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Jakub Sirovátka (Hg.)

Endlichkeit und Transzendenz

Perspektiven einer Grundbeziehung

Meiner

Für Norbert Fischer

~

Inhalt

Einleitung des Herausgebers

Norbert Hinske

Glück und Pflicht. Überlegungen zu Xenophons ›Erinnerungen an Sokrates‹ und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert

Maximilian Forschner

Immanente Transzendenz: die Stoa und Cicero über die Würde des Menschen

Friedo Ricken

Die vielfache Transzendenz in Augustinus’ ›Confessiones‹

Albert Raffelt

»… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet«. Endlichkeit und Transzendenz bei Blaise Pascal

Rudolf Langthaler

»Moralische Selbsterkenntnis« – die Idee des »völligen Bewußtseins seiner selbst« – der »Herzenskündiger«: Aspekte des Themas ›Endlichkeit und Transzendenz‹ in Kants Religionsphilosophie

Laura Anna Macor

Die Abhängigkeit des Menschen von Gott. Zur Endlichkeit als Geschöpflichkeit bei Johann Joachim Spalding

Lenka Karfíková

Zeitlichkeit und Authentizität nach ›Sein und Zeit‹. Einige Probleme der Zeitauffassung Heideggers und ihre Parallelen bei Augustin

Friedrich-Wilhelm von Herrmann

Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers

Jean Greisch

Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz

Jakub Sirovátka

Ethische Transzendenz und transzendente Ethik. Zur Philosophie von Emmanuel Levinas

August Stahl

Ostia und Ulsgaard. Göttliche Fügung und irdische Nähe: zwei Begegnungen

Dieter Hattrup

Der Satz der Identität und der Besuch dreier Pinakotheken

Karl Kardinal Lehmann

Vom Anspruch der ›Theorie‹ in Wissenschaft, Bildung und Lehre

ANHANG

Siglenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Personenregister

Einleitung des Herausgebers

Der endliche Mensch vermag sich in seiner Endlichkeit nur deshalb zu verstehen, weil er die Fähigkeit besitzt, sich aus der Immanenz seiner Vollzüge zu lösen und sich selbst zu übersteigen. Die Fähigkeit des Transzendierens gehört zur menschlichen Existenz, wie z. B. Karl Jaspers hervorhebt: »Der Mensch vermag nicht bloß da zu sein, er muß transzendierend im Aufschwung sein oder Transzendenz verlierend sinken.«1 So rät auch Augustinus in De vera religione 39 sich selbst zu übersteigen ‒ über den Weg des eigenen Inneren ‒, wenn man sich auf die Suche nach Wahrheit begibt: Noli foras ire, in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas, et sie tuam naturam mutabilem inveneris, transzenden et te ipsum. Die Möglichkeit des Transzendierens setzt voraus, daß die Wirklichkeit in eine sinnliche und eine übersinnliche ›Welt‹ geteilt wird. Diese Einsicht steht schon am Anfang der abendländischen Philosophie: in Platons Liniengleichnis (Politeia 509d) besteht die Trennung (χωρισμός) zwischen dem Sichtbaren (ὁρατόν) und dem Denkbaren (νοητόν). Diese zwei ›Dimensionen‹ der gesamten Wirklichkeit stehen jedoch nicht beziehungslos neben- oder übereinander, sondern bleiben stets aufeinander verwiesen. Die Horizontale und die Vertikale sind zwei Dimensionen einer Gesamtwirklichkeit. Wer einen unverstellten Blick auf die gesamte Wirklichkeit gewinnen will, darf sie weder alleine auf den mundus sensibilis noch auf den mundus intelligibilis reduzieren. Der Mensch ist ›Bürger zweier Welten‹, der sowohl der sinnlichen Welt als auch der intelligiblen Welt angehört (vgl. KpV A 155). Von der Fähigkeit des Transzendierens, die als Bewegung des menschlichen Geistes verstanden wird, ist (noch) der Bezug zur Transzendenz zu unterscheiden: einer Transzendenz, die sich aufgrund ihrer Unendlichkeit jedem begreifenden Denken entzieht und es unendlich übersteigt. Kant zeigt sich überzeugt, daß die Fragen nach ›Gott, Freiheit und Unsterblichkeit‹ diejenigen Fragen sind, an denen die menschliche Vernunft das größte Interesse zeigt: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft« (KrV A VII). Damit ist die Frage verbunden, von woher »die Natur unserer Vernunft mit der rastlosen Bestrebung heimgesucht« wurde (KrV B XV)?

Wenn der Mensch in der Tat ein ›Wesen der Metaphysik‹ ist, dann bleibt die Suche nach dem Unendlichen eine Denk- und Lebensaufgabe, die zwar anzugehen, aber nicht abzuschließen ist. Es soll die These gewagt werden, daß erst aus dem Bezug zur Transzendenz die endliche Existenz des Menschen in ihrer Tiefe gelebt werden kann.

Der vorliegende Band versucht verschiedene Perspektiven der fundamentalen Beziehung von Endlichkeit und Transzendenz aufzuzeigen. Der Ausgangspunkt ist das Leben mit all seinen Phänomenen, wie es sich zeigt und in seiner Faktizität erfahren wird. Wenn nach dem letzten Zweck der gesamten Wirklichkeit gefragt wird, geschieht das von der gelebten Erfahrung her, ausgehend von der konkreten Situation des Menschen, der sich auf seine endliche Verfassung zurückgeworfen vorfindet und im Bezug zum Unendlichen steht. Ein Versuch, diese Beziehung zu beleuchten, muß sowohl der endlichen Verfassung des Menschen gerecht werden, als auch die radikale Transzendenz des Absoluten ernst nehmen. Das Absolute ist sowohl in seiner radikalen Transzendenz als auch in der Beziehung zum Menschen zu denken. Im Gegensatz zur Tradition des Neuplatonismus mit ihrer negativen Sicht der endlichen Seinsverfassung, die im höheren Sein aufzugehen hat, soll hier die Endlichkeit als eine positive Seinsweise gesehen werden. Trotz der tatsächlichen Fragilität und Unvollkommenheit des menschlichen Lebens muß daran festgehalten werden, daß die Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit des Menschen gerade diejenigen Bedingungen bilden, die die Führung der freien menschlichen Existenz ermöglichen. Das Sokratische Ideal besitzt demzufolge nach wie vor seine Gültigkeit: die Philosophie bedeutet lediglich die Liebe zur Weisheit, nicht deren Besitz. Nicht endgültige Antworten zu liefen ist die Aufgabe des Philosophierenden, sondern stets neu zu fragen und zu denken im Bewußtsein dessen, daß Philosophie letztlich eine Lebenspraxis bedeutet.

