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© 2017 Mag. Saam Faradji

Autor: Mag. Saam Faradji

Lektorat: Emanuel Munkhambwa

Umschlaggestaltung und Layout: Alexandra Della Toffola

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH

ISBN: 978-3-99057-606-9 (Paperback)

ISBN: 978-3-99057-607-6 (Hardcover)

ISBN: 978-3-99057-608-3 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Saam Faradji

Das Aschenputtel-Prinzip

Von Selbstkritik und Strenge zu mehr Selbstliebe und Lebensfreude

Vorwort

Das Buch bietet eine praxisnahe und gut lesbare Anleitung zum Verständnis von psychischen Leidenszuständen und den Möglichkeiten der Veränderung auf Basis von Herangehensweisen aus verschiedenen psychologisch-psychotherapeutischen Richtungen.

Ausgehend vom Grundsatz, dass die Kindheit mit ihren erfüllten oder nicht erfüllten Grundbedürfnissen und den damals dadurch entwickelten Grundüberzeugungen und Glaubenssätzen auch unser Leben als Erwachsene wesentlich bestimmt, werden die möglichen Ursachen des Leidens und die Zusammenhänge zwischen Gedanken, Gefühlswelt und unseren Verhaltensweisen bzw. Bewältigungsstrategien dargestellt.

Die Anleitungen zum inneren Kompass für ein erfülltes Leben sollen Mut machen, dass Veränderung möglich ist.

Das Buch gibt Hilfestellung bei psychischen Problemen und weckt auch Interesse an einer „psychotherapeutischen Reisebegleitung“.

Univ.-Prof. Dr. Gerhard Lenz

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin
Psychotherapeut (Verhaltenstherapie)

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Konzepte zu den Ursachen von Leid und Glück

1. Die Ursache des Leidens verstehen

1.1. Leiden, ein Warnsignal

1.2. Leiden und die Richtung, in die wir uns bewegen

2. Die veraltete Landkarte

2.1. Die innere Landkarte

2.2. Erfahrungen, die uns prägen

3. Gedanken – die inneren Stimmen, die uns lenken

3.1. Die Macht der Gedanken

3.2. Von Gedanken zu Emotionen

4. Das Bündnis mit unseren Emotionen

4.1. Die Eigenschaften unserer Emotionen

4.2. Unseren Emotionen vertrauen, aber welchen?

4.3. Der Ausdruck unserer Emotionen

5. Das Aschenputtel-Prinzip

5.1. Die Beziehung zu uns selbst

5.2. Wertschätzung erleben – seien Sie sich selbst ein guter Freund!

6. Ein erfülltes Leben leben

6.1. Die Realität, die wir für uns kreieren

6.2. Der innere Kompass

6.3. Verbundenheit in Beziehungen erleben

Nachwort

Von Konzepten zu Erfahrungen

Werkzeuge und Übungen für den Alltag

WERKZEUG 1
Ziele hinsichtlich Kontrolle überprüfen

WERKZEUG 2
Gedanken hinsichtlich ihrer Nützlichkeit überprüfen

WERKZEUG 3
Vom Müssen zum Wollen

ÜBUNG 1
Den Tag nach den eigenen Werten gestalten

ÜBUNG 2
Wertschätzung für sich selbst entwickeln

ÜBUNG 3
Wertschätzung für andere entwickeln

ÜBUNG 4
Dankbarkeit erleben

ÜBUNG 5
Neue Wege gehen

Anhang

Danksagung

Literaturangaben

Einleitung

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

das Märchen von Aschenputtel erzählt die Geschichte eines Mädchens, das unter der ablehnenden und kritischen Haltung ihrer Stiefmutter und Stiefschwestern leidet. Am Ende der Geschichte findet sie jedoch ihr Glück durch die Beziehung zu ihrem Märchenprinzen. Vielleicht fragen Sie sich nun: „Was hat Aschenputtel mit meinem Leben zu tun?“ Sie wollen ja schließlich einen psychologischen Ratgeber lesen und kein Märchenbuch. Nun, dann lassen Sie mich die Brücke zwischen diesem Märchen und dem Inhalt dieses Buches herstellen:

Auch wenn böse Stiefmütter und -geschwister sowie Märchenprinzen wenig bis gar nichts mit Ihrem Leben zu tun haben, so können Sie sich wahrscheinlich sehr gut in Aschenputtel hineinversetzen und wissen, wie sich sowohl eine ablehnende als auch eine wohlwollende Beziehung anfühlt. Diese Märchenfiguren stehen hier symbolisch für die Qualität der Beziehung, die jeder von uns gut kennt.

