Über Walter-Jörg Langbein

Walter-Jörg Langbein, 1954 geboren, hat evangelische Theologie studiert, bevor er freier Autor wurde. Er hat zahlreiche Sachbücher zu den Themen Religion und Bibel geschrieben. Im Aufbau Taschenbuch Verlag erschienen von ihm: »Das Sakrileg und die heiligen Frauen« sowie »Lexikon der biblischen Irrtümer«. Im Verlag Rütten & Loening legte er mit »Die Geheimnisse der sieben Weltreligionen« einen umfassenden Blick auf die großen Glaubensbekenntnisse vor.

Informationen zum Buch

Woran glauben die Menschen?

Fundiert und leicht verständlich – ein umfassender Blick auf die großen Religionen der Welt

Zu Beginn des dritten Jahrtausends verliert das Christentum stetig an Einfluß. Immer weniger Christen fühlen sich mit der Amtskirche verbunden. In dieser Zeit spiritueller Orientierungslosigkeit geraten zunehmend auch andere Religionen in den Fokus.

Walter-Jörg Langbein, Theologe und Religionswissenschaftler, stellt die sieben großen Religionen der Menschheit anschaulich vor. Dabei wendet er sich neben der christlichen Lehre nicht nur dem Judentum und dem Islam zu, die für Europa bereits prägend wirkten und wirken. Die Grundzüge von Buddhismus, Hinduismus sowie Taoismus und Konfuzianismus werden gleichberechtigt dargestellt. Langbein zeigt die vermittelnde Botschaft aller sieben Religionen: Der Mensch darf seine Verantwortung für das Leben nicht an eine höhere Instanz abgeben. Ein unentbehrliches Buch über die großen Fragen der Menschheit.

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Walter-Jörg Langbein

Die Geheimnisse der sieben Weltreligionen

Woran die Menschen glauben

Inhaltsübersicht

Über Walter-Jörg Langbein

Informationen zum Buch

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Von einer Reise zu den Religionen

1. Das Judentum:
Vom Paradies zum Bündnis mit Gott

2. Das Christentum:
Von der Kraft des Glaubens

3. Der Islam:
Vom Heiligen Krieg zum Inneren Kampf

4. Der Buddhismus:
Vom Göttlichen im Menschen

5. Der Hinduismus:
Von der Suche nach der Unendlichkeit im Menschen

6. Der Taoismus:
Von der Suche nach Harmonie

7. Der Konfuzianismus:
Vom Himmel im Menschen

Nachwort: Krieg oder Frieden?

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Impressum

in memoriam
Dr. Kurt Wolfgang Bennefeld

Von einer Reise zu den Religionen

Zu Beginn des dritten Jahrtausends n.Chr. sieht sich die westliche Welt einerseits stärker denn je mit einem fremden Glauben konfrontiert: mit dem Islam. Fordert der Koran tatsächlich den terroristischen Kampf der Muslims gegen den Rest der Welt, wie militante Muslims behaupten? Andererseits erregen Filme wie »Die Passion Christi« die Gemüter, und weltweit verschlingen Millionen den Roman »Sakrileg« von Dan Brown. Das Interesse an religiösen Themen ist so groß wie schon lange nicht mehr. Immer mehr Menschen fragen sich in einer Zeit der Orientierungslosigkeit: Was bieten die Religionen?

Das vorliegende Buch ist als eine Art Reiseführer zu den sieben großen Religionen der Menschheit gedacht. Es soll eine Orientierungshilfe geben bei der Suche nach »religiöser Wahrheit«. Über viele Jahrhunderte hinweg wurde auch und vor allem auf dem Gebiet der Religionen Schwarzweißdenken gepredigt: Es wurde die richtige Religion gelehrt, der die falschen Religionen gegenüberstanden.

Auf den folgenden Seiten nun wird zu einer Reise eingeladen – zu den sieben großen Religionen der Menschheit, zu ihren zentralen Aussagen und zu ihren verborgenen Gemeinsamkeiten.

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Meister Hugo
Mose und die Juden
um 1140

1. Das Judentum:
Vom Paradies zum Bündnis mit Gott

Das Judentum sieht seinen Ursprung in der göttlichen Offenbarung, die Mose (eigentlich Mosche) dem Alten Testament nach am Berg Sinai zuteil wurde. Wie das Christentum und der Islam ist das Judentum streng monotheistisch. Es ist zwar die älteste dieser drei Religionen, aber gleichzeitig gehören keiner anderen der großen Weltreligionen so wenige Anhänger an wie dem Judentum. Trotzdem hat es die westliche Kultur prägend beeinflußt. Kein anderes Volk ist so massiv bekämpft worden wie das jüdische, und kein anderer Glaube wurde mit so viel Haß verfolgt. Dennoch hat das Judentum bis heute allen Anfeindungen zum Trotz überlebt. Worin nun besteht das Geheimnis des jüdischen Glaubens?

»Am Anfang schuf Gott das Paradies.« So müßte das Alte Testament eigentlich beginnen, wenn es nach der chronologischen Ordnung ginge. Biblische Autoren formulierten den ersten von insgesamt drei Schöpfungsberichten Jahrhunderte, bevor man sich konkrete Gedanken über die Entstehung von Erde und Weltall machte, und in diesem ältesten Bericht geht es gleich um die Erschaffung des biblischen Paradieses. Dieser Garten Eden ist das Zuhause der ersten Menschen. Hier leben sie in friedlicher Harmonie mit den Tieren von Pflanzen und Früchten.

In der theologischen Forschung ist man sich über den historischen Hintergrund der Entstehung des ältesten Schöpfungsberichts einig. Er wurde zwischen 1200 und 900 vor Christus formuliert, als verschiedene nomadisierende semitische Stämme die unwirtliche Sinaiwüste verließen, um sich im Kulturland Kanaan niederzulassen. Von einem »Volk Israel« kann damals noch nicht die Rede gewesen sein, schon gar nicht von einer einheitlichen religiösen Ordnung. »Das Judentum« existierte damals auch noch nicht.

