Umschlag

Barbara Meyer studierte Mediävistik und Allgemeine Literaturwissenschaften in Paderborn. Sie arbeitet als freiberufliche Autorin im Bereich Regional- und Familiengeschichte. Seit Kurzem lebt sie außer in der Nähe des Paderborner Doms auch in Puerto de la Cruz auf Teneriffa.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-704-8
Westfalen Krimi
Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Doktrin

Schlage die Trommel und fürchte dich nicht,

Und küsse die Marketenderin!

Das ist die ganze Wissenschaft,

Das ist der Bücher tiefster Sinn.

Heinrich Heine

Mittwoch, 9. Februar

Ein blödes Lied. Aber nicht zu vertreiben. Sie hatte nach anderen Melodien gesucht, sie vor sich hingesummt. Doch es drängte sich vor. Verschwand nicht aus ihrem Kopf.

»Wie schön es auch sei …«

Sie sang dagegen an, was ihr grad einfiel: »Horch, was kommt von draußen rein …« In ihr begann es von vorn, ebenso jubelnd: »Am Aschermittwoch …« Sie sang: »… hollahi, hollaho!« Es sang: »… ist alles vorbei …«

Wenn es noch Jim Morrison wäre! »This is the End …«, versuchte sie anzustimmen. Die Worte fielen ihr ein, aber nicht, wie die Silben auf der Musik lagen. Und ständig dröhnte der Karnevalsschlager dazwischen: »… alles vorbei …«

Annette gab auf. Was immer da sang in ihrem Kopf – es hatte recht. Alles war vorbei. Unwiderruflich. Beweis: die leeren Tablettenröhrchen vor ihr. Der Zettel. Und heute war Aschermittwoch.

Ihr letztes Lied. Ausgerechnet dieses.

Rosenmontag hatte sie noch mitgesungen. Die kleine Angst verdrängt. Alles wird gut – wer sagte das noch immer? Egal – es war falsch. Nichts war gut. Schon am Dienstag war der Aschermittwoch gekommen und ging nicht vorbei.

Leicht verkatert, aber zuversichtlich war sie am Morgen zu ihrem Termin marschiert. Der Sachbearbeiter im Arbeitsamt hatte ebenfalls eine Fahne gehabt. Was ihn nicht hinderte, ihren Widerspruch abzulehnen. Jetzt stand sie da, ohne Einkommen, ohne Job.

»Die glauben doch wohl nicht, dass ich dich jetzt aushalte!«, hatte Lothar abends geschimpft. »Was meint der, warum wir nicht verheiratet sind?«

»Von all deinen Küssen …«, sang es.

Sie dachte an seine ewige Angst um sein Geld. Ihr Freund hatte bis vor ein paar Jahren an seine Ehemalige gezahlt. Angesichts seiner Tiraden war sie froh gewesen, mit ihrer Arbeitslosenhilfe unabhängig zu sein. Ansprüche aus einem früheren Arbeitsleben als Buchhändlerin, gering zwar, aber sicher.

Das war nun vorbei. Hartz IV hieß das Zauberwort, das sie zu dem gemacht hatte, was sie nie sein wollte: abhängig.

»Wenn sie dir wenigstens ’ne Stelle besorgen würden!«, und mit einem Blick über die Brille hatte er nachgeschoben: »Oder mach doch selbst mal was!«

Da hatte sie längst die Stellenangebote aus der Datenbank abtelefoniert. Sowieso nichts für Buchhändler, und alle anderen waren überholt, wie immer. Sogar bei den täglich annoncierenden Fleischfabriken hatte sie angerufen. Doch die suchten jüngere Arbeitskräfte ohne Rheumagefahr. Sie stand bei allen Reinigungsfirmen, bei jeder Großbäckerei, sogar in der Marmeladenfabrik auf der Warteliste. Was sollte sie noch tun?

Am Morgen hatte er sie kaum angesehen, aber das Frühstück vertilgt, das sie gemacht hatte. Mit den Worten »Viel Glück!« hatte er sich verabschiedet, was bei ihr als »Tu endlich was!« ankam. Noch hatte er sie nicht als Loser beschimpft, eine Vokabel, die ihm bei anderen allzu locker saß.

Wieder kamen ihr die Tränen. Heulsuse!

»Viel Glück« sparte sich das Leben für andere Leute auf. Sie hatte es satt, darum zu kämpfen, zu betteln. Es fühlte sich ohnehin nicht gut an, ihr kleines Dasein. Schon viel zu lange nicht. Heute Nacht war sie das Weinen leid gewesen, hatte einen Entschluss gefasst und gleich nach dem Abspülen am Morgen umgesetzt.

Sie war müde. Das immerhin war gut. Die Tabletten wirkten. Fallen lassen. Nicht mehr strampeln müssen.

»Am Aschermittwoch ist alles vorbei«, sang es immer noch in ihr. »Die Schwüre von Treue …« – nun ja, die hatte es nie gegeben – »… sie brechen entzwei …«

Ohne jede Vorahnung hatte sie mitgesungen, diesen und viele andere Schlager, drei tolle Tage lang, bis sie heiser war. Sie hatten Karneval gefeiert wie jedes Jahr. Alles wird gut. Ihre Verkleidung – Annette als Hula-Mädchen und Lothar als Beachboy – wäre beinahe prämiiert worden. Rosenmontag waren sie Arm in Arm durch die Kneipen gezogen, und am Dienstagmorgen hatte sie sogar einen Abschiedskuss bekommen. Früher nicht ungewöhnlich trotz seiner Morgenmuffeligkeit 

War nett mit dir, Lothar, dachte sie noch. Du bist nicht schuld. Schau auf den Zettel.

Montag, 14. Februar

»Und vergessen Sie nicht, meine Damen und Herren« – endlich kam die Lauterbach zum Schluss –, »wir haben kein Geld zu verschenken! Wie Sie wissen, ist unser Budget äußerst begrenzt, also seien Sie zurückhaltend mit Ihren Zusagen.«

Ganz recht, dachte Rolf Vetter. Beinah hätte er applaudiert. Die Arbeitslosen mit ihrem Anspruchsdenken! Als ob man dafür zuständig wäre, ihnen einen aufwendigen Lebensstil zu finanzieren.

Er drängte sich nach vorn, wo schon andere Kollegen die Chefin umstanden. Die schwarz gefärbten Haare mal wieder auf Sturm, das grelle Make-up völlig verrutscht. Sie nickte ihm zu, lächelte sogar andeutungsweise. Alle sahen ihn an, ohne Lächeln. Das brauchte er auch nicht. Er tat seine Arbeit und zwar so gut, dass bald schon die nächste Beförderung anstand. Walburgas Lächeln war die Bestätigung dafür, sonst nichts.

Er grinste in die Runde. Teamfähig und kooperativ, das war er. Und beliebt. Die Mitarbeiter setzten sich auf seine Schreibtischkante, die Kolleginnen kamen mit einem Kaffee in seinem Büro vorbei. Ganz zwanglos, trotz seines höheren Rangs, den er natürlich nicht heraushängen ließ.

»Da hat uns die Regierung ein Ei ins Nest gelegt, was?«

Kollege Bremer. Wollte sich bei Walburga einkratzen. Jeder wusste, welches Parteibuch ihr auf den Chefsessel verholfen hatte. Mit Rot-Grün hatte sie nichts am Hut. Aber diesmal hatte Ernst sich vertan.

»Die Regierung hat ganz recht!«, widersprach er. Noch mal nickte sie ihm zu.