In diesem Buch beschäftige ich mich jedoch nicht voranging mit zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern hauptsächlich damit, wie wir mit uns selbst umgehen – oder, genauer gesagt, mit unseren verletzlichen Anteilen. Das Aschenputtel repräsentiert unsere verletzlichen Anteile, zu denen wir entweder eine ablehnende Haltung (Stiefmutter und Stiefschwestern) oder eine wohlwollende Haltung (Prinz) einnehmen können. Denn dieser Umgang, den ich in den folgenden Kapiteln noch detailliert beschreiben werde, übt mehr Einfluss auf unser Glück und Leid aus als die uns umgebenden äußeren Umstände.

Bei der Erläuterung des Aschenputtel-Prinzips beziehe ich mich auf verschiedene psychologische, psychotherapeutische und buddhistische Konzepte, die ich in diesem Buch teilweise umgewandelt und miteinander zu vereinen versucht habe. Den größten Einfluss auf dieses Buch üben, neben der kognitiven Verhaltenstherapie, die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), die Gewaltfreie Kommunikation (GFK), die buddhistische Meditationslehre Vipassana sowie die Forschungsarbeiten von Klaus Grawe aus. Aber auch Konzepte aus emotionsfokussierten Ansätzen, der Positiven Psychologie, dem Achtsamkeitstraining (MBSR) und der Schematherapie wurden bei den Inhalten dieses Buches mitberücksichtigt.

In Kapitel 1 beschreibe ich, wie das Leiden als Warnsignal auf unsere unerfüllten Bedürfnisse hinweist und wie unsere Reaktionen in diesen Situationen maßgebend dazu beitragen, unser Leiden entweder zu reduzieren oder zu vergrößern.

In Kapitel 2 zeige ich auf, wie unsere Kindheit und die damals entwickelten Grundüberzeugungen und Glaubenssätze immer noch unser Leben als Erwachsene bestimmen.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit unseren Gedanken sowie deren Einfluss auf unsere Handlungen und Gefühle, und warum es wichtig ist, diese nicht mit der Realität zu verwechseln.

Kapitel 4 zeigt auf, welche Bedeutung unsere Emotionen für unser Leben haben und wie unsere Haltung ihnen gegenüber entweder zu unserem Glück oder Leid beitragen kann.

Kapitel 5 handelt von unserer Beziehung zu unseren verletzlichen Anteilen. Es erklärt, warum eine kritische Haltung gegenüber diesen Anteilen für uns nicht förderlich ist – auch wenn sie uns durchaus vertraut erscheint – und wie eine wertschätzende Haltung ihnen gegenüber zu unserem Wohlergehen beitragen kann.

In Kapitel 6 schildere ich, durch welche Schritte wir zur Erfüllung unserer Bedürfnisse und somit zu einem erfüllten Leben beitragen können.

Zur besseren Veranschaulichung finden sich im Buch sowohl Fall- als auch metaphorische Beispiele. Die Fallbeispiele helfen, aufgrund ihrer Nähe zum Alltagsgeschehen, die Theorie auf die Praxis zu übertragen. Die metaphorischen Beispiele wiederum ermöglichen es uns, aufgrund ihrer abstrakten und illustrierten Darstellung, altbekannte Gedankenmuster von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. Weiters finden sich im Buch auch immer wieder Auszüge aus dem Märchen, die Parallelen zwischen dem jeweiligen Thema und dem Aschenputtel herstellen. Um die Anonymität meiner Klienten zu bewahren, wurden die Fallbeispiele hinsichtlich relevanter Merkmale verändert. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen können somit nur rein zufällig sein.