Die folgenden Beiträge ‒ die chronologisch nach den behandelten Autoren geordnet sind ‒ eröffnen diverse Perspektiven im Blick auf die Thematik von Endlichkeit und Transzendenz. Der Band erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf erschöpfende Behandlung des Themas, sondern soll eher als Anregung und Inspiration gelesen werden. Im ersten Beitrag Glück und Pflicht. Überlegungen zu Xenophons Erinnerungen an Sokrates‹ und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert untersucht Norbert Hinske die Wandlungen des Bedeutungsfeldes von Glück von der Antike über Kant bis in die Gegenwart. Im Ausgang von der Aporie von Glückssuche und Glückserfüllung zeigt der Beitrag, daß es in der Philosophie nicht um das Glück im Sinne eines glücklichen Schicksals geht, sondern als eines Themas der Lebensführung des Menschen. Im Zentrum der Abhandlung Immanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero über die Würde des Menschen von Maximilian Forschner steht der Begriff der Würde des Menschen. Forschner zeigt sehr einleuchtend, daß sich der moderne Begriff der Würde neben der religiösen ebenfalls der philosophischen Tradition verdankt, die in der Forschung weniger beachtet blieb und bis auf das stoische Denken zurückgeht, das als erstes die ethische Bedeutung der menschlichen Würde begriffen habe. Im nächsten Beitrag Die vielfache Transzendenz in Augustinus’ Confessiones‹ vertieft sich Friedo Ricken in das Denken Augustins, um seinen inneren Weg nachzuvollziehen, wie er in den Bekenntnissen geschildert ist. Ricken sieht darin eine vierfache Transzendenz am Werk: epistemische, ontologische, axiologische und aszetische. »… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet«. Endlichkeit und Transzendenz bei Blaise Pascal, so lautet die Untersuchung von Albert Raffelt. Sie sucht nach genuin philosophischen Ansätzen (und nicht nur theologischen) im Werk von Pascal, die die in aller Schärfe diagnostizierte Disproportion zwischen der endlichen Verfassung des Menschen und der unendlichen Unendlichkeit Gottes zu überwinden vermag. Rudolf Langthaler versucht in seiner Abhandlung »Moralische Selbsterkenntnis« – die Idee des »völligen Bewusstseins seiner selbst« – der »Herzenskündiger«: Aspekte des Themas »Endlichkeit und Transzendenz« in Kants Religionsphilosophie die These Kants zu explizieren, daß die Moral »unumgänglich zur Religion führt«. Mit Blick auf das Gesamtwerk werden die Themen der moralischen Bestimmung des Menschen mit der Problematik des »reflektierenden Glaubens« miteinander verbunden. In einem historisch überaus versierten Beitrag Die Abhängigkeit des Menschen von Gott. Zur Endlichkeit als Geschöpflichkeit bei Johann Joachim Spalding knüpft Laura Anna Macor unmittelbar an die Problematik Kants an. Sie stellt die wichtige Stellung des anthropologischen Ansatzes des evangelischen Theologen Spalding in der damaligen Zeit vor, der die Begriff der ›Bestimmung des Menschen‹ maßgebend geprägt hat. Die Untersuchung von Lenka Karfíková Zeitlichkeit und Authentizität nach Sein und Zeit‹. Einige Probleme der Zeitauffassung Heideggers und ihre Paral-lelen bei Augustin zeigt die Wirksamkeit der Motive Augustins in Heideggers Zeitauffassung auf und übt zugleich an ihr Kritik. Karfíková plädiert für eine stärkere Berücksichtigung der Dimension des Mit- und In-der-Welt-Seins und für eine ›Entmoralisierung‹ der Theorie der eigentlichen Zeitlichkeit des Daseins. Das Denken von Martin Heidegger steht auch im Zentrum der Abhandlung von Friedrich-Wilhelm von Herrmann Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers. In einer umfassenden und überaus kenntnisreichen Darstellung stellt von Herrmann die Entwicklung des Denkens von Heidegger im Blick auf die Frage nach Gott dar: von der ›wahrhaften Idee der christlichen Philosophie‹ der frühen Vorlesungen bis zum ›letzten Gott‹ der späten Beiträge[n] zur Philosophie. Die Phänomenologie sowie die Dichtung von G. Benn (auch von P. Celan, H. Domin u. a.) bilden den Ausgangspunkt der Ausführungen von Jean Greisch, der grundsätzlich über die Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz nachdenkt. Greisch fragt nach den sprachlichen Ausdrucks- und Auslegungsmöglichkeiten, die es dem Menschen erlauben, sowohl über die Endlichkeit als auch über die Transzendenz sachhaltig und sinnvollerweise zu reden. Der Beitrag Ethische Transzendenz und transzendente Ethik. Zur Philosophie von Emmanuel Levinas von Jakub Sirovátka hebt die enge Verquickung von Ethik und Transzendenz im Denken von Levinas hervor. Der unbedingte ethische Anspruch des Anderen ist ohne den Bezug auf Unendliches nicht denkbar und die Beziehung zu Gott bewährt sich alleine in der Haltung der Güte gegenüber dem anderen Menschen. August Stahl bringt in seiner Abhandlung Ostia und Ulsgaard. Göttliche Fügung und irdische Nähe: zwei Begegnungen Augustinus mit Rilke miteinander ins Gespräch. Stahl untersucht, ob und inwiefern das mystische Erlebnis Augustins mit seiner Mutter Monnica in Ostia eine literarische Entsprechung in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge findet. Der nächste Beitrag Der Satz der Identität und der Besuch dreier Pinakotheken von Dieter Hattrup läßt die verschiedenen Identitätsauffassungen in der Geschichte des abendländischen Denken (auch unter Bezug auf die modernen Naturwissenschaften) Revue passieren. Der Beitrag mündet in die These: »Ursprünglicher als die Identität ist die Freiheit, die in der Liebe tätig ist.« Abgeschlossen wird dieser Sammelband mit der Abhandlung Vom Anspruch der Theorie‹ in Wissenschaft, Bildung und Lehre aus der Feder von Karl Kardinal Lehmann. Lehmann erinnert mahnend daran, daß Theorie zwar nie den Bezug zur Praxis verlieren darf, ihre kritische Funktion aber behalten muß, indem sie sich den praktisch-pragmatischen Zwängen letztlich entzieht.

