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  Marco Rota– Cache Hunters– Die Jagd nach den sieben Siegeln

ISBN 978-3-417-22875-5 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI books, Leck

© 2017 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten

Umschlaggestaltung und -Illustration:

Inhalt

Über den Autor

Eine große Entdeckung

Im Schlund des Drachen

Das zweite Siegel

Drachengeflüster

Spurensuche

Im Revier der Drachenflüsterer

Neue Hinweise

Das Versteck

Vier Freunde

Rachepläne

Am Lagerfeuer

Entdeckt!

Sternenhimmel

Verfolgungsjagd

Licht in der Dunkelheit

Verräter

Neue Hoffnung

Wieder im Rennen

Das siebte Siegel

Der Schlüssel

Begriffserklärungen

Wissenswertes

Auch du kannst ein Geocacher werden!

Wenn du beim Lesen über Wörter stolperst, die du nicht kennst, schau doch mal in den Begriffserklärungen nach!

Über den Autor

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Marco Rota, geboren 1987, schrieb mit 16 Jahren sein erstes Kinderbuch. Er studierte Theologie und arbeitete als Jugendpfarrer. Später wurde er Chefredakteur einer Kinderzeitschrift und studierte Journalismus. Heute ist er Redakteur bei Radio Life Channel, schreibt Kinderbücher und produziert Geschichten für Zeitschriften, Theater und Videos. Mit seiner Familie lebt er in der Schweiz, in der Region Zürich.

Website des Autors:
www.marco-rota.com

Eine große Entdeckung

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Kabuki hörte die sirrende Fahrradkette und umklammerte fest den Lenker, als er über den holprigen Weg fuhr. Der Fahrtwind blies durch seine Locken.

Ja, so fühlte sich Freiheit an! sechs Wochen Sommerferien, ohne Stunden im grauen Betonbunker namens Schule abzusitzen. Ohne die zeitraubenden Hausaufgaben, die ihn wie ein Sklave an den Küchentisch fesselten.

Er wechselte in den lang ersehnten Ferienmodus. Endlich hatten Natu und er genug Zeit für ihr Hobby Geocaching*. Sie liebten es, auf elektronische Schatzsuche zu gehen. Die Koordinaten dafür fanden sie im Internet auf Geocaching-Webseiten. Und dann hieß es: Raus in die Natur oder auch ins Stadtzentrum, um »Schätze« zu finden, die andere Geocacher versteckten. Es machte Spaß, solche Caches zu suchen. Und heute hatten sie eine echte Chance, einen Cache als Erste zu entdecken!

Kabuki blickte nach hinten und sah Natu, der hechelnd und mit beschlagener Brille versuchte, mit ihm Schritt zu halten. »Beeil dich! Sonst ist Weihnachten, bis wir unser Ziel erreichen und unseren ersten First to find finden.«

Kabuki hatte schon viele Caches gefunden, aber er freute sich auf die große Herausforderung, der Erste zu sein, der diesen Cache fand.

Eigentlich hatte sein bester Freund eine viel bessere Kondition als er. Aber der überladene Rucksack, in dem die Ausrüstung steckte, zog ihn wie ein starker Sog zurück. Natu trat prustend in die Pedale.

Als Kabuki wieder nach vorne blickte, machte er eine Vollbremsung und hielt erschrocken am Wegrand an. Er wartete, bis Natu neben ihm zum Stehen kam.

»Ist dein Navigationsgehirn kaputt? Weißt du, was das ist?« Kabuki zeigte auf den Wald, der sich ein paar hundert Meter vor ihnen erstreckte. »Da vorne beginnt das Gebiet der Drachenflüsterer!«

Natu wischte sich mit dem Ärmel seiner giftgrünen Fleecejacke den Schweiß von der Stirn und putzte seine Brille. Als er sie wieder aufsetzte, war sie noch verschmierter als vorher. »Hey! Wer ist hier das Orientierungsgenie? Ich oder ich?«, lachte er und blickte auf sein Smartphone. »Gleich da vorne geht ein schmaler Pfad links zum See hinunter. Der Kiesweg führt dann direkt in den Wald.«

»Hallo-ho!« Kabuki tippte mit dem Finger an seine Stirn. »Drachenflüsterer! Die machen uns platt, wenn sie uns in ihrem Revier entdecken. Ich will so was nicht noch einmal erleben.« Er zeigte Natu die fingerlange Narbe an seinem Handgelenk.