Genderhinweis: Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit, wurde bei allen Bezeichnungen, die auf Personen bezogen sind, auch wenn diese sich auf beide Geschlechter bezieht, die männliche Form gewählt.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen des Buches und hoffe Sie können das Eine oder Andere für sich persönlich mitnehmen. Darüber hinaus freue ich mich auf Ihr Feedback, das Sie gerne an info@faradji.at senden können.

Herzlichst,
Ihr Saam Faradji

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Konzepte zu den Ursachen von Leid und Glück

K A P I T E L 1

Die Ursache des Leidens verstehen

Einem reichen Manne, dem wurde seine Frau krank, und als sie fühlte, dass ihr Ende herankam, rief sie ihr einziges Töchterlein zu sich ans Bett und sprach: „Liebes Kind, bleibe fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken, und will um dich sein.“ Darauf tat sie die Augen zu und verschied.

Im Laufe unseres Lebens ist jeder früher oder später mit Situationen konfrontiert, die sehr schmerzhaft sein können. Denn Krankheiten, Altersgebrechen oder der Verlust von geliebten Menschen sind Bestandteile des Lebens. Auch im Alltag sind wir mit zwischenmenschlichen Konflikten, Enttäuschungen oder anderen herausfordernden Situationen konfrontiert, wie beispielsweise Arbeitslosigkeit oder finanziellen Schwierigkeiten. Es ist nachvollziehbar, dass wir unter diesen Bedingungen oft leiden. Dabei ist es jedoch wichtig das Leiden nicht bloß als eine „psychische Krankheit“ zu betrachten, die einer medikamentösen Behandlung bedarf – wie es zunehmend der Fall ist – sondern es als ein wichtiges Warnsignal anzuerkennen, das uns darauf hinweist, dass wir uns gegenwärtig von einem für uns erfüllten Leben entfernen.

Leiden, ein Warnsignal

Menschen haben sowohl körperliche als auch psychische Grundbedürfnisse. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse ist Voraussetzung für unser Wohlergehen. Körperliche Grundbedürfnisse sind beispielsweise das Bedürfnis nach Sauerstoff, Nahrung, Trinkwasser oder Schlaf. Man kann sich gut vorstellen, was passieren würde, wenn eines dieser Bedürfnisse nicht erfüllt werden würde. Es entstünde ein Leidensdruck, der uns sehr stark motivieren würde Schritte zu setzen, um zur Erfüllung dieses Bedürfnisses beizutragen. Würden wir nämlich diesbezüglich nichts verändern, wäre unsere Gesundheit und in späterer Folge auch unser Überleben gefährdet. Nehmen wir einmal an, jemand leidet an einer Lungenerkrankung und bekommt deshalb beim Stiegensteigen nicht genügend Luft. Würde diese Person versuchen die Stiegen noch schneller hinaufzugehen und sich dadurch von der Erfüllung des Bedürfnisses nach Sauerstoff entfernen, würde ihr Leidensdruck größer werden. Würde sie hingegen stehen bleiben oder ein Sauerstoffgerät aufsetzen, also zur Erfüllung dieses Bedürfnisses beitragen, dann würde ihr Leiden geringer werden.

Das Leiden ist somit ein Warnsignal, das uns darauf hinweist, dass eines unserer Grundbedürfnisse gerade nicht erfüllt wird und wir Veränderungen vornehmen sollten, die zu unserem Wohl beitragen. Dieses Warnsignal bezieht sich nicht nur auf die körperlichen, sondern auch auf unsere psychischen Grundbedürfnisse. Denn diese tragen sowohl zur Erhöhung unserer Überlebenschancen bei, als auch dazu, dass wir unser Leben als erfüllend erleben.