Der vorliegende Band wurde gedruckt mit Hilfe der Eichstätter Universitätsgesellschaft, des Dekans Burkhard M. Zapff der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, der Diözese Eichstätt, des Abtes Thomas M. Freihart vom Kloster Weltenburg und mit großzügiger Unterstützung von Karl Kardinal Lehmann. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

1   K. Jaspers: Philosophie I. Philosophische Weltorientierung, München/ Zürich 1994, 38.

– NORBERT HINSKE

Glück und Pflicht

Überlegungen zu Xenophons Erinnerungen an Sokrates und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert

1. Die Aporie von Glückssuche und Glückserfüllung: Glück als formaler und als inhaltlich bestimmter Begriff

Zu den ältesten überlieferten Sätzen der europäischen Philosophie gehört die Aufforderung: »Erkenne dich selbst« (γνῶθι σαυτόν). Die Ursprünge dieses Satzes liegen weithin im Dunkeln. Allem Vermuten nach gehen sie auf einen der sogenannten ›Sieben Weisen‹ des siebenten und sechsten Jahrhunderts vor Christus zurück. Er hat die Menschen über die Zeitalter hinweg immer wieder in seinen Bann geschlagen. Noch das von Karl Philipp Moritz herausgegebene Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793), eine der Gründungsurkunden der modernen Psychologie, trägt in großen griechischen Buchstaben eben diesen Titel. Es ist nicht zuletzt dieses Programm der Selbsterkenntnis, das dem Fach Psychologie für viele bis heute seine Faszinationskraft verleiht.

Wer sich auf den Versuch einläßt, sich selbst zu erkennen, stößt aber auch früher oder später auf die Frage, wie man das denn anstellen könne. So einfach die Aufforderung auf den ersten Blick auch scheinen mag ‒ jeder Versuch einer Antwort führt in steiniges Gelände. Der Blick in den eigenen Personalausweis reicht dazu ja offenbar nicht aus. Auch diese Einsicht hat ihre lange Geschichte. »Es ist schwer, sich selbst zu erkennen« (δύσκολον […] τὸ ἑαυτὸν γνῶναι) ist bei Diogenes Laertios 1, 36 im dritten nachchristlichen Jahrhundert als einer der Sätze überliefert, die Thales von Milet zugeschrieben worden sind.

Einer der geistreichsten Antwortversuche findet sich bei den frühen Sokratikern, nämlich in den Erinnerungen an Sokrates, den Apomnemoneumata von Xenophon, und zwar im zweiten Kapitel des vierten Buches. In ihm geht es ganz ausdrücklich um die Frage, »an welchem Punkt man denn ansetzen müsse, um sich selbst zu erkennen« (ὁπόθεν […] χρὴ ἄρξασθαι ἐπισκοπεῖν ἑαυτόν; 4, 2,30). Der überraschende Grundgedanke des Sokrates ist: Ich erkenne mich selbst, wenn ich erkenne, was ich ganz fraglos für gut halte, oder anders formuliert: Ich erkenne mich selbst, wenn ich erkenne, was ich mit letzter Entschiedenheit will, um was es mir in meinem Leben eigentlich geht. Die Schlüsselfrage lautet: Welche Lebensabsichten kann ich nicht zur Disposition stellen, ohne mich damit zugleich selbst zur Disposition zu stellen? Der Mensch erkennt sich selbst, sobald und soweit er seine wahren Wünsche in den Blick bekommt, also dasjenige, was ihm nicht bloß als Mittel zum Zweck, als Mittel zu etwas anderem, sondern um seiner selbst willen wichtig ist.

Die Beantwortung dieser Frage stellt sich jedoch im Verlauf des Gesprächs Schritt für Schritt als ein schwieriges Unterfangen heraus. Das beginnt gleich bei der ersten, scheinbar ganz selbstverständlichen Antwort. Sie lautet: Ohne Frage gut ist Gesundheit. Das ist nun wahrlich eine zeitlose Antwort. ›Hauptsache, man ist gesund‹ hat vermutlich jeder von uns schon irgendwann einmal gesagt. Sokrates weist aber seinen Gesprächspartner darauf hin, daß es in manchen Fällen paradoxerweise gerade die Gesundheit ist, die den Menschen in schlimme Dinge verwickelt, während ihn eine rechtzeitige Krankheit ›zum Glück‹ davor bewahrt. Als Beispiel nennt Sokrates die »Teilnahme an einem verfehlten Feldzug oder an einer mißglückten Flottenexpedition« (4, 2,32). Wenn nicht alles täuscht, ist das eine Anspielung auf die zweite Sizilianische Expedition im Verlauf des Peloponnesischen Krieges, die den Zeitgenossen damals noch in lebendiger Erinnerung gewesen ist. Sokrates bringt hier jedoch eine zeitlose Erfahrung zur Sprache. So mancher deutsche Soldat ist aus dem Kessel von Stalingrad nur aufgrund einer schweren Verwundung in letzter Minute ausgeflogen worden. Aber auch die Alltagserfahrung hält an dieser Stelle, wenn man nur nachdenkt, Beispiele genug bereit. Natürlich ist Gesundheit ein hohes Gut und Krankheit eine Last. Aufs Ganze gesehen aber handelt es sich bei der Gesundheit um etwas, was, wie Sokrates es ausdrückt, »manchmal von Nutzen und manchmal von Schaden ist« (4, 2,32). Der Irrtum liegt nicht in dem Urteil als solchem, sondern in seiner unreflektierten Verallgemeinerung. Sokrates spricht denn auch nicht etwa ‒ wie in der Folge die Stoa ‒ von Adiaphoron (es macht keinen Unterschied; es ist gleichgültig), sondern von »zweischneidig« (ἀμϕίλογον) oder von »undurchschaubar« (ἄδηλον). Dieser zweite Begriff taucht auch bei Platon immer wieder auf; allem Vermuten nach handelt es sich bei ihm um ein genuines Sokratisches Erbe.1

