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Sabrina Haingartner

Zum Wegwerfen reicht‘s

Roman

facebook.com/zumwegwerfenreichts

twitter.com/ZumWegwerfen

book@haingartner.com

© 2017 Sabrina Haingartner

Autor: Sabrina Haingartner

Umschlaggestaltung: Sabrina Haingartner

Verlag: myMorawa von Morawa Leserzirkel GmbH

ISBN:

978-3-99057-582-6 (Paperback)

978-3-99057-583-3 (Hardcover)

978-3-99057-584-0 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1. Buch

Prolog

Es war Mord.

„Nein!“ schrie sie hysterisch und zappelte nervös von einem Bein auf das andere. Sie war völlig außer sich. „Es war ein Unfall!“

Er hingegen starrte einfach nur in die Dunkelheit und vergaß dabei zu atmen. Als ihm nach wenigen Sekunden schwarz vor Augen wurde, schnappte er aufgeregt nach Luft. Das war alles, was er wahrnahm: der Regen, der gleichmäßig auf seine Lederjacke tropfte, seinen Atem und ihr Gejammer. Das Autoradio war noch immer auf volle Lautstärke aufgedreht. Jim Morrison sang den Refrain von Break on Through, aber das nahmen die beiden gar nicht wahr.

Während sie ausflippte, war er völlig ruhig. Er war noch nie zuvor bei so klarem Verstand gewesen. „Wir müssen von hier verschwinden.“

„Bist du jetzt völlig durchgedreht? Wir müssen einen Arzt rufen! Und die Polizei! Und seine Eltern!“ schrie sie und packte ihn an den Schultern. Sie hatte Mühe, ihre Augen offen zu halten – so geschwollen waren sie von all den Drogen und den Tränen.

„Er ist tot. Wir können nicht die Polizei rufen! “

„Und wie wir das können! Vielleicht ist er ja gar nicht tot. Er lebt wahrscheinlich und braucht nur einen Arzt“. Mit diesen Worten nahm sie ihr Handy aus der hinteren Hosentasche, ging ein paar Schritte von ihm weg und wählte eine Nummer. Noch bevor sie auf Anrufen tippen konnte, stand er hinter ihr, entriss ihr das Telefon und warf es mit aller Kraft weit weg in das nebenanliegende Feld. Es war stockdunkel, nur eine schwache Laterne auf der etwa 10 Meter entfernten Landstraße spendete schwaches Licht. Sie waren etwas außerhalb von Köln.

Sie blickte schockiert ihrem Handy nach und dann ihn an.

Du sagst doch immer ‚Zum Wegwerfen reicht‘s‘“, sagte er völlig emotionslos.

„Du bist wahnsinnig“, sagte sie verzweifelt und ging dann Richtung Feld. Er griff nach ihrem Arm und packte sie an den Schultern.

„Nein, bin ich nicht. Schau uns beide doch an“, fuhr er sie wütend an. „Wir sind beide total high, er war total high. Was glaubst du wird passieren, wenn wir die Polizei rufen?“

„Aber wir haben nichts getan“, schrie sie und versuchte sich loszureißen. „Der ganze Mist hier war doch seine Idee.“

„Das wird uns niemand glauben“, schrie er. „Die werden sagen, dass es unsere Idee war!“

„Aber es waren seine Drogen!“ Sie riss sich los und rannte ins Feld um nach ihrem Handy zu suchen.

„Glaubst du wirklich, die Polizei interessiert das wessen Drogen es waren? Du bist high. Du bist am Tatort. Schon allein deswegen werden sie dich anzeigen!“ Sie rannte weiter. „Also schön, tu was du willst! Ruf die Polizei! Aber dir wird niemand auch nur ein Wort glauben. Die werden dich sowieso einsperren!“ schrie er ihr nach.

Sie blieb stehen und drehte sich um. Diesen Montag würde sie nie wieder vergessen. Sie war hin und hergerissen, war völlig überfordert mit der Situation. Ihre langen braunen Haare waren mittlerweile völlig durchnässt und klebten an ihren Oberarmen. Sie versuchte sich zu erinnern wann es das letzte Mal so geregnet hatte. Plötzlich kam es ihr. Das war am Weihnachtsabend vor 13 Jahren…

Es war eine dieser Gegenden, in die man nur ging, wenn man unbedingt musste. Man wollte sich hier auf keinen Fall freiwillig länger aufhalten als notwendig. Es regnete und in der Nacht machte das Viertel einen gleich noch ausladenderen Eindruck als am Tag. Die Straßen waren schwach beleuchtet, die meisten der Laternen flackerten. Es roch so, wie es aussah. Irgendwo weiter weg bellte ein Hund. Ein Luxusviertel war es zugegebenermaßen nie gewesen, dennoch ging es vor etwa 15 Jahren steil bergab mit der Gegend und seither mutierte das Viertel jeden Tag ein bisschen mehr zu einem Ghetto; damals, als das größte Kohlekraftwerk der Region der erneuerbaren Energie weichen musste und 692 Mitarbeiter ihren Job verloren. Mit der Wut kamen Ängste. Mit der Angst kamen Drogen. Mit den Drogen kam Kriminalität und die sorgte irgendwann dafür, dass die Wohnungspreise in den Keller fielen und nur noch sozial schwache Familien in die Gegend zogen.