Natu winkte ab. »Keine Sorge. Ich kenne eine Abkürzung. Die führt vom See quer durch den Wald. Aber ein Kinderspiel wird es nicht.«

Kabuki nickte. »Egal, alles ist angenehmer, als den Drachenflüsterern zu begegnen.«

Er stellte seinen Fuß auf die Pedale und fuhr davon.

»Hey, warte doch!«, hörte er seinen Freund rufen, aber er radelte weiter, vorbei an Kühen, die auf einer Weide grasten. Zwischen den Feldern bog er links in den schmalen Pfad hinein. Verflixt! Der war wirklich eng. Kabuki verringerte die Geschwindigkeit und konzentrierte sich auf die Strecke, bis er bei dem breiteren steinigen Weg unten am See ankam.

Völlig überraschend tauchten Skater und Fußgänger vor ihm auf, die er nicht bemerkt hatte, weil er sich so sehr auf den Pfad fixiert hatte. Erschrocken balancierte er sein Gleichgewicht mit dem Fahrradlenker aus und fuhr vorsichtig weiter, an den Bäumen vorbei, die ihre Schatten auf den Weg warfen. Ein kurzer Blick über die Schulter verriet ihm, dass Natu hinter ihm war. Die Bäume wurden immer dichter und der Weg führte in einen kleinen Wald.

»In fünfzig Metern kommt ein Bach, der in den See mündet. Dem müssen wir aufwärts folgen.« Natu blickte zur Kontrolle auf sein Smartphone, das mit einer Halterung am Lenker befestigt war.

Kabuki entdeckte den Bach, der sich durch das Wäldchen schlängelte. Er lehnte sein Fahrrad an einen Baum.

»Noch knapp dreißig Meter bis zum Cache.«

Natu stellte sein Fahrrad gleich daneben ab, klappte den Ständer nach unten, nahm den dick gepackten Rucksack von der Schulter und fischte aus dem obersten Außenfach ein spiralförmiges Schloss, das er um die Speichen legte.

»Das klaut schon niemand«, schmunzelte Kabuki kopfschüttelnd.

»Sicher ist sicher.«

Natu verstaute den winzigen Schlüssel in einem der gefühlten fünfzig Innenfächer seines Rucksacks.

Kabuki ging am Bach entlang und beobachtete die Umgebung genau, während Natu neben ihm Schritt hielt und starr auf sein Smartphone blickte. Hier gab es keinen Weg mehr, sie stapften quer durch den Wald.

»Verflixte Dornen!« Kabuki fuhr sich über die zerkratzten Beine. Er versuchte, die stacheligen Ranken niederzutrampeln. Vielleicht hätte er doch lange Hosen anziehen sollen. Die Dornen rissen ihm auch die Haut an seinen Schultern auf, die nicht bedeckt waren, da er ein ärmelloses Shirt trug.

»Gute Ausrüstung ist immer noch nicht deine Stärke, was?« Natu hatte mit seiner Fleecejacke und den langen Cargohosen gut lachen.

»Man kann nicht in allem gut sein. Außerdem brauche ich dich ja noch für irgendetwas«, konterte Kabuki, während er nacheinander seine Schuhe auszog, um sie von spitzen Steinen und grober Erde zu befreien. »Bist du überhaupt sicher, dass wir hier richtig sind?«

»Hey, ich kenne die Abkürzungen in dieser Gegend. Schließlich ist das mein Spezialgebiet.« Natu zeigte mit der Hand geradeaus auf eine alte Holzbrücke, die über den Bach führte. »Siehst du?«

Kabuki eilte sofort zu der Brücke, die ziemlich modrig aussah, ohne auf Brennnesseln und Dornenranken zu achten. Er kletterte den steilen Abhang hinauf und warf ein paar flüchtige Blicke über und unter das moosbewachsene Geländer.

