image

SCOTT CARNEY

mit einem Vorwort von Wim Hof

EXTREM GESUND

Wie uns eiskaltes Wasser und extreme Höhe
gesünder und fitter denn je machen

image

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Copyright der Originalausgabe 2017:

Copyright der deutschen Ausgabe 2017:

Umschlaggestaltung und Herstellung: Johanna Wack

ISBN 978-3-86470- 462-8

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

image

FÜR LAURA KRANTZ

WARNUNG

Dieses Buch ist ein journalistischer Bericht über die Grenzen und Möglichkeiten des menschlichen Körpers. Diese Methoden und Übungen sollten nur angewendet werden bei genügend Erfahrung, Training, ausreichender Fitness, mit Zustimmung eines Arztes und unter Aufsicht – und selbst dann sollte man sich darüber klar sein, dass diese Praktiken gefährlich sind und schwere Verletzungen oder den Tod nach sich ziehen können.

INHALT

Vorwort von Wim Hof

Einleitung: Verbrennen

Einführung: Eine Ode an die Qualle

Der Eismann kommt

Den Mülleimer der Evolution durchwühlen

Das Unmessbare messen

Der Keil

Startnummer 2182

Die Kunst des Zusammenbruchs

Mit Kanonen auf Spatzen schießen

Regen im Haus

Parkinson, Knochenbrüche, Arthritis und Morbus Crohn

Intervalltraining bei jedem Wetter

Der Kalte Krieg und das vitale Prinzip

Tough Guy

Kilimandscharo

Epilog: Der Komfort der Kälte

Anmerkungen zur Chronologie

Danksagungen

Quellen

Über den Autor

Statt ihre Füße mit Schuhen oder Sandalen zu verweichlichen, machte er es zur Regel, diese mit Barfußlaufen abzuhärten. Wie er glaubte, würde diese Gewohnheit es ihnen ermöglichen, Berge leichter zu besteigen und Abhänge sicherer hinabzulaufen. Mit derart trainierten Füßen würde ein junger Spartaner sogar ohne Schuhe weiter springen und schneller laufen als jemand, der normales Schuhwerk trug. Statt sie mit einer großen Auswahl verschiedener Kleidungsstücke zu verweichlichen, machte er es zur Regel, sie das ganze Jahr mit einem einzigen Gewand zu bekleiden, denn er dachte, dass sie auf diese Weise besser darauf vorbereitet waren, heiße und kalte Witterung zu überstehen.

Xenophon, 431–354 v. Chr.

Das tägliche Abhärten mit kaltem Wasser macht einen Menschen nicht notwendigerweise „den Göttern gleich“, wie man so oft hört. Diejenigen, die sich mit kaltem Wasser abhärten, sind meist sehr stolz auf das, was sie erreicht haben, und sehen verächtlich auf die herab, die nicht diese tägliche Behandlung durchführen, und wer sich mit kaltem Wasser abhärtet, „dankt Gott dafür, dass er nicht so ist wie andere Menschen“. Häufig sind diese kalten Bäder oder Duschen aber schädlich, besonders für Untergewichtige oder Menschen, die viel abgenommen haben.

Journal of the American Medical Association, 1914

VORWORT

DIE NATUR GAB uns die Fähigkeit, uns selbst zu heilen. Atemkontrolle und Abhärtung sind zwei Werkzeuge, die jeder einsetzen kann, um sein Immunsystem zu stärken, seine Stimmung zu verbessern und seinen Energielevel zu erhöhen. Ich glaube, dass jeder lernen kann, sich seines autonomen Nervensystems zu bemächtigen und Prozesse zu kontrollieren, die normalerweise unbewusst ablaufen. Das sind verwegene Behauptungen und manche Menschen begegnen meiner Überzeugung und meiner Begeisterung zu Recht mit Unglauben. Skepsis ist etwas Gutes und hilft, die Wahrheit an den Tag zu bringen. Ich war mir aber nicht ganz sicher, ob ich für Scott Carney bereit war, denn er war der größte Zweifler von allen. Er kam nach Polen, um der Welt zu beweisen, dass ich ein Schwindler war.

Ich betreibe ein kleines Trainings-Zentrum in der kalten Landschaft des Riesengebirges, in das Menschen kommen, um mithilfe von Schnee und Eis ihre grundlegendsten physiologischen Vorgänge zu erforschen. Die meisten sind bereit zu lernen, wenn sie hierher kommen. Aber Scott war anders. Als Anthropologe und investigativer Journalist hat er die Angewohnheit, so lange Fragen zu stellen, bis er den Dingen auf den Grund gegangen ist. In dem Moment, als ich ihn am Flughafen traf, wusste ich, dass es keine leichte Woche werden würde.

Seine analytische Denkweise lernte ich das erste Mal bei einer Partie Schach kennen. Wir blieben lange auf, attackierten die Verteidigung des anderen und versuchten, auf dem Brett einen Vorteil zu gewinnen. Dabei unterhielten wir uns darüber, was es hieß, zu lernen, die Kälte zu lieben. Er gewann das Spiel. Aber er versprach mir auch, dem Training eine faire Chance zu geben.

Am nächsten Tag begann er damit, sich mit den Techniken selbst vertraut zu machen. Dieser Mann war eben aus dem Surfparadies Los Angeles gekommen, wo es immer warm ist. Aber er lernte die Atemtechniken und lag halbnackt mit dem Rest der Gruppe im Schnee. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so etwas jemals wirklich hatte tun wollen. Und doch stand er zwei Tage, nachdem wir uns das erste Mal getroffen hatten, barfuß draußen im Schnee und entdeckte zweifellos die Urkräfte in sich selbst.

Der westliche Lebensstil macht es nur allzu leicht, die Natur als gegeben hinzunehmen. Alle Säugetiere haben dieselbe zugrunde liegende Physiologie, aber irgendwie wurden die Menschen so davon gefangen genommen, mit ihrem großen Geist große Gedanken zu denken, dass sie glauben, sie seien anders als alles andere um sie herum. Sicher, wir können Wolkenkratzer bauen, Flugzeuge fliegen und einfach die Heizung aufdrehen, um die Kälte zu vertreiben, aber es stellte sich heraus, dass die Technologien, die wir für unsere größte Stärke gehalten haben, Krücken sind, die wir nicht so leicht wieder loswerden können. Die Dinge, die wir erfunden haben, um unseren Komfort zu erhöhen, machen uns schwach.

Aber man braucht nur ein paar Tage, um diese Abhängigkeit vom Komfort zu verringern. Bewusste Atmung und Konzentration stoßen eine chemische Veränderung des Körpers an, der dadurch weniger übersäuert, während kalte Bäder einen mentalen und physischen Spiegel schaffen, in dem wir uns selbst in einem Zustand von Flucht oder Kampf sehen. Diese Veränderungen zu spüren kann eine sehr machtvolle Erfahrung sein.

