige Beule geben.

Wie von alleine drehten meine Finger das Ventil des Schlauches zu, doch als ich mich umwandte um wieder ins Haus zu gehen, hielt ich abrupt inne.

Es mochte so dunkel sein, dass man kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnte, aber jedes Mal wenn der Himmel durch einen weiteren Blitz erhellt wurde, sah man es deutlich. Ein Schatten. Und sicher keiner eines Hasen oder einer Katze. Groß und breit wie der eines ausgewachsenen, gut trainierten Mannes. (Ok, das wäre jetzt wirklich der richtige Moment, zurück ins Haus zu gehen.)

Meine Neugier siegte. Mit schmerzendem Hinterkopf und wie wild schlagendem Herzen setzte ich einen Fuß vor den anderen. Anschleichen war nicht möglich, der Boden war so von Regen durchweicht, dass jeder meiner Schritte quietschte. Er musste wissen, dass ich ihn bemerkt hatte. Und dennoch … Er rührte sich nicht von der Stelle, bis ich direkt vor ihm stand. Der Mann war wahrscheinlich einen guten Kopf größer als ich und Angst packte mich. (Jetzt solltest Du wirklich weglaufen, Alice.)

Abermals wurde es für kurze Zeit durch einen weiteren schrecklichen Blitz hell und unnatürlich grüne Augen blitzten mir entgegen. Ich hatte ihn kaum erkannt, nicht den Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen, doch da ging die Panik mit mir durch. Mit einem erstickten Aufschrei wollte ich mich umdrehen, doch ich wurde von hinten gepackt und zu Boden geschmissen. Blind trat ich mit den Füßen um mich, bis ich mein Ziel fand und ein schmerzerfülltes Keuchen zu hören war. Meine letzte Chance. So heftig, wie ich konnte, stieß ich die Fersen in den Boden und drückte mich ab. (Da hat das jahrelange Sprinttraining in der Schule ja doch was genützt.) Irgendwie, weiß Gott wie ich das geschafft habe, erreichte ich die Haustür und schmiss sie panisch zu. Auf alles gefasst, warf ich mich zu Boden und hielt meine Hände schützend über den Kopf.

Stille.

Kein Knall einer Pistole, kein Klirren einer zerbrechenden Glasscheibe, kein angsterfülltes Aufschreien. Das Befürchtete blieb aus.

Vorsichtig rollte ich mich wieder auf den Rücken und sah zur Tür hinaus. Dort war niemand. Er war mir nicht gefolgt. Noch immer vor Angst zitternd stellte ich mich auf die Beine und trat etwas näher an die Scheibe. Nichts. Nicht einmal sein Schatten war noch hinter den Bäumen zu sehen.

Als sich das heftige Pochen in meinem Hinterkopf erneut meldete, kam ich ins Stocken. Ich hatte mir das doch nicht nur eingebildet … Er hatte mich gepackt. Zu Boden geworfen … Ihr könnt mir beim besten Willen nicht erzählen, dass eine Gehirnerschütterung so etwas bewirken kann …

Noch eine Weile blieb ich, wo ich war und suchte immer und immer wieder den Garten nach einem Anzeichen des Mannes ab, doch nichts passierte. Kopfschüttelnd wandte ich mich ab und beschloss, die ganze Sache zu vergessen. Wüssten Eva und meine Eltern davon, würden sie mich in die nächste Klapse schleifen und erst wieder rausholen, wenn ich „völlig genesen“ wäre. (Was wahrscheinlich so viel hieß wie „verrückter als vorher“.)

Ich hatte gerade gedankenverloren einen Fuß auf die erste Treppenstufe gesetzt, als ich durch ein schwaches Bellen aus meiner Trance gerissen wurde. Stirnrunzelnd wandte ich mich zu der geschlossenen Tür am anderen Ende des Ganges um. Die Küchentür war sonst nie verschlossen. Und zwar wirklich nie. Verwirrt drückte ich die Klinke herunter. Wie immer ließ sie sich ohne ein Quietschen, ohne jeglichen Mucks öffnen.

Sofort kam mir Jin schwanzwedelnd entgegen und ich atmete beruhigt auf. Nach der Situation im Garten vorhin hätte ich wirklich viel erwartet … (Vielleicht war die Klapse doch eine recht gute Lösung für mich.)

Wieder pochte mein Schädel einige Male schmerzhaft und ich beschloss, dass ich eindeutig etwas zum Kühlen brauchte. Schon als der kühle Eisbeutel meinen Kopf berührte, seufzte ich zufrieden auf. Das brauchte ich jetzt.