»Der Cache ist ein Nano«, sagte Natu völlig außer Atem, als er auch bei der Brücke ankam und noch einmal einen Blick auf sein Smartphone geworfen hatte.

Ein Nano war ein besonders kleiner Cache, etwa so groß wie eine Walderdbeere. Aber natürlich war er nicht leuchtend rot und so war dieser Nano wie die berühmte Nadel im Heuhaufen. Die Brücke bot unglaublich viele Verstecke, die man nicht auf Anhieb erkennen konnte.

Vorsichtig griff Kabuki unters Geländer, in der Hoffnung, den Cache zu ertasten. Danach kontrollierte er die löchrigen Bretter, jedes einzeln, aber doch mit einer gewissen Routine. Schließlich war es nicht die erste Brücke in seiner Geocaching-Karriere, die er genau inspizierte.

Sein Navigator las in der Beschreibung auf dem Smartphone, was der Owner, der Eigentümer des Cache, geschrieben hatte. »Da steht: Mach dich nicht nass! Das ist der einzige Hinweis.« Natu blickte von seinem Smartphone auf. »Ob er im Wasser versteckt ist?«

Kabuki schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Sonst wäre der Hinweis anders geschrieben.«

Plötzlich hörte er Fahrräder, die knirschend über die Steinchen des Waldwegs fuhren, direkt auf die Brücke zu. »In Deckung!« Kabuki stieg über die Brüstung der Brücke und sprang ins Gebüsch, Natu tat es ihm nach.

»Autsch!« Spitze Äste bohrten sich in seine Haut. Sofort hechtete er weiter. Die beiden Freunde versteckten sich unterhalb der alten Brücke, dort wo die Bretter am dichtesten lagen.

Zwei Personen hielten mitten auf der Brücke an. Durch die Löcher in den Brettern erkannte Kabuki Nemirna und ihren jüngeren Bruder Duracell.

Natu sah ihn an und seine Lippen formten lautlos: »Drachen-flüs-ter-er.« Kabuki nickte.

Verflixt! Wenn sie entdeckt würden, wäre alles umsonst gewesen. Dann könnten sie sich nicht als erste Finder im Logbuch eintragen. Und was noch viel schlimmer wäre: Lax wüsste, dass sie in seinem Gebiet nach einem Geocache gesucht hatten. Und mit Lax war nicht zu spaßen.

Kabukis Herz pochte und er hielt den Atem an. Fieberhaft überlegte er, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen könnten. Plötzlich bemerkte er einen Punkt unter der Brücke. Er sah genauer hin.

»Du kleines Biest«, dachte er.

Er fühlte sich ganz kribbelig, aber die beiden Jungen blieben trotzdem noch eine Weile angespannt unter der Brücke liegen. Sie versuchten keine Geräusche zu machen, kaum zu atmen und einfach nur still zu sein. Das konnten beide gut. Unauffällig sein war etwas, das man beim Geocachen brauchte.

Duracell meinte: »Glaubst du wirklich, dass heute jemand herkommt?«

Nemirna erwiderte: »Vielleicht. Aber lass uns lieber noch den Weg weiter unten absuchen. Da waren wir noch nicht.«

Duracell schien einverstanden, denn kurz darauf stiegen die beiden Drachenflüsterer auf ihre Fahrräder und düsten davon. Erleichtert atmete Kabuki auf und stürzte sich dann gleich auf den auffälligen Punkt, den er unter der Brücke entdeckt hatte. Aus einem kleinen Loch zog er eine Schraube heraus.

»Das ist der Cache!« Kabuki drehte die Schraube in seinen Händen. »Ein perfekt getarnter Nano, siehst du?« Er hielt Natu den Cache direkt vors Gesicht.

Natu schob Kabukis Hand von seinem Gesicht weg. »Jaja, schon gut. Und wie hast du ihn entdeckt?«

»Schau sie dir doch mal an.« Er zeigte auf die anderen Schrauben, mit denen die Bretter befestigt waren. »Diese hier«, er hielt sie nochmals vor Natus Gesicht, »passt da überhaupt nicht rein. Sie sieht ganz anders aus, siehst du?« Der Unterschied war gering, aber Natu erkannte, was Kabuki meinte. Die anderen Schrauben waren leicht rostig, weil sie schon länger in der Brücke steckten.