Die folgenden Jahre blieben Scott und ich über E-Mail in Kontakt, während ich neue Wege entdeckte, diese Methode anderen zugänglich zu machen. Er bekam sogar einen sechsseitigen Artikel in der Juli-Ausgabe des Playboy 2014! Da war tatsächlich ich zu sehen, ein fast nackter Mann, der auf den Playboy-Seiten die Botschaft verbreitete, dass wir uns durch Atemtechniken zurück in einen Geisteszustand versetzen konnten, in dem Kälteempfinden, Kampf, Flucht und Sex die grundlegendsten Instinkte des Körpers darstellen. Kurz darauf wurden neue Studien veröffentlicht, die bewiesen haben, dass diese Techniken funktionierten. Scott wusste, es war an der Zeit, ein Buch zu schreiben. Es sollte eine einfache und effektive Untersuchung werden. Frei von Spekulation. Und das hat er getan.

Er verbrachte drei Wochen bei mir in den Niederlanden. Ich denke, ihm wurde klar, dass ich kein Dogmatiker bin, sondern nur fest daran glaube, dass jeder das Potenzial hat, menschlicher zu werden.

Zu Beginn dieses Jahres beschloss er, mit mir den Kilimandscharo zu besteigen. Ich hoffe, ich verrate damit keine Geheimnisse, aber wir haben eine verdammte Rekordzeit hingelegt – nur 28 Stunden bis zum Gipfel. Das sind keine ausgedachten Geschichten oder Ammenmärchen, nur die realistischen Schilderungen dessen, was Menschen erreichen können, wenn sie mit Körper und Geist bei der Sache sind.

Wir müssen uns die Macht von Mutter Natur wieder ins Bewusstsein rufen. Wir sind Krieger, die nach Kraft und Glück für alle Menschen streben. Gemeinsam können wir zurückerobern, was wir verloren haben. Mit anderen Worten, ich habe eigentlich nicht mehr zu sagen als „Atme, du Hurensohn“.

In Liebe
Wim Hof
Stroe, Niederlande, 28. April 2015

EINLEITUNG

VERBRENNEN

DIE REIHE UNSERER Stirnlampen durchschneidet die Dunkelheit der pechschwarzen afrikanischen Nacht und beleuchtet Teile eines geröllbedeckten Pfads. Wanderstöcke aus Aluminium und Wanderstiefel knirschen auf der Erde, während sich die Gruppe nordwärts bewegt, auf einen vulkanischen Felsbrocken zu, der jährlich die Leben von etwa acht Bergsteigern fordert. Unser Atem geht schwer und rhythmisch, als wären wir in einem Raum gefangen, dem langsam der Sauerstoff entzogen wird. Es hört sich an, als könnte jeder unserer Atemzüge unser letzter sein. Wir trotten in der Dunkelheit konzentriert vorwärts wie eine Einheit, bis die Finger einer orangefarbenen Dämmerung am Horizont erscheinen und die Decke der Nacht wegziehen. Der Umriss eines Berggipfels wird sichtbar. Zuerst ist es nur die purpurfarbene Abwesenheit von Sternen, die im Rest des Himmels wie Nadelstiche wirken, aber während der Himmel die Umarmung der Nacht abschüttelt, lässt die Sonne den Gletscher auf dem Gipfel wie ein Leuchtfeuer erscheinen.

Kilimandscharo.

Der größte Berg in Afrika erhebt sich aus der sonnendurchfluteten Savanne bis über die Wolken. Dort oben rasen Winde mit über 80 Kilometern pro Stunde über das, was wohl das einzige natürlich vorkommende Eis auf dem ganzen Kontinent darstellt. Es ist das erste Mal, dass wir ihn von so nahe sehen, und ich weiß nicht, ob ich aufgeregt oder verängstigt sein soll. Während der letzten 20 Stunden war der Gipfel hinter den Wolken und den Ausläufern des Berges selbst versteckt, aber jetzt ist der massive Haufen erstarrter Lava keine vage Idee in unseren Köpfen mehr, sondern ein tödliches, reales Hindernis, das es zu überwinden gilt. Unser gradueller Anstieg über die letzten 25 Kilometer vom Beginn des Nationalparks aus wird in einigen Kilometern abrupt zum Stillstand kommen, an der Stelle, wo die Basis des vulkanischen Kegels aus der Ebene nach oben schießt und sich zu einem unfruchtbaren und feindlichen Ödland wandelt. Leblos und nur mit einem Basecamp ausgestattet, das aussieht, als wäre es auf dem Mond errichtet, wird es den Beginn der größten Herausforderung meines Lebens markieren – einer Herausforderung, die mich an das Limit dessen heranführen wird, was ein Mensch ertragen kann. Zwar versuchen jedes Jahr Tausende von Touristen, den Gipfel zu erklimmen, aber sie teilen meistens den Aufstieg in einfache Abschnitte ein und sind mit modernster Bergsteigerausrüstung ausgestattet. Wir versuchen, den Gipfel im Rekordtempo zu erreichen, ohne Gewöhnung an die Höhe, mit wenig Nahrung oder Schlaf und bemerkenswerterweise ohne Ausrüstung für kalte Witterung. Ich trage nur Stiefel, eine Badehose und eine Wollmütze sowie einen Rucksack mit ein wenig Notfallausrüstung und Wasser. Mein Oberkörper ist nackt und der Kälte ausgesetzt.

Einer der Führer, dick eingepackt in voller Winterausrüstung, beäugt mich misstrauisch, bis er es nicht mehr aushält. „Bitte, zieh dir was an“, sagt er, besorgt über die nackte Haut, die ich zur Schau stelle.

Eine vernünftige Forderung. Selbst angesichts der aufgehenden Sonne ist die Temperatur weit unter dem Gefrierpunkt und es wird kälter, je weiter wir hinaufsteigen.

Was er nicht weiß, ist, dass die Kälte meine geringste Sorge ist. Tatsächlich habe ich es genau darauf angelegt. Meine Haut fühlt sich an wie eine Rüstung, welche von der Kälte nicht durchdrungen werden kann. Zum Teil deswegen, weil ich mich so sehr anstrengen muss, höher zu steigen, dass mein Körper über mehr Wärme verfügt, als er überhaupt braucht, aber auf einer anderen Ebene – einer Ebene, die ich immer noch zu begreifen versuche – liegt es daran, dass ich der Kälte einfach nicht gestatte, in meinen Körper einzudringen. Was auch immer der wahre Grund sein mag – ich schwitze, anstatt zu frieren. Aber es gibt noch eine andere Herausforderung, welche ein genauso tückisches Problem darstellt – ein Problem, das die gesamte Expedition gefährden könnte.