Das Gesagte gilt aber nicht etwa nur für die Gesundheit. Es gilt genauso ‒ um schon an dieser Stelle die Pointe des ganzen Gesprächs zur Hälfte vorwegzunehmen ‒ für alle die Dinge, die wir im Alltag so fraglos für gut halten. Der zweite Lebensinhalt nämlich, den der Gesprächspartner für fraglos oder »unstrittig« (ἀναμϕισβητήτως; 4, 2,33) gut erklärt, ist das Wissen. Auch hier bietet sich jedoch bei näherem Hinsehen das gleiche Bild. Sokrates verweist an diesem Punkt des Gesprächs z. B. auf Daidalos, den sagenumwitterten Ingenieur der Antike (heute wäre er vermutlich Nobelpreisträger), der gerade aufgrund seines Wissens erst seiner Heimat und seine Freiheit und schließlich auch noch seinen Sohn verloren hat. Auch das gilt nicht etwa nur für die Lebensverhältnisse im antiken Griechenland. Man braucht an dieser Stelle nur an die Zeit nach 1945 zu erinnern, um zu bemerken, von welcher Zeitlosigkeit auch dieses zweite Beispiel ist.

Als letzte mögliche Antwort bleibt dem Gesprächspartner des Sokrates schließlich nur der Hinweis auf das Glücklichsein (εὐδαιμονεῖν; 4, 2,34): So etwas wie Glück scheint nun tatsächlich ein allen Anfechtungen und Zweifeln entzogener Lebensinhalt zu sein. Die auf den ersten Blick schier unverständliche Antwort des Sokrates aber lautet, und damit gelangt das Gespräch an seinen springenden Punkt: Ja, gewiß, das Glück (oder, etwas textnäher formuliert: die gelungene, vom Atem des Glücks beflügelte Lebensführung), das ist ein Gut, das über alle Zweifel erhaben ist ‒ aber nur dann, »wenn man es nicht aus zweifelhaften Gütern zusammensetzt« (4, 2,34). Als Beispiele für solche zweifelhaften Lebensinhalte oder Lebensziele nennt Sokrates in der Folge Schönheit, Kraft, Vermögen sowie gesellschaftliches Ansehen und politischen Einfluß, also lauter Dinge, die wir zunächst ganz unreflektiert mit dem Wort ›Glück‹ assoziieren. Für alle diese Lebensinhalte aber gilt bei näherem Hinsehen eben das, was »manchmal von Nutzen und manchmal von Schaden ist«. Beispiele dafür gibt es in der Geschichte wie in der Gegenwart genug. Viele Menschen, die man zunächst vielleicht beneidet hat, erregen am Ende nur noch unser Mitleid. Ein schönes Leben, so denken wir dann, sieht anders aus.

Hinter den skizzierten Ausführungen des Sokrates steht eine grundlegende Einsicht (und sie macht die zweite Hälfte der Pointe aus): Auf der einen Seite ist Glück etwas, auf das jeder Mensch sozusagen mit Naturnotwendigkeit aus ist. Jeder möchte glücklich sein. Dieser Wunsch ist gewissermaßen das Apriori unseres Willens und daher von grundsätzlich anderer Art als alle konkreten, inhaltlich bestimmten Lebensziele. Um das festzustellen, bedarf es keiner kostspieligen empirischen Untersuchungen. Es ist eine Binsenweisheit. Auf der anderen Seite aber ist Glück ein völlig inhaltsleerer Begriff, den man so oder so mit Inhalt füllen muß. (Für den zur Zeit oft so gedankenlos gebrauchten Begriff ›Gier‹ gilt übrigens das gleiche.) Daß er glücklich werden will, steht für jeden Menschen stillschweigend fest. Um an dieser Stelle stellvertretend für zahllose andere Autoren, die alle in dieser oder jener Form dasselbe sagen, nur aus Blaise Pascals Pensées zu zitieren: »Alle Menschen ohne Ausnahme streben danach, glücklich zu sein, wie verschieden die Wege auch sind, die sie einschlagen; alle haben dieses Ziel.«/»Tous les hommes recherchent d’être heureux; cela est sans exception, quelques différents moyens qu’ils y emploient, ils tendent tous à ce but.«; »Zu keiner Handlung sonst ist der Wille zu bewegen, jede zielt auf das Glück. Es ist der Beweggrund aller Handlungen aller Menschen, selbst derer, die im Begriff stehen, sich zu erhängen.«/»La volonté [ne] fait jamais la moindre démarche que vers cet objet. C’est le motif de toutes les actions de tous les hommes, jusqu’à ceux qui vont se pendre« (Fr. 425).2

Auf welchem Wege der Mensch aber tatsächlich glücklich werden kann, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Aporie, an der keiner auf die Dauer vorbeikommt. So gesehen weiß niemand, was Glück ist. Es ist dies, das sei an dieser Stelle hinzugefügt, ein zentraler Aspekt, wenn nicht gar das Zentrum des Sokratischen Nichtwissens. Vielleicht besteht die eigentliche Lebensaufgabe des Menschen darin, auf diese Frage für sich selbst wenigstens eine provisorische Antwort zu finden. Dabei sollte er sich gerade heute tunlichst davor hüten, in die von der Werbung und von der öffentlichen Meinung aufgestellten Fallen zu tappen. Die innere Selbstständigkeit des Menschen besteht nicht zuletzt darin, daß er sich die Antwort nicht von außen sagen läßt.