Kabuki drehte den Kopf der Schraube vom Gewinde ab. Darunter erkannte er einen zusammengerollten Zettel. Das Logbuch!

Kabuki schlug den unteren Teil der Schraube auf seinen Oberschenkel. »Verflixt! Warum kommt das Ding nicht raus?«

»Warte! Es sitzt zu tief drin.« Natu öffnete ein Seitenfach seines Rucksacks und zauberte eine Pinzette hervor.

»Danke.« Vorsichtig versuchte Kabuki, das Logbuch mit der Pinzette zu greifen. Es klappte nicht beim ersten Mal, was seine Geduld strapazierte, doch nach ein paar Anläufen klappte es und er zog es langsam aus dem Gewinde heraus. Behutsam entfaltete er das Papier. »Boah! Da hat sich wirklich noch niemand eingetragen.«

Geschafft! Das war ihr erster First to find. Kabuki griff in seine Hosentasche und fischte daraus das einzige Utensil heraus, das er immer bei sich trug: einen zusammenklappbaren Kugelschreiber, mit dem er sich ins Logbuch eintragen wollte.

»Hey! Halt! Wieso darfst du dich zuerst eintragen?«, protestierte Natu und riss ihm den Kugelschreiber aus den Händen.

»Ganz einfach. Weil ich den Cache zuerst gefunden habe.«

»Ja, aber ohne mich hättest du den Weg nicht gefunden.« Er hielt den Kugelschreiber mit beiden Händen fest, wie einen großen Schatz, damit Kabuki ihm diesen nicht wegnehmen konnte.

»Ja, klar. Aber das war doch schon immer so. Ich suche die Caches, ich trage mich als Erster ein und du bist der Navigator.«

»Bei den anderen Caches bin ich einverstanden. Aber das ist ein First to find! Das ist was ganz Besonderes. Und deshalb bin ich dafür, dass ich mich zuerst eintragen darf.«

»Jetzt sei doch kein Spielverderber! Schließlich war es meine Idee, dass wir den First to find suchen.« Kabuki streckte die Hand aus und forderte den Kugelschreiber zurück.

»Na gut, dann machen wir Schere, Stein, Papier.«

»Ach, das ist doch Kinderkram!«

»Vielleicht, aber es ist fair. Wenn du gewinnst, bekommst du den Kugelschreiber zurück und darfst dich eintragen.« Natu grinste. »So wie ich dich kenne, hast du ja sowieso keinen Ersatzkugelschreiber dabei, habe ich recht?«

Kabuki atmete tief ein und aus.

»Einverstanden.«

Er versteckte seinen rechten Arm hinter dem Rücken. Mit Papier würde er sicher gewinnen, denn Natu nahm immer Stein. »Schere, Stein, Papier!«, rief er zusammen mit Natu und beide streckten die Hände aus.

»Nein!«

Sein Papier verlor gegen Natus Schere.

»Wieso hast du Schere genommen?«, fragte Kabuki verärgert.

»Weil du immer Papier nimmst«, grinste Natu, nahm das Logbuch, klappte den Kugelschreiber aus und trug sich in die erste Zeile ein.

»Na gut, aber dann logge ich ihn zuerst digital.« Ohne zu zögern, öffnete Kabuki die Geocaching-App und tippte auf das Gefunden-Feld. Er schrieb einen kurzen Text. Wow! Unser erster First to find! TFTC.

Diese Abkürzung bedeutete Thanks for the Cache, also Danke für den Cache.

Kaum hatte er die Nachricht gesendet und seinen 94. Cache eingetragen, geschah etwas Außergewöhnliches: In seinem Inventar blinkte ein neues Souvenir auf. Ein solches digitales Abzeichen war sehr selten und man erhielt es nur bei ausgewählten Caches. Kabuki hatte noch nie eines bekommen.

»Schau dir das an!« Aufgeregt zeigte er Natu das Smartphone.