Vernünftige Menschen nehmen sich fünf bis zehn Tage Zeit, um den Gipfel des Kilimandscharo zu erreichen, und steigen in kurzen und vorab überlegten Abschnitten entlang der Route auf, um ihren Körpern genug Zeit zu geben, ausreichend rote Blutkörperchen zu produzieren, damit sie mit dem geringer werdenden Sauerstoff bei zunehmender Höhe zurechtkommen. Wir sind jedoch keine vernünftigen Menschen. Unser kühner Plan besteht darin, den Gipfel in zwei Tagen zu erreichen. Bei diesem Tempo bleibt keine Zeit, sich an die Höhe zu gewöhnen. Auf etwa 4.000 Metern – das sind nur etwa zwei Drittel des Weges bis zum Gipfel – ist die Luft schon dünn genug, um manchen Menschen, die nicht an die Höhe gewöhnt sind, Kopfschmerzen, Krämpfe und manchmal sogar den Tod zu bescheren. Die Bedingungen haben bereits zu zwei Ausfällen in unserer kleinen Prozession geführt. Ein über zwei Meter großer Holländer gab an diesem Morgen erst zehn Minuten lang sein Frühstück von sich und wankte dann bei jedem Schritt. Und die Besitzerin einer ganzen Kette der berühmten holländischen „Coffee Shops“, in denen Marihuana verkauft wird, hatte in der letzten Nacht so wenig Sauerstoff im Blut, dass sie die Kontrolle über ihre Gliedmaßen verlor.

Die Bergkrankheit kann selbst die ausdauerndsten Athleten niederstrecken. Das Militär stand dem Problem so ratlos gegenüber, dass es einfach einen gewissen Prozentsatz an Ausfällen ihrer Soldaten aufgrund des Sauerstoffmangels mit einkalkuliert, wenn es Spezialeinheiten in hoch gelegene Kampfgebiete entsendet – wie sie zum Beispiel in Afghanistan häufig sind. Bisher waren zusätzliche Soldaten auf jeder Mission die einzige Lösung. Wenn man sich also nur die reinen Zahlen ansieht, sind die Aussichten für unsere Gruppe finster. Einen Tag vor unserer Abreise hat einer der leitenden Wissenschaftler in einer Armee-Forschungseinrichtung, die sich mit Risiken durch Umwelteinflüsse beschäftigt, berechnet, drei Viertel von uns würde das gleiche Schicksal ereilen wie die beiden, die wir bereits verloren hatten. Doch nicht nur die Armee ist sicher, dass die meisten von uns scheitern werden. Kurz bevor ich aufgebrochen bin, hat ein Journalist, der einen Großteil seiner Zeit damit verbringt, die Viertausender in Colorado zu besteigen, meiner Frau gesagt, er glaube nicht, dass ich es je bis zum Gipfel schaffe.

Es ist nicht einfach, dem Rest der Welt klarzumachen, dass das, was wir tun, kein Stunt oder eine Selbstmordmission ist. Die fehlende Kleidung und das Tempo sind tatsächlich Teil eines Experiments, um eine der drängendsten Fragen der modernen Welt zu beantworten: Hat unsere Abhängigkeit von Technologie uns schwach gemacht? So gut wie jeder, den ich kenne, vom skeptischen Journalisten in Colorado über den Wissenschaftler der US-Army bis zum Bergführer an meiner Seite, umgibt sich mit einem Kokon an Technologie, die ihn sicher und warm hält und ihm hilft, die natürlichen, wechselnden Bedingungen auf unserem Planeten auszuhalten. In den letzten sechs Millionen Jahren der menschlichen Evolution haben unsere Vorfahren Expeditionen über in Eis gehüllte Berggipfel und durch trockene Wüsten mit einem Minimum an unterstützender „Technologie“ bewerkstelligt. Sie haben vielleicht nicht versucht, diesen speziellen Berg zu besteigen, aber sie haben die Alpen und den Himalaja überquert, sind über Ozeane navigiert und haben die Neue Welt bevölkert. Welche Kräfte standen ihnen dabei zur Verfügung, die wir längst verloren haben? Und was noch wichtiger ist: Können wir diese Kräfte zurückgewinnen? Die zugrunde liegende Hypothese ist, dass wir unsere Körper schwächen, wenn wir Behaglichkeit und Ausdauer von den Dingen erwarten, die uns umgeben, und dass wir uns einfach nur einige der normalen Stressfaktoren durch unsere Umwelt wieder zumuten müssen, um uns einen Teil dieser evolutionären Kraft erneut anzueignen. Jede Person in dieser auf und ab wippenden Reihe mit Stirnlampen setzt ihr Leben aufs Spiel, um diese Theorie zu testen. Wir wissen auch, dass wir durch die simple Gewöhnung über einen längeren Zeitraum, mit der richtigen Einstellung und mentalen Stärke eine offenbar in uns schlummernde biologische Kraft erwecken können, die unseren Körper von innen wärmt.

Ich nehme einen Atemzug kalter Luft und konzentriere mich auf den orange leuchtenden Felsen vor mir. Beim Ausatmen mache ich ein Geräusch, das sich wie ein tiefes Knurren anhört: wie ein Drache, der aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht. Ich merke, wie die Energie sich in mir aufbaut. Der Rhythmus meiner Atmung beschleunigt sich. Meine Zehen fangen an, in den Wanderstiefeln zu kribbeln. Die Welt wird vor meinen Augen immer heller, so als wäre die Dämmerung zwei Mal am Werk – einmal beim Sonnenaufgang und einmal in den Tiefen meines eigenen Geistes. Hinter meinen Ohren fühlt es sich so warm an, als hätte jemand an eine Zündschnur Feuer gelegt. Die Wärme breitet sich über meine Schulter und entlang meines Rückgrats aus. Es bringt wenig, aufs Thermometer zu sehen. Die Temperatur liegt weit unter dem Gefrierpunkt und ich verbrenne innerlich.

EINFÜHRUNG

EINE ODE AN DIE QUALLE

ICH LEIDE NICHT gerne. Genauso wenig mag ich es, wenn mir kalt ist, wenn ich nass bin oder hungrig. Wenn ich ein Totemtier hätte, wäre es wohl eine Qualle, die in einem Ozean der ewigen Behaglichkeit schwimmt. Ab und an würde ich mir einen kleinen Plankton-Snack gönnen (oder was auch immer Quallen gerne naschen) und ich würde mich von den Strömungen des Meeres genau in der richtigen Tiefe treiben lassen. Hätte ich das Glück gehabt, als Turritopsis dohrnii auf die Welt zu kommen, die sogenannte „unsterbliche Qualle“, dann müsste ich mir nicht einmal um den Tod Gedanken machen. Wenn meine letzten Tage gekommen wären, würde ich mich einfach in eine Art Schleim verwandeln und ein paar Stunden später als verjüngte Version meiner selbst wieder erscheinen. Ja, eine Qualle zu sein – das wäre toll.