Während unser Leiden ein Hinweis darauf ist, dass wir uns von unserem Wohlergehen entfernen, entsteht in jenen Augenblicken, in denen wir den Eindruck haben der Erfüllung unserer Bedürfnisse näher zu kommen, ein Glücksgefühl. Deshalb ist jeder Schritt, den wir in unserem Leben setzen, mit der Intention verbunden, zu unserem Glück beizutragen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass uns alle Schritte unserem Glück letztendlich auch wirklich näherbringen. Bei diesen Schritten orientieren wir uns nämlich häufig nach dem Lust-/Unlust-Prinzip. Das bedeutet, dass wir unmittelbar nach angenehmen Erfahrungen streben und versuchen unangenehme oder schmerzhafte Erfahrungen zu vermeiden. Wenn uns beispielsweise bei einem nächtlichen Lagerfeuer kalt wird (unangenehme Erfahrung), gehen wir näher zum Feuer, um uns aufzuwärmen (angenehme Erfahrung), und tragen so zu unserem Wohlbefinden bei. Auch wenn das Lust-/Unlust-Prinzip in Bezug auf unsere körperlichen Grundbedürfnisse eine sehr bedeutende und oft lebenswichtige Funktion hat, so ist es trotzdem wichtig, zu erkennen, dass dieses Prinzip nur begrenzt und sehr oberflächlich zu unserem Glück beitragen kann und oft sogar unserem Glück im Weg steht.

Unsere psychischen Grundbedürfnisse

Wir Menschen haben eine Vielzahl von psychischen Bedürfnissen, wie beispielsweise nach Sicherheit, Autonomie, Wertschätzung oder nach Geborgenheit. Welche psychischen Bedürfnisse letztendlich zu unseren Grundbedürfnissen zählen, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Diesbezüglich gibt es unterschiedliche Theorien. Was alle jedoch gemeinsam haben, ist, dass sie dazu beitragen, psychische Prozesse (anstatt externe Faktoren, die lediglich die Auslöser sind) als Ursachen für unser Leiden und Glück zu erkennen. Nach dem Konzept, das ich Ihnen gerne vorstellen möchte und das sich in einer modifizierten Form an den Forschungsarbeiten von Epstein und Grawe (Grawe, K. 1998) orientiert, gehören die Bedürfnisse nach Verbundenheit, nach Wertschätzung sowie nach Orientierung zu unseren Grundbedürfnissen. Warum gerade diese Bedürfnisse dazu zählen, möchte ich im folgenden Abschnitt näher beschreiben.

Bedürfnis nach Verbundenheit: Erst durch das Erleben von Verbundenheit gewinnen äußere Begebenheiten für uns an Bedeutung. Seien es unsere Beziehungen zu anderen Menschen, zur Natur, zu Tieren oder Alltagstätigkeiten, wie zum Beispiel arbeiten, ein Buch lesen, Fußball spielen oder ein Konzert besuchen, all diese Dinge sind an sich nicht erfüllend. Erst unsere Verbundenheit mit ihnen führt dazu, dass wir sie als erfüllend wahrnehmen.

Zu anderen Menschen suchen wir die Verbundenheit in Form von unterschiedlichen Beziehungen, wie zum Beispiel Partnerschaft, Freundschaft, Bekanntschaft oder Gemeinschaft. Verbundenheit fördert, dass wir auf andere Menschen zugehen und Beziehungen mit ihnen aufbauen. Beziehungen tragen nicht nur zur Erfüllung unserer psychischen Bedürfnisse bei, sondern haben lange Zeit auch für unser Überleben eine hohe Bedeutung gehabt. Bis vor relativ kurzer Zeit haben wir Menschen nur als Teil einer Gemeinschaft überleben können. Auch als Babys und Kinder wären wir ohne Bezugspersonen nie zurechtgekommen. Wir sind lange Zeit nicht nur hinsichtlich Schutz und Pflege von unseren Bezugspersonen abhängig, sondern wir brauchen von diesen Menschen auch Orientierung, um zu lernen, wie wir die Herausforderungen des Lebens meistern können. Wir brauchen auch deren Wertschätzung, um ein positives Selbstbild entwickeln zu können. Beziehungen haben somit in unserer Geschichte eine sehr große Bedeutung für unser Überleben und unsere Weiterentwicklung gehabt.