»Genau«, bestätigte sie. »Genau, Herr Vetter. Fordern und fördern, meine Damen und Herren! Fordern Sie Ihre Kunden, das fördert sie am meisten. Eigenverantwortung, Selbstbemühungen, weniger Anspruchsdenken – alles Forderungen, mit denen diese Regierung nicht danebenliegt. Etwas anderes ist natürlich, wie ich schon sagte, die personelle Unterbesetzung im Amt, deren Leidtragende wir alle zusammen sind. Hier vernachlässigt Berlin seine Fürsorgepflicht auf das Gröblichste! Das habe ich der Bundestagsabgeordneten bei ihrem letzten Besuch auch unmissverständlich zu verstehen gegeben. Dennoch werden wir wie immer unser Bestes tun, allen uns Anvertrauten gerecht zu werden und sie nach Kräften zu fordern, äh … nicht wahr! In diesem Sinne …«

Sie wandte sich zum Gehen. Er trat zurück, um ihr den Weg freizumachen. Kollege Koch, nicht schnell genug, rempelte die kleine Quickstern an.

»Hoppla, Mädel, nicht so hastig!« Vetter fing sie auf und fasste sie um die Taille. Niedlich. Roch auch gut. Widerstrebend ließ er die junge Kollegin los.

»Dann wolln wir mal ran, was!« Zuvorkommend hielt er ihr und zwei weiteren Kolleginnen die Tür auf. Sie warteten, bis er ebenfalls hindurch war, und hängten sich an ihn.

»Da hat Walburga ja wieder ihre Show gehabt«, lästerte die eine.

»Gleich hat sie noch ein Interview mit dem WDR, deshalb war sie so aufgedonnert«, spottete die andere.

»Was meinen Sie, Herr Vetter?« Was kam jetzt? »Ein bisschen Angst hat man ja doch – wenn wir alle Widersprüche ablehnen, ob dann nicht doch die Arbeitslosen …« Statt weiterzureden, sah ihn die Kollegin kuhäugig an.

»Da macht euch mal keine Sorgen, Mädels, wir sind ja auch noch da!« Er trommelte auf seinen Brustkorb und deutete einen Tarzanschrei an. Das mochten sie.

»Aber im Ernst, Kollegin – so ganz unrecht haben Sie nicht.« Er richtete den gelb gepunkteten Schlips an der Knopfleiste des akkurat gebügelten blauen Hemds aus und strich mit der Hand daran herab. Kein Bauch. Er achtete auf seine Figur. Noch einmal strich er am Schlips entlang.

»Soll ja schon vorgekommen sein, dass die Kunden ausrasten!« Er gab sich besorgt. »Und dann stehen die Leute von der Sicherheit im Erdgeschoss herum und bewachen die Eingangstür. Hier oben auf den Fluren kann man doch ganz in Ruhe abgestochen werden.«

Sie machten große Augen. Süffisant setzte er eins drauf. »Unserem Fräulein Quickstern hier kann nichts passieren, die hat ihren Manfred auf dem Zimmer. Aber wer allein ist, nur mit dem Schreibtisch zwischen sich und dem Kunden …« Bedeutungsvolle Pause.

Jetzt die Luft ablassen. Sonst platzen sie.

»Aber keine Panik. Ein bisschen vorbeugen kann man ja – immerhin.« Drei Frauen schauten ihn erwartungsvoll an. »Ein Vorschlag: Am besten ruft ihr jeden Morgen einen von uns Männern an. Dann braucht ihr im Notfall nur die Wahlwiederholung zu drücken und schon sind wir da.«

Die dummen Hühner vergaßen garantiert, das nach jedem Anruf anderswo zu wiederholen. Nicht seine Sache.

Da war der Aufzug. Zwei Fälle drängten sich mit hinein. Eng. Niemand sprach.

Auf seiner Etage angekommen, machte er sich breit und drehte sich zum Ausgang. Die Arbeitslosen verließen den Lift, um ihm Platz zu machen. So musste es sein.

Zufrieden schloss er die Bürotür hinter sich ab, riss das Fenster auf und steckte sich eine Zigarette an. Endlich!

Wieder hatte die Chefin sie ohne Ende zugetextet. Er hasste ihre endlosen Reden, und es machte ihn nervös, zuhören zu müssen. Das hatte nichts damit zu tun, dass sie eine Frau war. Gar nichts! Aber musste sie alles dreimal sagen? Immer und immer wieder? Und hatte sie irgendwas gesagt, was nicht längst in allen Datenbanken zu lesen war?

Ein paar Mal hätte er sie ohne Weiteres erwürgen können, träumte davon, ihren faltigen Hals zu packen und zuzudrücken, wenn sie nicht sofort aufhörte zu reden. Oder wenigstens das Rauchverbot aufhob.

Er schnippte die Kippe aus dem Fenster und sah ihr hinterher. Wieder nicht getroffen. Trotz der ausladenden Oberfläche verfehlte er den verdammten Pömpel immer wieder. Kunstwerk, pah! Von hier oben sah es aus wie ein Weisheitszahn. Und zwar ein völlig vergammelter.

Unlustig schaltete er den Computer an. Trotz der Februarkälte blieb das Fenster offen. Ein ganz Harter sei er, ging es im Amt um, und das nicht nur wegen der kalten Luft im Raum. Nicht, dass er sich was drauf eingebildet hätte!

»Bei dem Pack, das hier vor dem Schreibtisch sitzt, braucht man frische Luft!«, pflegte er zu sagen, wenn die Kollegen schaudernd sein Büro betraten. Niemand im Amt kam auf die Idee, sein ausdauerndes Lüften könne dazu dienen, sein kleines Laster und die Übertretung des Rauchverbots zu verbergen.

***

Diese Stadt ist das Letzte, schimpfte Therese in sich hinein, als sie dem brutalen Verkehrsgewühl des Westerntors entronnen war. Mittelalterlich, von wegen! Eine Puppenstube von Altstadt, wo die Touristen liefen, sonst monotone Gewerbeflächen und einfallslose Klötze. Das bisschen Grün entlang der Bahnhofstraße kaum überzeugend. Graue Zweckbauten gleich nach der Herz-Jesu-Kirche, leer stehende Verkaufshallen, schlecht gehende Geschäfte. Auf der breiten Straße stadtauswärts stinkende, röhrende Autoschlangen.

Warum blieb sie hier?, fragte sie sich wie so oft. In dieser Stadt, die ihr ansaß wie Dornengestrüpp. Wie Ganzkörperdaumenschrauben. Ein eiserner Mantel mit nach innen gerichteten Spitzen 

Sie hatte nie probiert, anderswo zu leben. Etwas hielt sie in Paderborn. Die vertraute Enge?

Hier war die Stadt zu Ende, begann die Welt. Von hier aus müsste es losgehen. Müsste sie losgehen. Der Bahnhof, die westwärts führende B 1, weg, weg, weg.

Aber hier war auch das Arbeitsamt, Endstation für viele. Dem Bahnhof gegenüber. Agentur für Arbeit hieß es jetzt. Neuer Name für den alten Apparat, unbeweglich wie zuvor.

Das Amt hatte sie vorgeladen, das Amt war ihr Ziel und nicht die Welt 

Hör auf zu spinnen, blöde Kuh, schalt sie sich. Spar dir das Gesülze! Wenn du gleich am Schreibtisch sitzt, fällt es dir ja doch nicht wieder ein. Romane schreiben, pah!

Therese Urban war arbeitslos. Germanistin und arbeitslos. Was auch sonst. Wer brauchte Germanisten? Nicht einmal als Sekretärin, die sie vor dem Studium war, hatte man sie einstellen wollen – überqualifiziert, hatte es geheißen. Zu alt, übersetzte sie.