Leider ist es aber so, dass ich kein formloser Glibber bin, der im Meer lebt. Als Mensch bin ich nur die jüngste Verkörperung von mehreren hundert Millionen Jahren an Evolution, die ins Land gingen, seit wir als kleiner Dreckklumpen in der Ursuppe schwammen. Die meisten der vorhergehenden Generationen hatten es ziemlich schwer. Es gab Raubtiere, die man überlisten musste, Hungersnöte zu überstehen, Katastrophen, die ganze Spezies auslöschten, und den sich ständig wandelnden Kampf ums Überleben in einer geradezu feindlichen Umgebung. Und wollen wir mal ehrlich sein – die meisten unserer potenziellen Urahnen starben einfach, ohne ihre Gene weiterzugeben.

Evolution ist ein ständiger Kampf, der Generationen dauert und kleinste Mutationen hervorbringt, in dem nur die besonders gut angepassten Kreaturen oder diejenigen, die einfach Glück hatten, sich gegen glücklose genetische Sackgassen durchgesetzt haben. Der Körper, den wir heute haben, entwickelt sich stets weiter, aber wenn wir einen Blick hinter den Vorhang der Äonen an Veränderungen werfen, die uns dahin gebracht haben, wo wir heute sind, werden wir im Herzen unseres Wesens immer noch ein wenig Qualle finden.

Das kommt daher, weil wir ein Nervensystem haben, das beinahe perfekt an die Homöostase angepasst ist: den mühelosen Zustand, in dem unsere Umgebung uns alle körperlichen Bedürfnisse erfüllt. Eigentlich ist unser Nervensystem aber darauf getrimmt, auf Herausforderungen in unserer Umwelt zu reagieren – Muskelkontraktionen auszulösen, Hormone freizusetzen, die Körpertemperatur zu regeln und eine Million anderer Aufgaben, die uns in einem bestimmten Moment einen Vorteil verschaffen.

Aber abgesehen von einem dringenden Bedürfnis, zu überleben, ist der menschliche Körper völlig damit zufrieden, sich auszuruhen und gar nichts zu tun. Etwas zu tun, egal was, verbraucht eine gewisse Menge an Energie und unser Körper ist darauf angelegt, diese Energie zu sparen, nur für den Fall, dass er sie später brauchen könnte. Der Großteil dieser körperlichen Funktionen liegt nur knapp unterhalb unseres Bewusstseins, aber wenn das, was unser Nervensystem antreibt, sich artikulieren könnte, würde es wohl die Meinung zum Ausdruck bringen, unser Körper funktioniere am besten, wenn er sich in einer ewigen und stressfreien Komfortzone befindet.

Aber was ist Komfort? Es ist nicht wirklich ein Gefühl, sondern vielmehr die Abwesenheit von Dingen, die nicht komfortabel sind. Unsere Spezies hätte vielleicht niemals notwendige, aber mühsame Wanderungen durch heiße Wüsten oder eiskalte Berge überlebt, wenn es nicht das Versprechen einer irgendwie gearteten körperlichen Belohnung gegeben hätte, die am Ende der Reise auf uns wartet. Wir stillen unseren Durst, tragen Lagen dicker Kleidung an kalten Tagen und reinigen unsere Körper, weil das Verlangen nach Komfort in unserem Gehirn fest einprogrammiert ist. Es ist das, was Freud das „Lustprinzip“ nannte.

Die einprogrammierte Neigung, welche uns zu bequemen Vielfraßen macht, die ein einfaches Leben anstreben, kam nicht aus dem Nichts. Abgesehen von meinem fiktiven Totemtier kämpft fast jeder Organismus gegen die Umgebung, die er bewohnt. Jede biologische Anpassung, die das Leben schrittweise einfacher machte, entstand durch den schleichend langsamen Prozess der natürlichen Auslese, wenn zwei Tiere es schafften, vorteilhafte Gene an ihre Nachkommen weiterzugeben. Überleben ist mehr als eine biologische Pflicht, die in einem Moment intensiver Leidenschaft gipfelt, es ist ein Zusammenspiel aus Glück, Motivation und der Fähigkeit einer Kreatur, ihre biologischen Eigenschaften voll auszuspielen. Ob Amöbe oder Menschenaffe, jedes Lebewesen braucht Motivation, um die Herausforderungen seiner Umwelt zu bewältigen. Komfort und Vergnügen sind die beiden machtvollsten und unmittelbarsten Belohnungen.

Der moderne Mensch existiert, anatomisch betrachtet, auf diesem Planeten seit fast 200.000 Jahren. Das heißt, dass unser Bürokollege, der auf einem Bürostuhl mit Rollen daran den ganzen Tag unter Neonröhren sitzt, noch ziemlich genau denselben Körper hat wie der prähistorische Höhlenmensch, der aus Feuerstein Speerspitzen fertigte, um Antilopen zu jagen. Um von der damaligen Zeit in die heutige zu kommen, musste die Menschheit zahllose Herausforderungen bestehen, während wir vor Raubtieren flohen, in Schneestürmen froren, vor dem Regen Schutz suchten, unsere Nahrung jagten und sammelten und trotz brütender Hitze weiteratmeten. Bis vor nicht allzu langer Zeit konnte Komfort nicht als gegeben betrachtet werden – es gab immer eine Balance zwischen dem Aufwand, den wir betrieben, und den Verschnaufpausen, die wir uns dadurch verdienten. Den Großteil der Zeit schafften wir das alles ohne auch nur einen Hauch dessen, was wir heute als moderne Technologie betrachten. Stattdessen mussten wir stark sein, um zu überleben. Wenn Ihr blasser Kollege aus dem Büro in der Zeit zurückreisen könnte und einen seiner prähistorischen Vorfahren träfe, dann wäre es wohl eine sehr schlechte Idee, diesen Höhlenmenschen zu einem Wettlauf oder einem Ringkampf herauszufordern.

Im Lauf der Jahrtausende haben die Menschen einige Dinge erfunden, die das Leben einfacher machten – Feuer, Kochen, Steinwerkzeuge, Fellkleidung und Fußlappen – aber wir waren immer noch größtenteils der Gnade der Natur ausgeliefert. Vor etwa 5.000 Jahren, zum Beginn der Geschichtsschreibung, wurden die Dinge ein wenig einfacher, da wir verschiedene Tierarten domestizierten und für uns arbeiten ließen, bessere Unterkünfte bauten und weiterentwickeltes Werkzeug benutzten. Das Leben wurde schrittweise etwas leichter, als sich auch die menschliche Kultur fortentwickelte. Dennoch war das Leben als Mensch nicht gerade sorgenfrei. Jedes neue Zeitalter erlaubte es uns, mehr auf unseren Einfallsreichtum zu setzen als auf unsere zugrunde liegende biologische Ausstattung, bis der technische Fortschritt schließlich die Evolution überholte. Und dann, irgendwann zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde unsere technologische Leistungsfähigkeit schließlich so hoch, dass die fundamentalen biologischen Verbindungen zu der Welt um uns herum zerstört wurden. Abwassersysteme im Haus, Zentralheizung, Lebensmittelgeschäfte, Autos und elektrisches Licht gaben uns die Möglichkeit, unsere Umgebung so gründlich zu kontrollieren und anzupassen, dass viele von uns in einem ständigen Zustand der Homöostase leben können. Es spielt keine Rolle, wie das Wetter draußen ist – drückende Hitze, Schneestürme, Gewitter oder einfach ein schöner Sommertag – man kann aufstehen, lange nachdem die Sonne aufgegangen ist, ein Frühstück zu sich nehmen mit Früchten, die aus Klimazonen von der anderen Seite der Erdkugel eingeflogen wurden, in einem klimatisierten Auto zur Arbeit fahren, den Tag im Büro verbringen und wieder nach Hause kommen, ohne die Luft im Freien überhaupt mehr als ein paar Minuten gespürt zu haben. Der moderne Mensch ist die erste Spezies seit der Qualle, welche die natürlichen Hindernisse, die ihrem Überleben im Wege stehen, fast vollständig ignorieren kann.