Schon war ich wieder auf dem Weg nach oben, als mein Blick auf den Boden vor dem Kühlschrank fiel. Pinke Scherben lagen dort verstreut. Pink, wie die Schüssel, die ich zuvor Eva in die Hand gedrückt hatte.

Der Kühlbeutel entglitt meinen tauben Fingern und benommen taumelte ich einige Schritte zurück. Den Blick weiter auf den Boden gerichtet. (Ganz ruhig, Alice, hier ist kein Blut, ihr wird nichts passiert sein.)

Mein Atem ging nur noch stoßweise und es war ein Wunder, dass ich noch keinen Herzinfarkt erlitten hatte, so heftig pochte es in meiner Brust. Sofort rasten meine Gedanken weiter. Danielle.

So schnell mich meine müden Beine trugen, sprintete ich die Treppen hinauf und stieß die Tür zu meinem Zimmer auf. Abrupt blieb ich stehen und Tränen stiegen mir in die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein.

Mit kleinen, unsicheren Schritten trat ich in das vollkommen leere Zimmer. In den dicken Kissen, die ich in der Mitte zu einem großen Haufen geformt hatte, war noch zu sehen, dass hier vor Kurzem drei Mädchen gesessen und sich köstlich amüsiert hatten. Nun waren sie weg. Einschließlich meiner Schwester. Und ich drehte durch. (Oh bitte, Gott, lass mich aufwachen.)

Ungehindert liefen mir dicke Tropfen über die Wangen und trübten meine Sicht.

Da passierte das, wovor ich mich zuvor so gefürchtet hatte. Das Klirren von Glas. Vor Schock erstarrt blieb ich an Ort und Stelle. Krümmte nicht einmal meinen kleinen Zeh. Hielt den Atem an. Kurz darauf das vertraute Quietschen der Treppe. Er war nicht alleine, das waren Geräusche von mindestens zwei Paar Schuhen.

Endlich erwachte ich aus meiner Starre, griff noch mein Handy und riss meinen Schrank auf. Panisch kletterte ich in den Spalt in der Schrankwand und quetschte mich so gut es ging in das Versteck, das niemand außer mir kennen durfte. Erst als die Schranktüren geschlossen waren und Dunkelheit mich umgab, erlaubte ich mir, wieder zu atmen.

Ohne nachzudenken wählte ich die erste Nummer, die mir in den Sinn kam. William. (Ist doch klar, nicht der Notruf, sondern dein Freund, der sonst wo ist. SUPER.)

Mit zitternden Händen hielt ich mir das Gerät ans Ohr und wartete.

„Schatz? Hey, was gibt‟s?“, erklang schon nach ein paar Sekunden seine vertraute Stimme.

Mit Mühe konnte ich mir ein erleichtertes Aufschluchzen verkneifen. Ihm war nichts passiert.

Wieder erklang seine Stimme: „Alice?“

So leise, wie es meine zitternde Stimme zuließ, antwortete ich hastig: „William … Ich brauche Hilfe, ich weiß nicht, was hier passiert. Eva und die anderen … sie sind weg.“

Ich konnte mir seinen Gesichtsausdruck förmlich vorstellen, als er nicht antwortete. Er glaubte mir nicht.

„Verarscht Du mich, Schatz? Ich meine, das letzte Mal war es noch lustig, aber das ist gerade echt gruselig.“

Fast hätte ich genervt aufgestöhnt. „Nein, das ist mein Ernst … irgendjemand ist hier im Haus.“

Wieder war Stille am anderen Ende der Leitung. Er wusste nicht, was er sagen sollte. (Was hätte ich auch anderes erwarten sollen, es war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, ihn zu verarschen.)

Plötzlich erklangen Stimmen und ich zuckte heftig zusammen. Sie waren hier in meinem Zimmer. Genau vor meinem Schrank und redeten leise. Verzweifelt presste ich mir eine Hand vor den Mund, um mein lautes Atmen zu dämpfen. William antwortete immer noch nicht.

Mein Gott, sie hatten meine Schwester geholt und meine Freundinnen geholt … Wahrscheinlich waren sie schon tot und nun war ich an der Reihe …

Ein lauter Schluchzer kam über meiner Lippen und die Stimmen verstummten. Sie hatten mich gehört. (Heilige Scheiße.) Ich hörte ihre schweren Schritte, als sie langsam auf mich zukamen. Es gab keinen Ausweg mehr. Es gab keine Rettung. Da öffnete sich auch schon die Tür und ich sah denselben grünen Augen entgegen wie zuvor im Garten. (Wenigstens habe ich mir das nicht eingebildet.)

Wir beide hielten einen Moment inne, unsere Blicke verflochten sich ineinander, keiner war fähig wegzusehen.