Für die langsam seßhaft werdenden Menschen war das Kulturland Kanaan tatsächlich so etwas wie ein Paradies, ein grüner Garten im Vergleich zur kargen Wüstenlandschaft, die man ruhelos durchziehen mußte, um zu überleben. So entstand der älteste Schöpfungsbericht, den wir in der Bibel finden: 1. Buch Mose Kapitel 2, Verse 4 bis 25. Gottes Schöpfung hat nur einen Zweck: Er erschafft, um im Zentrum der Welt das Paradies entstehen zu lassen. Die von Gott für den Menschen gedachte Heimat ist das Paradies (1. Buch Mose Kapitel 2 Verse 8 und 9): »Und Gott, der Herr pflanzte einen Garten gegen Osten hin, und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen …«

Am Anfang schuf Gott das Paradies. Alles andere war nur Beiwerk. Im Zentrum stand zu Beginn der Garten Eden. So steht es im ältesten Schöpfungsbericht. Das Paradies erschien dem unbekannten Bibelautor vor rund drei Jahrtausenden als das wichtigste Thema der Weltentstehung. Jahrhunderte später, etwa 600 v.Chr., sah die politisch-kulturelle Situation bedeutend anders aus. Das mühsame Nomadisieren gehörte nun längst der Vergangenheit an. Der Staat Judäa hatte sich gebildet. Aus einem losen Verbund von unterschiedlichen Gruppen war eine festere Gemeinschaft geworden. Umstritten ist heute, was dieses frühe »Staatsgebilde« zusammenhielt. War es, wie konservative Anhänger des jüdischen Glaubens meinen, der gemeinsame Glaube an Gott?

Darüber streiten auch heute noch die Theologen. Einig sind sie sich darin, daß beide Schöpfungsberichte einen Wandel im Denken verdeutlichen. Am Anfang des ersten und ältesten Berichts steht das Paradies, Gott begegnet zwei einzelnen Menschen – Adam und Eva. In der zweiten Beschreibung der Schöpfung – Psalm 104 – tritt Gott nicht mehr dem Individuum gegenüber, sondern der Gemeinschaft seiner Gläubigen. Der Beter des Psalms 104, »Lob des Schöpfers« genannt, preist Gott nicht mehr als das Gegenüber des menschlichen Individuums, sondern als das Gegenüber einer Gemeinschaft von Gläubigen.

Der dritte und jüngste Schöpfungsbericht (1. Buch Mose Kapitel 1, Vers 1 bis Kapitel 2, Vers 4a und Kapitel 9, Verse 1 bis 19) ist der bekannteste. Dieser Text entstand viel später. Trotzdem wurde er von den anonymen Bearbeitern des Alten Testaments vor den ältesten an den Anfang gesetzt. Doch damit nicht genug! Das eigentliche Ende des Textes wurde vom Text gelöst und wie das Teilchen eines Puzzles an eigentlich falscher Stelle eingeschoben. Der ursprüngliche Schluß des Berichts findet sich nach wie vor in der Bibel. Er wurde an den sogenannten »Sintflutbericht« angehängt (1. Buch Mose Kapitel 9, Verse 1 bis 19). Er ist mit Sicherheit der bekannteste Text der Bibel überhaupt. Nicht nur unter Laien gilt er als der Schöpfungstext schlechthin.

Psalm 104 entstand in der Gemeinschaft Israels, in einer Zeit der kultischen Einheit. Das offizielle Leben der Menschen wurde durch die Religion des Alten Testaments bestimmt. Diese Zeit erscheint dem gläubigen Juden heute als geradezu paradiesisch. Der dritte Schöpfungsbericht (1. Buch Mose Kapitel 1, Vers 1 bis Kapitel 2, Vers 4a) hingegen wurde in einer für jeden Juden deprimierenden Situation verfaßt. Israel existierte eigentlich gar nicht mehr. 587 vor Christus hatte Nebukadnezar mit brachialer Gewalt eingeleitet, was zur Vernichtung des Judentums hätte führen müssen.

Das Land war am Ende. Die Menschen waren nach einem furchtbaren Krieg verzweifelt. Die geistig-kulturelle Elite des Volkes war in die Babylonische Gefangenschaft geführt worden, und die Zurückgebliebenen waren ihrer Führung beraubt. Sie waren orientierungslos geworden. In dieser chaotischen, aussichtslosen Situation entstand um 500 v.Chr. der Schöpfungsbericht. Mag sein, daß uralte Textfetzen eingearbeitet wurden. Priester in der Babylonischen Gefangenschaft haben ihn geradezu als Hymnus auf Gott geschrieben. Sie stellten Gott nicht mehr nur den einzelnen Menschen oder der Gemeinschaft der Gläubigen gegenüber, sondern Erde, Himmel, das Universum schlechthin (1. Buch Mose Kapitel 1, Vers 1, wörtliche Übersetzung des Verfassers): »Gott war es, der am Anbeginn den Himmel und die Erde schuf.« Für den Juden bedeuteten »Himmel und Erde« nicht nur Erde und das blaue Firmament, das sich von Horizont zu Horizont spannt. Der gesamte Kosmos war gemeint.

Gott bestimmte das kulturell-geistige Leben, als es so etwas wie den biblischen Urstaat gab (2. Schöpfungsbericht). Damit hatten sich die Hoffnungen nach geographischer und religiöser Einheit (1. Schöpfungsbericht) erfüllt. Doch mit der Babylonischen Gefangenschaft drohte der Untergang des Judentums. Die Menschen in der biblischen Heimat sahen sich ihrer religiös-politischen Führung beraubt. Die vom mosaischen Monotheismus (Eingottglauben) bestimmte Einheit drohte zu zerbrechen. Verschiedene Götter und Göttinnen, die neben dem offiziellen Ein-Gott Jahwe weiter verehrt worden waren, machten sich daran, den einigenden Glauben wieder zu verdrängen.