Glück ist heutzutage fast schon so etwas wie ein Modethema. Die Literatur dazu ist geradezu uferlos. Die meisten Veröffentlichungen zu diesem Thema, allem voran die sogenannten ›empirischen Untersuchungen‹, kranken jedoch daran, daß ihre Verfasser ganz selbstverständlich davon ausgehen, sie wüßten, was Glück ist. In Wahrheit aber weiß kein Mensch diese Frage endgültig zu beantworten. Nicht selten ändert er seine Vorstellung von Glück von einem Tag auf den anderen. Sicher, es gibt Stunden in unserem Leben, kostbare Stunden, da glauben wir es zu ahnen, und wir versuchen immer wieder, diese Stunden zu wiederholen. Thomas von Aquin spricht in seiner Summa contra gentiles 1, 102 nicht von ungefähr von umbrae felicitatis, von ›Schatten‹ von Glück. Ein dauerhaftes Wissen von Glück aber ist dem Menschen versagt. Irgendwann stellt sich jede Antwort als fragwürdig heraus.

2. Glück und Moral: der Sokratische Impuls im Kontext von Kants Moralphilosophie

Die Schriften Xenophons gehörten im 18. Jahrhundert mehr oder weniger zur Standardlektüre.3 Zu den zahlreichen Übersetzern seiner Erinnerungen an Sokrates zählte auch ein so prominenter Kopf wie Christian Thomasius, der Vater der deutschen Frühaufklärung. Nicht Platon, sondern Xenophon ist es gewesen, der das Sokratesbild jenes Jahrhunderts in erster Linie geprägt hat. So kann es auch nicht überraschen, daß die Gedanken Xenophons, und zwar gerade des hier analysierten Kapitels, auch in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten über Seiten hinweg wiederkehren. Kant schreibt: »es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle.« Es ist »unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er [der Mensch] hier eigentlich wolle. Will er Reichtum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könne er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Ende sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifungen abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen, u.s.w. Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze, mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hierzu Allwissenheit erforderlich sein würde« (GMS BA 46 f.). Kant gebraucht hier, wenn auch in etwas anderer Reihenfolge, genau die gleichen Beispiele für suspekte Glücksinhalte, die schon Xenophon in diesem Zusammenhang angeführt hatte: »Reichtum«, »Erkenntnis und Einsicht« (d.h. Wissen) und »Gesundheit« (verschärft durch den Zusatz »langes Leben«). Nur die Argumente, mit denen Kant die Zweischneidigkeit aller dieser Glücksinhalte zu zeigen versucht, haben sich verändert. Sie sind sozusagen der Problemlage des 18. Jahrhunderts angepaßt (die Anspielung auf die Sizilische Expedition z. B. hat Kant möglicherweise überhaupt nicht bemerkt). Aufs Ganze gesehen kann aber kaum ein Zweifel daran bestehen, daß Kant an dieser Stelle seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die Überlegungen Xenophons wiederaufnimmt.

Für das Verständnis der Ethik Kants sind diese quellengeschichtlichen Hinweise jedoch nicht nur von historischer, sondern von zentraler sachlicher Bedeutung. Sie legen den Grund frei, auf dem sich Kants Ethik ausgebildet hat. Denn die Einsicht in die Ambivalenz unserer konkreten Glücksvorstellungen nimmt diesen zumindest ein Stück weit ihre suggestive Kraft. Sie bereitet damit sozusagen den Boden, auf dem die Pflichtidee allererst ihre ganze Kraft entfalten kann. Sie räumt die Hindernisse beiseite, die den Menschen immer wieder davon abhalten wollen, seine Pflicht zu tun. Sie zeigt: Der Konflikt zwischen Pflicht und Glückseligkeit ist nicht gar so dramatisch, das dem Menschen abverlangte Opfer nicht gar so groß, wie sie für eine naive, von Erfahrung und Nachdenken nicht beschwerte Glücksvorstellung aussehen muß. Kants Rigorismus, soweit diese Charakterisierung überhaupt zutreffend ist, ist zu einem guten Teil ein Rigorismus der Desillusionierung. Solange der Mensch davon überzeugt ist, sein Glück, jenes einzigartige Gut, um das sich alles in seinem Leben dreht, à fonds perdu geben zu müssen, wird es ihm zumindest schwerfallen, dem kategorischen Anspruch des Sittengesetzes Folge zu leisten. Je mehr er dagegen einsieht, wie wechsel- und zweifelhaft alle jene Glücksvorstellungen sind, von denen er sich so selbstverständlich leiten läßt, um so leichteren Herzens wird er sie, wenn es hart auf hart kommt, beiseiteschieben können. Was Glück ist, bleibt für uns in tiefe Nebel gehüllt. Was dagegen Pflicht ist, wissen wir unbequemerweise zumindest in vielen Fällen nur zu genau. Kant hat das in seiner Kritik der praktischen Vernunft genau so formuliert: »was Pflicht sei, bietet sich jedermann von selbst dar; was aber wahren dauerhaften Vorteil bringe, ist allemal, wenn dieser auf das ganze Dasein erstreckt werden soll, in undurchsichtiges Dunkel eingehüllt« (KpV A 64).

3. Zu Begriff und Geschichte des Wortes ›Glück‹

Abschließend seien hier noch einige allgemeine Anmerkungen zum Begriff und zur Begriffsgeschichte des Wortes ›Glück‹ angefügt. Ein solches Vorgehen scheint allen Regeln der Kunst zu widersprechen: Die Klärung der Begriffe scheint an den Anfang und nicht an das Ende einer Untersuchung zu gehören. Im vorliegenden Fall aber liegen die Dinge anders: Man begreift die Tragweite der Begriffsanalysen erst, wenn man wenigstens ansatzweise die sachlichen Probleme erfaßt hat, die sich mit dem Wort ›Glück‹ verbinden.