Er war der erste, der sich wieder fing. Unnachgiebig fasste er mein Fußgelenk und zog. Sofort fing ich an zu Kreischen, trat und schlug um mich, doch er war zu stark und sein Griff zu eisern.

„WILLIAM!“

Meine letzte Hoffnung, doch wenn ich es richtig deutete, hatte er bereits aufgelegt. Er hielt es immer noch für einen dummen Streich.

Mittlerweile lag ich auf dem hölzernen Boden meines Zimmers und wehrte mich noch immer mit Händen und Füßen. Kampflos würde ich mein Leben nicht aufgeben. Ein zweiter Mann wollte nach meiner Hand greifen, doch ich bekam seinen Arm zu fassen und biss so heftig hinein, bis ich Blut schmeckte. Fluchend zog er seinen Arm zurück und genau in diesem Moment fand mein Fuß ein zweites Mal sein Ziel zwischen den Beinen des grünäugigen Mannes.

Die Sicht von Tränen vernebelt sprang ich die Treppe hinunter und warf mich aus der Haustür. In meiner Eile übersah ich eine Stufe und landete mit dem Gesicht voraus im Matsch. Dreckig oder nicht, ich hatte keine Zeit, mich darum zu kümmern. Blitzschnell war ich wieder auf den Füßen, als mir ein Sack über den Kopf gestülpt wurde und sich starke Arme um meine Taille schlossen.

Wieder schrie und wehrte ich mich, aber ein zweites Mal kam ich nicht frei. Ich bekam keine zweite Chance, davonzukommen.

„Bitte“, begann ich „bitte, lasst mich leben, ich bin niemand besonderes. Lasst mich gehen.“

Keine Antwort.

Bitte“, flehte ich noch einmal mit Nachdruck. Als wieder keine Antwort kam, ließ ich mich kraftlos gegen den harten Körper hinter mir sinken und gab auf. Stumme Tränen durchnässten den Stoff über meinen Augen und ich erwartete den Schmerz. Vielleicht würden sie sich noch ein wenig Spaß mit mir gönnen. Vielleicht würden sie mich danach erst umbringen. Ich würde mich nicht wehren. Ich hatte genug gekämpft. Es war offensichtlich, dass jemand im Himmel mich tot sehen wollte. Dass die Moiren meinen viel zu kurzen Lebensfaden gespannt hielten, die Schere griffbereit.

Ich beugte mich meinem Schicksal.

Ein Ruck durchfuhr mich, als ich eine warme Hand an meinem Nacken spürte, die den kratzenden Stoff des Sackes fast vorsichtig und sanft fortschob. Meine Vermutungen lagen also richtig. Sie würden mich erst so sehr quälen, bis ich um Gnade winselte. (Kranke Menschen gibt es auf dieser Welt …)

Gewappnet auf jeglichen Schmerz biss ich mir auf die Lippe. Kein Ton würde meine Lippen verlassen, diese Genugtuung würde ich ihnen nicht bieten.

Umso überraschter war ich, als ich nur ein kurzes Pieken spürte, das mich aufkeuchen ließ.

Beinahe augenblicklich spürte ich, wie meine Beine unter mir nachgaben und ich in mich zusammensank. (Mörder mit Anstand? Was hab ich für ein Glück.)

Die starken Arme des Mannes hinter mir aber hielten mich fest und zogen mich fester an seine harte Brust. Eine weitere warme Hand strich mir sanft über den Kopf, als mir mein Bewusstsein immer weiter entglitt.

Seine Worte waren nur noch ein leises Flüstern, ein kaum zu vernehmendes Wispern. Balsam für meine geschundene Seele.

„Mach Dir keine Sorgen, meine Schöne, Du wirst nicht sterben.“

KAPITEL 2

Zitternd atmete ich einmal ein und aus. Ich lebte. Es fühlte sich an, als würde mein ganzer Körper in Säure liegen, aber ich war nicht tot.

Prüfend bewegte ich einmal jeden meiner Finger und meiner Zehen. Alles noch dran. Während ich meine Augen weiterhin fest zusammenkniff, drehte ich mein Handgelenk. Es war kaum möglich, es zu bewegen. Ein dicker Lederriemen hielt es fest an meiner Seite. Dasselbe mit den Füßen.

Als ich eine Tür aufgehen hörte, erstarrte ich und hielt den Atem an. Ich wollte nicht, dass sie wussten, dass ich wach war. Vielleicht könnte ich so ein wenig Zeit schinden.

Stuhlbeine schliffen über den Boden und jemand ließ sich ganz nah bei mir nieder.