Die Vertreter der einstigen religiös-politischen Elite lebten nicht mehr im verwüsteten Heimatland des Alten Testaments. Man hatte die Denker und Theologen verschleppt, und in der Fremde sahen sie sich mit der vielfältigen, als feindlich empfundenen Götter- und Sagenwelt des Ostens konfrontiert. Wie haben sich die Menschen damals verhalten? Darüber liegen uns keine Berichte vor. Mancher wird vom Eingottglauben abgefallen sein und sich dem Vielgottglauben (Polytheismus) der neuen Heimat zugewandt haben. In dieser für den Anhänger des Jahwe-Glaubens verzweifelten Lage entstand der jüngste Schöpfungsbericht.

Der renommierte Theologe und Pastor Jörg Zink schreibt dazu: »Diese Stücke aus der Urgeschichte … sind ein Stück Besinnung des israelitischen Volks auf seinen Glauben an den Gott, der Israel erwählt und bisher geführt hat, und ein Bekenntnis der Götter- und Sagenwelt des Ostens gegenüber.«1

Das monotheistische Judentum befand sich in einer neuen Position. Es mußte sich verteidigen. Das Judentum war im Kern betroffen und bedroht. So ist der dritte Schöpfungsbericht nicht nur eine Verherrlichung Gottes. Er ist auch für den zeitgenössischen Leser vor rund 2500 Jahren eine Herabwürdigung der Götter des Polytheismus, die Jahwe bedrohten. So wird mit voller Absicht hervorgehoben, daß Sonne, Mond und Sterne keineswegs etwas Überirdisches oder gar Göttliches sind wie in den Augen der »Heiden«, sondern »Lichter an der Feste des Himmels … zwei große Lichter, ein großes Licht, das den Tag regierte, und ein kleines Licht, das die Nacht regierte, dazu auch die Sterne«. (1. Buch Mose Kapitel 1, Verse 14 bis 16)

Der jüngste Schöpfungsbericht ist also ein Stück Propaganda. Allerdings versuchten die unbekannten Autoren nicht in erster Linie Andersgläubige zu überzeugen. Vielmehr war ihnen daran gelegen, die eigenen Glaubensbrüder daran zu hindern, sich fremden Religionen zuzuwenden.

Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Text des Alten Testaments läßt offenbar werden: Die Bibel ist kein Buch aus einem Guß, sondern das Resultat vieler Bearbeitungen. Texte unterschiedlichen Alters, verfaßt von unterschiedlichen Autoren unterschiedlicher Herkunft, wurden wie bei einer Collage zerschnitten und wieder zu einem neuen Gesamtbild zusammengefügt.

Doch welchem Zweck soll die Lektüre des Alten Testaments dienen? Wenn man den Glauben dieser Schrift als eine Art Endresultat versteht, dann kann man den Text in seiner heutigen Form unkritisch akzeptieren. Will man aber dem Geheimnis des jüdischen Glaubens auf den Grund gehen, so ist es unerläßlich, die Texte des Alten Testaments ihrer geschichtlichen Folge gemäß anzuordnen. Eine nach Entstehungszeit rekonstruierte Schöpfungsgeschichte setzt das Paradies an den Anfang, als das Zentrum des Universums.

In diesem Paradies leben Adam und Eva, die ersten Menschen. Eva läßt sich von der Schlange dazu verleiten, eine Frucht vom Baum der Erkenntnis zu pflücken. Sorgsame Literaturstudien zeigen, daß jüdische Glaubensbilder durch äußere Einflüsse geprägt wurden. Schon während der Schöpfungsbericht im feindlichen Exil entstand, flossen babylonische Vorstellungen ein, und als er längst schriftlich festgelegt und in das Alte Testament aufgenommen worden war, veränderte er sich im Volksglauben weiter. Aus der namenlosen Frucht, die Adam und Eva Gottes Verbot zum Trotz verzehren, wird der hinlänglich bekannte Apfel vom Baum der Erkenntnis. In der griechischen Sagenwelt ist es Herakles, der die goldenen Äpfel aus dem Garten der göttlichen Hesperidenmädchen stehlen muß. Daraus wird im Volksglauben der Apfel, den Eva vom Baum pflückt.

Ihre Kinder Kain und Abel werden geboren. Kain ermordet Abel. Dann sieht ein dritter Sohn das Licht der Welt: Seth (auch Schet genannt). Man darf diesen ersten Mord nicht als Schilderung einer historischen Tatsache sehen. Vielmehr stehen die beiden Brüder für zwei grundverschiedene Lebensarten. Kain ist der personifizierte seßhafte Bauer. Abel vertritt den Hirten, der als Nomade umherzieht. Der Konflikt zwischen beiden spielte sich aber nicht am Anfang der Menschheit ab, sondern als die ersten »Israeliten« seßhaft wurden. Vermutlich lebten Nomaden (Hirten) und Landleute (Bauern) noch lange Zeit nebeneinander her. Die Seßhaften obsiegten schließlich. Die Nomaden wurden »besiegt«. Kain, der seßhafte Bauer, erschlägt Abel, den Hirten.

Schließlich werden die Urväter aufgezählt (1. Buch Mose Kapitel 5). Es folgt die Auflistung der Nachkommen Kains (1. Buch Mose Kapitel 4, Verse 17 bis 26). Wiederum wird deutlich, daß es den alttestamentarischen Glauben als originale Neuentwicklung nicht gab. Die Urväter sind keine historischen Gestalten, sondern Kopien von mystischen Wesen aus Mesopotamien. Den unbekannten Autoren lagen offensichtlich Namenslisten aus dem Zweistromland vor, die sie als Vorlagen benutzten.

Der fremde Einfluß der Götter wird nirgendwo sonst so deutlich wie im kurzen Bericht von den Gottessöhnen (1. Buch Mose Kapitel 6, Verse 1 bis 4). Aus der Sicht monotheistischer Juden muß es ein Greuel gewesen sei: »Als sich die Menschen zu mehren begannen auf Erden und ihnen Töchter geboren wurden, da sahen die Gottessöhne, wie schön die Töchter der Menschen waren, und sie nahmen sich zu Frauen, welche sie wollten.«

Prof. Dr. Fohrer stellt klar, daß es sich dabei wohl um »ursprünglich untergeordnete Götter, danach Wesen im göttlichen Hofstaate«2 handelte. Mit anderen Worten: Neben dem einzigen Gott gab es ursprünglich noch andere Götter, die dann zu niederen Göttern und schließlich zu Angehörigen des göttlichen Hofstaats degradiert wurden.

Die Strafe folgte umgehend: die Sintflut (1. Buch Mose Kapitel 6, Vers 5 bis Kapitel 9, Vers 17). Wiederum benutzten die unbekannten Autoren ältere Versatzstücke aus dem zwei Jahrtausende früher entstandenen Gilgameschepos. So wie der biblische Noah hatte bereits der sumerische Utnapischtim im Auftrag seines Gottes Enki gehandelt. Doch auch die Sintflut des Gilgamesch-Epos ist nicht das Original. Im sumerischen Raum hatte man lange zuvor Ziusudra eine »Arche« bauen lassen. Vor fünf Jahrtausenden ließ Gott Eki wie der Jahwe des Alten Testaments einem guten Menschen eine Warnung zukommen. Der sumerische Noah bekam das drohende Unheil wie im Telegrammstil angekündigt: »O Ziusudra, Bewohner von Surippak, zerstöre dein Haus, baue ein Schiff, verachte den Reichtum, verlasse die Götter, erhalte das Leben.«

Die Arche des Gilgamesch landete auf dem Berg Nisir zwischen Tigris und Zab im heutigen Irak – die des Noah auf dem Ararat. Schon im Gilgamesch-Epos mußte – wie später im biblischen Bericht um Noah – eine Taube erkunden, ob denn die Flut so weit zurückgewichen sei, daß man wieder getrost das rettende Schiff verlassen konnte.

Wer den biblischen Text von der Flut sehr sorgsam liest, erkennt, daß wieder eine Art Collagentechnik benutzt wurde. Offensichtlich lagen den Bearbeitern zwei unterschiedliche Noahberichte vor, die beide in kleinere Textfragmente unterteilt und beide miteinander zu einem Gesamttext verbunden wurden. Daraus ergeben sich zwangsläufig Unstimmigkeiten. Prof. Dr. Fohrer: »So trifft man auf Angaben, die sich widersprechen: über die Art, wie die Flut herbeigeführt wird, über die Dauer der Flut, über ihr Ende und auf viele weitere Einzelheiten.«3

Besonders deutlich wird die Tatsache, daß in der Bibel zwei Noahgeschichten ineinander verwoben wurden, am Ende der archaischen Erzählung. Der Schluß findet sich nämlich gleich zwei Mal in der Bibel (1. Buch Mose Kapitel 8, Verse 20 bis 22 und 1. Buch Mose Kapitel 9, Verse 1 bis 19).

Darf man den biblischen Bericht von Noahs Arche wörtlich nehmen, wie etwa der US-Astronaut James Irwin, der jahrelang im Ararat-Gebiet nach dem biblischen Überrettungsschiff suchte? Nicht nur Zweifel sind angebracht. Das Alte Testament ist im hebräischen Original ausschließlich in Konsonantenschrift verfaßt. Die Vokale müssen also ergänzt werden. Daher ist überhaupt nicht klar, ob die Arche Noah nach dem Verschwinden der Wassermassen wirklich auf dem Ararat landete und nicht bei Urartu. Urartu aber steht für »weit entferntes Land«.

So wird aus einem geographischen Hinweis eine nebulöse Formulierung. Aus einem konkreten Berg wird ein vager Hinweis: Noahs Arche landete irgendwo in einem fernen Land. Ist der Text also nicht als historische Beschreibung, sondern symbolhaft zu verstehen?

Nach der »Sintflut« beginnt die biblische Menschheitsgeschichte wieder von vorn, wie bei Adam und Eva. Wieder entwickelt sich eine neue »Menschheit«. Wieder dauert es nicht lange, bis der Mensch erneut versucht, seine irdischen Schranken zu sprengen. Prof. Fohrer formuliert sehr zutreffend: »Genesis (1. Buch Mose) Kapitel 11, Verse 1 bis 9 erzählt die Geschichte vom Stadt- und Turmbau zu Babel. Dort bietet sich den Menschen eine weitere Möglichkeit, über ihre Schranken hinaus in göttliche Bereiche vorzustoßen. Die in einer Stadt lebende Menschheit will einen Turm bauen, der bis in den Himmel reicht (herbeigeleitet von dem babylonischen Tempelturm, der meistens pyramidenartig anstieg und auf dessen Spitze sich ein Tempel befand), so daß sie geradezu in der Lage ist, den Himmel zu stürmen. Doch auch diesmal wird der Versuch, die eigenen Grenzen zu überschreiten und Göttlichkeit zu erringen, unterbunden – durch die Aufsplitterung der Sprachen und die Zerstreuung der Menschheit.«4

Streng logisch betrachtet erweist sich die biblische Geschichte bei aller Sprachgewalt als widersprüchlich. Die Behauptung, erst durch die Zerstörung des Turms zu Babel seien die verschiedenen Sprachen entstanden, ist falsch. Es trifft eben nicht zu, daß die Menschheit vor dieser Katastrophe nur eine Sprache hatte, daß man erst nach der Zerstörung des Turms ob der Sprachvielfalt einander nicht mehr verstand. Das Alte Testament selbst berichtet (1. Buch Mose Kapitel 10, Vers 5), daß es nicht erst nach der Zerstörung des Turms, sondern lange vorher unterschiedliche Sprachen gab: »Dies sind die Söhne Japhets nach ihren Ländern, ihren Sprachen und Geschlechtern und Völkern.«

Das Alte Testament selbst beschreibt also, daß es längst vor der göttlichen Bestrafung der menschlichen Hybris durch den Einsturz des ersten biblischen Wolkenkratzers schon unterschiedliche Sprachen gab. Damit ist die alttestamentarische Erklärung des Namens Babel unlogisch (1. Buch Mose Kapitel 11, Vers 9): »Daher heißt ihr Name (der Name der Stadt) Babel, weil der Herr selbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.«

Die scheinbar sprachwissenschaftliche biblische Erklärung ist zudem falsch! Der Name »Babel« hat mit dem hebräischen »balal«, zu deutsch »verwirren«, überhaupt nichts zu tun. Warum sollte man sich in Babylon auch hebräischer Ausdrücke bedienen? Babel läßt sich ganz eindeutig auf das babylonisch-sumerische »bib-ili« zurückführen, auf das »Tor der Götter«.

Der alttestamentarische Turm zu Babel hat historische Vorbilder: die Zikkurats. Dabei handelte es sich um mehrstufige Türme, die wie heilige Berge rein religiösen Zwecken dienten. Gott Marduk zum Beispiel war ein eigener Zikkurat geweiht. Zum Jahresbeginn stieg der Gott vom Himmel zur Erde herab. So wie die biblischen Söhne Gottes sich vom Himmel herab zur Erde begaben, so verließ auch Marduk wie seine Kollegen sein himmlisches Zuhause, um die Menschen aufzusuchen.

Im Grunde umschreibt das Alte Testament in verschiedenen Verkleidungen immer wieder den gleichen Sachverhalt: Adam und Eva werden von der Schlange dazu verleitet, die verbotene Frucht zu essen. Angeblich würden sie, behauptet die arglistige Schlange, dann wie Gott. Die Folge ist hinlänglich bekannt: Gott bestraft und vertreibt die ersten Menschen aus dem Paradies.

Die Gottessöhne steigen vom Himmel zur Erde herab, sie zeugen Nachwuchs. Als Abkömmlinge aus dieser Verbindung werden die Riesen geboren. Wieder folgt eine göttliche Bestrafung: Die »Sintflut« vernichtet einen Großteil des irdischen Lebens. Die biblische Entwicklung wird zu einem neuen Nullpunkt zurückgeführt. Die Geschichte der Menschheit muß wieder von vorne beginnen. Gott gibt der Menschheit eine neue Chance.

Die Menschen bauen den Turm zu Babel, weil sie sich Gott annähern wollen. Sie wollen in den Himmel steigen und sich Gott angleichen. Wiederum braust Gott gewaltig auf. Wie einst lange vor ihm Marduk und andere Götter, so steigt auch Jahwe vom Himmel und vernichtet das menschliche, zu Stein gewordene Denkmal der Überheblichkeit.

In drei ganz unterschiedlichen Geschichten wird doch die gleiche Botschaft übermittelt: Der Mensch wird in seine Schranken verwiesen und daran gehindert, so wie Gott zu werden. Der Mensch soll er selbst sein und nicht mehr. Vordergründig gelesen, erscheinen die Geschichten von den verbotenen Früchten, von den Gottessöhnen und von der babylonischen Sprachverwirrung wie mystisch-märchenhafte Sagen. Es fällt nicht schwer, Widersprüche oder Unstimmigkeiten in den Texten zu entdecken. Nimmt man aber die Texte als symbolhafte Gleichnisse, wird ihr tieferer Sinn verständlich: Der Mensch will Grenzen überschreiten und sich selbst zu Gott emporschwingen. Der Gott des Alten Testaments aber stößt den Menschen zurück. Er wirft ihn auf sein Mensch-Sein zurück und zeigt ihm seine Grenzen auf. Aber läßt Gott den Menschen allein? Keineswegs! Dreimal weist Gott den Menschen in seine Schranken, dreimal schließt er mit dem Menschen einen Bund: mit Noah, mit Abraham und mit Mose.

Nach der »Sintflut« – deren Name lediglich »große Flut« bedeutet und mit »Sünde« nichts zu tun hat – kommt es zum ersten Mal zu einem Bund (1. Buch Mose Kapitel 9, Verse 8 bis 14). Der Regenbogen soll von nun an das Zeichen für diesen Bund zwischen Gott und Noah und seinen Nachkommen sein (1. Buch Mose Kapitel 9, Vers 13): »Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde.«

Zufällig war dieses Natursymbol nicht gewählt. Wieder einmal birgt eine klare Aussage des Alten Testaments eine verborgene Botschaft. War doch bei zahlreichen Völkern der Regenbogen etwas Göttliches im übernatürlichen Sinn, das die Menschen nicht begreifen konnten. Doch was bei Völkern wie den Germanen oder den Indianerstämmen Mittelamerikas als Magie galt, stellte für die Autoren des Alten Testaments ein Naturschauspiel dar, hervorgerufen von Regen und Sonne.

Es ist geradezu genial, wie die Autoren in eine scheinbar schlichte Aussage eine Botschaft verpackten, die nur der Kundige wahrnimmt. Das Geheimnis des Regenbogens: Regen plus Sonne ergibt etwas Natürliches, kein übernatürliches Wunder. Vor allem wird ein für so viele andere Götter bedeutsames Zeichen vollständig umgedeutet. Jahwe, der Gott des Alten Testaments, sticht die anderen Götter aus. Das geschieht aber nicht, indem er sie besiegt und ihre wundersamen Phänomene durch noch größere Merkwürdigkeiten übertrifft. Er degradiert das vermeintliche Mirakel Regenbogen zu etwas Alltäglichem. Und doch soll dieses fast schon banale Phänomen gleichzeitig etwas Übernatürliches symbolisieren: die Überlegenheit des Gottes des Alten Testaments gegenüber seinen Konkurrenten. Kein zweites religiöses Werk kann so subtil in seiner Ausdrucksweise sein, wie das Alte Testament es hier ist. Nirgendwo sonst wird der Anspruch auf Überlegenheit so versteckt erhoben wie an dieser Stelle.

Auf das Bündnis mit Noah folgt ein weiteres Bündnis Gottes mit einem Menschen: mit Abraham. Man kann den Namen Abraham mit »Vater der Völker« übersetzen. Es ist höchst umstritten, ob Abraham als historische Person existiert hat oder ob es sich bei ihm lediglich um ein Symbol in Menschengestalt handelt. Mit Abraham beginnt im Alten Testament die Patriarchengeschichte. Nach den für die Menschen negativen Ereignissen wie die Vertreibung aus dem Paradies, die Sintflut und die Zerstörung des Turms von Babel folgt nun eine positive Entwicklung. Gott ist nicht mehr der gewaltsame Herrscher, er handelt von nun an heilvoll, indem er einzelne Menschen auswählt und ihnen zahlreiche Nachkommenschaft und reichen Landbesitz verspricht.