Auch im Erwachsenenalter sind fürsorgliche und fördernde soziale Kontakte eine wertvolle Ressource bei der Bewältigung von Alltagsproblemen und herausfordernden Lebenssituationen. Gleichzeitig tragen sie auch dazu bei, dass wir uns im Leben wohlfühlen. Zeit mit Menschen (oder anderen Lebewesen) zu verbringen, mit denen wir uns verbunden fühlen, erleben wir in der Regel als bereichernd. Wenn wir in Beziehungen hingegen keine Verbundenheit erleben, dann verlieren diese Beziehungen für uns an Bedeutung. Aus diesem Grund gibt es auch Menschen, die Beziehungen gerne aus dem Weg gehen. Sie spüren keine Verbundenheit, sondern erleben Beziehungen oft als belastend. Dies hat in der Regel mit den Beziehungserfahrungen in der Kindheit zu tun. Wenn Kinder immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Bezugspersonen nicht auf ihre Bedürfnisse eingehen, werden diese Beziehungen nicht als erfüllend, sondern als schmerzlich wahrgenommen. Kinder können diese für sie dysfunktionalen Beziehungen nicht einfach beenden. Sie können sich lediglich schützen, indem sie versuchen, sich von ihren unerfüllten Bedürfnissen zu distanzieren. Diese Erfahrungen und die damit verbundenen Überzeugungen können dazu führen, dass diese Kinder auch im Erwachsenenalter wenig Verbundenheit in ihren Beziehungen erleben. Dadurch fühlen sie sich, trotz aufrechter Beziehungen, häufig einsam.

Wenn wir Verbundenheit erleben, spüren wir auch in jenen Momenten in denen wir alleine sind keine Einsamkeit, sondern Zugehörigkeit. Durch die Verbundenheit sind wir in Kontakt mit dem, was uns wichtig ist – dies macht uns natürlich auch verletzlicher. Der Versuch uns zu schützen, indem wir keine Verbundenheit spüren, führt gleichzeitig dazu, dass wir den Kontakt zu den Dingen verlieren, die uns wichtig sind und die unser Leben oft lebenswert machen. Wie ich im nächsten Kapitel noch genauer beschreiben werde, war dies in unserer Kindheit oft die einzige Strategie, die wir zur Verfügung hatten. Als Erwachsene ist es jedoch wichtig, zu lernen, sich wieder verbunden erleben zu können.

Bedürfnis nach Wertschätzung: Als Kinder haben wir uns durch die Wertschätzung unserer Umgebung, die wir in der Regel in Form von Anerkennung insbesondere von unseren direkten Bezugspersonen gehört haben, angenommen gefühlt und entwickelten eine positive Grundhaltung zu uns selbst sowie zu unseren Gefühlen. Diese positive Grundhaltung gibt uns heute nicht nur Orientierung bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, sondern stellt auch die Basis dafür, dass wir uns mit unserer Umgebung verbunden erleben können.

Kinder entwickeln durch die Äußerungen und das Verhalten ihrer Bezugspersonen nicht nur Konzepte über die Welt um sie herum, sondern auch über sich selbst. Um ein positives Selbstkonzept von sich zu entwickeln, brauchen sie Rückmeldungen, die durch Wertschätzung gekennzeichnet sind. Durch diese Erfahrungen nehmen sie sich als liebenswerte Menschen wahr, die über Ressourcen verfügen, um das Leben zu meistern.

Bei der Entwicklung des Selbstkonzepts und zur Bewältigung von Problemen hat die Form der Rückmeldung der Eltern an ihr Kind einen großen Einfluss. Rückmeldungen, welche die Botschaften enthalten „Du bist ein liebenswerter Mensch, auch wenn ich nicht mit all deinen Verhaltensweisen einverstanden bin oder diese nicht als förderlich betrachte“, vermitteln dem Kind Wertschätzung, auch in Situationen in dem es aus der Sicht der Eltern einen Fehler macht. Diese wertschätzende Haltung der Eltern erleichtert es dem Kind, aus seinen Fehlern lernen zu können. Die Wertschätzung bezieht sich dabei jedoch nicht auf alle Verhaltensweisen des Kindes, sondern vermittelt die Grundeinstellung der Eltern zu ihrem Kind. Es ist verständlich, dass Eltern es nicht sehr wertschätzen, wenn ihr Kind zum Beispiel ein anderes Kind schlägt. Wenn sie jedoch ihre Botschaft, die sich auf das Verhalten des Kindes bezieht, mit einer wertschätzenden Haltung vermitteln, anstatt das Kind als Ganzes mit Äußerungen wie „Du bist ein schlimmes Kind“ abzuwerten, es anzuschreien oder sogar zu schlagen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind aus dieser Erfahrung lernt. Denn die Ablehnung bezieht sich in der Situation auf bestimmte Verhaltensweisen und nicht auf das Kind als Ganzes. Dabei kann das Kind besser verstehen warum bestimmte Verhaltensweisen für ihn oder andere nicht förderlich sind, ohne sich als ganzer Mensch beschämt und abgelehnt zu fühlen und sich von seinem Erleben distanzieren zu müssen. Indem das Kind durch die Rückmeldungen der Eltern lernt situationsbezogen besser zwischen förderlichen und nicht förderlichen Verhaltensweisen zu differenzieren, findet es auch Orientierung. Diese braucht es, um sich jene Kompetenzen aufzubauen, durch die es in Zukunft Alltagssituationen selbstständig besser bewältigen kann.