„Ich weiß, dass Du wach bist. Du kannst also aufhören, so zu tun als ob.“ (Das wars dann wohl mit meinem Megaplan …)

Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich den heißen Atem eines Mannes ganz nah an meinem Ohr fühlte und die Bewegungen seiner Lippen auf meiner Haut spüren konnte. Ich nickte kurz, hielt meine Augen jedoch weiterhin fest geschlossen. Meine Kehle brannte genauso wie mein ganzer Körper. Ich konnte kein Wort hervorbringen, geschweige denn einen ganzen Satz bilden. Er stand wieder auf und als ich mir sicher war, dass er mich nicht mehr beobachtete, öffnete ich langsam die Augen.

Sofort musste ich sie geblendet wieder zusammenkneifen, bis ich mich an das Licht gewöhnt hatte. Dann konnte ich mich endlich umsehen.

Der Raum war klein und quadratisch. An den Wänden standen ringsherum Theken mit allen möglichen Apparaturen darauf. Nur meine Liege, die ebenso weiß war wie der restliche Raum, stand direkt in der Mitte. Als ich meine Umgebung erkundete, fiel mein Blick auf den hochgewachsenen jungen Mann, dessen smaragdgrüne Augen mich interessiert musterten. Seine schokoladenbraunen Haare fielen ihm wild ins Gesicht und die muskulösen Arme hatte er lässig vor der Brust verschränkt. Ich konnte meinen hormongesteuerten Körper einfach nicht daran hindern, ihn gründlich zu mustern und meinen Blick immer wieder über seinen Körper schweifen zu lassen.

„Gefällt Dir, was Du siehst?“

Seine Stimme ließ mich aufschrecken und mein Blick flog nach oben. Zu seinen Augen. Diesen unglaublich grünen Augen, vor denen ich so große Angst hatte. Dieses Mal schaffte ich es, die Tränen zurückzuhalten und mir die Angst nicht anmerken zu lassen. Ich würde keine Schwäche zeigen. Also reckte ich das Kinn und hob so arrogant wie nur möglich eine Augenbraue.

„Und wenn?“

Fehler. Sofort wurde ich von einem Hustenanfall gepackt und mein Hals brannte mehr als zuvor.

Mit tränenden Augen richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf mein Gegenüber. Die vollen Lippen des Jungen, die so aussahen, als seien sie nur zum Küssen geschaffen worden, teilten sich und ließen strahlend weiße Zähne erblicken. Das Lächeln stand ihm und ich musste schlucken, um nicht ekelhaft los zu sabbern. (Das wäre nicht besonders sexy.)

Lachend schüttelte der hübsche junge Mann den Kopf, sodass ihm die Haare noch etwas mehr ins Gesicht fielen. Er warf noch einen letzten Blick auf mich, bevor er sich von der Wand abstieß und aus dem Zimmer rauschte.

Augenblicklich fiel ein wenig der Anspannung von mir ab und ich ließ meinen Kopf zurück auf die Liege sinken. Wollten sie mich töten, hätten sie es längst getan. Irgendetwas gab es also, das sie von mir wollten. Nur einige Augenblicke waren vergangen, als auch schon ein weiterer Mann in einen weißen Kittel gehüllt mit einem Becher voll Wasser ins Zimmer kam. Wortlos stellte er ihn auf einen Tisch neben mir, legte ein Klemmbrett auf eine der Theken und schenkte mir keine Aufmerksamkeit mehr.

Angestrengt kniff ich die Augen zusammen und strengte mein Hirn an. Ich hatte so viele Filme gesehen, aber keine der Fluchtmöglichkeiten waren realistisch genug. Bis auf diese eine Möglichkeit …

Mit einem weiteren Blick auf den Doktor, um sicherzugehen, dass er nichts mitbekam, begann ich, meine Hand zu bewegen. Kleine, vorsichtige Bewegungen, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ganz langsam drehte ich meine Hand hin und her und zog. Schmerzerfüllt biss ich mir auf die Lippe. Ich durfte jetzt keinen Ton machen, sonst hätte ich keine Chance mehr.

Also machte ich weiter. Mit einem Mal explodierte ein heftiger Schmerz in meiner Hand, der mich laut aufkeuchen ließ. Sofort presste ich meine Lippen wieder aufeinander, doch es war zu spät. Er hatte es gemerkt. Ruckartig richtete er sich auf und wandte sich zu mir. Ich richtete meinen Blick stur an die Decke, doch ich wusste, dass er meine Hand bemerkt hatte und wahrscheinlich sah es auch so aus, wie es weh tat. Er stieß einen mir unbekannten Fluch aus und kam zu mir. Unruhig nestelten seine Finger an dem Lederriemen, der mein Handgelenk festhielt, bis er sich öffnen ließ. Perplex starrte ich den Doktor an und unsere Blicke trafen sich.