Jetzt hatte sie viel Zeit. Eigentlich. Nur im Moment nicht. Die Bahnhofsuhr zeigte fast zehn, und sie wusste noch nicht, wo Raum 420 war. Oben wahrscheinlich. Hoffentlich wurde der Aufzug nicht wieder von einem Aktenwagen blockiert. Oder von Horden aus der Frühstückspause zurückkehrender Angestellter.

»Herr Vetter« hatte sie eingeladen. So stand es im Briefkopf. Sie hatte noch nicht mit ihm zu tun gehabt.

Hartz IV ließ auch im Amt keinen Stein auf dem anderen. Dauernd wechselnde Sachbearbeiter, Büroumzüge, neue Dienstwege und Verfahren. Herumirrende Antragsteller, die mit ihren Fragen den ganzen Betrieb aufhielten. Oft genug hatte sie in den letzten Monaten dazugehört.

Heute, neun Wochen nach ihrem Widerspruch, dieser Termin. Ob er Klarheit brachte? Und endlich Geld?

Natürlich rot, die Ampel vor dem Arbeitsamt. Vorfahrt für Autofahrer.

Die Apotheke an der Ecke – St. Christophorus hieß sie. Helfer auf allen Wegen, fiel ihr ein; als Kind des heiligen Paderborn, wie die Bielefelder sagten, kannte sie sich aus mit dem Himmelspersonal. Brauchbar war so ein Geleitheiliger schon, obwohl er gegen rote Ampeln auch nicht half. Und auf Behördenfluren? Man muss nur dran glauben, sagte sie sich.

Endlich grün. Sie hastete am Kunstwerk vor der Arbeitsamtsfassade vorbei, das sich wie eine fette stählerne Faust den oberen Stockwerken entgegenreckte.

Vor dem Eingang stand beharrlich der einsame Montagsdemonstrant. Wieder drängte er Therese sein immer gleiches Flugblatt auf, das sie schon dreimal eingesteckt hatte. Wirres Zeug und rechtsradikale Sprüche; niemand solidarisierte sich mit ihm.

Der Aufzug war frei. Super. Aber auch kein Wunder – es war schon nach zehn, und alle anderen waren pünktlich gewesen. Hoffentlich war dieser Vetter nicht so einer, der dauernd auf die Uhr guckte.

Raum 420. Die Tür war zu. Keine Antwort auf ihr Klopfen. Abgeschlossen. Vielleicht war sie doch nicht zu spät.

Sie setzte sich auf den Flur. Aus dem Raum schräg gegenüber drangen Stimmen. Lachen. Sollte sie da klopfen?

Auch keine Antwort. Die Unterhaltung ging weiter. Vorsichtig streckte sie den Kopf in den Raum. Niemand reagierte. Kein Gesicht wandte sich ihr zu. Aber geredet wurde auch nicht mehr.

Zaghaft fragte sie nach Herrn Vetter. Ein feistes Rotgesicht mit Halbglatze grinste bedauernd in die Runde und rutschte von der Schreibtischecke.

»Sind Sie Frau Urban?«

»Ja …«

»Zehn Uhr ist aber vorbei, nicht?«

Das fing ja gut an. Es war gerade erst zehn nach, und fünf Minuten hatte sie draußen gewartet.

»Tut mir leid …«

Gleich fiel er ihr ins Wort. »Leid tut es mir auch«, schleimte er. »Viel Zeit habe ich jetzt nämlich nicht mehr. Aber kommen Sie mal mit.«

Er ging voran. Ließ ihr an der Tür nicht den Vortritt. Setzte sich und wies unfreundlich auf den Besucherstuhl, der zwischen Schreibtisch und Wand eingeklemmt war.

Kalt hier. Das Fenster stand sperrangelweit offen.

»Nun, Frau Urban, wo drückt der Schuh?«

Sie begann, ihren Fall zu schildern. Gleich unterbrach er sie: »Wie ist die BG-Nummer?« Sie legte ihm die Einladung vor. Angestrengt hackte er auf der Tastatur herum, vertippte sich, schimpfte auf den blöden Computer.

»Aha!«, rief er dann triumphierend. »Am neunten hab ich Ihren Fall auf den Tisch gekriegt und Sie sofort eingeladen. Fünf Tage! Schnell wie die Feuerwehr, was?« Er lachte meckernd.

Therese verzog das Gesicht. »Der Widerspruch ist von Anfang Dezember! Und nicht mal das bisschen Geld, das mir bewilligt wurde, ist gezahlt worden.«

Vetter schaute auf den Bildschirm. Kroch fast hinein. Blätterte in den Unterlagen, die sie ihm vorgelegt hatte. Las ihren Widerspruch. Jetzt erst. Und gründlich.

Sie wartete. Er kratzte sich den Nacken.

»Aha!«, sagte er wieder. »Es geht also um die Unterkunftskosten. Da sind wir leider nicht zuständig, das macht der Kreis.«

»Sie sind mein Ansprechpartner«, wandte Therese ein. »Die Arbeitsagentur. Der Bescheid kam von Ihnen …«

»Ist ja richtig. Aber entschieden hat der Kreis. Dann müssen wir den Widerspruch auch an den Kreis weiterleiten.«

»Der liegt jetzt hier seit neun Wochen!«, rief sie protestierend.

»Stimmt«, stellte er nach einem Blick auf das Datum fest. »Aber da müssen Sie sich an die Regierung halten!« Er schaute sie inquisitorisch an. Bestimmt hatte sie die falsche Partei gewählt. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern.

Ermutigt fuhr er fort: »Ja, wenden Sie sich an Berlin! Wir sind völlig unterbesetzt, das wissen Sie wohl. Die Erfassung der ALG-II-Anträge, die vielen Bescheide … Und jetzt ersticken wir in Widersprüchen! Wissen Sie, wie viele davon ich jeden Tag auf den Tisch kriege?«

Muss wohl an der schlampigen Bearbeitung liegen, dachte sie. Sagte es aber nicht. Schaute ihn nur fragend an. Und hilflos. So brauchte er es.

»Aber wir ändern da nichts! Da müssen wir durch«, sagte er gönnerhaft. »Wolln mal sehn, was der Kollege dazu sagt.«

Er griff zum Telefonhörer. »Tach, Herr Neumann. Vetter hier, Arbeitsagentur. Was habt ihr denn wieder für ’n Blödsinn gemacht? Warum soll die arme Frau Urban ihre Miete nicht zahlen dürfen?«

Er zwinkerte ihr zu und gab umständlich die BG-Nummer durch. »Er muss erst suchen«, sagte er dann und hielt die Sprechmuschel zu. »Bei denen passiert auch viel Mist jeden Tag, das sage ich Ihnen! Die haben doch keine Ahnung von ihren eigenen … Ja, Herr Neumann? War ein Versehen? Dacht ich mir doch! Bis die Tage!«

Therese atmete auf. Ihre Vermieterin würde sich freuen. Doch das war noch nicht alles. Schnell fragte sie: »Und was ist mit dem anderen Punkt?«

»Gibt man ihnen den kleinen Finger, wollen sie gleich die ganze Hand!« Theatralisch seufzend verdrehte er die Augen. »Aber da kann ich leider gar nichts machen. So gern ich Ihnen helfen würde …«

Sie glaubte ihm kein Wort. Hektisch betete sie ihre Einwände herunter. Er hörte kaum zu. Gedankenlos massierten seine Finger den Kugelschreiber.