In der kleinen Seitenstraße war es ruhig – weder Autos, noch Menschen waren zu sehen. Am Ende der Straße stand ein riesiger Wohnblock und in den meisten Wohnungen lief wohl der Fernseher; das konnte man zumindest durch das Flackern hinter den Vorhängen erahnen. Keine der Wohnungen war etwas Besonderes und die meisten Bewohner trieben sich tags und nachts in den Straßen herum, kauften Drogen, prostituierten sich. Nur an diesem speziellen Abend waren die meisten Bewohner zu Hause und versuchten ein Stück weit, ein normales Familienleben vorzugaukeln. Hinter einem gekippten Fenster vor den roten, mit Brandlöchern übersäten Vorhängen waren laute Schreie zu hören. Die Wohnung war heruntergekommen und dreckig. Am Boden lag Müll – Einkaufstüten, Konservendosen, leere Bier- und Whiskeyflaschen. Die Wände waren größtenteils mit Schimmel überzogen. Im Zimmer neben der Küche saß ein kleiner, schwarzer Junge, der in vier Tagen seinen neunten Geburtstag feiern würde – aber das interessierte hier niemanden und das wusste er auch.

Es war Heilig Abend und draußen war es ungewohnt warm für die Jahreszeit. Da seine Mutter die Rechnungen seit Monaten nicht zahlen konnte, war es eiskalt. Der kleine Junge saß mit dem Rücken zur Wand und hielt sich die Ohren zu. Der Fernseher war auf volle Lautstärke aufgedreht. Ein Kirchenchor sang Stille Nacht.

Nachdem eine Weinflasche gegen seine Zimmertür geschleudert wurde, zuckte er zusammen. So hatte der Junge, Ray, bis jetzt jedes Weihnachten verbracht. Er wollte es, wie jedes Jahr, einfach nur schnell hinter sich bringen.

Am selben Abend am anderen Ende der Stadt… Das große Wohnzimmer war freundlich dekoriert. Überall hingen Lichterketten und die Kinder standen um den schön geschmückten Weihnachtsbaum. Sie sangen Alle Jahre wieder. Mit großen funkelnden Augen bewunderten sie den Baum und konnten es kaum erwarten bis endlich das Christkind kam. Man hätte sie fast mit einer glücklichen Großfamilie verwechseln können, wäre da nicht die Tatsache, dass es sich um ein Kinderheim handelte. In der hinteren Ecke des Wohnzimmers, abseits von den anderen, stand ein 8-jähriges Mädchen mit verschränkten Armen und starrte die anderen genervt an. Sie kam sich wie im falschen Film vor. Trotzig schaute sie auf den Boden. Sie hatte keine Lust mitzusingen und wollte diesen Tag nur noch schnell hinter sich bringen. Eine der Betreuerinnen warf ihr einen aufmunternden Blick zu, aber Kathi zeigte ihr nur den Mittelfinger.

Alle Jahre wieder derselbe Schwachsinn, dachte sich Kathi und nutzte den unbeobachteten Moment, um sich in den Keller zu schleichen. Schon vor Monaten hatte sie dort ein kaputtes Fenster bemerkt, das ihr nur zu gut als Fluchtweg diente. Ihr Weg führte direkt in den Garten, von wo aus sie unbemerkt in die Stadt laufen konnte. Wie jedes Mal, wenn sie davonlief, würde die Polizei sie auch diesmal wieder zurück ins Heim bringen, die Betreuerinnen würden der Polizei versprechen, dass das nicht wieder vorkommt und anschließend Kathi in Ruhe erklären, warum sie das nicht machen darf und dass sie doch nur möchten, dass es Kathi gut geht. Von wegen, würde Kathi denken, der Betreuerin den Mittelfinger zeigen und dasselbe Spiel würde wenige Wochen später von Neuem beginnen. Sie wollte einfach nur hier raus und was noch viel wichtiger war: sie wollte Weihnachten endlich hinter sich bringen.

‚Wenn ich es doch nur einmal geschafft hätte, damals abzuhauen‘, dachte Kathi, während sie abwechselnd zu ihm und dann wieder ins stockdunkle Feld starrte. Ihr Leben wäre anders verlaufen. Nicht unbedingt besser, musste sie zugeben, aber zumindest wäre sie nicht mit den beiden mit nach London gefahren und ihr Freund wäre jetzt noch am Leben.

In einer wunderschönen, ruhigen Nachbarschaft am Stadtrand stand eine schöne, große Villa. Das Haus war innen genauso schön beleuchtet wie außen. Jeder, der den Anblick des Hauses auf sich wirken ließ, war im ersten Moment nicht sicher, ob es aufgrund seiner Grüße beeindruckend oder beängstigend war. Innerhalb der letzten Stunde hatte es endlich aufgehört zu regnen. Stattdessen tanzten kleine Schneeflocken vom Himmel und glitzerten im Licht der Weihnachtsbeleuchtung um die Wette. Jede der Villen in der Straße hatte einen großen Vorgarten – einer schöner als der andere.