Wir haben im Deutschen heute nur noch das eine dumme Wort ›Glück‹, und wir können es normalerweise nur im Singular gebrauchen. Im heutigen Wissenschaftsenglisch entspricht dem in der Regel das Wort ›happiness‹. Noch für Kant dagegen lagen die Dinge anders: Er konnte mit der Sprache des 18. Jahrhunderts ganz ungezwungen zwischen ›Glück‹ (Born verwendet dafür in seiner lateinischen Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft den Doppelbegriff »fortunae fatique«), ›Glückseligkeit‹ (»felicitas«) und ›Seligkeit‹ (»beatitas«) unterscheiden.4 Jedes dieser drei Wörter meinte etwas anderes. Das deckt sich mit dem Griechischen und Lateinischen. Das Altgriechische unterschied scharf zwischen ›eutychia‹ (εὐτῦχία), ›eudaimonia‹ (εὐδαιμονία) und ›makariotes‹ (μακαριότης), das Lateinische zwischen ›fortuna‹, ›felicitas‹ und ›beatitudo‹. Die ›makariotes‹ war dabei den Göttern vorbehalten. Aber auch ›eutychia‹ und ›eudaimonia‹, ›fortuna‹ und ›felicitas‹, die beiden menschlichen Formen von Glück, waren durch eine Welt voneinander getrennt. ›Eutychia‹ bzw. ›fortuna‹ bezeichnete das äußere, sich den Umständen verdankende Glück. Es kommt oft wie aus heiterem Himmel. Beispiele für eine solche Art von Glück wären etwa ein überraschendes Geschenk, eine völlig unerwartete Ehrung oder ein Lottogewinn. Dabei stand das in ›eutychia‹ enthaltene Substantiv ›tyche‹ zumindest bei den frühen Griechen dem christlichen Begriff der Gnade näher als dem des Zufalls. Wer ›tyche‹ (τύχη) bei den ›Sieben Weisen‹ (wie die neue Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft)5 mit ›Zufall‹ übersetzt, gelangt zu der bizarren Aufforderung: »Zum glücklichen Zufall beten«. Das hat Kleobulos nun gewiß nicht gemeint. ›Eudaimonia‹ bzw. ›felicitas‹ dagegen meinte diejenige Form von Glück, die aus der Anlage der eigenen Lebensführung resultiert. Für sie ist ausschlaggebend, für (und gegen) welchen Lebensinhalt sich ein Mensch entschieden hat. Schon die bildlichen Darstellungen der Fortuna und der Felicitas zeigen, wie tief der Mensch der Antike zwischen beiden Formen unterschieden hat; um das zu erkennen, genügt es, sich in die im ersten Band der L’Antiquité expliquée von Bernard de Montfaucon6 enthaltenen einschlägigen Kupferstiche zu vertiefen. Vielleicht rächt sich der Verlust der alten Sprachen nirgends schlimmer als in den sogenannten empirischen Untersuchungen der heutigen Sozialwissenschaften. Sie sind häufig genug Ritt über den Bodensee. Denn sie ahnen oft gar nicht, von wie vielen stillschweigenden Vorentscheidungen schon allein der Sprache ihre Erhebungen geleitet werden: ob sie es mit demjenigen Glück zu tun haben, das sich den äußeren Umständen verdankt, oder mit jener so ganz anderen Form von Glück, die ihren Grund in der eigenen Lebensführung hat. Beispiele für diese zweite Form von Glück wären etwa das Glück des Gärtners, des Musizierens oder des Sammelns, und man ist gut beraten, bei der Lebenseinrichtung das eine Glück nicht mit dem anderen zu verwechseln. Ganz ohne das Glück der Fortuna freilich kommt wohl niemand von uns aus. Vielleicht hat Aristoteles eben das in seiner Nikomachischen Ethik, Buch 1, Kap. 11 gemeint.

Xenophon und Kant jedenfalls reden nicht von der Fortuna, sondern von der Felicitas. Es geht ihnen um die Lebensführung des Menschen. Ihre Grundthese lautet, kurz zusammengefaßt: Solange der Mensch nichts anderes im Sinn hat als das eigene Glück, stochert er im Nebel herum. Natürlich sollen wir uns immer wieder gut überlegen, in welchem Lebensinhalt wir unser Glück suchen wollen und in welchem lieber nicht. Glücksstrategien sind ein wichtiges Thema. Doch man täusche sich nicht: Glück gibt es in diesem Leben immer nur als schönes Nebenbei.

Anmerkungen

1   Vgl. N. Hinske: Der Sinn des Sokratischen Nichtwissens, in: Gymnasium 110, 2003, 331.

2   Die Übersetzung folgt weitgehend der Ausgabe von E. Wasmuth – Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), Heidelberg 81978, 189.

3   Vgl. insbesondere B. Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. Studien zum Werdegang des modernen Persönlichkeitsbewußtseins, Neumünster 21966.

4   Vgl. Immanuelis Kantii opera ad philosophiam criticam, 4 Bde., Leipzig 1796‒1798 1, 81, 550, 554.

5   J. Althoff/D. Zeller (Hg.): Die Worte der Sieben Weisen, Darmstadt 2006, 27.

6   B. de Montfaucon: L’Antiquité expliquée et représentée en figures, Paris 1719 1/2, 312 ff. und 336 f.

– MAXIMILIAN FORSCHNER

Immanente Transzendenz: die Stoa und Cicero über die Würde des Menschen

Die Rede von Transzendenz impliziert in der Regel die Vorstellung von zwei Welten, eines mundus sensibilis und eines mundus intelligibilis, einer Welt, die uns über unsere Sinne zugänglich ist, in der wir als leibliche Wesen in der Zeit leben und uns bewegen, und einer rein geistigen Welt, die wir nur mit unserem Verstand erfassen können, die Vernunftideen entspricht, an denen wir uns handelnd in der Zeit orientieren und in der wir, in welcher Form auch immer, nach unserem Tod auf endgültige Weise weiterleben. Der Mensch hat teil an dieser intelligiblen Welt aufgrund seiner Geistnatur. Diese ermöglicht ihm ein freies Selbst- und Weltverhältnis. Sie ermöglicht ihm, sich selbst als endliches, bedürftiges und verletzbares Wesen zu übersteigen, sich in diese nach Vernunftnormen geordnete rein geistige Welt zu versetzen und von dieser her sich selbst und sein Leben zu verstehen und zu gestalten.