Aber das goldene Zeitalter des Komforts hat eine dunkle Seite. Wir können uns zwar vorstellen, wie eine lebensfeindliche Umgebung sich anfühlen mag, aber nur wenige von uns ertragen regelmäßig die Belastungen, die unsere Vorfahren erleben mussten. Ohne Herausforderungen, die gemeistert werden müssen, Grenzen, die verschoben werden sollen, oder Gefahren, vor denen man fliehen müsste, leben die Menschen dieses Jahrhunderts ein übersättigtes, überheiztes und an Reizen armes Leben. Unsere Kämpfe als privilegierte Bewohner der Ersten Welt – einen Job kriegen, die Rente finanzieren, eine gute Schule für die Kinder finden, das richtige Status-Update zur richtigen Zeit in den Social Media zu posten – verblassen angesichts der täglichen tödlichen Bedrohungen, denen sich unsere Urahnen ausgesetzt sahen. Dieser anscheinende Sieg über unsere natürliche Umwelt hat unsere Körper nicht stärker gemacht. Ganz im Gegenteil: Der mühelose Komfort hat uns fett, faul und zunehmend krank gemacht.

Die Menschen in den Industrienationen und auch in einem Großteil der Schwellenländer leiden nicht länger an Mangelerkrankungen. Stattdessen macht uns der Überfluss krank. In diesem Jahrhundert gab es einen explosionsartigen Anstieg von Krankheiten wie Adipositas, Diabetes, chronischen Schmerzen, Arthritis, Bluthochdruck – sogar die Gicht kehrte zurück. Millionen Menschen leiden an Autoimmunerkrankungen – von Arthritis bis zu Allergien, von Lupus bis zu Morbus Crohn und Parkinson –, bei denen der Körper sich buchstäblich selbst angreift. Es scheint fast so, als hätten unsere Körper so wenig zu bekämpfen, dass unsere überschüssige Energie stattdessen in unserem Inneren Chaos anrichtet.

Immer mehr Wissenschaftler und Athleten sind der Meinung, unser Körper sei nicht für einen Zustand ewiger und müheloser Homöostase geschaffen. Die Evolution hat uns dazu gebracht, Komfort anzustreben, doch dieser Komfort war niemals der Normalzustand. Die menschliche Biologie braucht Belastung – aber nicht die Sorte Belastung, die Muskeln schädigt und dafür sorgt, dass wir von Bären gefressen werden oder körperlich verfallen, sondern die Art von wechselnden Umweltbedingungen und körperlicher Anstrengung, die auf unser Nervensystem anregend wirkt. Über die Jahrtausende gewöhnten wir uns daran, uns an eine sich stetig verändernde Umwelt anzupassen. Diese Schwankungen haben in unserer Physiologie unzählige Spuren hinterlassen, die zumeist nicht im Bereich unseres Bewusstseins liegen.

Muskeln, Organe, Nerven, Fettgewebe und Hormone reagieren und verändern sich aufgrund der Reize, die sie von außen erhalten. Entscheidend ist, dass bestimmte externe Signale, die eine ganze Reihe an körperlichen Reaktionen auslösen, den bewussten Teil unseres Geistes umgehen und Einfluss auf einen Bereich nehmen, der zahlreiche unterbewusste Körperreaktionen kontrolliert, die unter den Oberbegriff Kampf-oder-Flucht-Reaktion fallen. Ein Sprung in eiskaltes Wasser löst zum Beispiel nicht nur eine Reihe an Prozessen aus, die den Körper wärmen, sondern verändert auch die Insulinproduktion, reduziert die Durchblutung und erhöht die geistige Aufnahmefähigkeit. Eine Person muss tatsächlich die Komfortzone verlassen und diese Eiseskälte erfahren, wenn sie diese Systeme stimulieren möchte. Aber wer will das schon? Die meisten von uns sehen körperlichen Stress durch Umweltbedingungen nicht im gleichen Licht wie etwa körperliche Ertüchtigung. Es scheint keinen offensichtlichen Grund zu geben, unser Schlaraffenland zu verlassen.

Vielleicht ist das nicht ganz fair. In den letzten Jahren hat eine Gegenkultur versucht, die übermäßige Technologisierung zurückzudrängen und einiges unserer tierischen Natur wiederzuerlangen. Man hat ausgefeiltes Schuhwerk gegen Sandalen getauscht (und in manchen Fällen einfach gar nichts an den Füßen getragen). Klimatisierte Fitnessstudios wurden gegen grobschlächtige Hindernisparcours und harte Drills eingetauscht, bei denen verschiedene Muskelgruppen zusammenarbeiten müssen. Die Anhänger dieser Kultur verändern auch ihre Ernährungsgewohnheiten: Sie essen Knollen und Fleisch und vermeiden Getreide, um die Ernährung unserer urzeitlichen Vorfahren nachzuahmen. Mindestens acht Millionen Menschen haben ein Produkt gekauft, das sich Squatty Potty nennt und dabei helfen soll, in einer hockenden Position aufs Klo zu gehen, so wie unsere Vorfahren, die noch keine Toiletten hatten. Millionen melden sich bei Hindernisrennen an, die unter Strom stehende Netze, Eiswassergruben und große hölzerne Barrieren beinhalten, die man überwinden muss. Menschen verausgaben sich bei diesen Rennen so lange, bis ihre Muskeln zittern. Sie kotzen in den Schlamm mit Tränen in den Augen. Was sie suchen, ist nicht Aufregung, sondern Leid. Der Schmerz steht bei diesen Hindernisrennen und Bootcamps so sehr im Vordergrund, dass man sie auch „Leidensfest“ nennt. Darüber sollte man mal einen Moment nachdenken: Manche Firmen verdienen ein Vermögen damit, Leiden zu verkaufen. Wie kam es, dass Schmerz zum Luxusgut wurde? Könnte es sein, dass es eine bestimmte Sorte Schmerz gibt, die eine versteckte Funktion bei der Evolution erfüllt?