Der riesengroße Weihnachtsbaum war ebenfalls hell beleuchtet und reichlich dekoriert. Auf der Spitze ragte ein goldener Stern in die Höhe. Im großen Esszimmer nebenan saß Bianca mit ihren Eltern. Der lange dunkle Tisch aus Palisanderholz war reichlich gedeckt, mit allem was man sich nur vorstellen konnte. Ganz offensichtlich fehlte es ihnen an nichts. Ein junges serbisches Hausmädchen, das ganz offensichtlich den einen oder anderen Weihnachtskeks zu viel genascht hatte, brachte einen weiteren Gang. Die 6-jährige Bianca stocherte in etwas herum, das wie Kaviar aussah. Sie hasste es, aber würgte es dennoch hinunter. Von der anfänglichen Weihnachtsstimmung, die das Haus ausstrahlte, war bei weitem nichts mehr zu spüren. Niemand sprach ein Wort. Alle aßen ohne den anderen anzusehen und starrten auf ihren Teller. Nur Bianca schaute hin und wieder zu ihrer Mutter, die sie dann mit strengem Blick darauf hinwies weiter zu essen. Ihren Vater würdigte Bianca keines Blickes. Sie hatte ganz offensichtlich Angst vor ihm – sogar mehr Angst als das Dienstmädchen vor ihm hatte. So war das jeden Abend. Bianca wollte es nur einfach schnell hinter sich bringen.

Nachdem The Doors die letzten Takte von Break on Through gespielt hatten, machte sich aus dem nebenanliegenden Waldstück eine Eule bemerkbar. Kathi drehte sich erschrocken um. Es regnete noch immer. Als sie wieder zu sich kam, beschloss sie nach ihrem Handy zu suchen. Dieser Idiot! Wie konnte er es nur ins Feld werfen? Von der CD im Auto ertönten die ersten Takte von Whole Lotta Rosie. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an den Tag, an dem sie Ray das erste Mal sah.

Kathi saß allein in der letzten Reihe. Das hatte in der Volksschule so begonnen, wo sie zwei Mal sitzengeblieben war und setzte sich jetzt auch in der Hauptschule fort.

Die Schulglocke läutete zur ersten Stunde, aber Kathi hörte sie nicht, da aus ihrem MP3-Player, den sie vorige Woche einem Maturanten am Busbahnhof geklaut hatte, Bon Scott von AC/DC Whole Lotta Rosie zum Besten gab. Ach, Bon Scott, dachte sie, der beste Sänger, den die Band je hatte.

Die Lehrerin kam fröhlich in die Klasse spaziert, doch an diesem Tag war sie nicht allein. Ein kleiner, 14-jähriger, schmächtiger, schüchterner Junge stand neben ihr und versuchte niemanden anzusehen. Die Lehrerin stellte Ray seinen neuen Mitschülern vor und deutete ihm sich zu setzen, während sie sich dem Klassenbuch zuwandte. Langsam blickte Ray von einem Tisch zum anderen. In der zweiten Reihe saß ein großer dunkelhaariger Junge mit mehr Gel in den Haaren als David Beckham. Es war offensichtlich, dass er der coolste Junge der Klasse, ja, vielleicht sogar der gesamten Schule war. Als Ray sich näherte, nahm der Junge seinen Rucksack vom Boden und stellte ihn demonstrativ auf den Sessel neben sich.

„Besetzt“, sagte der Junge und grinste Ray böse an. Die anderen Schüler kicherten und Ray ging beschämt weiter auf die Suche nach einem Sitzplatz. Drei weitere Schüler gaben ihm unmissverständlich zu verstehen, dass sie nicht neben ihm sitzen wollten. Verunsichert drehte Ray sich zur Lehrerin um, die das Klassenbuch zuschlug und dann auf die letzte Reihe zeigte.

Als er sie sah mit ihren langen braunen Haaren, die ihr in Strähnen ins Gesicht hingen, mit ihren schwarz umrandeten Augen, mit ihrem zerrissenen T-Shirt, auf dem ein Totenkopf abgebildet war, und ihrem Lippenpiercing – das hatte ihr übrigens ein anderes Mädchen im Kinderheim mithilfe einer Stecknadel gestochen, worauf Kathi ihr im Affekt die Nase brach – war Ray gleich noch verunsicherter. Mit großen fragenden Augen starrte er die Lehrerin an, doch die nickte ihm nur aufmunternd zu und Ray ging langsam in die letzte Reihe. Er fühlte sich sichtlich unwohl, sich neben Kathi zu setzen. Die anderen Kinder schauten ihn an, tuschelten und kicherten.

Kathi musterte Ray von oben bis unten. Mit einem bedrohlichen Blick, der sogar Marilyn Manson Angst gemacht hätte, gab sie ihm zu verstehen, sie besser in Ruhe zu lassen.

Die Lehrerin bat dann die Schüler, ihre Hausübungen vor sich auf den Tisch zu legen und ging von Platz zu Platz um diese zu kontrollieren. Kathi griff genervt in ihren alten, mit Filzstiften verunstalteten Rucksack und legte widerwillig den Zettel vor sich auf den Tisch. Die Aufgabe war es, die wichtigsten Infos über ein Musikinstrument ihrer Wahl aufzuschreiben. Kathi hatte sich die Gitarre ausgesucht. Im ersten Absatz hatte sie stehen Eine Gitarre besteht aus 5 Seiten. Ray wollte ja nicht hinsehen – er hatte richtig Angst vor Kathi – aber als er den Fehler nach einem flüchtigen Blick bemerkte, ließ ihn das nicht mehr los. Er holte einen Stift aus seinem Rucksack und besserte in einem unbeobachteten Moment die 5 zu einer 6 und die Seiten zu Saiten aus. Als Kathi das mitbekam, schlug sie ihm auf die Finger. Verdammt, tat das vielleicht weh! Ray versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihm ziemlich sicher die Finger gebrochen hatte.

Die Lehrerin kam vorbei, überflog den Text und setzte einen Haken darunter. „Sehr gut“, lächelte sie.

Ray konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen – er wollte nicht lachen und dachte an all die schlimmen Dinge, die ihm in seinem kurzen Leben schon zugestoßen waren; die Drogen und der Alkohol um ihn herum, die N‘Sync CD, die ihm sein bester Freund Alex als Aprilscherz in die Bon Jovi CD-Hülle gepackt hatte. Immer wenn er ernst bleiben musste, rief er sich diese einschneidenden schrecklichen Erlebnisse in Erinnerung, doch diesmal half es nichts. Er musste einfach lächeln. Kathi versuchte ihn zu ignorieren. Sie hasste Besserwisser. Das würde ja ein tolles Schuljahr werden mit dieser Nervensäge.

In der großen Pause zeichnete Kathi etwas in ihr Heft. Ray saß daneben und sah sich um, während die anderen Kinder durch die Klasse liefen. Niemand schien sich sonderlich für die zwei Außenseiter in der letzten Reihe zu interessieren.

„Was zum Teufel willst du überhaupt hier?“ fragte Kathi plötzlich. Ray wusste nichts mit der Frage anzufangen und ignorierte sie deshalb.

„Bist du taub?“ fragte Kathi wieder.

Ray nahm all seinen Mut zusammen und antwortete: „Nein. Ich verstehe nur deine Frage nicht.“

Kathi begann zu lachen. „Gut, dann bist du vielleicht nicht taub, aber dumm bist du auf alle Fälle“, schnaubte sie verächtlich. „Wieso bist du hier? Ich meine, solltest du nicht in Afrika sein, oder so?“

„Und du fragst mich, ob ich dumm bin?“

Ray kam nicht dazu zu bereuen, was er gerade gesagt hatte, denn ein großes, blondes Mädchen, wahrscheinlich das hübscheste Mädchen, das er je gesehen hatte, unterbrach seine Gedanken: „Schaut mal! Arm trifft schwarz. Na, wenn das mal kein absolutes Dreamteam ist.“

Die gesamte Klasse begann zu lachen und Ray bereute sofort, dass er sie vor zwei Sekunden noch hübsch gefunden hatte. Alle sahen in die letzte Reihe, wo Kathi ihren Bleistift so fest zusammendrückte, dass er in der Mitte auseinanderbrach. Ray war bis jetzt in jeder neuen Klasse gehänselt worden, aber diesmal hatte er sich geschworen, dass alles anders wird. Von wegen…

Kathi schaute zuerst ihn und dann die Blonde in der ersten Reihe an. Wenn Blicke töten könnten. Sie atmete tief ein und aus. Die anderen Schüler lachten noch immer und zeigten mit dem Finger auf Kathi und Ray, als Kathi plötzlich aufsprang, über den Tisch hechtete und auf das blonde Mädchen zulief, das schützend die Arme vors Gesicht hob. Kathi war kurz davor ihr eine runterzuhauen, als plötzlich die Lehrerin vor ihr stand.

„Kathi? Bianca? Gibt es ein Problem?“

Kathi, die noch immer mit drohendem Blick und geballter Faust auf Bianca starrte, rührte sich nicht von der Stelle. Aber Bianca ging einen Schritt zurück und hob unschuldig die Hände in die Höhe. „Ja, Frau Mayer. Gut, dass sie da sind. Kathi hat aus heiterem Himmel gemeint, dass sie mich verprügeln will und stürzte sich dann auf mich.“

„Stimmt das, Kathi?“

Da von Kathi keine Antwort kam, schaute sich die Lehrerin in der Klasse um. Niemand sagte auch nur ein Wort. Alle schauten auf den Boden und versuchten unter allen Umständen den Blickkontakt mit der Lehrerin zu vermeiden. Niemand wollte die Wahrheit sagen. Einerseits hatten sie Angst vor Bianca, deren Vater sehr einflussreich war und sehr viel Geld hatte und andererseits vor Kathi, die sie alle – die Jungs eingeschlossen – mit einem Schlag umhauen hätte können.

„So war es nicht“, krächzte plötzlich eine leise Stimme aus der letzten Reihe. Alle drehten sich schlagartig um und sahen Ray an, der unsicher mit seinen Fingern spielte. Bianca, die ihre Hände mittlerweile in die Hüften gestemmt hatte, sah ihn böse an. Kathi ebenso.

Die Lehrerin unterbrach die Stille. „So? Wie war es denn?“

„Bianca hat sie provoziert. Kathi hat gar nichts gemacht.“

Bianca konnte nicht glauben, was sie da hörte. Noch nie zuvor hatte ihr jemand widersprochen. Die Lehrerin ermahnte Bianca, die daraufhin trotzig aus der Klasse stürmte. Kathi setzte sich zurück auf ihren Platz und von den anderen Schülern nahm bald niemand mehr Notiz von den beiden.

„Ich brauche deine verdammte Hilfe nicht“, fauchte Kathi Ray an, während sie sich setzte.

„Ich dachte…“

„Halt einfach deine bescheuerte Klappe, du Idiot!“ fuhr sie ihn zähneknirschend an. „Wenigstens habe ich nach der nächsten Stunde bis morgen meine Ruhe vor dir.“

„Wieso?“

„Weil wir Turnen haben, du Idiot!“

Aus Rays Gesicht wich schlagartig die Farbe Er hasste Turnen. Er hasste Fußball, Geräteturnen und alles was man sonst noch in diesem dämlichen Fach machen konnte. Er war schmächtig, nicht besonders schnell und nie hatte ihn bisher jemand im Team haben wollen. Ballsportarten hasste er grundsätzlich. Er wurde immer als Letzter ins Team gewählt und selbst wenn nur noch er zur Auswahl stand, taten die anderen so, als würden sie ihn nicht sehen und begannen einfach mit dem Spiel. Ray stellte sich dann während des Spiels in die hintere Ecke des Turnsaals und versuchte sich nicht in das Spiel einzumischen.

Kathi wollte zwar nicht mit ihm reden, aber ihre Neugier war größer als ihr Hass. „Was hast du gegen Turnen?“

„Nichts“, erwiderte Ray kleinlaut. „Es ist nur, ich bin nicht so gut darin.“

„Was?“ lachte Kathi. „Wie kann man nicht gut in Turnen sein? Du musst doch nur ein bisschen herumlaufen.“

Ray schaute beschämt auf den Boden und erzählte ihr die ganze Geschichte. Kathi dachte kurz nach, packte ihre Sachen und stand dann auf.

„Kommst du oder nicht?“ fragte sie trotzig. Ray zögerte nicht mal eine Sekunde. Einen Freund zu haben, war ihm zehnmal wichtiger, als Ärger wegen einer verpassten Schulstunde zu bekommen.

Die beiden schlichen Richtung Turnsaal und nachdem sich Kathi vergewissert hatte, dass er leer war, schmiss sie ihren Rucksack in eine Ecke und holte eine Matte aus der Gerätekammer. Ray, der zögerlich hinter ihr stand, sah sie entgeistert an.

„Worauf wartest du noch?“ fragte sie. „Mach 20 Liegestütze!“

Ray stellte vorsichtig seinen Rucksack neben ihrem ab. Die Angst war ihm ins Gesicht geschrieben Er kniete sich auf den Boden, beugte seine Ellenbogen, kam aber nicht mehr hoch und musste sich entkräftet auf seinen Bauch fallen lassen. Kathi prustete laut los und Ray stand genervt auf. „Ich bin nicht mitgekommen um mich von dir bloßstellen zu lassen“, sagte er leise und schnappte sich seinen Rucksack.

„Hey! Wo willst du hin?“ rief sie und rannte ihm hinterher. „Willst du es lernen oder nicht?“

„Wieso soll ich ausgerechnet von dir Hilfe annehmen?“

Sie hätte es nie zugegeben, aber sie fand es cool, dass er ihr vorhin in der Klasse zur Seite gestanden hat. Außerdem war ihr klar, dass es besser war, Ray zu haben als gar niemanden. Sie zuckte mit den Schultern. „Einfach so.“

Ray sah ihr nach, als sie zurück zur Matte ging und mühelos 20 Liegestütze schaffte. Er atmete tief durch und ging dann zu ihr zurück.

Nachdem die beiden nach etwa 20 Minuten herausgefunden hatten, dass Ray weder schnell laufen, noch einen Ball fangen, geschweige denn werfen konnte, beim Versuch ein Seil hinaufzuklettern kläglich scheiterte und sein missglückter Bocksprung nach Impotenz schrie, hatte Kathi eine Idee. „Ich weiß, wie wir uns in der Nacht in ein Fitnessstudio schleichen können. Heute 10 Uhr. Bist du dabei?“

Ray wusste nicht so recht, ob sie es wirklich ernst meinte, aber er willigte ein. Was hatte er schon zu verlieren? Ob sie ihn jetzt in der Nacht ermordete oder ob er weiterhin ständig von den stärkeren Jungs in seiner Klasse gehänselt wurde, war auch schon egal.

Von da an trainierten die beiden jeden Abend. Gegen Mitternacht schlichen sie heim, schliefen sechs Stunden, waren am Vormittag zwar furchtbar müde, aber das war es wert. Während Ray Gewichte stemmte, fragte er Kathi über den Stoff zur nächsten Schularbeit ab. Kathi brachte ihm bei, wie man Fußball und Basketball spielt und zeigte ihm ein paar Sprünge am Skateboard. Die beiden ergänzten sich perfekt. Ray wurde stärker und Kathi wurde klüger. Und auch wenn Bianca die nächsten Wochen nach dem Vorfall in der Klasse immer wieder versucht hatte, die beiden bei den Lehrern anzuschwärzen, so gelang es ihr nie, die beiden auseinander zu bringen – Kathi und Ray waren, wie Bianca das ausdrücken würde, arm und schwarz, und ein echtes Dreamteam.

Über die Jahre, wer hätte das gedacht, wurden sie die allerbesten Freunde und waren unzertrennlich. Nur eines sind die beiden nie geworden... ein Liebespaar.

1. Kathi

Verdammt, dachte ich, als ich die Augen öffnete und Ray neben mir schlafen sah. Ich konnte bestimmt nie wieder Radiohead hören ohne an das hier denken zu müssen.

Ray schlief tief und fest. Er hatte einen Arm um mich gelegt, seine Haut klebte auf meiner. Ich musste hier weg. Ich wollte nicht mit ihm darüber reden. Nicht jetzt. Nicht wo wir nackt waren. Vorsichtig schlich ich aus dem Bett – Zentimeter für Zentimeter. Mir war schwindelig und schlecht, aber ich versuchte mich zusammenzureißen. Ich sammelte meine Sachen vom Boden auf und tappte auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Im Wohnzimmer zog ich mich an und sah mich um. Als ich merkte, dass ich genau an der Stelle stand, wo gestern alles begonnen hatte, hüpfte ich schnell einen Schritt zur Seite. Verdammter Mist!

Ja, genau hier hat gestern Abend alles angefangen. Ich erinnerte mich wieder wie wir, uns gegenseitig stützend, durchs Stiegenhaus getorkelt waren nach einer absolut langweiligen Party und jeder Menge Joints und Bier. Ray hatte noch gemeint, ich soll nicht so einen Lärm machen damit wir die dämliche Studentin aus dem Erdgeschoss, die mich sowieso schon nicht leiden konnte, nicht wecken. Aber da kannte er mich schlecht. In voller Lautstärke schrie ich den Refrain von Say It Ain’t So von Weezer, während wir uns die Treppe in den zweiten Stock hinauf kämpften.

„Ich muss kotzen.“

„Nein, Ray. Du kannst jetzt nicht kotzen“, lallte ich und setzte mich auf die Stufen. Ich war so müde. Warum war ich plötzlich so müde?

Gemeinsam robbten wir in den dritten Stock. Als wir endlich vor Rays Tür standen, fiel ihm der dämliche Schlüssel runter. Ich wollte mich nicht bücken. Ich war betrunken und high und müde. „Zum Wegwerfen reicht’s“, lachte ich.

„Zum Wegwerfen reicht’s“, wiederholte Ray ein paar Mal. „Was hast du nur immer mit diesem blöden Satz?“

Ich lehnte mich gegen die Tür und schloss die Augen. Alles drehte sich.

„Okay“, lallte Ray. „Ich sehe unser Dilemma hier.“ Beide starrten wir ewig lang auf diesen doofen Schlüssel.

„Das Problem ist Folgendes“, fing ich an zu philosophieren, was ich immer im betrunkenen Zustand tat. „Wenn wir uns bücken, kommen wir wahrscheinlich nicht mehr auf.“

„Seeehr richtig.“

„Aber wenn wir es nicht tun, müssen wir sowieso hier am Gang schlafen, weil wir nicht reinkommen, verstehst du?“ lallte ich.

„Oder aber du bückst dich, fällst um, hältst mir den Schlüssel hoch, ich sperre auf und ziehe dich dann in die Wohnung.“

„Was? Wieso kannst nicht du umfallen und ich zieh dich hinein?“

„Weil ich schwerer bin als du.“

„Aber ich bin stärker als du.“

„Okay, ich hab eine andere Idee. Wir bücken uns jetzt einfach und versuchen das. Das kann doch nicht so schwer sein.“

Entkräftet ließ ich meinen Kopf gegen Rays Brust fallen. Ich hätte auch im Stehen einschlafen können, aber wir mussten das jetzt durchziehen.

„Kathi. Reiß dich zusammen! Auf drei.“

„Drei“, schrie ich, bückte mich, griff nach dem Schlüssel, sperrte auf und wir stolperten endlich in Rays Wohnung.

Ich konnte einfach nicht glauben was gestern Nacht passiert war. Langsam torkelte ich in die Küche und trank gefühlte zwei Liter Wasser. Verdammt, ich war so durstig. Irgendwann stellte ich das Glas ab und ohne nachzudenken hielt ich meinen Kopf unter den eiskalten Wasserstrahl. Ich wollte schreien vor Schreck, aber riss mich zusammen. Danach schmiss ich meinen Kopf nach hinten. Meine nassen Haare klatschten auf meinen Rücken.

Ich trank noch ein Glas Wasser und ging dann zurück ins Wohnzimmer. Wie viele Stunden hatte ich hier schon verbracht und es war nie so etwas wie gestern passiert. Noch nie. Nicht mal annähernd! Stundenlang saßen wir oft auf dieser Couch, hörten Musik, tranken etwas, rauchten etwas, schauten Filme, hatten Spaß. Tja, das hatte sich wohl somit ab sofort erledigt. Vielleicht lag es an der Musik? Ich ging zum Radio und nahm die CD raus. Ich schaute sie lang an, wollte sie am liebsten zerbrechen, aber ich brachte es nicht übers Herz. Verdammt nochmal, es handelte sich schließlich um Radiohead. Auf der Rückseite der Platte sah ich mein Spiegelbild. Eine Strähne meiner nassen Haare klebte quer über meine Stirn. Meine Augen waren rot und geschwollen. Verronnene Wimperntusche war mir auf die Schläfe und über die Wange gelaufen. Ich sah echt furchtbar aus.