»Das sieht aus wie ein Abzeichen eines Siegelrings.« Natu rückte seine Brille zurecht und sah das Souvenir neugierig an. »Wie Könige sie früher benutzt haben.«

»Könige? Klingt nach einem großen Schatz.« Kabuki betrachtete das rote Wachssiegel, das die Form eines sechszackigen Sterns hatte und in dessen Mitte sich ein A befand.

»Was das A wohl bedeutet? Was steht in der Beschreibung?«

Als Kabuki auf das Bild des Siegels tippte, drehte es sich um die eigene Achse und ein kurzer Text erschien.

»Lüfte das Geheimnis der sieben Siegel«, las er vor. Das klang mächtig und geheimnisvoll. »Das Erste hast du bereits gefunden. Das zweite wartet im Schlund des Drachen auf dich.«

»Im Schlund des Drachen?« Natu blickte Kabuki mit großen Augen und offenem Mund an.

»Ja, da stehen Koordinaten.«

Schnell loggte Natu den Cache digital, während Kabuki sich im Logbuch eintrug.

»Bei mir erscheint das Souvenir auch.« Natu schien nicht überrascht, obwohl er nur der Zweite war, der den Cache loggte. Doch dann hielt er den Atem an.

»Und? Wohin führen die Koordinaten?« Als Kabuki Natus ängstlichen Blick sah, kannte er die Antwort bereits.

»Zur Drachenhöhle«, hauchte sein bester Freund. »Zum Herz der Drachenflüsterer.«

»Mist! Da können wir nicht einfach frisch-fröhlich reinspazieren. Wenn Lax uns mit seinen Leuten erwischt, können wir die Geocaches von unten suchen.«

»Wenn wir auf dem normalen Weg bleiben, schon«, entgegnete Natu langsam.

Er stand auf und schulterte seinen Rucksack. Er hatte eine Idee, das spürte Kabuki. So wie er seinen Navigator kannte, war es die rettende Idee.

»Es gibt noch einen anderen Weg, der in die Höhle führt. Aber der ist gefährlich«, erklärte Natu.

»Gefährlicher als die Drachenflüsterer?«

»Kommt darauf an. Wenn wir dem Bach folgen, führt er uns direkt in den Schlund. Aber in den letzten Tagen hat es oft geregnet. Der Bach hat bestimmt viel Wasser. Das wird nicht einfach.«

»Ein echtes Abenteuer ist niemals einfach.« Kabuki streckte ihm die Hand zu einem High five hin. »Egal was passiert. Wir haben immer noch uns.«

»Wir haben immer noch uns«, antwortete Natu zögernd und schlug ein.

Sie deponierten die Schraube samt dem Logbuch wieder unter der Brücke und stiegen in den Bach. Das Wasser reichte ihnen knapp über die Knöchel. Beide behielten die Schuhe an, da sie barfuß nur langsam vorwärts gekommen wären. So waren auch die spitzen Steine, die sich im Wasser versteckten, kein Problem.

Das Bachbett führte immer tiefer in den Wald hinein. Der Abhang links und rechts wurde immer steiler, je weiter sie im kühlen Bach wanderten. Das Wasser war meist flach, doch an manchen Stellen wurde es tiefer. Mittlerweile reichte es Kabuki bis über die Knie.

»Bist du sicher, dass sie uns hier nicht entdecken?« Kabuki starrte zu den Bäumen, die immer dichter und größer schienen. Er stellte sich vor, wie die Drachenflüsterer hinter einem Busch lauerten und sie beobachteten.

»Keine Sorge. Meistens kommen sie ja nur am Bach vorbei, wenn sie den Weg zum Schrottplatz fahren.«

»Oder wenn sie auf Beutejagd sind.«

Ein Rauschen übertönte seine Worte. Wenige Meter vor ihnen war ein Wasserfall, der vielleicht zwei Köpfe über Kabuki seinen Anfang hatte. Das Wasser staute sich unterhalb, deshalb war es an dieser Stelle tiefer.

»Achtung! Jetzt kommt die heikle Stelle!« Kabuki marschierte in den gestauten Bereich.