Es wäre falsch, das Ganze nur als Modeerscheinung zu sehen. In gewissem Umfang hat es immer Menschen gegeben, die den Spagat zwischen Biologie und Technologie angestrebt haben. Im alten Sparta trugen die angehenden Krieger nur einfache rote Umhänge und keine Schuhe, egal wie das Wetter war. Sie glaubten, diese Abhärtung mache sie zu wilderen Kämpfern und immun gegen die Herausforderungen der Umwelt. Jahrtausendelang gab es in China und Tibet Mystiker und Mönche, die Monate oder sogar Jahre auf einsamen Berggipfeln verbrachten und nur durch ihre Kutte und tägliche Meditationspraxis gegen die Elemente geschützt waren. Bevor Europäer nach Nordamerika kamen, trugen die Ureinwohner der Gegend, in der heute Boston liegt, kaum mehr als einen Lendenschurz, um sich vor den eiskalten Wintern zu schützen. In den 1920er-Jahren gab es in Russland eine religiöse Bewegung, die ihre Anhänger überzeugte, sich jeden Tag mit kaltem Wasser zu übergießen, um Infektionen und Krankheiten fernzuhalten.

Die fortgeschrittene Technologie durchdringt alles, was wir tun, aber die Menschen, die sich entscheiden, einen Teil dieses Komforts aufzugeben, um wieder die Rauheit der Natur zu erleben, repräsentieren eine ursprüngliche Lebensauffassung, die vom gesellschaftlichen Bedürfnis nach Komfort fast komplett ausgelöscht wurde. Dabei stellen sie fest, dass sie eine verborgene Quelle animalischer Kraft anzapfen können, wenn sie ganz bewusst die Reaktion ihres Körpers auf die natürliche Umwelt zulassen.

Heutzutage entdecken zehntausende Menschen, dass die Natur geheime Werkzeuge enthält, mit denen man das Nervensystem überlisten kann. Aber egal, was sie damit erreichen können, sie sind keine Übermenschen. Die Stärke, die sie entdecken, kommt aus dem Körper selbst. Wenn sie einigen Komfort aufgeben und sich mehr mit ihrer eigenen Biologie befassen, werden sie menschlicher. Mindestens ein halbes Jahrhundert hielt die Schulweisheit Ernährung und Sport für die beiden Säulen körperlicher Gesundheit. Obwohl diese beiden sicher entscheidend sind, gibt es eine genauso wichtige, aber völlig ignorierte dritte Säule. Zudem werden Sie enorme Resultate in kurzer Zeit erzielen, wenn Sie Abhärtung durch Umwelteinflüsse in Ihren Alltag integrieren.

Der menschliche Körper braucht nur wenige Wochen, um sich an eine Vielzahl unterschiedlicher Umweltbedingungen anzupassen. Sobald man sich in große Höhe begibt, produziert der Körper automatisch mehr rote Blutkörperchen, um den geringeren Sauerstoffgehalt der Luft auszugleichen. Wenn man in eine drückend heiße Gegend zieht, wird der Körper mit der Zeit weniger Salz mit dem Schweiß ausscheiden und weniger Urin produzieren. Die Hitze stimuliert den Kreislauf, dieser arbeitet dann effizienter und die Verdunstung und damit Kühlung wird gefördert. Aber kein anderes Extrem der Umwelt verursacht so viele Veränderung der menschlichen Physiologie wie Kälte.

Stellen Sie sich vor, wie es einem Einwohner Bostons im Winter ergeht. Obwohl es in Boston Schneestürme, Graupelschauer, Blizzards und ständig bewölkten Himmel gibt, ist es nicht die kälteste Stadt in Amerika. Dennoch sind die Winter in Boston ekelhaft genug, dass ein Großteil der Bevölkerung in den kälteren Monaten lieber drinnen bleibt und die Heizung aufdreht. Der durchschnittliche Temperaturunterschied zwischen der Innen- und Außentemperatur im Januar beträgt in Boston Gänsehaut verursachende 21 Grad. Wenn also eine typische Bewohnerin von Boston aus ihrem ansehnlichen Reihenhaus tritt, wird sie vermutlich vor Kälte die Zähne zusammenbeißen, wenn ein eiskalter Lufthauch ihre Nerven stimuliert und ihr Gesicht in eine Grimasse verwandelt. Unter ihrer Hautoberfläche bewirken eine Reihe an Reaktionen der Nerven und Muskeln, dass die Blutgefäße sich zusammenziehen, was schmerzhaft sein kann, wenn die darunterliegende Muskulatur nicht dadurch abgehärtet wurde, dass man sich vorher wiederholt diesen Bedingungen ausgesetzt hat. Wenn sie in einem Anfall völlig untypischen Irrsinns die Schuhe auszieht und ihre nackten Füße in den Schnee steckt, dann werden die etwa 40 Grad Temperaturunterschied sich anfühlen, als würde man über glühende Kohlen laufen.

Diese ungewohnten Reaktionen des menschlichen Körpers sind nicht angenehm, aber die zugrunde liegende Physiologie des Prozesses ist sehr interessant. Das Kreislaufsystem des Menschen besteht aus vielen elastischen Arterien und Venen, die unser Blut (und Sauerstoff) in jeden Teil des Körpers tragen. Die Arterien transportieren rotes, sauerstoffreiches Blut von Herz und Lunge weg, während die bläulichen Venen es wieder dorthin zurück transportieren. Dieses riesige und komplexe Netzwerk an Blutgefäßen wäre mehr als 90.000 km lang, wenn man es ausbreiten würde. An einem einzigen Tag werden die etwa 5,6 Liter menschlichen Blutes fast 20.000 Kilometer durch das Kreislaufsystem gepumpt, das entspricht etwa vier Mal der Distanz zwischen Ost- und Westküste der USA. Dieser Blutsuperhighway ist weit mehr als nur eine Anzahl von Röhren; er ist ein aktives und reaktionsfähiges System. Die meisten der wichtigen Arterien werden von einem ähnlich komplexen Netz an kleinen Muskelfasern umgeben, die den Blutfluss in einem bestimmten Bereich drosseln und in einem anderen verstärken können. Diese Muskeln sind so stark, dass der Blutfluss fast komplett gestoppt wird, falls Ihnen jemand mit einem Schwert das Bein unterhalb des Knies abschlagen sollte. Zum Glück müssen wir diese Art des Muskelreflexes nicht täglich auf die Probe stellen, aber es ist schön zu wissen, dass wir darüber verfügen. Sobald jedoch unsere unerschrockene Bostonerin ihre Haustür öffnet und der beinahe arktische Wind sie erfasst, spürt sie eine Miniaturversion dieses Reflexes.