Da war sie. Die Chance, auf die ich gehofft hatte.

Sofort reagierte ich, ballte meine Finger zu einer Faust, entriss meine Hand dem Doktor und schleuderte sie ihm ins Gesicht. Er taumelte zurück und hielt sich die Nase, die ich mit voller Wucht getroffen hatte. Mit schmerzender Hand fummelte ich an dem Schloss meiner anderen Hand herum, bis ich es schaffte, es aufzukriegen. Ich setzte mich auf, befreite auch meine Füße und sah mich nach dem Mann um. Dieser rannte gerade nach Hilfe rufend aus dem Zimmer. (Jey, sieht so aus, als würde ich gleich Gesellschaft von durchtrainierten Typen bekommen.) Schnell steckte ich mir einen Bissen des Brotes von dem Teller, den der Doktor zuvor mitgebracht hatte, in meinen Mund und dann sprang ich auf die Füße, doch sofort sank ich auch wieder auf die Knie. Der Schmerz an meiner Hand war unerträglich geworden. Wieder schlich sich ein lautes Keuchen über meine Lippen. Angestrengt kroch ich auf die Theke zu und stemmte mich an ihr hoch. Eilig riss ich mir den nächstbesten Verband von einem Regal und wickelte ihn stöhnend um meinen Handrücken. Sofort war er blutdurchtränkt, doch das kümmerte mich nicht. Schon stand ich wieder auf den Beinen und wankte zur Tür.

Aber kaum hatte ich sie aufgerissen, sah ich mich schon wieder den unglaublich grünen Augen gegenüber, die mich belustigt anfunkelten.

„Wo willst Du denn hin?“

Wie schon vorhin lief mir beim Klang seiner Stimme ein wohliger Schauer über den Rücken und ich konnte mich nicht von ihm abwenden. Auch nicht, als sich ein selbstgefälliges Grinsen auf das hübsche Gesicht des Jungen stahl. Ihm war sehr wohl bewusst, welche Wirkung er auf mich hatte. Und allem Anschein nach hatte er großen Spaß daran.

„Ich will hier …“

Weiter kam ich nicht. Der Doktor hatte mir eine Nadel in den Hals gerammt und wie sehr ich mich auch wehrte, die Kraft in meinen Gliedern ließ immer mehr nach, bis ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und in den Armen des mysteriösen Jungen landete.

Sein Lächeln war von seinem Gesicht gewischt und sein Blick nicht deutbar. „Ich sagte Dir doch, Du wirst nicht sterben. Das ist auch weiterhin so, also hör auf, Dich dagegen zu wehren, Kätzchen.“

Ich wollte ihn anschreien, ihm sagen, dass das Freiheitsberaubung war, dass er mich nicht Kätzchen nennen sollte, aber auch meine Sprache gehorchte mir nicht mehr. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich willig von ihm zurück auf die Liege tragen zu lassen und die Lederriemen abermals anlegen zu lassen.

Die ganze Zeit über blieb ich aber bei Bewusstsein, konnte sein konzentriertes Gesicht beobachten, als er nicht darauf achtete. Bevor er ging, schwebte eben genau dieses Gesicht über mir und seine Augen betrachteten mich nachdenklich. Er hob seine Hand und sanfter als ich es für möglich gehalten hätte, legte er sie an meine Wange, zog kleine Kreise mit seinem Daumen und jagte mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper.

Dann, schneller als ich „Stopp“ hätte sagen können (hätte ich reden können), war er fort und ließ mich mit dem Arzt, der zuvor meine Hand verbunden hatte, alleine.

Ohne, dass ich mich wehren konnte, nahm er mir Blut ab, setzte mir eine Spritze nach der anderen in den Arm und selbst als ich spürte, wie das Gefühl zurück in meinen Körper kam, versuchte ich mich nicht zu wehren. Nachdem mein erster und letzter Fluchtversuch so grandios gescheitert war, hatte ich die Hoffnung aufgegeben.

Tage vergingen in immer dem gleichen Muster. Mir war ein Zugang gelegt worden, über den ich anscheinend meine Nahrung bekam. Jeden Morgen wurde er gewechselt, meine Fesseln wurden nicht angefasst, nicht einmal gelockert. Auch den Jungen mit den braunen Haaren und den grünen Augen bekam ich jeden Tag zu Gesicht.

Leise murmelnd unterhielt er sich kurz mit dem Arzt und setzte sich dann zu mir. Sein intensiver Blick ruhte die ganze Zeit auf mir. Er redete nicht, sondern saß einfach schweigend vor mir. Genau fünfzehn Minuten, jeden Tag. (Ich hatte gezählt.) Dann erhob er sich wortlos und erschien am nächsten Tag wieder.