Ich ging ins Bad, sorgte dafür, dass ich wieder einigermaßen aussah wie ein normaler Mensch und beeilte mich, dass ich aus dieser verdammten Wohnung verschwand.

Im Erdgeschoss lief ich der Studentin aus Wohnung Nummer 2 über den Weg. Ich grüßte sie freundlich, weil ich wusste, dass sie das ärgerte. Aber in Wahrheit war mir scheißegal was sie dachte. Ich würde dieses Haus sowieso nie wieder betreten.

Eigentlich hatte ich keinen Plan, wo ich überhaupt hinwollte. Ein paar Jogger liefen an mir vorbei. Wie konnte man um diese Uhrzeit nur so motiviert sein? Wie konnte man überhaupt jemals zum Joggen motiviert sein? Ich sah auf mein Handy und bemerkte, dass es schon 11.00 Uhr war. Ich überlegte kurz was essen zu gehen, aber eigentlich hatte ich keinen Hunger. Mir war so schlecht. Oh Gott, war ich etwa schwanger? Geht das so schnell? Ich versuchte mich zu erinnern, ob wir verhütet hatten. Es wollte mir nicht so recht gelingen. Ich hatte keine Ahnung. Es ging alles so schnell. Nein, da lag doch vorhin eine leere Kondompackung auf meinem Shirt am Boden.

Ich nahm wieder mein Handy und überlegte für den Bruchteil einer Sekunde, ob ich Ray anrufen sollte. Irgendwie fehlte er mir. In den letzten acht Jahren war kein Tag vergangen, an dem wir uns nicht gesehen haben. Er ist der einzige Mensch, mit dem ich mich noch nie gestritten habe. Noch nie. Er war immer für mich da. Ich war immer für ihn da. Und letzte Nacht waren wir beide ein bisschen zu viel für einander da.

Ich nahm mein Handy wieder aus der Tasche und begann zu tippen. Hi, ... Weiter kam ich nicht. Mir fiel nichts ein, verdammt! Ray war auf einmal online. Ich löschte den Text wieder, schmiss mein Handy zurück in die Tasche und ging weiter.

An einer Kreuzung rempelte mich aus Versehen eine Frau an.

„Kannst du nicht aufpassen?“ schnauzte ich sie genervt an und ging weiter. Immer dieser rücksichtslosen Idioten.

„Entschuldige“, sagte sie und sah mich an. Ich drehte mich kurz zu ihr um, um ihr nochmal mein genervtes Gesicht zu zeigen und plötzlich traf es mich wie ein Schlag. Ich kannte die doch! Verdammt, woher kannte ich die nur? Ich starrte sie an. Es wollte mir einfach nicht in den Sinn kommen wo ich die Alte schon mal gesehen hatte. Vielleicht von früher? Ich war zwar erst 22, aber hatte schon so viele verkorkste Menschen kennengelernt. An diesen eiskalten Blick erinnerte ich mich. Sie trug alte, zerrissene Kleidung, war weiß, etwas größer als ich, vielleicht 1,70. Ich legte ja eigentlich keinen Wert auf das Äußere eines Menschen, aber ihre grauen Haare hätten auch mal wieder ein bisschen Shampoo vertragen.

Sie hatte mich erkannt. Das konnte ich an ihrem Gesichtsausdruck sehen. Sie grinste mich mit ihren tiefblauen Augen an und ging dann weiter. Mir lief es eiskalt den Rücken runter.

2. Ray

Endlich wusste ich wie es sich anfühlte, wenn mein Kopf explodierte. Ich blinzelte mit einem Auge, aber das Licht war als Hilfe gegen meine Kopfschmerzen eher kontraproduktiv. Ein pochender Schmerz ließ mich zusammenzucken. Ich versuchte wieder einzuschlafen, aber das wollte mir nicht so recht gelingen. Langsam öffnete ich beide Augen und kramte nach meinem Handy, das irgendwo am Boden neben meinem Bett lag. Keine neuen Nachrichten. Ich quälte mich aus dem Bett. Ich schwör‘s euch, ich hatte noch nie zuvor so schlimme Kopfschmerzen gehabt. Scheiß Drogen. Wenn ich mich nicht besser gekannt hätte, hätte ich euch ja versprochen, nie wieder was zu rauchen, aber hey, wem machte ich eigentlich was vor?

Am halben Weg zur Tür merkte ich, dass ich nackt war. Wieso zum Teufel war ich nackt? Mein Shirt, meine Jeans und meine Schuhe lagen über den Boden verstreut. Daneben eine leere Kondompackung, aber ich dachte mir nichts weiter dabei und ging ins Wohnzimmer. Kathi war nicht da. Normalerweise schlief sie immer auf der Couch. Neben dem Radio lag eine Radiohead-CD. Da ich es hasste, wenn es ruhig war und ich praktisch immer Musik im Hintergrund laufen hatte, drückte ich auf Play.

S C H E I S S E!!! Plötzlich war alles wieder da. Ich sah sie vor mir, auf mir, unter mir…

„Gute Nacht“, sagte ich, als wir es endlich in meine Wohnung geschafft hatten und torkelte in mein Schlafzimmer.

„Gute Nacht, Ray.“ Sie schaute mich an und kämpfte sich zur Couch. Sie war erstaunlich fit für das ganze Zeug, das wir heute geraucht hatten. Ich schaute ihr noch zu, stand an die Wand neben meiner Schlafzimmertür gelehnt.

Kathi schaltete den CD-Player ein. Die ersten Takte von Radioheads Just ertönten und mit einem freudigen „Yes!“ ließ sich Kathi auf die Couch fallen und schloss die Augen. Leise sang sie mit. Sie hatte keine Ahnung, dass ich sie beobachtete. Nach einer Weile drehte sie sich um und sie begann zu lächeln, als sie sah, dass ich sie beobachtete. Mühevoll kämpfte sie sich von der Couch hoch und kam zu mir, während sie leise den Text ihres Lieblings-Radiohead-Klassikers vor sich hin murmelte. Sie lehnte sich an meine Brust und sang weiter. Ich hatte meine Arme um ihre Hüften gelegt.

„Gute Nacht“, sagte sie und wollte zurück zur Couch gehen, aber ich wollte sie nicht gehen lassen. Ich griff nach ihrer Hand und war mit einem Mal wieder voll bei mir. Ich beugte mich zu ihr runter und küsste sie. Ihre Hüften zog ich ganz fest an mich; es war perfekt. Als ich merkte, was ich getan hatte, lehnte ich mich erschrocken zurück an die Wand. Sie sah mich verstört an, es dauerte aber keine zwei Sekunden bis sie mich auch küsste. Im Hintergrund dröhnte uns Thom Yorke die Ohren zu, während wir ins Schlafzimmer stolperten.

Wie ein Verrückter rannte ich zurück ins Schlafzimmer und nahm mein Handy. Keine verpassten Anrufe, keine Nachrichten. Sollte ich ihr schreiben? Wenn ja, was? Ich ging in den Chat und sah, dass Kathi gerade online war. Kathi schreibt... Ich beschloss zu warten und schaute mich um. Nach ein paar Sekunden war noch immer keine Nachricht da und am Display stand Kathi zuletzt online heute um 11.02 Uhr. Ich schrie laut „Scheiße!“, schaltete mein Handy aus und warf es auf mein Bett.

Während ich ins Bad rannte, stolperte ich über einen Stuhl, brach mir fast den Arm, zog mich dann an, schnappte mir meinen MP3-Player und rannte aus der Wohnung. Ich musste hier raus. Wie ein Irrer lief ich durch die Stadt. Durch den Stadtpark, vorbei an der Uni, alle möglichen Straßen rannte ich auf und ab. Mir war schlecht, schwindelig, aber ich wollte einfach rennen – und zwar Vollgas. Immer wieder flackerten Momente von gestern Nacht in meinem Kopf auf und ich versuchte, sie zu verdrängen und rannte noch schneller. Und so sprintete ich etwa eine Stunde lang durch die Stadt. In meinen Ohren dröhnten Audioslave, Velvet Revolver und BRMC.

Ich habe mit meiner besten Freundin geschlafen. Es würde nie wieder so sein wie zuvor…

Ich war fast wieder bei mir zu Hause angekommen, als ich sie sah. Die einzige Person auf dieser Welt, die mich noch mehr aus dem Konzept bringen konnte als Kathi. Aus meinen Kopfhörern dröhnte noch immer Show Me How to Live von Audioslave.

Sie saß auf einer Bank, wo sie anscheinend auf den Bus wartete und suchte in ihrer Tasche nach einem Feuerzeug. Eine unangezündete Zigarette hing in ihrem Mundwinkel. Sie hatte mich noch nicht gesehen und ich versteckte mich hinter einem Baum, hatte aber trotzdem eine gute Sicht auf sie.

Da saß sie also, mit diesen kalten blauen Augen, den grauen ungewaschenen Haaren und der dreckigen Kleidung. Seit sieben Jahren hatte ich sie nicht mehr gesehen. Sie sah sich immer wieder um, doch es war niemand in Sichtweite, den sie um ein Feuerzeug hätte bitten können. Sie begann ihre Handtasche zu leeren und nur für den Bruchteil einer Sekunde sah sie auf. Genau in meine Richtung. Verdammt! Ich schreckte zurück, in der Hoffnung, dass sie mich nicht entdeckt hatte. Mein Herz raste, obwohl mich normalerweise nichts so schnell aus der Fassung bringen konnte, aber bei dieser Frau war das anders. Ich traute mich nicht, wieder hinter dem Baum hervorzuschauen. Ich hatte Angst, dass sie mich entdecken würde. Vermutlich war sie schon auf dem Weg zu mir. Während mir heiß wurde, lief es mir gleichzeitig eiskalt den Rücken hinunter.

3. Bianca