»Kalt! Kalt! Kalt!«, wiederholte Kabuki zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Das Wasser ging ihm bis zur Hüfte. Bei Natu schwappte es sogar bis unter die Brust, da er etwas kleiner war. Er stand nun direkt unter der Anhöhe, wo es eine trockene Stelle gab und deponierte dort seinen Rucksack.

»Wenn du die Räuberleiter machst, schaffe ich es vielleicht nach oben«, meinte Natu.

Kabuki stellte sich neben ihn und wob die Finger ineinander, damit er seinen Freund hinaufhieven konnte. Er schaffte es so weit, dass sein Navigator trockene Steine erreichte, an denen er sich hochziehen konnte.

»Scheiße!« Kaum war er oben angekommen, drehte er sich um und sprang wieder hinunter. Er platschte ins Wasser.

»Was ist?« Kabuki zog ihn am T-Shirt aus dem Strom.

»Lauf! Wir müssen abhauen!« Er rang nach Luft, schnappte panisch seinen Rucksack und wankte durch das Wasser zu der flachen Stelle zurück.

»Hä? Bist du jetzt komplett durchgedreht?«

»Schnell! Sie kommen! Sie haben mich gesehen!«

Kabuki schwamm ebenfalls zurück ins flachere Wasser. Sein Freund eilte ihm voraus, aber da dieser den schweren Rucksack schleppte, hatte er ihn schnell wieder eingeholt.

Im Laufen blickte er über die Schulter zurück. Er erkannte zwei blonde Personen auf Fahrrädern. Als er genauer hinschaute, bemerkte er, dass es Duracell und Nemirna waren.

»Bleibt sofort stehen!«, hörte er sie rufen.

Kabuki und Natu rannten, was das Zeug hielt.

»Verflixt! Wieso haben sie dich entdeckt?«

»Oberhalb des Wasserfalls gibt es leider nicht viel Sichtschutz«, hechelte Natu. »Und leider ist da auch der Waldweg. Mach schon! Sie holen auf!«

»Die haben auch Fahrräder!« An der linken Seite spürte Kabuki ein Stechen, das mit jedem Atemzug stärker wurde. »Ich kann nicht mehr!«

»Du darfst jetzt nicht aufgeben!«

Kabuki blieb stehen, bückte sich nach vorne und hielt sich keuchend die Seite. Natu hielt an und kam zu ihm zurück.

»Weißt du was? Wir teilen uns auf«, keuchte Natu.

»Bist du bescheuert? Die sind zu zweit und sie haben Fahrräder. Das wird ein Kinderspiel für sie.«

»Nicht wenn wir quer durch den Wald laufen.«

Kabuki verstand, was Natu vorhatte.

»Du gehst auf der einen Seite des Abhangs hinauf, ich auf der anderen. Und dann verschwinden wir beide im Wald. Sie wissen ja nicht, dass wir zur Höhle wollen. Wir treffen uns dort.«

Ohne Kabukis Antwort abzuwarten, rannte Natu den Abhang hinauf, der an dieser Stelle nicht mehr so steil war. Dann verschwand er im Wald.

Sofort kletterte Kabuki auf allen vieren auf der anderen Seite hoch. Aber er glitt auf dem nassen, matschigen Boden aus und rutschte den halben Weg wieder nach unten.

Duracell ließ sein Fahrrad stehen und eilte die andere Seite hinunter, bis zum Bach. Als er ihn durchquerte, war Kabuki gerade oben angekommen und rannte in den Wald hinein.

Es dauerte eine Weile, bis Duracell ebenfalls oben war, und das verschaffte Kabuki Zeit. Er rannte an den moosbewachsenen Bäumen und dichten Büschen vorbei und sprang über Wurzeln. Die Dornen zerkratzten seine Beine, aber er blieb nicht stehen. Schließlich duckte er sich hinter einen Busch und hoffte, dort in Sicherheit zu sein. Mit dem Shirt wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Er versuchte, seinen Atem zu beruhigen, indem er die Hand auf seinen Bauch hielt. Dann hörte er, wie Duracell näherkam.