Durch seinen Anteil am mundus intelligibilis besitzt der Mensch im Unterschied zur nichtsprachfähigen Natur Würde. Nun ist der Begriff der Würde, dessen Herkunft hier erläutert werden soll, zwar an den Gedanken des freien und vernünftigen Selbstverhältnisses, nicht aber an eine ›Zweiweltenlehre‹ gebunden. Steht doch an seinem philosophischen Ursprung gerade nicht ein dualistisches, sondern ein monistisches Weltbild und die Vorstellung der Fähigkeit zu einer »immanenten Transzendenz«. Gemeint ist die Fähigkeit, sich selbst als endliches, bedürftiges, selbstbezogenes Wesen zu übersteigen, alles auf die Vernunftqualität des Denkens und Handelns zu setzen, all sein Streben vernünftig zu gestalten und sich selbst als endlichen, vergänglichen Teil eines einzigen strukturierten vernünftigen Ganzen zu bejahen.

Der Gedanke der Transzendenz barg allerdings sowohl im dualistischen als auch im monistischen Weltbild eine gewisse Gefahr in sich; die Gefahr nämlich, von einer vermeintlich absoluten Vernunftposition aus Gewicht und Bedeutung der Ansprüche unserer leiblichen Existenz zu vernachlässigen. Wer die Würde des Menschen ganz in den in unserer Vernunft gründenden »Adel der Seele« setzt, mag leicht geneigt sein, die Ordnung oder Unordnung der zeitlichen Güter des Lebens allzu gering zu schätzen. Diese Gefahr spiegelt sich in der Geschichte der Interpretation des Würdebegriffs.

I. Die Stoa über die Würde des Menschen

1. Die religiöse und philosophische Wurzel des Begriffs

Unser moderner Begriff der Menschenwürde speist sich geistesgeschichtlich aus zwei heterogenen Quellen, aus einer religiösen und einer philosophischen. Das Wissen um die religiöse Quelle war lange vorherrschend: Aus der jüdischen bzw. alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte (Gen 1,26–27) war der Passus des göttlichen Entschlusses vielen vertraut: »Dann sprach Gott: ›Lasset uns den Menschen bilden nach unserem Ebenbilde, uns ähnlich; er soll herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel der Luft, über das Vieh, über alle Landtiere und über alle Kriechtiere am Boden‹. So schuf Gott den Menschen nach seinem Abbild, nach Gottes Bild schuf er ihn, als männlich und weiblich erschuf er sie.« Die biblische Quelle besagt: Der Mensch ist als Ebenbild Gottes geschaffen; er wurde von Gott als sein Stellvertreter mit der Herrschaft und Fürsorge über die Erde betraut. Die frühchristlichen und mittelalterlichen Reflexionen über die Würde des Menschen beziehen sich sämtlich auf diese biblische Auszeichnung des Menschen im Rahmen der Schöpfung: seine Gottebenbildlichkeit, mit der ein Herrschaftsauftrag über und eine Verantwortung für die Erde verbunden ist.

Die philosophische, näherhin die hellenistische Quelle der abendländischen Würdevorstellung ist weit weniger bekannt. Viktor Pöschl vertrat in seiner 1989 veröffentlichten profunden und materialreichen Abhandlung über den Begriff der Würde im antiken Rom und später die These, daß in der römischen Antike, genauer, bei Cicero, eine, wenn nicht die entscheidende Wurzel des modernen Begriffs der Menschenwürde liege, und dies, merkwürdig genug, bislang nicht hinreichend beachtet worden sei.1 Nun beansprucht Cicero in philosophischer Hinsicht bekanntlich keine große Eigenständigkeit, sondern ist, wenn auch in kritischer Souveränität,2 dem Hellenismus, insbesondere der (skeptischen) Akademie, dem Peripatos und der Stoa verpflichtet. Und was den Begriff der Menschenwürde betrifft, so schöpft er hier nachweislich vor allem aus stoischen Quellen. Hier ist es der Gedanke der Vernunftfähigkeit, des aus ihr sich ergebenden Selbstverhältnisses und der mit ihr verbundenen Freiheit, die den Menschen auszeichnen, die ihn zu einem sterblichen Gott und zum Bürger und Mitbürger in einer von göttlichen Kräften geleiteten Kosmopolis machen.

Wie bei philosophisch gebildeten christlichen Theologen diese beiden Traditionen schließlich zusammenlaufen, läßt sich beispielhaft bei Thomas von Aquin ablesen, der sich (insbesondere in seiner Lehre vom natürlichen Gesetz, vgl. v. a. S. theol. I–II qu. 91 a. 2 und qu. 94) sowohl auf die biblische Tradition als auch auf die Stoa und Cicero bezieht und der in der Vernunftfähigkeit, der Freiheit und der damit gegebenen Selbstzweckhaftigkeit des Menschen den Kern des Würdeprädikats ausmacht. Sprechend ist hierfür der Sache und herausgehobenen Stellung nach der Prolog zur Prima Secundae der Summa Theologiae, auch wenn an dieser Stelle das Wort dignitas nicht auftaucht: »Weil der Mensch, wie Johannes von Damaskus sagt, nach dem Bilde Gottes gemacht ist, wonach mit Bild das Verstandesbegabtsein, das der Willkür nach Freisein und das aus sich selbst Mächtigsein bezeichnet wird; nachdem zunächst vom Urbild die Rede war, nämlich von Gott, und von den Dingen, die nach seinem Willen aus der göttlichen Macht hervorgegangen sind, bleibt uns, über sein Bild Erwägungen anzustellen, nämlich über den Menschen, dahingehend, daß er selbst Ursprung seiner Werke ist, da er einen freien Willen besitzt und die Macht hat über sein Tun.« Per imaginem significatur intellectuale et arbitrium liberum et per se potestativum – dies ist es, was mit Bild-Gottes-Sein gemeint ist; und dies ist es, was die Würde des Menschen begründet. Die Prädikate, die für Thomas das Bild-Gottes-Sein des Menschen kennzeichnen, sind genau jene, die der kaiserzeitliche Stoiker Epiktet für die ausgezeichnete Stellung des Menschen im Kosmos bemüht (vgl. Diatribai IV, 1). Sie sind es, die die Würde des Menschen begründen. Diese Würde ihrerseits macht, daß der Mensch von Natur niemandes Knecht, daß er frei ist und um seiner selbst willen existiert: […] dignitas humana, prout scilicet homo est naturaliter liber et propter se ipsum existens (S. theol. II–II, qu. 64 a. 2 ad 3). Und diese Würde macht, daß wir auch im größten Verbrecher die menschliche Natur, die Gott nach seinem Bilde gemacht hat, lieben müssen (in quolibet, etiam peccatore, debemus amare naturam, quam Deus fecit […]; S. theol. II–II, qu. 64 a. 6 co.).