So vergingen vier Tage, an denen ich die Sekunden bis zu seinem Eintreffen zählte. Auch wenn wir nicht redeten, hatte seine Anwesenheit eine beruhigende Wirkung auf mich.

Am fünften Tag jedoch kam er nicht. Stattdessen kam ein ebenso braunhaariges Mädchen mit dem Namen Nummer 11. (Was für Eltern sich nur einen solchen Namen ausdenken …)

Sie schloss mir mit einem munteren Lächeln die Fesseln an den Handgelenken auf und wartete. Sie beobachtete jede meiner Bewegungen, als würde sie darauf warten, angegriffen zu werden. Doch ich tat es nicht. Stattdessen rieb ich mir nur die schmerzenden Handgelenke und starrte – stur wie ich war – an die Decke.

Mit einem belustigten Seufzen packte sie mich an den Händen und zog mich auf die Füße. Sie war ein wenig kleiner als ich und Sommersprossen tanzten auf ihrer Nase, wenn sie lächelte. Sie ging voraus, öffnete die Tür zum Gang und drehte sich abwartend zu mir um. Ich hatte mich nicht von der Stelle gerührt. War es jetzt endlich soweit? Hatten sie endlich genug von mir?

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich mich fing und ihrer stummen Aufforderung folgte. Der Gang war wie ausgestorben, als hätten sich alle vor mir in Sicherheit gebracht. Kaum war ich hinausgetreten, wurde ich von dem Mädchen mit erstaunlich viel Kraft am Oberarm gepackt und in das Zimmer gegenüber geschoben. Erschrocken fuhr ich zusammen, als die Tür hinter mir zugeschlagen wurde. Sie hatte mich alleine gelassen.

Stirnrunzelnd sah ich mich um. Der Raum erinnerte mich an diese ekelhaften Umkleidekabinen in Turnhallen. Vor mir stand eine Holzbank, auf der ein sorgfältig gefalteter Lederanzug lag, wie ihn hier alle trugen. Vorsichtig, als könnte jeder Schritt mein letzter sein, ging ich darauf zu und nahm den Stoff in die Hand. Kurz sah ich mich noch einmal um. Ich war wirklich alleine. Zögernd drehte ich das Leder immer wieder in den Händen hin und her, bis ich durch die Stimme von Nummer 11 aufgeschreckt wurde, die mich zur Eile antrieb.

(Vielleicht wollten sie mich gar nicht umbringen, sondern noch schlimmer … vielleicht sollte ich eine von ihnen werden …)

Rasch schlüpfte ich aus meinen alten, komisch riechenden Sachen heraus und legte sie auf die Bank vor mir. Als ich mich umgezogen hatte, drehte ich mich zum Spiegel an der Wand und betrachtete mich. Der Anzug saß wie angegossen. Hauteng, aber nicht unbequem. Auf eine komische Art und Weise sah ich gut aus … aber irgendwie furchteinflößend …

Kaum war ich fertig, wurde die Tür schon wieder geöffnet und Nummer 11 trat ein. Ohne zu Fragen oder auf eine Erlaubnis zu warten, umfasste sie meine Hüfte und legte einen schweren, ebenso ledernen Gürtel an, an dem eine Schusswaffe und mehrere Messer hingen. Auch an meinen Oberschenkel brachte sie ein Band mit einem Messer an und steckte ein weiteres in meine neuen Stiefel. Kurz betrachtete sie ihr Werk und ergriff dann meine Hand.

„Ich heiße Mia, oder hier auch Nummer 11.“

Überrascht über die plötzliche Vorstellung brachte ich nur ein Nicken hervor. Ich wollte ihr meine Hand entziehen, doch ihr Griff war fest und unnachgiebig.

„Weißt Du, ich hoffe wirklich, wir können Freundinnen werden. Ich weiß, Du hast Angst und weißt nicht, wie Dir geschieht, aber ich verspreche Dir, dass Du bald verstehen wirst.“

Noch bevor ich etwas erwidern konnte, war sie wieder zurückgetreten und hatte eine ernste Miene aufgesetzt.

„Alice Brown, Nummer 12, Untertan der Athene, willkommen in der Welt der Götter. Viele Helden vor Dir teilten dieses Schicksal mit Dir. Auf dass sie Dir ein Vorbild sein werden. Du wirst ihre Aufgabe übernehmen, sie in Ehren tragen und bis zu deinem Tode verfolgen. Du bist für die Götter geboren, wirst für sie leben und wirst schließlich für sie sterben. Sollen die Götter auf ewig mit Dir sein!“

Sie warf mir noch einen letzten mitleidigen Blick zu, bevor sie die letzten Worte sprach, die mich wie ein Schlag ins Gesicht trafen.