Abgesehen davon, dass es Ihnen nach dem Verlust einer Gliedmaße das Leben rettet, gibt es für das Kreislaufsystem noch andere Gründe, seine Muskeln spielen zu lassen. Um eine Unterkühlung zu vermeiden, spart der Körper Wärme ein, indem er die Blutzufuhr zu den Extremitäten einschränkt. Wenn das passiert, werden ganze Kilometer von Adern nahezu abgeklemmt und das Blut wird größtenteils im Körperinneren gehalten, damit die lebenswichtigen Organe sich in einer schützenden Hülle warmen Blutes entspannen, während die Temperatur von Händen, Füßen, Ohren und der Nase stark abfällt. Je kälter es draußen ist, desto stärker läuft diese Reaktion ab. Für Menschen, die nicht an wechselnde Temperaturen gewöhnt sind, ist diese Gefäßverengung schmerzhaft. Für die meisten von uns besteht die einzige Möglichkeit, diese Muskelreaktion auszulösen, darin, tatsächlich rauszugehen und die Kälte zu spüren. Und diejenigen von uns, die sich ständig in klimatisierten Räumen aufhalten, trainieren diesen Teil ihres Herz-Kreislauf-Systems nie.

Schwache Gefäßmuskeln sind ein Nebeneffekt des Lebens in einem sehr engen Temperaturbereich. Die überwiegende Mehrheit der Menschen heutzutage – all diejenigen, die den Großteil ihrer Zeit drinnen verbringen und/oder deren einzige Reaktion auf die Kälte darin besteht, modernste Outdoorkleidung zu tragen – trainiert diese wichtige Körperreaktion nie. Selbst Menschen, die körperlich fit zu sein scheinen, mit Muskeln und Waschbrettbauch, können darunter eine schwache Gefäßmuskulatur verbergen. Und es steht viel auf dem Spiel: Auf lange Sicht sterben fast 30 Prozent aller Menschen an Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems.

Ein großer Bereich unserer Physiologie liegt im Verborgenen und spult ein evolutionäres Programm ab, auf das viele von uns nie versuchen, Einfluss zu nehmen. Die Muskelkontrolle in unserem zentralen Nervensystem besteht aus drei Kategorien. Es gibt Muskeln, die wir bewusst steuern können. Ärzte nennen dies das somatische Nervensystem. Wenn Sie über die Straße gehen wollen, sendet Ihr Gehirn Nervenimpulse aus, welche die Muskeln in Ihren Beinen, Ihrem Rücken und Ihrem Bauch auf einmal aktivieren. Wir müssen nicht an jeden einzelnen daran beteiligten Muskel denken, wenn wir einen Schritt machen, wir tun es einfach. Mit ein bisschen Konzentration können wir aber auch jeden einzelnen aktivieren. Das ist alles Teil des somatischen Nervensystems. Es gibt auch Muskeln, über die wir fast gar keine Kontrolle haben. Diese kontrollieren unter anderem den Herzschlag, die Bewegungen der Gefäßmuskulatur, die Geschwindigkeit der Verdauung und die Kontraktion unserer Pupillen. Das alles ist Teil unseres autonomen Nervensystems – der Autopilot unseres Körpers. Aber es gibt eine dritte Gruppe von Muskeln und Reflexen, die sowohl dem autonomen als auch dem somatischen System angehören. Jeder von uns kann bewusst einen tiefen Atemzug nehmen oder mit den Augen zwinkern, wenn wir uns jedoch nicht darauf konzentrieren, übernimmt das ein tiefer liegender Teil unseres Nervensystems. Wenn Sie wollen, können Sie mit nur einem konzentrierten Gedanken die Kontrolle einiger automatischer Prozesse an sich reißen, aber wenn Ihre Gedanken sich wieder auf anderes konzentrieren, werden sie von allein weiter ablaufen. Das ist gut, denn aufgrund dieses Systems können Sie nicht einfach vergessen zu atmen.

Diese Aufteilung kommt aus der Tiefe unseres evolutionären Erbes. Einfache Lebensformen reagieren auf vorhersehbare Weise auf ihre Umgebung. Bei den meisten Säugetieren sitzen diese autonomen Reaktionen in den primitivsten Teilen des Gehirns, nahe des Hirnstamms. Diese Nervenschaltungen umgehen die höheren Hirnfunktionen in der Hirnrinde. Als jedoch Tiere auf komplexere und sich verändernde Umweltbedingungen trafen, brauchten sie zumindest minimale bewusste Reaktionen, um sich in der Welt zurechtzufinden. Die Großhirnrinde und die höheren Hirnstrukturen, die in der Nähe der Schädeldecke sitzen, entwickelten sich, um ebendies zu erreichen. Die Funktionen des Bewegungsapparats wanderten in den Neocortex, die graue Masse, die mit den höheren Hirnfunktionen in Verbindung steht. Dennoch sind die meisten Körperfunktionen in der Hierarchie des Gehirns nie besonders weit nach oben gewandert. Es gab nie einen evolutionären Druck, das Herz-Kreislauf-System unter bewusste Kontrolle zu stellen, daher ist die Reaktion auf Kälte während des größten Teils der Evolution gleich geblieben: Rette die inneren Organe auf Kosten der Extremitäten. Nachdenken unnötig.

Aber was passierte, als die Menschen genügend technologisches Wissen anhäuften, um ihre Umwelt effektiv zu kontrollieren? Die gesamte menschliche Technologie entspringt unseren höheren Hirnfunktionen. Auf gewisse Weise hat unser Bewusstsein die Welt, in der wir leben, so weit unter Kontrolle, dass unser Reptiliengehirn in der Gleichung keine Rolle mehr spielt. Ohne externe Anregung und Reize, die über Jahrmillionen der Evolution entsprangen, brauchen unsere Körper diese einst entscheidenden Funktionen einfach nicht mehr. Diese internen Programme liegen unproduktiv in einem tiefen Schlummer.

Fast seit Beginn der Geschichtsschreibung sahen sich die Menschen als getrennt von ihrer natürlichen Umwelt. Wir teilen den Planeten in zwei Kategorien ein: in Dinge, die von Menschen beeinflusst werden, und in Dinge, die unberührt sind. Diese Unterscheidung ist falsch. In globalem Maßstab sehen wir, dass der ständige industrielle Fortschritt einen dramatischen Effekt auf unser Klima hat. Wir Menschen haben über unsere CO2-Bilanz einen Einfluss auf unsere gesamte Umwelt. 2016, das Jahr, in dem ich dieses Buch schreibe, wird wohl das heißeste seit Beginn der Temperaturaufzeichnung und vermutlich die zehn Rekordjahre davor noch übertreffen. Das Ausmaß dieses Problems deutet darauf hin, dass die Menschheit und ihre Umwelt untrennbar verbunden sind. Aber heißt das, wir machen die Welt menschlicher? Oder heißt das, die Menschheit war schon immer ein Teil der Natur?