Mit Abraham schließt Gott einen zweiten Bund (1. Buch Mose Kapitel 17, Vers 1): »Als nun Abram (später Abraham genannt) neunundneunzig Jahre alt war, erschien ihm der Herr und sprach zu ihm: Ich bin der allmächtige Gott; wandle vor mir und sei fromm: Und ich will meinen Bund zwischen mir und dir schließen und ich will dich über alle Maßen mehren.«

Ende des 19. Jahrhunderts frohlockten fromme Spurensucher: Im Wüstensand Mesopotamiens habe man Tontafeln mit dem Namen Abraham gefunden. Somit schien die mystische Gestalt Abrahams verifiziert worden zu sein. Die Freude war allerdings verfrüht. Nach und nach wurden bei archäologischer Erkundung der unterschiedlichsten Kulturkreise der unterschiedlichsten Jahrhunderte immer wieder Hinweise auf »Abraham« oder »Ibrahim« gefunden. Archäologische Indizien wiesen darauf hin, daß Abraham im zweiten Jahrtausend vor Christus im Reich der Sumerer lebte … oder um das 15. Jahrhundert vor Christus im Mitanni-Reich … oder schon im dritten Jahrtausend vor Christus im Reich von Ebla.

War am Anfang die Begeisterung groß, weil man glaubte, einen Nachweis dafür gefunden zu haben, daß die Bibel wortwörtlich zu nehmen sei, änderte sich das mit jedem weiteren Fund in Sachen Abraham aus immer neuen Epochen. So kam es, daß der Patriarch, der sich zu eine realen Person zu konkretisieren schien, wieder seine Konturen verlor und zu einem Symbol wurde – zu einem Symbol größter Wichtigkeit.

Abraham war nicht nur für die Menschen mosaischen Glaubens ein Verbündeter Gottes, sondern auch für die Menschen muslimischen Glaubens. Heißt es doch im Koran (4. Sure, Vers 124): »Und wer hat eine schönere Religion als jener, der sich Allah ergibt und dabei Güte übt und dem Glauben Abrahams folgt, des Aufrechten, und Allah nahm sich Abraham zum Freund.«

Nicht nur für gläubige Juden steht Abraham für den ersten Menschen der beginnenden geschichtlichen Epoche. Auch für die Christen ist Abraham das Fundament der politischen wie religiösen Eigenständigkeit des Volkes Israel. Daher darf es nicht verwundern, daß man schon bald nach Jesu Tod begann, seine Wurzeln bis zu Abraham zurückzuverfolgen. Auch dieser Stammbaum ist sowenig historisch wie Abraham selbst. Aber auch bei Jesus geht es nicht um Wahrheit im historischen Sinne, sondern um religiöse Wahrheit, die so konkretisiert wurde.

Der dritte Bund Gottes wird mit Mose geschlossen. Dieser wohl wichtigste Bund wird sorgsam vorbereitet. Auf verschlungen erscheinenden Wegen strebt die Handlung zielsicher auf den so wichtigen Pakt zu.

Das Alte Testament beschreibt Gott als langfristig denkenden Strategen. Wir erfahren: Da wird Joseph von seinen Brüdern gehaßt, weil er sich für etwas Besseres hält. Joseph unterscheidet sich ja auch von seinen Brüdern: Er verfügt über die Gabe, Träume zu deuten. Darauf bildet er sich viel ein, was ihn in den Augen seiner Brüder als unerträglich überheblich erscheinen läßt. So beschließen sie einen mörderischen Plan. Sie wollen ihn töten – oder sterben lassen. Der Jüngling gelangt schließlich nach Ägypten, wo er es im Reiche des Pharaos weit bringt.

Wegen seiner seherischen Begabung erkennt Joseph, daß eine Hungersnot bevorsteht. Er läßt in den Zeiten des Wohlstandes Nahrungsmittellager anlegen. In Israel herrscht, als die dürren Jahre anbrechen, auch Hunger. Joseph hilft seinen Geschwistern, doch nach und nach gerät Israel in Abhängigkeit von Ägypten. Um nicht zu verhungern, müssen sich die Menschen selbst als Leibeigene an den Pharao verkaufen, der den hungernden Israeliten im Gegenzug Nahrungsmittel aus seinen vollen Kornkammern zukommen läßt. Mit der Zeit müssen die Juden das kostbare Getreide, das sie zum Überleben brauchen, immer teurer bezahlen. Sie verlieren Land und Vieh, und schließlich wird aus finanzieller Not und wachsender Abhängigkeit totale Sklaverei!

Aus dieser Misere errettet Mose das Volk Israels – allerdings mit der Unterstützung Gottes. Erst als Gott die zehn berüchtigten Plagen über Ägypten hereinbrechen läßt, gibt der hartherzige Pharao nach und läßt das Volk Israel unter der Leitung des Mose ziehen. Doch rasch besinnt er sich anders und befiehlt, die fliehenden Israeliten zu verfolgen. Nach vierzig Jahren gelangt das Volk der Juden endlich in das von Gott versprochene Land.

Kritischer historischer Überprüfung halten die besonders in Luthers Übersetzung dramatisch geschilderten Ereignisse nicht stand. Es ist völlig unglaubwürdig, daß es Joseph als ein jüdischer Sklave bis zum zweitmächtigsten Mann in Ägypten bringt. Ein solch ungewöhnliches Ereignis hätte deutliche Spuren in den ägyptischen Historienbüchern hinterlassen müssen. Auch läßt der biblische Text keine eindeutige Datierung der seltsamen Geschehnisse zu. Welcher Pharao durch Josephs Kunst der Prophetie einer verheerenden Hungersnot vorbeugte, kann nicht verifiziert werden.

Widersprüchlich sind schon die Angaben der Bibel über die Dauer der ägyptischen Gefangenschaft. Einmal heißt es (2. Buch Mose Kapitel 12, Vers 40): »Die Zeit aber, die die Kinder Israel in Ägypten gewohnt haben, ist vierhundertunddreißig Jahre.«

Der Bibelkritiker C. Dennis McKinsey vergleicht damit andere Angaben der Bibel: »Kehat, Jakobs Enkel, der zusammen mit Jakob nach Ägypten gesandt wurde, lebte 133 Jahre. Kehats Sohn war Amram, er wurde 137 Jahre alt. Nach dem zweiten Buch Mose Kapitel 7, Vers 7 war Amrams Sohn Mose, der 80 Jahre alt war, als die Israeliten Ägypten verließen.«5

Man muß schon ein paar Rechenaufgaben durchführen, um zu erkennen, daß da etwas nicht stimmen kann, was im Alten Testament als exakte Wahrheit hingestellt wird! Wenn Kehat am Tag seiner Geburt nach Ägypten verschleppt wurde, lebte er maximal 133 Jahre in ägyptischer Gefangenschaft. Wenn dann Kehats Sohn am Todestag seines Vaters geboren wurde, so erduldete er 137 Jahre die ägyptische Gefangenschaft. Da nach Angaben der Bibel Mose 80 Jahre alt war, als die Gefangenschaft für das Volk Israel in Ägypten endete, ergibt dies eine maximale Dauer der Knechtschaft von 350 Jahren (133 Jahre + 137 Jahre + 80 Jahre).

Die Rechnung mag auf den ersten Blick kompliziert erscheinen, sie belegt aber eindeutig eine erhebliche Diskrepanz zwischen zwei präzisen Angaben biblischer Verfasser. Welche Zahl aber stimmt? Welche ist falsch? Wie lange lebte das jüdische Volk in Ägypten, versklavt und rechtlos? Dauerte die demütigende Zeit nun 430 Jahre, oder waren es maximal nur 350 Jahre?

Noch wesentlich ungenauer sind die Angaben über die Zahl der aus der Tyrannei fliehenden Israeliten. Im zweiten Buch Mose heißt es (Kapitel 12, Vers 37), »sechshunderttausend Mann« hätten sich zu Fuß auf den Weg gemacht. Man sollte bedenken, daß die Gesamtzahl wesentlich größer gewesen sein muß, denn bei der zitierten Angabe sind die Frauen und Kinder zahlenmäßig nicht erfaßt. Gleich zweimal wird an anderen Stellen eine davon abweichende Zahl genannt (2. Buch Mose Kapitel 38, Vers 26 und 4. Buch Mose Kapitel 1, Vers 46): 603550.

Auch diese Zahl enthält nicht alle Flüchtlinge. Sie bezieht sich nicht auf alle Menschen (Männer und Frauen), sondern lediglich auf die wehrfähigen Männer im Alter von »zwanzig Jahren und darüber«. Wie groß war aber also die Gesamtzahl der Glücklichen, die am Ende der ägyptischen Sklaverei entkommen konnten? Der Bibelgelehrte Prof. Dr. Hans Schindler Bellamy erklärt dazu: »Es müßten wohl insgesamt an die zwei Millionen Menschen gewesen sein!«

Zum selben Ergebnis kommt auch Bibelkommentator Prof. Dr. John D. Hannah: »Mit Frauen und Kindern dürfte die Gesamtzahl etwa zwei Millionen betragen haben. Mit ihnen zogen Nichtisraeliten von unbestimmter Zahl, offensichtlich eine zusammengewürfelte Gruppe (im 4. Buch Mose Kapitel 11, Vers 4 Pöbel genannt).«

Folgt man dem Alten Testament, dann war Mose dazu ausersehen, den Pharao zu bitten, die gefangenen Israeliten gehen zu lassen. Der mächtige Herrscher ließ sich aber nicht erweichen. So schickte Gott die zehn Plagen. Auch die zehn Plagen (2. Buch Mose Kapitel 7 bis Kapitel 12), die den Pharao zum Nachgeben zwangen, sind nicht belegbar. Ebensowenig gab es die angebliche Flucht einer nach biblischen Angaben gewaltigen Volksmenge. Dieser Massenexodus umfaßte nach den Angaben der Bibel mindestens eine Million Sklaven und deren Angehörige. Kein ägyptischer Historienschreiber erwähnt die Massenflucht, keine einzige der wahrlich für Mensch und Tier schlimmen Katastrophen wird auch nur mit einem einzigen Wort beschrieben. Heutige Bibelwissenschaftler sind sich weitestgehend darin einig, daß der so anschaulich geschilderte Auszug gar nicht stattfand.

Die zehn Plagen rufen schon seit vielen Jahrhunderten skeptische Bibelkritiker auf den Plan. Tatsächlich weist die Schilderung der von Gott gesandten Plagen logische Fehler auf. Durch die fünfte Heimsuchung wird das ägyptische Volk in seiner Existenz bedroht: »Da starb alles Vieh der Ägypter.« Das war für ein Agrarland katastrophal. Dennoch gab der Pharao nicht nach. Also folgte die sechste Plage. Eine Blatternepidemie brach aus und suchte sowohl die Ägypter als auch das Vieh heim. »Da brachen auf böse Blattern an den Menschen und am Vieh.« Wie sollte das möglich sein? Wie kann das Vieh der Ägypter in der sechsten Plage mit Blattern gequält werden, wo doch durch die fünfte Plage bereits alles Vieh der Ägypter vernichtet worden war?

Nimmt man den biblischen Text wörtlich, dann wurde Vieh krank, das es schon gar nicht mehr gab. Doch damit nicht genug. Als auch die sechste Plage beim Pharao keinerlei Wirkung zeigte, schickte Gott die siebte Plage: Hagel, »so schwer wie er noch nie in ganz Ägyptenland gewesen war, seitdem die Leute dort wohnen«, prasselte auf Mensch und Tier hernieder. Die Folgen waren wiederum katastrophal: »Und der Hagel erschlug in ganz Ägyptenland alles, was auf dem Felde war, Menschen und Vieh.« Wieder taucht also das ominöse Vieh auf.

Nachdem das Vieh der Ägypter bereits der fünften Plage zum Opfer gefallen war, wurde es in der sechsten Plage erneut dahingerafft (Blattern), um schließlich in der siebten Plage zum dritten Mal getötet zu werden! Man müßte annehmen, daß nun kein Ägypter mehr über lebendes Vieh verfügte. Wir werden aber eines besseren belehrt. Die zehnte und letzte Plage, die den Pharao schließlich dazu veranlaßt, das Volk Israel endlich ziehen zu lassen, trifft die Erstgeburt: »… und zur Mitternacht schlug der Herr alle Erstgeburt in Ägyptenland vom ersten Sohn des Pharao an, bis zum ersten Sohn des Gefangenen im Gefängnis … und alle Erstgeburt des Viehs.«

Die zehn Plagen haben seit Generationen Laien wie Theologen streiten lassen. Skeptiker weisen mit Recht auf Widersprüche in den Texten hin. Während die einen versuchen zu belegen, daß es sich bei den vermeintlichen Wundern gar nicht um Übernatürliches gehandelt habe, bemühen sich die anderen mit Akribie darum, die biblischen Schilderungen als korrekte Beschreibung von Gottes Wirken zu belegen.

Wenn es in den mosaischen Texten heißt, das Nilwasser habe sich in Blut verwandelt, dann könnte es dafür tatsächlich eine einfache, rationale Erklärung geben: Der »Bluteffekt« wurde womöglich durch die sogenannte Burgunder-Alge bewirkt, die das Wasser rot färbte und für Tier und Mensch ungenießbar machte. Die Mückenplage suchte tatsächlich gelegentlich das Land heim. Biologen neigen heute dazu, die sogenannte Hundsfliege verantwortlich zu machen. In Massen auftretend, konnte dieses Insekt zur wirklichen Plage werden und Mensch wie Tier das Leben zur sprichwörtlichen Hölle machen. Auch Frösche konnten, wenn die für das Ackerland links und rechts des Nils so wichtige Überschwemmung für natürliche Düngung sorgte, in einer Unzahl – und somit durchaus als Plage – auftreten. Auch die schlimme Viehpest, an der das mächtige Land der reichen Pharaonen laut mosaischem Text zu leiden hatte, muß nichts Übernatürliches gewesen sein. Selbst wenn die Hinweise in der Bibel mehr als vage sind, liegt die Vermutung nahe, daß es sich dabei um die sogenannte Nilkrätze handelte.

Seit Jahrhunderten tut sich eine hitzige Front zwischen Bibelgläubigen und Bibelgegnern auf. Es scheint, als hätten sich beide Parteien so intensiv in ihren Stellungen vergraben, daß sie die eigentliche Aussage des Texts gar nicht mehr sehen können. Aber stehen die konträren Positionen wirklich im Gegensatz zueinander?

Man muß sich vor Augen führen: Die Menschen der Zeit, als der Plagenbericht entstand, kannten das Tier- und Pflanzenreich der biblischen Regionen. Die klimatischen Verhältnisse damals waren ihnen ebenfalls bestens vertraut. Nur wir müssen oft mühsam erforschen, was damals jedem bekannt war.

Warum aber wählten die Verfasser des »Plagentextes« vermeintliche Wunder, die natürlich erklärt werden können – und die nur dem der Natur entfremdeten Menschen von heute als mysteriös erscheinen müssen? Der moderne Mensch vermutet übernatürliche Zauberei, wo der Zeitgenosse der biblischen Autoren alltägliche Phänomene ausmacht. Die Antwort auf den Streit zwischen Bibelgläubigen und Bibelgegnern ist einfach. Der vermeintliche Gegensatz ist gar keiner.

Gott agiert, um den Israeliten zur Freiheit zu verhelfen. Er handelt jedoch nicht mit Hilfe von Magie. Er transportiert sein Volk nicht von einer Sekunde auf die andere aus der Gefangenschaft in Ägypten in das Gelobte Land, sondern setzt Druckmittel ein, die alles andere als übernatürlich sind. Gott handelt nicht als Magier gegen die Naturgesetze, vielmehr beachtet er sie.

Die biblischen Autoren zeichneten somit ein anderes Gottesbild, als uns vertraut ist. Gott wirkt im Rahmen der Naturgesetze. Er hebt sie nicht auf, sondern stärkt den Menschen, der sein Ziel aber aus eigener Kraft erreicht. Demnach ist die Schilderung der zehn Plagen ein deutlicher Hinweis: Gott hilft, aber der Mensch muß handeln, in Eigenverantwortung.

So ist es denn Mose, der das Volk Israel aus der Sklaverei in die Freiheit führt. Und mit diesem wahrlich tatkräftigen Menschen schließt Gott sein drittes Bündnis. Wieder hilft Gott, wenn die Lage kritisch wird. Wer kennt nicht die Szene, die das Alte Testament so dramatisch beschreibt (2. Buch Mose Kapitel 14, Vers 21): »… und der Herr trieb die ganze Nacht das Meer durch einen starken Ostwind fort. Er ließ das Meer austrocknen; und das Wasser spaltete sich. Die Israeliten zogen auf trockenem Boden ins Meer hinein, während rechts und links von ihnen das Wasser wie eine Mauer stand.«

Bibelhistoriker sind sich heute darin einig, daß hier gar nicht vom Roten Meer die Rede ist, welches das Volk Israel trockenen Fußes durchwandern konnte. Die unbekannten Verfasser dachten vielmehr an ein Schilfmeer. Sie beschrieben also eine waghalsige Flucht durch morastige Gegend, in der die Truppen der Ägypter mit ihrem schweren Gerät im Schlamm steckenblieben. Erneut erfolgte die Hilfe Gottes keineswegs durch das Aufheben von Naturgesetzen und durch atemberaubende Zauberei. Das mag den Übersetzern, viele Jahrhunderte nach Niederschrift der Texte, zu wenig sensationell gewesen sein. Sie wollten Gott als Wundermann sehen, der auch Unmögliches schafft.

Doch ein in diesem Sinne wirklich allmächtiger Gott hätte die versklavten Israeliten binnen einer Sekunde in das Gelobte Land versetzen können. Sie wären dann weder einer Verfolgung noch den Strapazen eines vierzigjährigen Wüstenmarsches ausgesetzt gewesen. Doch der Gott des Alten Testaments ließ die Menschen ihr wichtiges Ziel aus eigener Kraft selbst erreichen.