„Dein Leben gehört nun dem Schicksal … Willkommen Nummer 12.“

KAPITEL 3

W illkommen Nummer 12 hatte sie gesagt. Als wäre ich nun eine von ihnen. (Das ist doch keine Sekte hier?) Sie hatte dreimal diesen Satz wiederholt, der sich nun in mein Hirn eingebrannt hatte. Was, wenn ich nicht „Nummer 12“ sein wollte? Kümmerte meine Meinung überhaupt jemanden? (Anscheinend nicht.) Und nach ihrer offensichtlich rituellen Ansprache hatte Mia noch ins Mikro gesagt, Nummer 12 sei bereit für die Ausbildung, was wohl eher nicht an mich gerichtet war. Worauf eine Stimme aus dem Hörgerät geantwortet hatte: „An Nummer 11. Bevor es geprüft werden kann, muss das Kätzchen trainiert werden.“

„Verstanden“, hatte Mia maschinenhaft geantwortet. (Ich hoffe mal, dass das kein Codewort für irgendetwas anderes sein sollte.) Dann wollte sie mich am Arm packen, doch ich schreckte zurück. Ich wollte nicht wieder auf diese Liege. Nicht wieder gefesselt sein. Egal wie nett Nummer 11 auch sein mochte. Sie warf mir einen Blick zu, der klar werden ließ, dass sie keinen Widerspruch akzeptierte. Also ließ ich mich aus dem Raum führen. Wir traten in einen hellen Gang, doch bevor ich diesen genauer betrachten konnte, zog mich Mia schon weiter. Wir durchquerten viele verschiedene Gänge und Räume, die alle unterschiedlich aussahen, doch eins hatten sie alle gemeinsam. Überall, wo uns Menschen begegneten, was nicht gerade wenig waren, wurde ich angestarrt.

Schließlich kamen wir in eine Art Kontrollraum, in dem viele Menschen in den gleichen schwarzen Lederanzügen saßen, wie Mia und ich sie trugen, und an riesigen Computerbildschirmen arbeiteten. Sofort hatte sich eine kleine Menschentraube um uns gebildet. Alle betrachteten mich neugierig. Natürlich musste ich mal wieder rot werden. (Ich fühlte mich mit all dieser Aufmerksamkeit einfach nicht wohl.) So gut es ging, versteckte ich mich hinter meiner Führerin, als ich ein mir nur allzu bekanntes Gesicht zwischen den ganzen Menschen erkennen konnte. Dieses unheimlich grüne Augenpaar würde ich unter Millionen wiedererkennen. Vor mir stand Nummer 5, der mich kaum beachtete. Er hatte die Arme wieder einmal lässig vor der Brust verschränkt, war an einen der Schreibtische gelehnt und starrte gelangweilt zu Boden. (Na herzlichen Dank auch.)

Dann bildeten die Leute einen Gang und ein hochgewachsener Mann kam mit großen, selbstsicheren Schritten auf mich zu. Er war ungefähr Mitte 30, hatte einen auffälligen Bierbauch, blonde, kurz rasierte Haare und trug einen braunen Lederanzug. (Das passte überhaupt nicht zu seinem Teint, ehrlich!) Er hatte außerdem ein fieses Lächeln aufgesetzt, was mir richtig Angst machte. Er kam direkt auf mich zu, musterte mich und sprach: „Du bist also die zwölfte und letzte … Bist Du Dir bewusst, welche Last auf deinen Schultern lasten wird?“

Verwirrt erwiderte ich seinen durchdringenden Blick und sagte: „Nicht wirklich, nein.“

Missbilligend verzog er den Blick und murmelte mehr zu sich selbst: „Manieren muss man ihr auch noch beibringen …“

Schon wandte er sich wieder von mir ab.

„Rekruten, Camp für das Kätzchen bereit machen.“ Dann verließen beinahe alle „Rekruten“ den Raum, um die – offenbar – klare Anweisung ihres Anführers auszuführen, und die restlichen flüchteten beinahe in alle Richtungen. Als sich schließlich auch Mia davonmachte, stand ich mit Nummer 5 alleine in dem leergefegten Raum.

Mittlerweile hatte er sich erhoben und direkt vor mir aufgebaut. Er überragte mich um einige Zentimeter, sodass ich meinen Kopf heben musste, um ihn anzusehen.

„Also, Kätzchen, ich darf heute wohl deinen Babysitter spielen, weil ich es etwas versaut hab, als wir Dich geholt haben. Nicht, dass ich große Lust darauf hätte, aber kann man nicht ändern. Mein Name ist übrigens Riley.“

Mir blieb die Luft weg. Was erlaubte der sich eigentlich? Wütend stemmte ich die Hände in die Hüften und funkelte ihn an.