Die kleinen Muskeln, die unsere Arterien umgeben, haben diese Frage eindeutig beantwortet. Trotz allem, was wir tun, um uns von der Welt um uns herum abzugrenzen, sind wir doch unbestreitbar ein Teil der Natur. Als ein Nebenprodukt der Evolution sind die Wolkenkratzer, Plastiktüten und Autos, die wir herstellen, nicht weniger „natürlich“ als ein Termitenhügel, eine Honigwabe oder ein Biberdamm. Ja, die Handlungen der Menschen sind vielleicht viel zerstörerischer oder ehrgeiziger oder ehrfurchtgebietender oder vergeblicher, aber sie sind immer noch ein Teil eines größeren Zusammenhangs aus Ursache und Wirkung. Wir sind immer noch Tiere. Nur sehr kluge.

Was hat das also mit dem Neocortex zu tun? Nun, wenn unsere Körper festgelegte Reaktionen auf bestimmte Bedingungen unserer natürlichen Umwelt zeigen, dann ist es vielleicht zu einfach, sich vorzustellen, dass die Grenzen des Körpers überhaupt dasselbe sind wie unsere Haut. Vielleicht existieren Menschen in einem Kontinuum mit der sie umgebenden Welt. Unsere Körper sind nicht getrennt von, sondern eine Reflexion unserer Umwelt.

Im Folgenden ein Beispiel. In den letzten 40 Jahren haben Naturforscher, die sich mit Ameisen beschäftigen, einen ähnlichen Paradigmenwechsel verarbeiten müssen. In jeder Kolonie gibt es verschiedene Sorten Ameisen. Es gibt Arbeiterinnen, die nach Futter suchen und den Großteil der Arbeit erledigen; es gibt Soldatinnen mit großen Köpfen, die die Kolonie gegen Eindringlinge verteidigen, und es gibt fruchtbare Weibchen (meist die Königin), die für den Nachwuchs sorgen. Auf einer Ebene ist jede Ameise ein Individuum mit Beinen, Mundwerkzeugen, Antennen und der Fähigkeit, sich alleine in der Welt zurechtzufinden. Weil man eine Ameise in der Hand halten, sezieren und ihre einzelnen Teile analysieren kann, ist es logisch anzunehmen, dass eine Ameise ein einzelnes Insekt ist. Aber man kann diese Ameise auch anders betrachten. Heutige Biologen sehen eine Kolonie weniger als Millionen einzelne Insekten, sondern mehr als einen einzigen lebenden Organismus. Wenn man sie auf die Art betrachtet, sind Ameisen so etwas wie Zellen eines größeren Lebewesens. Die Kolonie ist der Körper. Die Gruppe wächst im Sommer und schrumpft im Winter. Sie erobert Territorien, sammelt Ressourcen und bringt neue Generationen auf den Weg. Die Summe aller Ameisen verfügt über viel mehr Fähigkeiten als eine einzelne. Die Kolonie arbeitet wie eine Art vernetztes Gehirn: ein Superorganismus.

Ihr Körper ist nicht so verschieden von einer Ameisenkolonie. Lange bevor es auf der Erde größere Tiere gab, als das Leben noch größtenteils aus einzelligen Organismen bestand, gab es mikroskopisch kleine, bohnenförmige Bakterien, Mitochondrien genannt. Diese Einzeller verbrauchten Sauerstoff aus der Umwelt und schieden ein energiereiches Abfallprodukt aus, Adenosintriphosphat oder ATP. Im Laufe der Jahrmillionen gab es größere Einzeller, die mehr Energie für komplexere Funktionen benötigen. Statt einen neuen Ansatz für die Gewinnung von ATP zu entwickeln, absorbierten sie Mitochondrien und nahmen sie in ihre eigene zelluläre Struktur auf. Die ersten tierischen Zellen wurden also aus einer symbiotischen Beziehung geboren. Wenn Sie eine rote Blutzelle durch ein Mikroskop betrachten, werden Sie Tausende Mitochondrien sehen, die Sauerstoff verbrauchen und ATP ausscheiden.1 Ohne sie kann man nicht überleben. Aber das ist nicht alles. Wissenschaftler sagen, dass man neben den Mitochondrien geschätzt über zehn Billionen Mikroben im Körper hat, die 10.000 verschiedenen Arten angehören und etwa ein bis drei Prozent unseres Körpergewichts ausmachen. Milliarden mehr leben auf unserer Haut, unseren Augen, in unseren Haaren und Blut. Die Feststellung der jüngsten Vergangenheit, dass Bakterien unerlässlich für die menschliche Gesundheit sind, hat zu einem interessanten neuen Wissenschaftsbereich geführt, der das Genom der Bakterien erforscht. Die Forschung ergab, dass der einzigartige Mix aus Bakterien im menschlichen Körper einen enormen Einfluss auf die Gesundheit hat und sogar die Persönlichkeit verändern kann.

Und wieso auch nicht? Das menschliche Genom besteht aus 23.000 Genen, die aus verdrehten Strängen von Nukleinsäuren bestehen, genannt DNA. Aber es gibt noch weitere zwei Millionen Gene im Genom der Bakterien, mit denen wir in Symbiose leben. Und wie unsere eigene DNA wird auch das bakterielle Genom an unsere Nachkommen weitergegeben und entwickelt sich weiter. Man könnte sogar sagen, dass wir mehr mikrobiologisch als menschlich sind. Aber selbst wenn man es so sieht, arbeiten doch all diese verschiedenen Organismen zusammen, um einen einzelnen Menschen zu schaffen, der von einer Lage Haut umgrenzt wird.

Das ist nur das, was uns im Inneren ausmacht. Was passiert, wenn wir den Körper auf Basis seiner vorprogrammierten Reaktionen auf seine Umwelt betrachten? Größtenteils liegen die Strategien, die unsere Körper nutzen, um auf Stress zu reagieren, völlig außerhalb unserer bewussten Kontrolle. Wenn man trainiert, muss man nicht darüber nachdenken zu schwitzen. Unser Körper tut es einfach.

Auf großer Höhe atmet man tiefer, wegen des geringeren Sauerstoffgehalts. Unser Herz und die Nebennierendrüsen reagieren auf Gefahren, noch bevor man überhaupt darüber nachgedacht hat – und versorgen uns mit mehr Kraft, wenn man diese benötigt. Es gibt eine ganze verborgene Welt an menschlichen, biologischen Reaktionen, die unterhalb unserer Bewusstseinsschwelle liegt und unlöslich mit unserer Umwelt verbunden ist. Die Blaupause für diese Reaktionen ist in unserer DNA verborgen und in den neuronalen Verknüpfungen, die sich ausbilden, nachdem wir geboren wurden. Diese verborgene Biologie ist kein Teil unserer höheren Bewusstseinsfunktionen; sie repräsentiert eher die Art und Weise, wie unser unbewusster Körper über die Welt denkt, die er bewohnt.