»Ich kann nichts machen, das sagte ich ja schon.« Ihre Beschwerden wischte er beiseite. »Seien Sie froh, dass wir Ihnen die Miete zahlen. Im Juni können Sie es noch mal versuchen, dann müssen Sie sowieso einen neuen Antrag stellen. Wenn Sie bis dahin nicht längst in Lohn und Brot stehen.«

Der hatte gut reden. Woher sollte sie Arbeit bekommen? Im Agenturbezirk kamen auf fünfundzwanzigtausend Arbeitssuchende fünfhundert offene Stellen. Hatte neulich in der Zeitung gestanden.

Sie musste den Mann überzeugen. Aber wie? Betteln? Einen Versuch war es wert. Immerhin ein gutes Drittel der mageren Bezüge wurde ihr vorenthalten.

»Hundertzwanzig Euro mögen Ihnen nicht viel bedeuten …«, setzte sie an.

»Oh doch!« Auffahrend stoppte er sie. »Hundertzwanzig Euro bedeuten mir sehr viel.« Er plusterte sich auf. »Das ist das Geld des Steuerzahlers, und da ist jeder Cent wichtig! Das ALG II wird aus Steuermitteln gezahlt, das wissen Sie ja selbst. Nicht wie das ALG I, für das Versicherungsbeiträge eingezahlt wurden. Ihr Geld kommt aus unseren Steuern! Schwer erarbeitet! Nur wer bedürftig ist, kommt in den Genuss. Und Sie sind nicht bedürftig! Sie haben Nebeneinkünfte, die wir auf Ihre Bezüge anrechnen müssen. So ist die Gesetzeslage, liebe Frau Urban, das kann ich nicht ändern, so gern ich’s täte.«

Das war zwei Jahre her. Seitdem hatte sie fast nichts verdient und das dem Amt auch nachgewiesen. Welcher Student konnte es sich noch leisten, seine Arbeiten Korrektur lesen zu lassen?

Der Sachbearbeiter sortierte ihre Unterlagen und kämpfte mit den verknickten Ecken.

Therese hatte eine Idee. Ein kleiner Bluff; keineswegs sicher, dass er gelang. Sie hatte sich oft ausgemalt, wie er zu laufen hatte. In Romanen klappte so was immer 

Sie brauchte das Geld. Es stand ihr zu. Wenn sie jetzt verzichtete, zahlte ihr das niemand nach. Sie hatte die Schulden am Hals, nicht dieser Bürohengst.

Los, trau dich, Feigling!, motivierte sie sich. Den machst du doch ein! Eben hat er schon klein beigegeben.

Aber sachte! Solchen Typen durfte frau nicht kaltschnäuzig kommen, das hatte sie in langen Jahren des Behördenkontakts gelernt. Bluffen konnten sie besser. Sie wollten ihre Vorurteile bestätigt bekommen, dann waren sie friedlich.

Er reichte ihr den Stapel Papiere über den Schreibtisch und hob bedauernd die Schultern. »Tja, wie ich schon sagte …«

Jetzt keine Skepsis zeigen. Enttäuschung, aber auch Vertrauen im Blick. »Ja, wenn Sie meinen … Sie werden wohl recht haben …«

»Habe ich, das können Sie mir glauben!«

Das tat sie mit frommem Gesicht. Er schaute ungeduldig. Der Kuli stand zwischen seinen Fingern. Die Bewegungen wurden hektischer.

Sie zupfte ihren Schal zurecht, bereit zum Aufbruch.

»Ja, dann muss ich wohl sehen, wie ich klarkomme.« Ein bisschen naiven Optimismus dazugeben. »Ist ja auch nur bis Juni, wie Sie schon sagten. Vielleicht kommt bis dahin der große Auftrag …«

Er fiel ihr ins Wort. »Ich wünsche es Ihnen!« Der Kuli lag flach und wurde zwischen den Fingerspitzen gedreht.

Sie kramte ihren Papieren in der Tasche nach und schloss sie umständlich. Harmlos wechselte sie das Thema: »Übrigens hat sich neulich Herr Schneider vom Volksblatt für meinen Bescheid interessiert.«

Ihr Gegenüber schaute auf. Jeder in der Stadt kannte das konservative »Bäumchenblatt«, wie es wegen der Eiche im Logo genannt wurde, und seinen Starschreiber. Bekannt für Reportagen aus dem prallen Leben, wie er selbst es gern ausdrückte.

Schneider hatte in den letzten Wochen mehrere Berichte über krasse Fehlentscheidungen der Agentur gebracht, was deren Chefin nicht besonders gefallen hatte. Die Presseerklärungen waren ganz schön giftig gewesen. Die Frage war, ob sie Vetter richtig einschätzte.

»Er kommt manchmal im Arbeitslosenzentrum vorbei«, fuhr sie fort, während sie den Reißverschluss ihrer Lederjacke einfädelte. »Und wollte einfach nicht glauben, dass Nebeneinkünfte, die man gar nicht hat, abgezogen werden können.«

Sie hörte auf zu nesteln und schaute ihn an. Schaffte es, seinem Protest zuvorzukommen. »Sie haben es mir ja jetzt erklärt, ich weiß. Aber ich soll ihn auf jeden Fall über das Ergebnis meines Widerspruchs informieren. Sie haben doch nichts dagegen?«

Sie sah zum Fenster. Er folgte ihrem Blick und verpasste die Chance, ihr ins Wort zu fallen.

»Er will einen großen Bericht machen, mit Bild! Und Sie möchte er ebenfalls interviewen, sagte er, über die Gesetzeslage. Natürlich nur, wenn Sie damit einverstanden sind …«

Das war’s. Jetzt nur nicht zu offensichtlich aufatmen.

Vetter maß sie mit einem langen Blick. Hinter seiner Stirn ratterte es. Therese guckte zurück, Stolz und Erregung angesichts des Presseauftritts im Blick. Dumm aussehen konnte sie gut.

Er scrollte noch einmal durch die Datei. Dann griff er wieder zum Telefonhörer. »Komm Se mal her, Kollege!«, bellte er hinein.

»Mir ist da grad was aufgefallen«, sagte er zu ihr. »Gut, dass ich noch einmal nachgedacht habe, während Sie redeten. Vielleicht kann ich ja doch was für Sie tun! Auch wir in der Agentur sind nicht ohne Fehl und Tadel, das können Sie mir glauben.«

Ein jüngerer Mitarbeiter betrat den Raum. Roter Pullover, offener Kragen, kein Schlips. Sympathisch.

Der Ältere stauchte ihn zusammen. In ihrem Beisein! Das hatte sie nicht gewollt. Peinlich berührt schaute sie zu Boden.

»Also, Frau Urban, Sie haben es gehört.« Vetter drehte sich zu ihr um. »Der Bescheid wird geändert. Solche Fehler dürfen eigentlich nicht passieren!«, schoss er dem Kollegen noch hinterher.

Therese zog ihren Schal zurecht und ging. Das Dankeschön verkniff sie sich. Ein kurzes »Wiedersehn« musste reichen. So ein Widerling!

***

»Dieser Vetter ist so ein Arschloch! Ich könnte ihn glatt …«

Manfred Koch platzte ins Zimmer, ohne an den Publikumsverkehr zu denken. Das kindliche Gesicht unter dem kurz geschnittenen blonden Haar knallrot. Der Kunde vor Renate Quicksterns Schreibtisch drehte sich erstaunt um. Dann nickte er verständnisinnig. Hatte wohl auch schon seine Erfahrungen mit dem Kollegen gemacht.