„Was hast Du für ein Problem? Ich hab auch nicht darum gebeten und wie nennst Du mich eigentlich?!“

„Kätzchen.“

„Was soll denn der Mist?“

Das erste Mal erschien ein ehrliches Lächeln auf seinem Gesicht.

„Als wir Dich geholt haben, hast Du gekratzt und gebissen wie ein Kätzchen und jetzt genauso. Du fährst gerne die Krallen aus, aber noch steckt da nichts dahinter. Noch bist Du keine Wildkatze.“

Mir klappte der Mund auf. In den letzten Tagen hatte ich ernsthaft gedacht, dass er sich für mich interessieren könnte. (Vielleicht hatte ich es auch gehofft.) Und jetzt sowas. Er behandelte mich wie den letzten Dreck.

Ich wollte gerade wieder etwas erwidern, als er ungeduldig auf die Uhr blickte.

„Können wir jetzt endlich gehen? Wir haben viel zu klären.“ (Na auf die Erklärung bin ich ja mal gespannt.)

Meine Neugier besiegte meine Wut spielend leicht und ich folgte ihm aus dem Raum. Er machte so große Schritte, dass ich Mühe hatte, ihm zu folgen. Es kümmerte ihn nicht einmal, sondern er begann einfach zu erzählen: „Das hier ist eine sehr wichtige Einrichtung, die man auch als Geheimdienst bezeichnen kann. Wir arbeiten aber nicht für die Menschen, sondern für die Götter. Und beachte, dass ich die griechischen Götter meine und nicht diese Meute von römischen Göttern. Es gibt 12 von den Göttern höchst persönlich auserwählte Rekruten, denen es erlaubt ist, mit den Göttern zu kommunizieren. Jedoch hat noch nie jemand von uns mit den Göttern wirklich gesprochen, geschweige denn hat sie wirklich gesehen. Die anderen hier, das heißt der Großteil, machen nur den Bürokram, und so bleibt an uns, den Nummern 1 bis 12, der sogenannte Außendienst hängen. Das ist unser Lebensinhalt. Also das, was Du gerade gesehen hast, ist der Kern der ganzen Organisation.“

(Wow, das waren viele Infos auf einmal.)

„Hier sind unsere insgesamt 40 Sekretärinnen. Alle für ein anderes Thema. Damit sie sich nicht gegenseitig ablenken und zeitaufreibende Leichtsinnsfehler machen. Sie wissen jedoch nichts von unseren ... Arbeitsgebern, weshalb sie einmal pro Woche einer Art Gehirnwäsche unterzogen werden. Lass uns weiter gehen.“

Man merkte, dass ihm dieses Thema unangenehm war, also fragte ich nicht genauer nach. Genau in diesem Moment fiel mir eine der Frauen auf, die den Gürtel an meiner Hüfte interessiert musterte. Plötzlich traten zwei große, schwarzgekleidete Männer aus dem Schatten und zogen die arme Frau mit sich. (Also war das Wort Gehirnwäsche wirklich ernst gemeint …) Ich sah den drei Menschen noch hinterher, dann zog mich Nummer 5 auch schon weiter. „Hier kommen die neuen Nummern an. In diesem Zimmer wurdest Du auch empfangen.“ („Empfangen“… So kann man das auch bezeichnen.)

„Moment mal … neue Nummern? Du sagtest doch dass es immer nur 12 gibt?“, wunderte ich mich.

„Ja, sagte ich, aber das ändert sich manchmal aus Gründen, die Du bald verstehen wirst.“ Bevor ich mich darüber aufregen konnte, erinnerte ich mich an mein leeres Haus, als sie mich geholt hatten.

„Was ist eigentlich mit meinen Freunden und mit meiner Schwester passiert? Habt ihr sie auch entführt?“

„Die Stadt, in der Du aufgewachsen bist, wurde quasi versetzt“, antwortete er zögernd. „Die Stadt liegt jetzt nicht mehr nördlich von London, sondern südwestlich.“

Mit offenem Mund versuchte ich das zu begreifen. (Ist es euch aufgefallen? Er hat meine Frage eigentlich nicht beantwortet.)

„Gibt es denn hier sowas wie Besuchszeiten? Denn ich glaube, meine Freunde und meine Eltern würden mich Euch nicht einfach so überlassen. Das würde doch an Entführung grenzen!“ Ziemlich zerknirscht beantwortete Nummer 5 meine Frage widerwillig: „Sie würden Dich nicht besuchen, wenn sie könnten, da Du in ihrer Welt … so gut wie nicht existiert hast. Sie würden Dich nicht erkennen.“