Im Schlund des Drachen

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Kabuki machte sich hinter dem dichten Busch ganz klein. Er spähte durch die verwobenen Äste und sah, wie Duracell suchend weiterging. Der Drachenflüsterer sah in alle Richtungen, auch nach oben in die Baumkronen, aber der Wald war sehr dicht und theoretisch bot jeder Baumstamm ein Versteck.

Kabuki schickte ein kleines Stoßgebet zum Himmel. »Bitte, lieber Gott, lass ihn weitergehen. Bitte, bitte, mach, dass er weitergeht.« Sein Herz pochte so laut, dass er befürchtete, Duracell könnte es hören. Aber der ging weiter, ohne ihn zu entdecken.

Kabuki wartete, bis er Duracell nicht mehr sehen konnte. Er überlegte, was er nun tun sollte. Sollte er es wagen, aufzustehen und so schnell, wie er konnte, zur Drachenhöhle zu laufen? Irgendwie beunruhigte es ihn, dass er Duracell nicht mehr im Blick hatte. Mit seinem grünen Pullover und den braunen, langen Hosen könnte er locker hinter einem Baum lauern. Ob Nemirna Natu erwischt hatte?

Einen Moment noch zögerte Kabuki. Dann holte er tief Luft. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Er musste versuchen, zur Höhle zu kommen, auch wenn er damit alles aufs Spiel setzte. Er wollte dieses Geheimnis der sieben Siegel lüften und herausfinden, was dahintersteckte. Die Neugier besiegte seine Angst.

Kabuki scannte die Umgebung nochmals genau ab. Niemand in Sicht. Er richtete sich auf und rannte los, quer durch den Wald, mitten durch das Dickicht. Die Äste verfingen sich in seinem Shirt, als wollten sie ihn zurückhalten. Doch sein Wille war stärker: sein Ziel, die Drachenhöhle zu erreichen. Er riss sich los und rannte entschlossen weiter. Mit den Armen schob er alles beiseite, was ihm in den Weg kam. Er lief, bis sich eine Ansammlung von Felsen vor ihm auftürmte, vor denen er ehrfürchtig stehen blieb. Kabuki musste den Kopf heben, damit er die gesamte Erhebung sehen konnte.

Vor ihm war ein gewaltiges Loch zwischen den Felsen. Das war er, der Schlund des Drachen, der ihn bald verschlucken würde. Kabuki näherte sich dem riesigen Eingang und suchte dort Schutz, damit er von den Drachenflüsterern nicht entdeckt wurde.

»Verflixt, wo bleibst du denn?« Ungeduldig blickte er auf sein Smartphone. Keine Nachricht und kein Anruf von Natu. Kaum hatte Kabuki auf den grünen Telefonhörer getippt, um ihn anzurufen, brach die Leitung zusammen. Kein Empfang.

Je länger Kabuki hier wartete, desto eher würde er entdeckt werden. Duracell würde ihn nicht mehr lange im Wald suchen und dann würde er bestimmt hierher kommen. Immerhin war die Drachenhöhle das Merkmal des Reviers der Drachenflüsterer, auch wenn sie nicht ihr Geheimversteck war. Vielmehr war sie ein Mahnmal, eine Warnung. Die Warnung, dieses Gebiet nicht zu betreten.

Schließlich entschied Kabuki, in die Höhle zu gehen, auch wenn er keine Ausrüstung bei sich hatte. Er tat ein paar Schritte hinein, dann tastete er sich vorsichtig an der rauen Wand entlang. Das Licht vom Eingang reichte nur ein paar Meter weit.

Die Tropfsteine an der Decke sahen im Halbdunkel aus wie die Zähne eines Drachen, die ihn aufzuspießen drohten. Der Fels war feucht und auf dem harten Boden waren Pfützen. Je weiter Kabuki ins Innere der Höhle schlich, desto dunk ler wurde es. Kabuki schauderte, als er die feuchte, glitschige Wand anfasste. Er hatte keine Ahnung, was er da berührte und ob vielleicht kleine Krabbeltiere dabei waren.