Sie konnte ebenfalls ein Lied von der »Liebenswürdigkeit« Vetters singen. »Fräulein Quickstern« pflegte er sie zu nennen. »Das ist ein Kompliment, Fräulein Quickstern!«, sülzte er, wenn sie ihn korrigierte. »Wie kann man ein so zartes Wesen Frau nennen! Fräulein, das steht Ihnen doch viel besser!«

Schnell fertigte sie den Kunden ab und wandte sich dem Kollegen am anderen Schreibtisch zu. Der blätterte hektisch eine Akte durch, die er aus dem Schrank gezogen hatte.

»Der hat den Fall selbst bearbeitet!«, schimpfte er. »Hier – sein Handzeichen. Keins von mir. Den neuen Steuerbescheid hat er selbst übersehen, wahrscheinlich mit Absicht, und mich scheißt er dafür zusammen!«

»Etwa wieder vor Kunden?«, erkundigte sich Renate mitleidig.

»Eine Frau natürlich.« Manfred nickte erbost. »Was sonst. Das macht ihm doch am meisten Spaß, sich als edler Ritter aufzuspielen! Wenn ich dem im Dunkeln begegne – ich sag dir, der kann was erleben!«

Vetter sei der einzige Feminist im Amt, lästerten die Kollegen. Männern gegenüber zog er Ablehnungen knallhart durch, aber bei Frauen knickte er ein. Immer wieder.

»Manche sind so dumm, da muss man doch Mitleid haben!« So begründete er seine Nachgiebigkeit.

Manfred regte sich immer noch auf. »Und wie er dich immer angrapscht! Heute morgen auch wieder. So ein Ekelpaket!«

Renate fand den jungen Kollegen süß, besonders wenn er eifersüchtig war. Seit sie mit ihm das Büro teilte, machte die Arbeit Spaß. Sie konnten wunderbar über die Kollegen herziehen und über ihre Fälle lästern. Privates hingegen hatten sie bisher ausgeklammert.

Der nächste Kunde war für ihn. Als er Platz genommen hatte, verließ sie das Zimmer, um sich einen Kaffee zu holen.

Die Kaffeemaschine war dicht umlagert.

»Was war denn mit Manfred los?«, erkundigte sich neugierig Angelika Gehrken, die Empfangsdame, als Renate dazutrat. »Er kam wie gestochen aus Vetters Büro gerannt, und der hat noch was hinter ihm hergeschrien.«

Angelika entging nichts. Der Flur unterlag ihrer Kontrolle. Sie kannte jeden Kollegentratsch, und alle hörten ihr zu.

Renates knappe Antwort ging unter.

»Wahrscheinlich hat Vetter nur einen Dummen gesucht, der seine Scheiße ausbügelt!« Arnold drängte sich vor, der oft genug selbst herhalten musste. Er hieß Meurich mit Nachnamen, woraus alle, nicht nur Vetter, »Mäuserich« machten. Er hatte Humor genug, sich am Telefon, bei Hausgesprächen, mit dem Spitznamen zu melden, bei seiner Größe ein gelungener Gag.

»Hat einer gesehen, wie die Frau aussah?« Ernst Bremer hatte seinen Lacherfolg.

»Ich hab mich schon gewundert.« Angelika stieg darauf ein. »War gar nicht sein Typ. Sah nach nichts aus, so ’n Jeanstyp mit Lederjacke. Lila Schal, das sagt ja schon alles!«

Affektiert schüttelte sie die blonden Locken, zu denen sie heute Rosa trug. Wie ’ne ältliche Barbiepuppe, dachte Renate boshaft.

»’ne Alternative!«, tönte Bremer. »Die packt er doch nicht mit der Kneifzange an! Da gefällt ihm unser quickes Sternchen hier viel besser, oder nicht?«

Geschickt entwand sie sich seinem Griff. Viel angenehmer als Vetter war Kollege Bremer auch nicht.

»Wisst ihr, dass Walburga ihn demnächst mit zur Pressekonferenz nimmt?« Woher wusste Angelika das schon wieder? »Weil sie einen Fachmann dabei haben will. Er ist natürlich stolz wie Oskar!«

Arnold unterbrach sie wütend. »Ausgerechnet den! Die spinnt ja wohl! Bloß weil er sich bei ihr einschleimt, der Blödmann! Der hat doch keine Ahnung …«

»Genau«, stimmte Jochen zu, der sich bisher stumm an seiner Kaffeetasse festgehalten hatte. »Keine Ahnung, das ist das Stichwort. Ob er hinter den Weibern her ist, kann uns egal sein.«

Alle schauten ihn mitleidig an. Vetter hatte im letzten Jahr auf dem Betriebsfest etwas mit seiner Frau angefangen. Niemand wusste, ob er es je erfahren hatte.

»Er hat keine Ahnung!«, wiederholte er halsstarrig. Bremer kicherte anzüglich. Jochen sah ihn irritiert an, sprach aber weiter. »Dauernd schiebt er uns seinen Mist in die Schuhe! So was nennt man Mobbing, wisst ihr das? Vielleicht sollten wir das mal dem Personalrat erzählen!«

»Oder Walburga«, warf Arnold ein. »Damit sie mal mitkriegt, wer da dauernd auf ihrem Schoß sitzt!«

Was mit Manfred war, wollte niemand mehr wissen. Renate verließ mit zwei Kaffeebechern, einer für den Zimmergenossen, den Raum. Bevor der nächste Kunde kam, wollte sie dessen Akte lesen.

Bremer riss ihr die Tür auf. »Der kleine Koch hat ein Glück!«, stöhnte er.

***

Therese wanderte entlang der Bahnhofstraße zurück in die Stadt. Ihre Zufriedenheit hielt sich in Grenzen. So ein Mensch konnte einem den ganzen Tag verderben.

Nach dem überstandenen Eiskeller im vierten Stock der Arbeitsagentur war sie völlig durchfroren. Sie wickelte den Schal um den Kopf und ließ sich vom Westwind vorwärtstreiben. Wenigstens Rückenwind. Immer positiv denken, dachte sie ironisch.

Viel Grund dazu hatte sie nicht. Ihr eigener Kampf war überstanden – vorerst. Andere hatten ihn verloren, und eine sogar endgültig. Die Nachricht von Annettes Tod am Aschermittwoch hatte sie ziemlich mitgenommen. Der Unsympath eben hatte den Schock wieder voll aufgerührt.

Sie kannten sich aus alten Zeiten, und Therese hatte sich erst gefreut, als sie Annette im Arbeitslosenzentrum sah. Zusammen hatten sie im Internet nach Stellenangeboten geforscht. Doch die ehemalige Buchhändlerin hatte einen ziemlich verängstigten Eindruck gemacht.

Wenn sie mit solchen Typen zu tun hatte wie Vetter, in ihrer trostlosen Situation, war es kein Wunder, dass sie sich umgebracht hatte. Der Zettel war deutlich genug. Festgeklemmt zwischen Deckel und Tablettenröhrchen. »Hartz IV« hatte darauf gestanden. Nur das. Ihr Freund Lothar hatte es fotografiert.

Übermorgen war die Beerdigung, neun Uhr auf dem Ostfriedhof. Natürlich musste sie hin, trotz des schauerlichen katholischen Rituals und ebensolchen Wetters. Annette hatte Verwandte in Paderborn, auch ihre alte Mutter, die jetzt die Tochter unter die Erde bringen musste.

Der Selbstmord war durch alle Medien gegangen. Dafür hatte Lothar gesorgt mit seinen Verbindungen aus dem Verlag, wo er arbeitete. Nicht schön für die Familie!

Therese zog den Schal enger. Jetzt auch noch Schneetreiben. Besonders unangenehm auf dem zugigen Westerntor. Bis zur Westernstraße mit ihren schützenden Arkaden waren drei Ampeln zu überwinden. Natürlich alle rot.

Das Arbeitslosenzentrum, wo sie von ihrem Erfolg berichten wollte, war noch weit entfernt. Aber dort war es jetzt warm. Zu warm wahrscheinlich, und völlig verräuchert, sodass sie als Erstes immer die Fenster aufreißen musste. Genoss sie also den Weg durch die Stadt. Immerhin gab es in der Fußgängerzone frischere Luft als hier im Verkehrsgewühl.

Herrn Schneider vom Volksblatt brauchte sie nicht anzurufen. Der wusste schließlich von nichts.

***

»He, Herr Vetter«, rief es hinter ihm. »Ham Se ma ehm Zeit?«

Missmutig schaute Vetter über die Schulter hinweg den Flur entlang. Manieren hatten diese Arbeitslosen! Und ein Deutsch – damit kriegte der nie ’ne Stelle 

Abrupt blieb er stehen. Der ihn da verfolgte, brauchte keinen Job. Und kein Geld vom Amt. Obwohl er auch das mitnahm. »Kleines Taschengeld für die Blagen«, so tönte er, wenn sie im Hinterstübchen ihrer Kneipe zusammensaßen.

Vetter hatte ihn schon erwartet, wie jeden Montag. Den Gang zum Klo verschob er auf später. Lottmann durfte er nicht warten lassen. Wenn er ging, unverrichteter Dinge, konnte Vetter tagelang hinter der Kohle herlaufen, und was sollte er dann den Kollegen sagen?

Ohnehin würde er in Erklärungsnöte kommen.

Ergeben wanderte er den langen Weg zurück. Was tat man nicht alles, damit es der lieben Familie gut ging!

»Ja, dann kommen Sie mal, Herr Lottmann!« Augenzwinkernd hielt er dem Kunden die Bürotür auf. »Wolln mal sehen, wer Ihnen diesmal alles abgesagt hat.«

Die Scharade galt den Kollegen. Für sie war es eine besondere Schikane, dass Lottmann wöchentlich seine Eigenbemühungen um eine Arbeitsstelle nachzuweisen hatte.

»Den krieg ich an die Arbeit! Und wenn er jede Klinke im Bezirk putzt!«, drohte er gern, wenn die Rede auf den häufigen Besucher kam.

»Na, wie geht’s? Erfolgreiches Wochenende gehabt?« Nachdem Vetter sorgfältig die Tür geschlossen hatte, begrüßte er den alten Bekannten.

»Jau, muss ja woll, nä?«, antwortete Josef, von seinen Freunden Jüppi genannt. Sein künstliches Delbrücker Platt war kaum zu ertragen. »Is chelaufen, wie’s sollte, nä! Hätts ma ’n bisschen mehr investiern solln, dann wär auch mehr bei rumgekommn.«

Lottmann konnte natürlich reden, wie er wollte. Auf gutes Deutsch kam es in seinem Metier nicht an. Er machte trotzdem seinen Schnitt. Und er – Vetter – profitierte nicht schlecht davon.

Der vorgebliche Kunde zog einen Packen Papiere aus seiner weichen schwarzledernen Aktenmappe. Alles vom Feinsten. Kein Arbeitsloser war so gut gekleidet wie er. Und die Gattin behängte er mit Schmuck, dass es nur eine Art hatte. Vetters eigene kriegte Stielaugen, wenn sie sich trafen.

Musste ’ne Menge Geld abwerfen, das Geschäft, dachte er wie so oft. Von dem er in den letzten Jahren einen guten Anteil abgekriegt hatte. Aber er hatte immer noch nicht herausbekommen, wie es lief. Wer steckte so tief im Fußballgeschäft, dass er solche Tipps geben konnte? Oder hatten Lottmanns »Kumpels«, über die er nie mehr verlauten ließ, als dass sie »Geldsäcke« seien, etwa eigene Schiedsrichter laufen?

Vetter wusste längst, wer diese Kumpels waren. Oft genug hatten sie – Lottmann im Hintergrund – zusammen in der Zeitung gestanden. Manchmal überlegte er sich, am ganz großen Rad zu drehen und dem Obermacker ein bisschen mehr Geld abzuluchsen, als bei den Wetten herumkam. Er könnte damit drohen, den Spielkreis an die große Glocke zu hängen. Käme nicht gut, wo der Verein jeden Tag mit dieser Wettaffäre durch die Medien ging 

Er verkniff sich das hämische Grinsen und blätterte den Aktenstoß durch. Jeden Montag legte Jüppi ihm die gleichen angeblichen Bewerbungen vor, die er, falls plötzlich ein Kollege den Raum betrat, eingehend zu prüfen vorgab. Schnell zog er den weißen Umschlag heraus, der zwischen den letzten Seiten lag, und ließ ihn in der Schublade verschwinden.

»Sind nur dreizehn Riesen, sach ich ja.« Lottmann tat bedauernd. »War nich mehr drin. Wer nich waacht, der nich chewinnt, weißte ja, nä!«

Vetter überspielte die Enttäuschung. »Reicht schon. Nächstes Mal ist es wieder mehr.«

»Wenn es so weit kommt!« Der andere dämpfte seine Erwartungen. »Es is nich mehr so einfach, nä? Die passn auf wie die Schießhunde!«

Vetter winkte ab. »Die Jungs haben das Simulieren so lange geübt, denen glaubt man jede Schwalbe! Nichts hat man gemerkt im letzten Spiel, war doch wunderbar, oder?«

»Aber lass die ma noch ’n paar Schiris hopsnehmen, dann is ersma Sense.«

Jüppi gab wieder den Schwarzseher. Alle paar Wochen prophezeite er das Ende der Glückssträhne. Und dass er bald aussteigen werde. Aber das war alles gespielt, Vetter wusste es. Viel zu sehr genoss Lottmann seine Macht über den Wohlstand anderer. Liebte es, sie merken zu lassen, dass er als Einziger über die notwendigen Informationen verfügte. Und weigerte sich hartnäckig, seinen Tippgeber zu verraten.

Am besten auf das Spielchen eingehen, dachte Vetter. »Höchstens für ’n paar Wochen, Josef! Keiner will auf das Geld verzichten, glaub mir das. Und du am allerwenigsten!«

Es wäre nicht gut, wenn Lottmann ernst machte. Vetter wusste, dass er seine Schäfchen längst im Trockenen hatte. Der konnte jederzeit aussteigen. Aber er war auf das zusätzliche Einkommen angewiesen, er selbst mit seiner kostspieligen Familie, der es auch zu verdanken war, wenn er gleich den beteiligten Kollegen gegenüber ins Stottern kommen würde.

Wieder kochte hilfloser Zorn in ihm hoch. Hätte er bloß ein neues Versteck gesucht! Er hätte sich denken können, dass Georg, sein missratener Sohn, längst herausbekommen hatte, wo das Geld lag.

Sein Gegenüber mimte Besorgnis. »Ich bin erledigt, wenn die Jungs nicht mehr mitspielen! Was meinst du, was ich für ein Risiko habe!«

Wenn Lottmann hochdeutsch sprach, log er.

Er verbreitete sich darüber, was alles passieren konnte. Vetter kam der Verdacht, dass er ausgebootet werden sollte. Klammheimlich und hinten herum. Das war typisch Jüppi. Viel Gerede und nie ein klares Wort.

War ihm wahrscheinlich zu viel Risiko für den geringen Einsatz. Dabei hatte Vetter alle Konten geplündert, war bis ans Limit gegangen. Vera hatte ihn angegiftet: Für den Rest des Monats musste sie nun bei Aldi einkaufen, von ihrem eigenen Geld!

Sie sollte sich nicht so anstellen mit ihrem Geld. Was tat er denn mit seinem?

Das Wochenende über war Funkstille gewesen. Betont sparsame Mahlzeiten, kein Nachtisch, kein Kuchen. Wie bei seinen Kunden. Fast hatten sie ihm leidgetan.

Von den paar Scheinen im Umschlag konnte er kaum welche für sich behalten. Die musste er an die Kollegen auszahlen, damit er an eine halbwegs glaubhafte Quote heranreichte. Bremer war schon beim letzten Mal misstrauisch geworden, als er behauptet hatte, zu viele Mitspieler hätten auf den krassen Außenseiter gesetzt.

Was sollte er diesmal sagen? Er habe die falschen Spiele ausgesucht? Lange glaubten sie ihm die Insidertipps nicht mehr, über die er angeblich verfügte.

Ohne Jüppi konnte er einpacken. Und der sprach nur über richtiges Geld, nicht über Peanuts, wie er Vetters Einsätze nannte.

Er hätte Georg längst vor die Tür setzen sollen. Veras Tränen ignorieren. Wenn er das nur könnte 

»Jetzt mal nicht den Teufel an die Wand!« Genervt unterbrach er Lottmanns Geschwätz. »Irgendwo läuft immer was, das sagst du doch dauernd. Hast du nun die Verbindungen oder hast du sie nicht? Gib mir ’n ordentlichen Tipp, dann treibe ich auch die entsprechenden Einsätze auf. Neues Spiel, neues Glück!«

»Is ja wahr, nä?« So richtig schlau wurde man aus Jüppi nicht. Er packte seine Unterlagen wieder ein und ging zur Tür.

»Bis Freitag bei Karlie«, nuschelte er zum Abschied.

»Ruf mich an, wenn du was hörst!«, rief Vetter ihm gedämpft nach, als er schon halb zur Tür hinaus war.

Irgendwie musste er zu Geld kommen. Vielleicht doch den Großkotz anrufen?

Wieder mal zu voll, der Becher. Angelika lernte es nicht. Wie sah das denn aus, wenn er über den Flur schlich, damit der Kaffee nicht überschwappte!

Im Gehen versuchte Vetter einen Schluck abzutrinken. Viel zu heiß war er auch.

Umständlich fingerte er das Schlüsselbund aus der Tasche des braunen Sakkos. Jetzt nicht noch plempern! Er schaffte es bis zum Schreibtisch. Beim Abstellen allerdings spritzte es doch. Auf die Infoblätter.

Die waren nun ein Fall für Ablage P. Egal. Sie hatten genug davon.

Zum Kaffee ein Zigarettchen, schwer verdient. Der kleine Rundgang hatte Nerven gekostet. Aber die Kollegen hatten die Show geglaubt. Sich sogar über den Geldsegen gefreut! Was er zum Anlass genommen hatte, bei den übrigen für sich selbst doch etwas abzuzweigen. Nur Bremer hatte den vollen Anteil bekommen. Der surfte ihm zu viel im Internet herum.

Die anderen ahnten nicht mal, was im Pott war! Und wie hoch ihr Anteil gewesen wäre, wenn er die eingesammelten zehn Riesen hätte setzen können. Die waren froh, wenn sie ihren Einsatz herausbekamen und noch ein paar Euro drauf. Sollten sie doch Lotto spielen!

Hoffentlich ließen sie wenigstens das Geld liegen für das nächste Mal. Lottmann rief bestimmt die Tage an.

Woher wollte er dann seinen Einsatz nehmen?

Er musste mit Vera reden. Für die Sparbücher brauchte er ihre Unterschrift. Aber erst mal für gut Wetter sorgen. Mit den Scheinchen in seiner Tasche sollte das wohl gelingen.

***

Ernst Bremer stand am Kopierer und lauerte auf Kollegen. »Na, zufrieden mit der Auszahlung?«

»Du etwa nicht?«, fragte Jochen zurück. »Zweihundert Euro sind doch ein gutes Zubrot.«

»Kommt drauf an, was man gesetzt hat …«

»Na, tausend, wie immer«, verriet Jochen, Konspiration im Blick. »Mehr kann ich nicht riskieren. Du weißt ja, meine Alte – bescheiden ist sie nicht, das kann ich dir sagen …«

Bremer ging nicht auf seine Klage ein und kopierte weiter. Frustriert drehte Jochen ab und betrat sein Büro.

Bremer sah seinen Verdacht bestätigt. Der Kollege hatte den anderen weniger ausgezahlt als ihm. Wie viel er wohl insgesamt unterschlagen hatte? Auch sein Anteil war zu gering. Es musste viel mehr im Pott sein. Seit dem großen Gewinn im letzten August, mit dem Vetter sie alle geködert hatte, waren nur kleine Summen herausgekommen. Jetzt wusste man auch, warum der Paderborner Verein – unvermutet und unverdient – gegen die Hamburger gewonnen hatte. Konnte man wohl nicht jede Woche machen 

Vetter sollte ihm bloß nicht noch mal mit Geld kommen, der Schleimscheißer.

***

Es klopfte. »Herr Vetter?«

Kollege Koch. Sah doch wohl, dass er beschäftigt war!

Umständlich speicherte er das Formular und wandte sich dem Eindringling zu.

»Was gibt’s, Koch? Probleme?«

»Nein, nein. Alles in Ordnung!«

Das glaubte er doch selbst nicht.

»Wegen heute Morgen, Herr Vetter. Der Fall mit dem Steuerbescheid …«

Natürlich wusste er, wovon der Mitarbeiter sprach. Trotzdem schaute er fragend.

Koch wand sich. Bestimmt wollte er pampig werden wegen des Anpfiffs. Traute sich aber nicht. Hasenfuß. Warmduscher.

Endlich fasste er sich ein Herz und platzte heraus: »Was ich sagen wollte, Herr Vetter: So toll fand ich das nicht, vor der Kundin! Sie haben sich da im Ton vergriffen! Wenn ich einen Fehler gemacht habe, hätten Sie mir das auch später sagen können …«

Vetter unterbrach ihn mit einem tiefen Seufzer und verdrehte die Augen. Koch hatte nicht mal gemerkt, dass er den Fall gar nicht bearbeitet hatte. Er stand auf und ging auf den Kollegen zu, die ausgestreckte Hand haarscharf an dessen Arm vorbei.

»Aber Herr Koch! Das war doch nicht so gemeint! Nun sein Sie mal nicht empfindlich! Sollte ich denn vor der Kundin den Fall mit Ihnen diskutieren? Was hätte die denn wohl von uns gedacht!«

Um der Berührung zu entgehen, drehte Koch sich wie gewünscht zur Tür. Einfach weiterreden, dann war er ihn gleich los.

»Das müssen Sie verstehen, lieber Kollege! Da muss man doch die Autorität des Amts wahren, nicht wahr? Nehmen Sie’s nicht persönlich, ich bitte Sie! Seinerzeit war das ganz richtig, was Sie gemacht haben. Aber eben nur seinerzeit …«

So. Die Tür war zu.

Heute schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben. Vera mit ihrem Gejammer, und dann noch dieses Weichei! Von Walburga, Lottmann und ein paar nervtötenden Fällen ganz abgesehen.

Er schaute auf die Rolex. Geschenk von Vera, von seinem Geld. Zwölf Uhr. Ihm reichte es jetzt schon. Fing ja gut an, die Woche!