Es ist die Natur des Menschen, nicht die menschliche Gemeinschaft und nicht eine zufällig gegebene oder erworbene Eigenschaft, die für die Würde des Menschen verantwortlich zeichnet. Im biblischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen und im stoischen Gedanken der Göttlichkeit der menschlichen Vernunft, und seien diese Eigenschaften im Einzelnen noch so rudimentär oder defekt oder depraviert vorhanden, wurzelt der Gedanke der allgemeinen Menschenwürde.

Man möchte meinen, daß es von hierher zumindest gedanklich kein sonderlich weiter Weg mehr ist zur neuzeitlichen politischrechtlichen Interpretation der Menschenwürde, die das Verbot einer Totalinstrumentalisierung des Menschen durch den Menschen beinhaltet und sich politisch-rechtlich in der Forderung nach einklagbaren Grundrechten gegenüber hoheitlicher Gewalt ausdrückt. Gleichwohl bedurfte es erst der bitteren Lehren der Konfessions- und religiösen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts und in ihrem Gefolge des politischen Absolutismus und des obrigkeitskritischen Impulses der Europäischen Aufklärung, um gedanklich einer diesseitsbezogenen, politisch-rechtlichen Interpretation der allgemeinen Menschenwürde in Form unantastbarer und unveräußerlicher Menschen- und Grundrechte zum Durchbruch zu verhelfen. Und noch einmal hinkt die Praxis der Theorie nach: In Verfassungen, Gesetzgebungen und Rechtspraxis spielt der Begriff (inzwischen weltweit) erst seit dem 2. Weltkrieg eine herausragende Rolle.3

Der entscheidende Grund für diese sehr späte politisch-rechtliche Karriere des Begriffs einer allgemeinen Menschenwürde dürfte darin liegen, daß sowohl die religiöse als auch die philosophische Quelle und Tradition den Würdebegriff, der ursprünglich der Sprache der Politik und der hoheitlich-herschaftlichen Sphäre entstammt, von Anfang an in metaphorisierender Weise moralisiert und ihm über viele Jahrhunderte eine mehr oder weniger ausschließliche Tugend-karriere beschert haben. Als politisch-rechtlicher Begriff, bezogen auf die Hoheit (maiestas) der Erscheinung, des Verhaltens und der geforderten äußeren Anerkennung, blieb er den herrschaftlichen Funktionen und leitenden Personen reserviert. Das mit ihm verbundene Ethos war Inhalt der Fürstenspiegel. Erst in Verbindung mit einem stolzen republikanischen diesseitsbezogenen aufgeklärten Freiheitsverständnis, das in die Richtung von Rechtstaatlichkeit und Demokratie drängte, mit einem neuzeitlichen Freiheitsverständnis, wie es Autoren wie Locke, Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Hume, Kant, Schiller, Bentham und Mill, in deutlicher Erinnerung an die griechische Philosophie und in manifester Verklärung des republikanischen Rom, philosophisch ausformulierten, gewann der Begriff der allgemeinen Menschenwürde eine ernsthafte und gewichtige politisch-rechtliche Bedeutung.

Die biblische Rede vom Menschen als Bild Gottes entstammt wohl einer Übertragung. Ursprünglich ist der Pharao bzw. der orientalische König Bild und Repräsentant Gottes auf Erden; seine Statuen standen als Herrschaftszeichen auf den Feldern; er ist mit der Herrschaft über die übrige Schöpfung betraut. Der biblische Autor der exilisch-nachexilischen Zeit (6./5. vorchr. Jh.), einer Zeit politischer Ohnmacht Israels, überträgt das Prädikat »Bild Gottes« auf den Menschen überhaupt.4

Die philosophischen Ursprünge der im Würdebegriff versammelten Vorstellungen ‒ man denke etwa an die prägnante Charakteristik des Hochgesinnten (μεγαλόψυχος) in der Nikomachischen Ethik (IV, 7–8) des Aristoteles ‒,5 liegen in einem elitären Adels- und Bürgerethos der altgriechischen Polis. »Hochgesinnt ist der, der sich großer Dinge für würdig (ἄξιος) hält und ihrer auch würdig ist«, so Aristoteles (NE IV 1123 b 2). Dieses elitäre Bürger-Ethos wird nach dem Zusammenbruch der politischen Autarkie der griechischen Polis in der Zeit des Hellenismus vornehmlich von (Kynismus und) der Stoa universalisiert und verinnerlicht, d. h. moralisiert und auf das Selbstverständnis des Menschen hinsichtlich seiner Stellung im Kosmos übertragen: Der Mensch ist Abkömmling der Götter und besitzt aufgrund seiner Vernunftfähigkeit Würde, aber Würde im Sinne einer Anlage und Aufgabe, die er durch den Erwerb und Vollzug von geistig-charakterlicher Größe realisieren und erfüllen muß. Würde beweist der Mensch durch immanente Transzendenz, d. h. durch gedankliche Übersteigung und Relativierung seiner zeitlich begrenzten Existenz und ihrer Bedürfnisse, durch ein souveränes Selbst- und Weltverhältnis, durch eine souveräne Selbstbeherrschung und Selbstgestaltung, durch eine Beherrschung seiner Triebe und Affekte und durch seine vernunftbestimmte gelassenvertrauensvolle, strebens- und gefühlsmäßige Einordnung in den Plan und Prozeß göttlicher Weltverwaltung.6

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