Dann machte der Weg einen Bogen und es war fast völlig finster. Ein Gedankenblitz rettete ihn aus der Dunkelheit. Er griff in die Hosentasche, zückte sein Smartphone und aktivierte die Taschenlampe. Ein fahler Lichtstrahl schenkte ihm Orientierung. Es roch modrig, wie in einem alten Keller. Der Durchgang war schmal und nicht sehr hoch, sodass Kabuki gebückt weiterging.

Nach einigen Metern mündete der Gang in einen großen Hohlraum. Kabuki blieb dicht an der Wand, damit er immer wusste, woher er gekommen war. Wenn er zum Ausgang wollte, musste er sich nur umdrehen und zurückgehen. Er leuchtete mit der Taschenlampe zur Decke. Die Tropfsteine sahen aus wie Skulpturen. Bei einigen meinte Kabuki, Fratzen zu erkennen, unheimliche Gesichter, die ihn beobachteten. So etwas Gruseliges hatte er noch bei keinem anderen Cache erlebt.

Plötzlich hörte Kabuki einen spitzen Schrei und eine Nanosekunde später warf ihn etwas zu Boden. Sein Smartphone rutschte ihm aus der Hand und landete mit dem Display nach unten neben einer Pfütze. Erleichtert registrierte Kabuki, dass die Taschenlampe weiterhin leuchtete, die Silikonschutzhülle hatte wohl dafür gesorgt, dass das Handy nicht zerbrochen war. Dann wurde er gepackt und auf den Rücken gedreht. Jemand setzte sich auf seinen Brustkorb schnürte ihm fast die Luft ab.

»Hey! Hau ab! Runter von mir!«

»Wer bist du?«, fragte der Angreifer, packte seine Arme und drückte sie auf den Boden. Er kam ganz nah an sein Gesicht.

»Dasselbe könnte ich dich fragen«, presste Kabuki hervor und versuchte, den anderen von sich runterzuwerfen.

»Wieso verfolgst du mich?« Die Stimme klang nicht nach Duracell, sie war heller. In dem schwachen Licht seiner Handy-Taschenlampe, das von der Höhlendecke reflektiert wurde, konnte Kabuki sehen, dass die Person eine Kapuze trug, die sie tief in die Stirn gezogen hatte.

Plötzlich wurde es heller, Licht huschte über die Wände. Jemand mit einer Taschenlampe hastete aus dem schmalen Gang, aus dem Kabuki vor Kurzem gekommen war. »Lass ihn in Ruhe!« Der Neuankömmling schubste die Gestalt von Kabukis Brustkorb.

Kabukis Lunge pumpte sich auf, aber er brauchte einen Moment, bis er sich wieder aufrichten konnte.

»Gott sei Dank, Natu!«, rief Kabuki aus.

Der Navigator leuchtete mit seiner LED-Taschenlampe direkt ins Gesicht des unbekannten Angreifers.

»Los! Zeig dich!«, zischte Natu mit zittriger Stimme.

Die Gestalt hielt eine Hand vors Gesicht und richtete sich langsam auf.

»Kannst du mal aufhören, mir ins Gesicht zu leuchten?«, schimpfte sie und zog die Kapuze ihrer dunkelgrünen Jacke nach hinten.

»Selma?« Ungläubig starrte Kabuki auf das Mädchen aus seiner Parallelklasse. »Was um alles in der Welt hast du in dieser Höhle verloren?«

Sie rieb sich den Schmutz von der Jacke und strich die blonden Locken, die in ihrem Gesicht klebten, nach hinten. »Nova«, korrigierte sie bestimmt. »Und ich denke, es macht mehr Sinn, wenn ich dich Kabuki nenne statt Florian. Und dich Natu statt Jan. Habe ich recht?«

»Du bist eine Geocacherin?«, fragte Kabuki verdattert.

»Wow. Blitzmerker«, erwiderte sie spöttisch. »Hier, das ist dir runtergefallen. Scheint noch ganz zu sein.« Sie gab Kabuki sein Smartphone zurück. Er sah auf das Display. Kein Spinnennetz. Erleichtert atmete er auf und schaltete die Taschenlampe aus.