***

Punkt zwölf stand Therese vor dem Arbeitslosenzentrum. Wer im Ükern lebte, konnte die Zeit nicht verpassen. Alle Viertelstunde schlug im Turm hoch über dem alten Stadtviertel die Domuhr. Nicht zu überhören. Wie die Glocken, die jetzt einsetzten. Glockengeläut und Regen, das war es, was nach Meinung vieler Auswärtiger die Stadt prägte. Manchmal hatten sie sogar recht.

Das Zentrum hatte seine Räume in einem der letzten Altbauten der Innenstadt, hinter einer Fassade aus dem späten neunzehnten Jahrhundert mit neobarocken Verzierungen. Prachtvoll. Genau der richtige Rahmen für Arbeitslose.

Vor dem Haus wuchs Gras. Und Löwenzahn. Therese freute sich über das unausrottbare Grün zwischen den eng gesetzten Pflastersteinen.

Offensichtlich war sie die Einzige. Aus dem Pulk Sparkassenangestellter, der gerade, als sie klingelte, die Hathumarstraße überquerte, fielen missbilligende Blicke erst auf den »Vorgarten«, dann auf sie. Alternative waren den fein gemachten Bänkern nicht geheuer. Stumm liefen sie vorbei. Irgendwann würde es auch ihre Arbeitsstellen treffen.

Thomas Dalhoff, ehrenamtlicher »Arbeitslosenchef«, wie ihn die Presse nannte, öffnete ihr die Tür, ohne seinen Vortrag zu unterbrechen. Seine sonore Stimme war rundum zu hören, und erschreckt drehten sich die Büromenschen um. Kein Wunder. »Wir sollten denen Feuer unterm Hintern machen!«, hatte er gerade verlangt und erzählte nun, wie er schon am frühen Morgen bei der Agentur mit einem Widerspruch abgeblitzt war.

Sie folgte ihm hinein. Im kleinen Café hatte Fritz die kurze Abwesenheit Dalhoffs genutzt, sein Lieblingsthema einzubringen. Fußball. Der Wettskandal war in aller Munde. Ein Spiel zwischen dem großen Hamburger Sportverein und der unbedeutenden Paderborner Union sollte vom Schiedsrichter beeinflusst worden sein. Paderborn hatte gesiegt, gegen alle Erwartungen. Nutznießer waren ein paar Zocker gewesen, die auf den krassen Außenseiter gesetzt hatten, war aus den Medien zu erfahren.

Manuel, ein junger Italiener, packte zusammen. Um viertel nach zwölf hatte er einen Termin in der Arbeitsagentur, beim gleichen Sachbearbeiter wie Therese. Thomas kannte Vetter ebenfalls und hatte angeboten, ihn zu begleiten.

Fritz machte den Abwasch. Er war ein perfekter Hausmann, was die Besucherinnen zum Schwärmen brachte. Einige hatten ihm schöne Augen gemacht, trotz seiner kompakten Figur und eines kleinen Alkoholproblems, aber er wehrte alle Annäherungsversuche ab.

Die Frauen waren unter sich. Aus dem Kinderwagen, der gerade noch kreischende Misstöne von sich gegeben hatte, drang, nachdem Andrea eine Nuckelflasche mit rosa gefärbtem Inhalt hineingereicht hatte, zufriedenes Glucksen.

Therese erzählte bei einem Kaffee, wie sie Vetter am Morgen »überzeugt« hatte und wie er anschließend seinen Kollegen zur Schnecke gemacht hatte.

»Der Mann lebt gefährlich«, kommentierte Karin ihren Bericht. »Hoffentlich packt Thomas den gleich nicht beim Kragen!«

***

Plopp.

Suchend sah Thomas sich um. Merkwürdiges Geräusch. Ein Unfall? Reifen hatten nicht gequietscht. Und Blech auf Blech war das nicht. Hörte sich an wie ein überfahrener Kartoffelsack, vielleicht sogar ein Mensch 

Manuel hatte es ebenfalls gehört, machte ein fragendes Gesicht, zuckte mit den Schultern. Der unentwegte Montagsdemonstrant schaute angestrengt zum Bahnhof hinüber. Hatte es dort gekracht?

Sie stiegen die paar Stufen zur Arbeitsagentur hinauf. Von hier aus hatten sie mehr Überblick. Aber nichts war zu sehen. Keine querstehenden Autos, kein Menschenauflauf.

Auf der Kunst-Keule vor der Fassade lag etwas Braunes. Ob ein Ast oder ein unförmiger Sack, war nicht zu erkennen. Sah aus, als ob es immer schon da gelegen hätte.

Kopfschüttelnd betraten sie das Amt. Vetter wartete auf sie. Besser, sie gaben ihm nicht gleich Grund, sich zu ärgern.

Der Sachbearbeiter war jedoch nicht da. Sein Zimmer war leer. Nebenan war er auch nicht. Ein Kollege erkannte Thomas – oft genug hatte er in der Zeitung gestanden – und suchte nun den ganzen Flur ab. Guckte sogar auf dem Klo nach: Vetter war nicht aufzutreiben.

Der hilfreiche Mitarbeiter ging noch einmal in dessen Zimmer und schaute auf den Terminkalender.

»Er hat Sie eingetragen!«, rief er triumphierend Manuel zu. »Zwölf Uhr fünfzehn. Dann wird er sicherlich gleich kommen.«

Durch das offene Fenster waren Sirenen zu hören. Anscheinend doch ein Unfall.

Thomas und Manuel setzten sich auf den Flur. Gingen noch einmal Manuels Widerspruch durch. Sprachen über dies und jenes.

Vetters Büro blieb verwaist.

Thomas regte sich auf. »Gleich halb eins! Was denkt der sich? Als ob wir nichts Besseres zu tun hätten, als uns hier den Hintern platt zu sitzen!«

Aufgebracht stürmte er noch einmal ins Nachbarzimmer. »Wenn Ihr Kollege nicht bald auftaucht«, dröhnte er, »dann will ich den Abteilungsleiter sprechen! Sie müssen sich nicht einbilden, dass wir uns alles gefallen lassen, nur weil wir arbeitslos sind!«

Manuel versuchte ihn zu beschwichtigen und zog ihn an der Jacke zurück. Thomas polterte ungerührt weiter. Der Sachbearbeiter stand auf und versuchte ihn hinauszudrängen. Seine Kollegin schaute verschreckt.

In dem Moment öffneten sich die Türen zu beiden Seiten des Flurs. Plötzlich war alles grün. Polizisten liefen auf die Tür zu, die Thomas gerade schimpfend zuknallte.

Einer zog die Pistole.

»Bleiben Sie stehen, Dalhoff!«, rief der Beamte mit überkippender Stimme. »Es hat keinen Zweck. Hier kommen Sie nicht mehr raus!«

Thomas war viel zu verdutzt, um an Flucht zu denken. Was sollte das? So ein Aufwand wegen dem bisschen Gemaule? Er war doch kaum laut geworden!

Schon hatte ihm der Beamte Handschellen angelegt. Ein anderer drehte dem sich wehrenden Manuel die Hände auf den Rücken.

Sprachlos schaute Thomas auf die Fesseln. Sollte das ein Witz sein? Schlüter kannte ihn doch! Im letzten Herbst hatten sie jeden Montag zusammen auf der Straße gestanden, Thomas als Demoleitung, der Polizist als Vertreter der Ordnungsmacht. Es hatte nie Probleme gegeben.

Plötzlich zeigte Schlüter Härte. Übertriebene Härte. Das musste er sich nicht gefallen lassen.