Während abwertende und kritische Äußerungen zu einem negativen Selbstbild und dadurch zu einem inneren Konflikt beitragen, führt Wertschätzung zur Entwicklung einer wohlwollenden Haltung sich selbst gegenüber. Aus diesem Grund schätzen wir Anerkennung und Wertschätzung, die ehrlich gemeint und nicht an Bedingungen geknüpft sind. Als Kinder machen wir jedoch oft auch die Erfahrung, dass Anerkennung an Bedingungen, wie zum Beispiel Leistung, gebunden wird. Dadurch werden auch der Selbstwert sowie unsere Haltung uns selbst gegenüber von diesen Bedingungen abhängig gemacht. Ein positives Selbstbild und wertschätzende Haltung sind dann zwar vorhanden, aber nur, wenn die Erwartungen, die mit den Bedingungen verknüpft sind, ebenfalls erfüllt werden können. In jenem Moment, in dem uns dies jedoch nicht gelingt, distanzieren wir uns von unserem Erleben und verlieren dadurch die Verbundenheit.

Um zu zeigen wie sehr bestimmte Erwartungen oft unseren Selbstwert definieren, möchte ich von einer 82-jährigen Dame erzählen, die ich im Rahmen meiner Arbeit auf einer onkologischen Station kennengelernt habe. Ich wurde damals auf die Station gerufen, weil die Patientin nicht mehr leben wollte. Der Grund dafür war jedoch weder eine schlechte Krankheitsprognose, noch die Angst vor den Nebenwirkungen der Behandlung. Sie war der Überzeugung, dass sie keine Berechtigung mehr hätte zu leben, weil sie seit kurzem nicht mehr in der Lage war den Haushalt selbständig zu führen. Sie hatte mehrere Kinder, die bereit waren, sie zu unterstützen und ihr immer wieder sagten, wie sehr sie ihre Mutter liebten und schätzten. Sie selbst glaubte jedoch, dass alles was sie in der Vergangenheit geleistet hatte und die Wertschätzung ihrer Kinder keine Rolle spielen würden. Ihr Selbstbild war so sehr an ihre Leistungen als Hausfrau gebunden, dass ihr Leben jegliche Bedeutung verlor, als sie diese Aufgaben nicht mehr erfüllen konnte.

Wertschätzung und Verbundenheit sind eng miteinander verbunden. Dort wo Verbundenheit ist, ist Wertschätzung und auch umgekehrt führt Wertschätzung zu Verbundenheit. Es ist zwar möglich, ohne Wertschätzung mit anderen Menschen in Beziehungen zu sein, wir können jedoch in Beziehungen ohne Wertschätzung keine Verbundenheit erleben. Denn ohne Wertschätzung für sich selbst und andere Menschen, kann keine Verbundenheit mit diesen hergestellt werden.

Auch in der Beziehung zu uns selbst kann es ohne Wertschätzung keine Verbundenheit geben. Weiters unterstützt eine wertschätzende Grundeinstellung zu uns selbst sowohl das Lernen von neuen Fertigkeiten als auch den Aufbau von förderlichen Beziehungen. Diese stellen bei der Bewältigung des Alltags und von belastenden Umständen eine wichtige Ressource dar.

Bedürfnis nach Orientierung: