Dieses Buch ist erhältlich als:

ISBN 978-3-407-82358-8 Print

ISBN 978-3-407-74131-8 E-Book (EPUB)

© 2018 Beltz & Gelberg

in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Werderstraße 10, 69469 Weinheim

Alle Rechte vorbehalten

Das Buch erschien erstmals 2007 bei Beltz & Gelberg

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, München

Weitere Informationen zu unseren Autor_innen und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

aus dem Spinnenpalast

für Luzie und Nano

Personen

Jonas Nichts, ein zwölfjähriger Junge

Peregrin Aber, Advokat, sein Vormund

Ruben, Wunderlichs stummer Diener

Clara Fink zu Wunderlich, Baronin, seine verstorbene Herrin

Alma Fink zu Wunderlich, Baronin, ihre Cousine

Irmingast, Almas Beichtvater

Arnon Blau, Claras Sekretär, verschwunden

Brand, Wirt

Elsa, seine Magd

Werk, Peregrin Abers Kanzleischreiber

Ole Mond, Jonas’ Freund

Der Marquis de Lunette

Der Erbprinz Leopold

Der General Grimbert

Der Abt Faramund

Fiet Finger

Suleman Mond

Core

Die Sieben

Der Hirte, Herrscher über die Flüsterstadt

Der Hermes, Trabant und Diener des Marquis de Lunette

Tilla

Kolman

Arne

Bror

Trabanten aus einem Dorf am See

Tanger, Monokel, ein Freund Fiet Fingers

Lubbe, Faun, der berühmteste Schauspieler Callamaars

Krempel, Wicht, Rebell

Trut, Alb, ein Gefangener des Hirten

Walrider, sein Sohn, Rebell

schmuckelement.jpg

Das 1. Kapitel,
in dem sich alles verändert, weil eine Kutsche kommt

In der Nacht hatte es wieder gefroren. Die Felder biss der Frost, auf den Äckern klumpten harte Brocken Erde und in den Rinnen und Rillen des zerfurchten Hofs waren die Pfützen noch überfroren. Wie winzige Gletscher lagen sie unterhalb der brüchigen Gipfel, die die Karrenräder aufgetürmt hatten. Man musste nur klein genug sein, um das zu sehen.

Die Schweine standen im Koben. Von ihren mächtigen Leibern dampfte es in den Morgen, grunzend drängten sie sich um den Trog. Sie hatten Jonas Nichts schon gesehen. Er war aus der Hintertür gestolpert, seiner Atemwolke hinterher. Seine Holzschuhe brachen krachend das Eis auf den Pfützen und trugen die Gipfel über den Tälern der Spurrillen ab. Die Pampe im Bottich schwappte – Kartoffelschalen, Soßenreste, welkes oder zerkochtes Gemüse, Elsas Küche gab einiges her.

Die Schweine balgten sich schon um die besten Plätze. Über den Misthaufen stakste unbeteiligt der Hahn. Wenn es fror, stank der alte Mist nicht, bald jedoch, wenn Brand zu misten begonnen hätte, würde die feuchte Wärme des neuen aufsteigen wie Nebel. Aber Brand lag noch mit offenem Mund auf seinem Strohsack und dünstete Bier aus.

Jonas leerte den Bottich in den Trog, das Grunzen und Schmatzen der Schweine begleitete ihn zurück bis ins Haus. Er strich sich das fransige Haar aus der Stirn, streifte die Holzschuhe ab und lief auf oft gestopften Strümpfen in die Gaststube. Seit vielen Tagen hatte sich niemand mehr in diese Einöde verirrt. Jonas wischte trotzdem Tische und Bänke und streute Stroh auf dem gestampften Boden aus. Dann schlich er sich in die Küche.

Elsa stand schon über das Feuer gebeugt, in einer Schüssel ging Brotteig. Für einen stummen Moment trafen sich ihre Blicke. Elsas Augen waren noch klein, die von Jonas waren so groß und sonderbar wie immer. Sein linkes Auge war grün, sein rechtes von einem durchscheinenden, sehr hellen Blau. Elsa konnte sich nie genug darüber wundern, kaum ein Tag verging, an dem sie nicht davon sprach, aber am frühen Morgen hatte sie für seine »Geisteraugen« noch keine Zeit. Über die zerkratzte Tischplatte schob sie ihm einen Kanten Brot von gestern zu. Sie goss ihm auch einen Becher Milch ein, und Jonas aß und trank, und als er fertig war, holte er den Zettel hervor.

Das Papier war schon ganz brüchig, weil Jonas es immer mit sich herumtrug, und es wäre vernünftiger gewesen, den Zettel in der Küchenbank aufzubewahren, aber das brachte Jonas nicht fertig. Der Zettel und dessen Geschichte waren alles, was er besaß. Vorsichtig strich er ihn glatt, wie immer achtete er darauf, die wenigen Buchstaben nicht zu berühren. Sie waren mit Bleistift geschrieben, und Jonas hatte Angst, sie würden sich abtragen. Schon jetzt war die Schrift ganz blass, ein immer heller werdendes Grau auf dem immer dunkler werdenden Papier.

jonas_nichts.jpg

So stand das auf dem Zettel, untereinandergeschrieben, als hätte das eine Wort mit dem anderen nichts zu tun. Und doch ergaben beide Wörter zusammen Jonas’ Namen. Der Zettel war seine Geburtsurkunde, seine Taufbescheinigung und sein einziges Erbe. Brand hatte ihm den Zettel gegeben, und seitdem hatte Jonas die Geschichte, die zu dem Zettel gehörte, immer wieder hören wollen. Dann kauerte er sich zu Brands Füßen, nah an den Ofen der leeren Gaststube, und piesackte Brand mit Fragen, als könnte er dessen launischer Erinnerung so auf die Sprünge helfen.

Manches an Jonas’ Geschichte immerhin war gewiss, Brand änderte es nie. Die Kälte dieser Nacht vor zwölf Jahren, der Wind, der über die Hügel pfiff, das lange verlorene Lammfell, in das der winzige Jonas gewickelt gewesen war. Dazu die vornehme Kleidung des Reiters, der ihn gebracht hatte, der lange Mantel, die Lederstiefel, der Hut tief in der Stirn. Von Zeit zu Zeit glaubte Jonas sogar, dass Brand den Reiter kannte und wusste, wo er hergekommen war, aber in diesem Punkt verriet Brand sich nie. Manchmal ließ er den Reiter auf einem Schimmel kommen, manchmal auf einem großen Braunen, und wenn Brand mürrisch war oder einfach nicht betrunken genug, dann hatte das Pferd gar keine Farbe und die Geschichte war kurz.

War sie lang, ließ Brand zwischen zwei Mundvoll Bier einen Sturm heulen und die Fensterläden klappern, und ein einziges Mal hatte er sogar erzählt, dass der Reiter ihm Geld gegeben hatte dafür, dass er Jonas nahm. Aber das erwähnte Brand nie wieder, und Jonas kam auch nicht darauf zurück. Brand war nie gemein, aber launisch, und das Geld hätte aus dem Knecht Jonas einen Gast gemacht. Daran war Brand bestimmt nicht gelegen.

»Mehr?«, fragte Elsa, und als Jonas nickte, goss sie ihm Milch nach. Jonas trank in kleinen Schlucken.

Er hätte die Schrift auf dem Zettel jederzeit nachmachen können. Er kannte die Bögen, die Unterlänge, den Schwung des O und das Hin und Her des S. Auch mit geschlossenen Augen sah er, wie die beiden Worte schräg nach unten abfielen. Sie waren im Stehen geschrieben, bei sehr wenig Licht, Jonas hatte sich das oft beschreiben lassen. Kein Wort hatte der Schreiber gesprochen, stumm sei er gewesen, hatte Brand gesagt, und auf Brands Fragen hatte der Mann so lange mit einem Nicken oder einem Kopfschütteln oder gar nicht geantwortet, bis Brand gefragt hatte, wie das Baby hieß. Da hatte der Stumme den Zettel und den Bleistift aus seiner Manteltasche geholt und das erste Wort geschrieben.

Jonas.

»Und wie weiter?«, hatte Brand gefragt, aber keine Antwort bekommen. Der Stumme habe müde ausgesehen, erschöpft von einem langen Ritt, verzweifelt. Vielleicht, dachte Jonas oft, hat er mich nicht abgeben wollen. Vielleicht war er unglücklich darüber. Vielleicht war der Stumme ja sein Vater und fühlte wie alle Väter.

Aber Brand hatte nicht lockergelassen, er hatte den Mann am Handgelenk gepackt und, so hatte er es wenigstens einmal beschrieben, ihm tief in die Augen gesehen. Jonas stellte sich Brand dabei vor, die ewig roten Augen über den Tränensäcken aufgerissen.

»Was soll ich dem Jungen sagen, wo er herkommt, wenn er groß wird?«, hatte Brand gesagt.

Und dann hatte der Stumme das zweite Wort aufgeschrieben, es war bloß die Antwort auf diese Frage.

Nichts.

Natürlich ergab das zusammen keinen Namen, aber Brand hatte einen eigenartigen Humor und so hatte er einen Namen daraus gemacht.

»Jeder braucht einen«, hatte er geknurrt. »Einer ist so gut wie der andere.«

Als er Brand hinten im Haus rumoren hörte, trank Jonas aus und ging zurück in den Hof. Er hatte nie etwas anderes gesehen als diesen Flecken Erde, die Felder ringsum und die Häuser des Dorfs hügelabwärts, die sich an engen Gassen um die Kirche wanden. Manchmal, wenn er über die kahlen Hügel schaute und sah, wie der Wind an den Gräsern riss, dann packte ihn das Fernweh, und er stellte sich vor, wie der Stumme wiederkäme, um ihn in ein weit entferntes Land zu bringen. Wenn er sich das allzu genau vorstellte allerdings, bekam er Angst und lief eilig in den Stall mit seinen mistbeschmierten Wänden. Dann fasste er die Kuh an der feuchten Nase, lief zum Koben und kniff die Schweine oder zerbröselte altes Brot, um die Hühner zu füttern. Die Hühner mit ihren schwarzen Augen schienen auch immer in die Ferne zu sehen und kamen doch nur über den Hof hinaus, wenn der Fuchs sie holte.

Jonas war froh, als er Brand über den Hof schlurfen sah, das drahtige, graue Haar zerrauft, der Rücken noch krumm. Sie würden einfach anfangen zu misten. Wie jeden Tag.

Aber dieser war kein Tag wie andere. Mittags lag Brand mit seiner verdreckten Hose auf der Küchenbank und Jonas spielte im Hof. Die Tannenzapfen hatte er in den angetauten Boden gedrückt – Brand hatte sie einmal aus seiner Hosentasche gekramt. Das war der Räuberwald, in dem der Räuber Wieflinger lebte. Der Wieflinger war bloß ein Kiesel, aber für Jonas hatte dieser Kiesel ein Gesicht, und wenn es jemand hätte wissen wollen, dann hätte Jonas eine lange Geschichte über den Wieflinger erzählen können, eine endlos lange Kette von Geschichten. Wie der Wieflinger einmal den Kurier des Königs ausgeraubt hatte. Wie er später aus dem Hühnerstall-Gefängnis floh. Wie er beinahe im Meer einer Pfütze ertrunken wäre und nur davonkam, weil er sich auf ein vorbeitreibendes Floß rettete, das Jonas aus kleinen Zweigen und einem Bindfaden gebaut hatte. Manchmal träumte Jonas sogar vom Wieflinger. Der Räuber war ein unsichtbarer Freund.

Gerade trat er auf eine Lichtung im Tannenzapfenwald, da bemerkte er, weit hinten auf dem Hügelkamm, die Kutsche. Der Wieflinger lud die Muskete durch, Jonas schnalzte mit der Zunge. Noch war die Kutsche nicht größer als Jonas’ Daumennagel, ein Flecken Schwarz unter dem weiten Grau des Himmels, gerade groß genug für den Räuber. Der Wieflinger ging hinter einem Tannenzapfen in Deckung und schob sich den Hut aus der Stirn. Aber die Kutsche kam näher und hielt geradewegs auf den Hof zu. Bald war sie so groß wie Jonas’ Hand, zu groß für den Räuber, und Jonas stand auf, um Brand zu rufen. Der Wieflinger blieb allein in seinem Räuberwald zurück. Wer es nicht besser wusste, musste ihn für einen Kiesel halten.

Brand streckte das Becken vor, verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn – er stand immer so da, wenn jemand kam. Nie sprach er das erste Wort, immer sah er misstrauisch aus, die Augen und die Lippen schmal. Jonas stand meist hinter ihm, einen Schritt versetzt, neugierig und ein wenig ängstlich, so wie jetzt. Er hörte schon die Hufe dumpf auf den gefrorenen Boden schlagen, sah die Räder sich drehen, dass die Speichen verschwammen, roch die sauren Pferdeleiber, als die Kutsche hielt. Glänzend schwarz lackiert war sie, mit elegant geschwungenen Laternen, die bestimmt schon seit dem Morgengrauen brannten. Auf dem Kutschbock saß ein großer Mann mit doppelt geknöpftem Mantel, unter dem Hut lugte sein halblanges schwarzes Haar hervor. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes, als er Jonas sah, und Jonas schaute eilig weg. Wie der Kutscher Brand zunickte, bemerkte er trotzdem. Es war ein leises Nicken, als sähe man sich jeden Tag oder hätte sich doch wenigstens gestern zuletzt gesehen. Brand nickte auf dieselbe Art zurück. Keiner sprach ein Wort.

Der Kutscher sprang vom Bock und öffnete den Schlag. Das kreisrunde Dach eines Zylinders aus Biberfilz erschien, ein sehr kleiner, von einer knappen Gamasche bedeckter Knöpfstiefel tastete nach dem Tritt, und dann entfaltete sich ein in teures, schwarzes Tuch gehüllter Mann zu kaum anderthalb Metern Größe ohne Zylinder. Er stemmte seinen Spazierstock mit dem Silberknauf in den Boden, strich sich erst über den kugelrunden Bauch, der so gar nicht zu den dünnen Beinen, die ihn trugen, passen wollte, und ordnete dann den langen Spitzbart. Schließlich räusperte er sich sorgfältig.

»Herr Brand, nehme ich an?« Jonas hatte noch nie jemanden so sprechen gehört, jede Silbe klar und messerscharf. Nicht einmal der Lehrer unten im Dorf sprach so.

Brand nickte. Sonst stand er ganz still.

»Wenn ich mich vorstellen darf? Peregrin Aber, Advokat.« Der Mann verbeugte sich leicht und lupfte den Zylinder. Eine kleine Glatze kam zum Vorschein, über die lange Strähnen mausgrauen Haars gekämmt waren. »Den Herrn«, sagte Peregrin Aber und wies auf den Kutscher, der mindestens zwei Köpfe größer war als er, »kennen Sie ja bereits. Sie können sich deshalb vielleicht vorstellen, weshalb wir gekommen sind.«

Jonas sah erst zum Kutscher, dann zu Brand hinüber. Der Kutscher formte ein Wort mit den Lippen, und Jonas wurde es heiß und kalt, als er begriff. Der Kutscher konnte nur mit den Lippen sprechen. Er war stumm!

Brands Adamsapfel wanderte einmal auf und ab.

»Ja«, sagte Brand matt.

»Ist das der Junge?« Peregrin Aber zeigte mit seinem Spazierstock auf Jonas und sah ihn dann neugierig an. Seine Augen funkelten. »Bist du der junge Jonas?« Er lächelte ihm aus dem Gestrüpp seines Kinnbarts zu.

Jonas drängte sich näher an Brand. Er brachte keinen Ton heraus. Er wusste, was ein Advokat war. Ein Rechtsanwalt. Ein Rechtsverdreher. Das sagte Brand immer voller Verachtung.

»Vielleicht dürfen wir eintreten, Herr Brand? Die Angelegenheit ist durchaus kompliziert. Außerdem ist es kalt hier draußen. Ganz ungemütlich.« Peregrin Aber sah zum Himmel hinauf. »Bestimmt gibt es bald Schnee«, fügte er hinzu, als fürchtete er, vor der Tür noch einzuschneien.

Brand beugte sich zu Jonas herunter. »Geh in den Hof, ja? Ich komme später.« Seine Stimme war brüchig.

Jonas zögerte, aber schließlich gehorchte er – wie immer. Langsam ging er fort, nicht, ohne noch einen Blick über die Schulter zu werfen, um die drei Männer ins Haus gehen zu sehen. Brand vorweg, ein wenig gebeugt, dann Peregrin Aber, der seinen Spazierstock schwang, und zuletzt, mit zwei Schritten Abstand, der stumme Kutscher. Unwillkürlich tastete Jonas nach dem Zettel in seiner Hosentasche. Sie waren gekommen, um ihn zu holen! Das war keine Angst, sondern Gewissheit. Mit einem Mal wusste Jonas ganz genau, dass er die Schweine heute Morgen zum letzten Mal gefüttert hatte. Plötzlich wollte er jedes von ihnen noch einmal berühren, der Kuh und jedem Huhn noch etwas zuflüstern, den Stall noch einmal sehen und von jedem Raum im Haus Abschied nehmen. An Brand und Elsa wagte er gar nicht zu denken. Er sah über die Hügel hinweg, bis sein Blick verschwamm, weil ihm das Wasser in die Augen schoss. Beinahe blind war Jonas hinter seinen Tränen, als er zu dem winzigen Wald aus Tannenzapfen stolperte, um den Räuber Wieflinger zu suchen. Wenigstens ihn wollte er behalten. Er stopfte den Kiesel in seine Hosentasche.

Brand fand ihn im Stall bei der Kuh. Jonas wusste nicht, was er sagen sollte, und Brand wusste es auch nicht. Der alte Brand mit seinen müden Augen! Lange stand er vor ihm.

Jonas klaubte einen Halm aus dem Stroh und zerrieb ihn zwischen den Fingern.

»Du wirst jetzt ein vornehmer Bengel«, sagte Brand endlich.

Jonas zog die Nase hoch. Ihm kam es vor, als hielten alle, Brand, der Stumme und der Advokat, ein altes Versprechen und nur Jonas hatte von diesem Versprechen nichts gewusst. »Ich will nicht weg«, sagte er, ohne aufzuschauen.

In Brands Stimme lag Wehmut. »Es ist besser so, glaub mir.« Brand strich sich das widerspenstige Haar aus der Stirn. »Ihr brecht gleich auf. Der Rechtsverdreher wird dir alles erklären. Elsa packt schon deine Sachen. Aber wenn du erst da bist, schmeißen die sowieso alles weg. Deine paar Lumpen! Sie haben bestimmt viel schönere Sachen für dich. Freu dich also, wenn du kannst.« Brand versagte für einen Augenblick die Stimme. »Wenn nicht, freust du dich eben später.«

Jonas starrte auf die verklebten Beine der Kuh. »Wo bringen die mich hin?«, fragte er. All das fühlte sich an wie eine unverdiente Strafe.

»Du hast geerbt, Jonas. Du hast ein vornehmes Haus geerbt. Du wirst ein vornehmer Mann.«

Jonas ließ die Reste des Strohhalms aus seiner Hand regnen. Er wollte bleiben, wer er war. Der Junge beim Wirt Brand. »Ich will nichts erben«, sagte er düster.

Jetzt lachte Brand. »Doch, du willst. Du weißt ja nicht, was du redest. Hierhin verirrt sich doch nur der Wind, Kerl. Was könntest du hier schon anfangen? Willst du so werden wie ich?« So hatte Brand noch nie gesprochen.

»Hat der Mann mich gebracht? Der Kutscher? Ist er stumm?« Eigentlich wusste Jonas die Antwort.

»Ja.«

»Hast du ihn gekannt? Hast du damals schon gewusst, wer er war?«

Brand antwortete nicht gleich. »Er heißt Ruben. Ich kenne ihn seit langer Zeit. Er ist der Diener dort, wo du hingehst. Er ist ein guter Mann. Nicht dein Vater, wenn du das meinst.«

»Weißt du, wer mein Vater ist?«

»Nein.«

Jonas schwieg. Welchen Grund gab es jetzt noch, Brand zu glauben?

»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Brand leise.

»Hat dieser Ruben damals gesagt, dass er wiederkommt?«

»Ja.«

Jonas griff nach dem nächsten Halm. Heute Morgen hatte er das Stroh hier ausgestreut. Das war doch auch sein Stall, selbst wenn er Brand gehörte. »Warum hast du es mir dann nicht verraten? Dass sie mich holen.«

Brand sah traurig aus. Heute Abend würde er allein in der kalten Gaststube sitzen und trinken, Jonas wusste es genau. »Ich hatte keine Ahnung, wann Ruben kommt«, flüsterte Brand. »Ich wollte nicht, dass du wartest.«

Brand stand stocksteif, als es ans Abschiednehmen ging, Elsa heulte Rotz und Wasser. Sie hatte Jonas schluchzend ihr schmutzigbraunes Pappköfferchen geschenkt, ihm die gute Mütze aufgesetzt und die Nase geputzt wie einem kleinen Jungen.

»Denkst du an uns, ja?«, schniefte sie und versprach, für Jonas zu beten, und das machte alles nur noch schlimmer. Elsa mit ihren Heiligenbildchen, über die Brand lachte.

»Gute Frau, er schreibt Ihnen ja«, sagte Peregrin Aber, lief hin und her, schüttelte Brand geschäftig die Hand, tätschelte flüchtig Elsas Schulter und ahnte nicht, dass sie gar nicht lesen konnte. Schließlich schob er Jonas auf die Kutsche zu. »Er schreibt! Er schreibt! Lange Briefe, gute Frau!«, rief er, und dann öffnete Ruben den Schlag. Der Wind war gekommen und zerrte an Brands Jacke.

Jonas’ Wangen waren wie taub. Die Tränen liefen ihm über das Gesicht, ohne dass er es spürte, und als Ruben ihm das Pappköfferchen abnahm und dabei einen Augenblick lang seine Hand hielt, geriet er ganz durcheinander. Ruben hatte ihm etwas zugesteckt, ein Stück Papier, weich, weil der Diener es schon eine ganze Weile in seiner Faust verbarg. Jonas sah zu ihm auf, aber Ruben drückte bloß den Finger gegen die Lippen.

Der Wind wirbelte in Rubens Haar, eine Strähne legte sich über seine Augen. Vergebens versuchte Jonas sich vorzustellen, wie dieser Mann ihn hierhergebracht hatte. Dann stieg er in die Kutsche und wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht.

»Auf Wiedersehen!«, rief Peregrin Aber fröhlich und Elsa schluchzte herzzerreißend.

»Auf Wiedersehen«, flüsterte Jonas, als der Advokat ihm nachstieg, und konnte bloß auf den Holzboden der Kutsche sehen. Erst als sie anruckte und Peregrin Aber sich noch einmal in den Wind beugte und den Zylinder lupfte, las er den Zettel in seiner hohlen Hand. Es war dieselbe Schrift, in der vor zwölf Jahren sein Name geschrieben worden war.

EGAL, WER DICH FRAGT.

DU BIST NICHT 12. DU BIST 13!

schmuckelement.jpg

Das 2. Kapitel
wäre aufschlussreicher, wenn Peregrin Aber nicht einschliefe

Bis Jonas in der Fremde war, dauerte es nicht lang. Brand war beinahe nie gereist, und wenn doch, dann hatte er Jonas nicht mitgenommen. Draußen hinter den Kutschenfenstern war deshalb schon bald alles neu. Nach wenigen Meilen drängten sich die weit geschwungenen Hügel zu einem buckligen Labyrinth und jeder Buckel schien sich über ein Geheimnis zu beugen. Die Kutsche rollte in verschwiegene Täler hinab und stieg gleich den nächsten Hang wieder hinauf, ohne dass ein einziges Geheimnis gelüftet worden wäre. Von den Kuppen der Hügel sah Jonas auf zersauste, geduckte Heideflächen, offenes Land, über das der Wind flüsterte, damit ihn niemand verstand. Dörfer gab es ringsum keine. Alle Bäume standen einsam und allein unter einem riesigen, unruhigen Himmel.

In der Kutsche war es kalt. In den verblichenen Samtvorhängen vor den Fenstern hing ein ferner Hauch von Duftwasser, und rührte man sich, dann stöhnten die ledernen Polsterbänke. Jonas hielt Rubens Zettel fest in seiner Faust verborgen und hatte die Hand unter die Decke gesteckt, die Peregrin Aber umständlich über seinen Schoß gebreitet hatte. Jonas wollte nicht, dass der Advokat den Zettel sah. Ich bin dreizehn, dachte er immer wieder, aber das ist nicht wahr.

Peregrin Aber schlug derweil unter seiner Decke die Beine übereinander, wippte mit den Schnürstiefeln und sah aus dem Fenster. Nur dann und wann blinzelte er zu seinem Schützling hinüber. Jonas wusste, wie es ihm ging – es ging ja allen so. Erst fiel ihnen auf, dass an Jonas etwas anders war, und dann, nach einer Weile, blieb ihr Blick an seinen verschiedenfarbigen Augen hängen, eins grün und eines hellblau. Doch Peregrin Aber verlor über Jonas’ Augen kein Wort. Es war, als wollte er bloß den rechten Zeitpunkt abpassen, um ein Gespräch zu beginnen, und dafür, dass Peregrin Aber ein durch und durch ungeduldiger Mann war, ließ er Jonas viel Zeit.

»So«, sagte er nach einer kleinen Ewigkeit und rieb sich die kleinen Hände. »Zwölf Jahre bist du jung, nicht wahr?« Der Advokat hatte seine Stimme gezuckert. Er gab sich Mühe.

Jonas wurde trotzdem rot. Er hatte die Wahl. Er konnte sein erstes Gespräch mit Peregrin Aber mit einer Lüge beginnen oder den stummen Diener draußen auf dem Kutschbock enttäuschen. Ruben, der ihm den Zettel gegeben hatte.

Egal, wer dich fragt …

Noch fester schloss Jonas die Finger um das kleine Stück Papier. Er hatte jetzt zwei solcher Zettel, und wenn er überlegte, dann waren sie ihm wichtiger als jedes vornehme Haus der Welt.

»Nein, Herr Aber«, sagte er deshalb mit bebender Stimme. »Ich bin schon dreizehn. Diesen Herbst bin ich dreizehn geworden.« Die Lüge war ausführlicher, als es Jonas lieb war.

»So, so«, machte der Advokat, und Jonas fürchtete bereits das Schlimmste, doch Peregrin Abers struppiges Lächeln war aufs Haar so bemüht wie zuvor. »Und dieser Brand hat dir also den Namen Nichts gegeben? Nichts wie etwas

Jonas nickte.

»Ungewöhnlich«, murmelte der Advokat. »Aber so sei es. Namen soll man nicht ändern, richtig? Namen ändern ist wie Gesichter stehlen.« Er sah Jonas neugierig an. »Mein Sohn!«, begann er erneut, lauter diesmal und beinahe getragen. »Ich weiß, dass du …« Und dann folgte etwas sehr Verständnisvolles über Jonas’ schwierige Lage und Peregrin Abers Hände flatterten dazu.

Aber Jonas konnte nicht mehr zuhören. Mein Sohn, hatte der Advokat gesagt und Jonas wurde heiß. Er musste allen Mut zusammennehmen, um Peregrin Aber zu unterbrechen.

»Sind Sie mein Vater?«, fragte er.

Peregrin Aber wich zurück, bis er gegen die Lehne seiner gepolsterten Sitzbank stieß. »Oh nein!«, rief er. »Wie kommst du denn darauf, Junge?!«

»Sie haben Sohn zu mir gesagt«, flüsterte Jonas.

»Ach so!« Peregrin Aber seufzte erleichtert. »Das sagt man doch nur so«, erklärte er. »Man sagt das, wenn … wenn …« Er wedelte mit seinen blassen, kleinen Händen, als könnte er die beste Erklärung aus der Luft klauben. »Man sagt das, wenn man viel älter ist als du.« Der Advokat nickte zufrieden. »So wie ich. Verstehst du?«

Jonas nickte stumm.

»Wo war ich stehengeblieben?«

Jonas wusste es nicht.

»Genau!«, rief Peregrin Aber. »Ich wollte dir sagen, dass ich weiß, wie dir zumute sein muss. Bestimmt fürchtest du dich ein wenig, habe ich recht?« Der Advokat beugte sich zu Jonas vor. Die Kutsche erklomm den nächsten Hügel. Sachte wurde Jonas gegen die Lehne gedrückt, und vielleicht sah es jetzt so aus, als wiche er zurück.

Peregrin Aber fiel es nicht auf. »Das Wichtigste hat dir Brand bereits erzählt. Richtig? Du erbst, junger Jonas. Du wirst Wunderlich erben, ein altes Herrenhaus. Was sagst du dazu?«

Jonas sagte nichts dazu. Er hörte das Geschirr der Pferde klirren und dachte an Ruben oben auf dem Bock. Wunderlich. Ein Herrenhaus. Dort war Ruben Diener.

»Nun?«, wiederholte Peregrin Aber. »Bist du denn nicht neugierig? Willst du mir denn gar keine Frage stellen? Du willst mir doch bestimmt eine Frage stellen!«

»Warum?«, flüsterte Jonas.

Peregrin Aber lehnte sich zurück und klatschte in die Hände. »Das, mein So… – Junge, ist eine gute Frage!« Der Advokat nahm den Zylinder ab, legte ihn auf die Bank und strich sich sorgfältig die langen Haarsträhnen über den kleinen, kahlen Kopf. »Du erbst Wunderlich, weil seine Besitzerin das so wollte. Sie hat es in ihr Testament geschrieben, das wir morgen eröffnen wollen. Das heißt, ich habe es in ihr Testament geschrieben, und zwar auf ihren Wunsch hin. Aber ich will es nicht unnötig kompliziert machen. Kurzum! Clara Baronin Fink zu Wunderlich hat dir ihr Haus vermacht.« Peregrin Aber nickte entschlossen und machte eine kurze Pause. »Wir haben sie letzte Woche beerdigt«, sagte er dann und senkte den Blick. »Gott sei ihrer Seele gnädig.«

Jonas sah zum Fenster hinaus. Baronin Fink zu Wunderlich. Eine Adlige. Ob sie seine Mutter war?

»Warum?«, flüsterte er noch einmal. Seine Frage war ja nicht beantwortet. Warum sollte ihm jemand etwas vererben? Er dachte an die Schweine, die er jeden Morgen gefüttert hatte.

»Warum sie gestorben ist?« Peregrin Aber senkte die Stimme, bis sie so leise war, wie es ein vertrauliches Gespräch verdiente. »Sie war schon lange krank, mein Junge. Viele Jahre. Außerdem war sie über siebzig. Es kam …« Er strich sich über den Bart. »Es kam nicht gerade überraschend.« Er schlug wieder die Augen nieder.

Draußen hörte Jonas Rubens Peitsche knallen. Wenn die Baronin so alt gewesen war, konnte sie nicht seine Mutter sein.

»Warum hat sie mir ihr Haus denn vererbt? Sie kannte mich doch gar nicht.«

»Nun«, begann Peregrin Aber, »wenn ich ehrlich sein soll – und ich will ehrlich mit dir sein –, ich weiß es nicht. Bis sie mich rief, um das Testament aufzusetzen, hatte ich noch nie von dir gehört, Jonas, und ich war – jawohl – überrascht! Das Testament ist in mancherlei Hinsicht etwas seltsam, aber …« Peregrin Aber machte plötzlich einen für seine Möglichkeiten langen Hals. »… wir werden es durchsetzen. Auch wenn es Alma nicht schmeckt! Du musst wissen, Junge, ich bin als dein Vormund eingesetzt, bis du großjährig bist, und werde dir bis dahin beistehen. Und darüber hinaus! … Wenn du das möchtest, versteht sich.«

Jonas hatte Mühe zu folgen. So viel erfuhr er da und konnte doch nur eine Frage auf einmal stellen.

»Wer ist Alma?«

Peregrin Aber wirkte erleichtert, diese Frage eindeutig beantworten zu können. Es war die Sorte Frage, die er mochte. »Alma ist Claras Cousine«, erklärte er. »Clara und Alma sind zusammen in Wunderlich aufgewachsen – vor langer Zeit – und Alma wäre – wie soll ich sagen? – Claras …« Er wedelte wieder mit den Händen. »… natürliche Erbin gewesen. Die einzige noch lebende Verwandte und so weiter und so fort. Aber Alma hat keine Kinder, so wie Clara keine hatte, und das Testament sieht für Alma …« An dieser Stelle unterbrach sich Peregrin Aber. »Doch gedulde dich bis morgen, Junge! Ich kann jetzt nicht das ganze Testament ausbreiten und habe das auch Alma gegenüber nicht getan. Es ist … sozusagen … ein Geheimnis. Ein offenes Geheimnis. Aber immerhin – ein Geheimnis. Geheimnisse dieser Art gibt es übrigens eine ganz Menge in Wunderlich.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, offenbar fest entschlossen, nicht weiter vorzugreifen.

Jonas rauschte der Kopf. Alma? Clara? Durfte er denn jetzt gar keine Frage mehr stellen?

»Wie haben Sie mich gefunden?«

Peregrin Aber lächelte. »Ruben wusste, wo du steckst, und ich nehme an, Clara wusste es auch.« Dann verschwand sein Lächeln und er fing an zu flüstern. »Nur Alma hatte keine Vorstellung, glaube ich.« Der Advokat setzte eine Verschwörermiene auf. »Ich bin mir nicht sicher, Junge, aber ich vermute, Clara hat alles darangesetzt, Alma zu überleben, um dich erst dann zu holen.« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Ein aussichtsloses Unterfangen, wenn man bedenkt, dass Clara älter war und dazu sehr gebrechlich. Weißt du, es ist wirklich ein äußerst merkwürdiges Testament.« Er nickte vor sich hin und das Gespräch erstarb.

Die Kutsche kam voran. Es hatte zu dämmern begonnen und am Himmel tobten dunkle Wolken. Peregrin Aber war das Kinn auf die Brust gesunken. Er schlief den Schlaf des Gerechten.

Jonas sah den Schatten zu, wie sie draußen über das Land huschten, vom Wind und den Wolken gescheucht. Er hätte gern einen klaren Gedanken gefasst, aber das gelang ihm nicht. Alles war ungewiss und Jonas hatte Angst. Nur zu gern hätte er sich jetzt auf Brands Küchenbank zusammengerollt. Und bestimmt hätte er Brand diesmal keine Fragen gestellt. Er suchte in seiner Hosentasche nach dem ersten Zettel, hielt ihn im Dämmerlicht neben den zweiten und versuchte, beide zusammenzuzählen, als handelte es sich um eine Rechenaufgabe. Das Ergebnis war mager. Er hieß Jonas, er sollte nichts über seine Herkunft erfahren und niemandem verraten, dass er zwölf Jahre alt war. Ganz so, als wäre er selbst ein Geheimnis.

Jonas schloss die Augen. Was wusste er noch? Ein Diener namens Ruben hatte Brand dafür bezahlt, dass er ihn großzog, eine Baronin hatte ihm ihr vornehmes Haus vermacht und ihre Cousine würde ihn dafür hassen. Er öffnete die Augen wieder. Draußen war es plötzlich stockfinster. Nur das dünne Licht der Laternen am Bock irrte noch über den gefrorenen Boden. Jonas saß reglos da, sah im ersten Mondlicht die Wolken fliehen und lauschte den ruhigen Atemzügen Peregrin Abers. Das ging so lange so, bis im Laternenlicht der Kutsche die großen Bruchsteine einer Mauer erschienen. Sie passierten ein Tor! Plötzlich war Jonas hellwach und sein Herz raste. Sie fuhren einen letzten Hügel hinauf! Unter den Rädern der Kutsche knirschten Kiesel. Jonas griff sich an den Hemdkragen. Auf einmal bekam er keine Luft.

»Was?« Peregrin Aber schreckte hoch und stieß seinen Zylinder von der Bank. Im Halbdunkel begann er nach ihm zu tasten. »Wir sind da, ja?« Er hatte den Zylinder gefunden. »Ich muss für einen Augenblick eingeschlafen sein.« Er scheuchte einen Frosch aus seinem Hals.

Die Kutsche hielt. Jonas hörte Ruben vom Bock springen und seine Schritte näher kommen. Dann öffnete der Diener den Schlag.

»Das ging ja flott!«, rief Peregrin Aber fröhlich, war schon auf den kurzen, dünnen Beinen und stieg als Erster aus.

Jonas blieb sitzen. Er machte sich ganz klein, ballte die Hände zu Fäusten und kniff die Augen zu. Er wollte nicht wissen, wo er angekommen war.

Dann spürte er, wie jemand seine Schulter berührte, und sah auf. Ruben zwinkerte ihm zu, öffnete den Mund und formte mit den Lippen ein O.

Jonas verstand.

Komm!

schmuckelement.jpg

Das 3. Kapitel
Ein blinder Passagier

An Rubens Arm stolperte Jonas in die kalte Nacht. Mit klopfendem Herzen sah er an dem alten Haus hinauf. Im fahlen Mondlicht leuchtete die Bruchsteinfassade beinahe weiß. Efeu rankte an ihr hinauf, und weil die Nacht keine Farben kennt, waren die Blätter grau wie Staub, der aus dem Gemäuer quoll. Alle Fenster waren schwarz, und die vielen dünnen Kamine auf dem Dachfirst drängten sich zusammen, als würden sie frieren.

In Jonas stritten Angst und Neugier. Wunderlich war so alt, wie nur Steine werden, mehr eine Burg als ein Haus. Über der mächtigen Tür, vor der die Kutsche zum Stehen gekommen war, ragte ein bröckelnder Erker hervor, und wenn Jonas den Kopf weit in den Nacken legte, konnte er die Zinnen eines kreisrunden Turms ausmachen, der sich irgendwo hinter der Fassade erhob. Jonas hörte eine Eule rufen, es ging ihm durch Mark und Bein. Wunderlich war ein Ort am Ende vom Ende der Welt.

Peregrin Aber streckte sich.

»Tja«, sagte er leutselig. »Das ist es also, junger Jonas Nichts. Weiß Gott ein altes Gemäuer.« Er zog ein endlos langes Taschentuch aus seinem Ärmel und schnäuzte sich ausführlich.

Hinter den Mauern rührte sich nichts.

Ruben nickte Jonas zu und schwang sich wieder auf den Kutschbock. Mit klirrendem Geschirr fuhr die Kutsche an. Jonas sah ihr nach, einen Augenblick lang verwundert. Aber ja! Die Pferde mussten noch versorgt werden.

»Die Stallungen liegen auf der anderen Seite«, sagte Peregrin Aber und verstaute sein Taschentuch, nicht ohne es vorher wieder ordentlich zusammenzulegen.

»Ja«, sagte Jonas leise.

Es war jetzt ganz still. Die kahlen Bäume zwischen Haus und Mauer waren riesige Schemen, stumme Wächter mit krummen Armen und gichtigen Fingern, hundert Jahre alt.

»Vielleicht ist ja noch jemand wach.« Der Advokat wies auf die schwere Tür, ein dunkler Fleck im Gemäuer vor ihnen. »Weißt du, wir rechnen besser nicht mit einem höflichen Empfang. Die ganze Situation …« Er brach ab und zuckte hilflos mit den Schultern.

Jonas dachte an Alma, die er noch gar nicht kannte und lieber nie kennenlernen wollte. »Ich muss …«, begann er leise. »Ich brauche …« Wie sollte er das sagen? Er wollte ja nicht undankbar sein. »Ich weiß gar nicht, was ich mit einem Haus anfangen soll«, platzte er schließlich heraus. Bei Brand hatte er nicht einmal ein eigenes Zimmer gehabt, sondern auf der Küchenbank geschlafen. Das war doch genug.

Doch Peregrin Aber schüttelte den Kopf. »Mein Junge«, sagte er. »Das Haus gehört dir und damit basta!« Er fasste Jonas sanft am Ellbogen. »Wir gehen jetzt hinein.« Und damit schob er Jonas bis vor die Tür.

An das Türblatt war ein großer, eiserner Klopfer in Form eines Vogels genagelt, und Peregrin Aber ergriff den Ring, um sich bemerkbar zu machen.

»Das Wappentier der Finks«, erklärte er. »Im Hellen erkennt man es besser. Es ist – nun ja – ein Fink.« Peregrin Aber lächelte, als wollte er sich für einen verunglückten Witz entschuldigen.

Der Advokat hielt den Ring immer noch fest umklammert. Noch hatte er nicht geklopft. »Hast du schon einmal ein Wappentier gesehen, Jonas?«

Jonas schüttelte den Kopf. Obwohl er natürlich wusste, was ein Wappentier war. Ritter hatten eines. Auf ihre Schilde waren Drachen, Löwen oder Schlangen gemalt. Aber ein Fink?

»Du musst wissen, dass die Finks ein bekanntes Geschlecht waren, Junge. Vor langer, langer Zeit. Als die Könige noch was zu melden hatten.« Peregrin Aber lächelte verschmitzt. »Ein gewisser Leopold Fink war sogar einmal der Sechsunddreißigste in der Thronfolge. Weißt du, was das heißt?«

Jonas hätte den Kopf geschüttelt, wäre er dazu gekommen, doch Peregrin Aber redete gleich weiter.

»Das heißt, dass er König geworden wäre, wenn fünfunddreißig arme, adelige Gestalten das Pech gehabt hätten, gleich hintereinander das Zeitliche zu segnen. Fünfunddreißig pompöse Beerdigungen und zack! – ein Fink auf dem Thron.« Der Advokat grinste. »Ich erzähle dir das nur, weil Alma einen gewissen Wert darauf legt. Um nicht zu sagen, dass sie lächerlich stolz darauf ist. Aber das ist alles so lange her, dass es schon gar nicht mehr wahr ist. Wenn es überhaupt jemals gestimmt hat.« Peregrin Aber sah Jonas an, zog spöttisch eine Augenbraue hoch und ließ endlich den Ring gegen den eisernen Finken schlagen.

Das Klopfen hallte fürchterlich.

Der Advokat streckte den kurzen Rücken durch und den Bauch vor. Er strich sich über den Bart und rückte den Zylinder zurecht. Peregrin Aber war bereit.

Doch nichts geschah.

Jonas’ Herz hämmerte gegen seine Brust. Er starrte auf den übergroßen Finken und der starrte eisern zurück.

Peregrin Aber schlug den Ring noch einmal gegen das Metall und wieder hallte das Klopfen durch die Nacht. Konnte man es drinnen denn nicht hören?

Jonas hatte gerade begonnen sich vorzustellen, wie einfach niemand aufmachte und sie unverrichteter Dinge wieder fortfahren müssten, zurück zu Brand und Elsa, da knackte die Tür, und die Angeln quietschten wie ein Hund, dem man auf den Schwanz getreten war.

Jonas schrak zusammen.

»Ja?«, flüsterte es durch den Türspalt.

Aber es war niemand zu sehen.

»Tabbi?« Peregrin Abers stets entschlossene Stimme war ein wenig ins Wanken geraten. »Sind Sie das, Tabbi?«

»Herr Doktor! Um diese Zeit?«, flüsterte es. Dann ging die Tür auf und eine große, grobknochige Frau in Pantoffeln, Nachthemd, Nachthaube und Morgenmantel erschien auf der Schwelle. Sie schlug die Arme umeinander, als sie in die Kälte trat. Dann fiel ihr Blick auf Jonas.

»Ist das der Junge?«, raunte sie.

Peregrin Aber erhob jetzt trotzig die Stimme. »Der junge Herr Jonas Nichts, jawohl!«, sagte er. »Und jetzt lassen Sie uns doch nicht so lange in der Kälte stehen, Tabbi!«

Wiederum fasste er Jonas am Ellbogen und schob ihn an Tabbi vorbei durch die Tür.

Drinnen war es noch finsterer als draußen. Jonas roch Stein und spürte einen großen Raum. Plötzlich hallten ihre Schritte. Sehen jedoch konnte Jonas nichts.

»Ob Sie bitte Licht machen könnten, Tabbi?« Peregrin Aber klang etwas ungehalten.

Die Tür fiel zurück ins Schloss. Jonas hörte das Tappen der Frau auf dem Fußboden, dann wurde ein Streichholz angerissen und gleich darauf flackerte eine Kerzenflamme auf. Ihr Licht war zu schwach, um den Raum zu erhellen, es malte nur Schatten an die nächste Wand. Immerhin sah Jonas jetzt Tabbis langes Gesicht und ihr kräftiges Kinn, von unten beleuchtet. Sie war nicht mehr jung, graues Haar hing ihr ungekämmt in den Nacken, und tiefe Sorgenfalten erschienen auf ihrer Stirn, als sie auf Jonas herabsah.

»Ich bin Tabbi«, sagte sie. »Die Wirtschafterin. – Baroness Claras Köchin«, fügte sie noch hinzu und bekreuzigte sich schnell mit der freien Hand.

Jonas hörte staunend zu. Er kam sich klein und schwach vor in diesem großen, unsichtbaren Raum.

»Es ist wohl niemand aufgeblieben, was?« Peregrin Aber ließ den Blick durch die Dunkelheit schweifen. Zusammen standen sie in einem schmalen Ring aus Licht, einer wunderlichen, winzigen Insel.

Tabbi kam noch einen Schritt näher. »Alma ist schon seit heute Morgen fort«, raunte sie. Dann warf sie einen Blick über die Schulter, als wollte sie sich davon überzeugen, dass niemand lauschte. »Im Spielzimmer«, flüsterte sie dann.

Jonas trat von einem Fuß auf den anderen. War Alma nicht schon eine alte Frau?

Doch Peregrin Aber wollte offenbar nichts von Alma hören. »So«, sagte er unwirsch. »Das mag sein. Wir haben nicht gegessen, Tabbi. Es ist doch wohl noch etwas in der Küche?«

Aber zu Jonas’ Entsetzen war es nicht Tabbi, die antwortete. Antwort kam vielmehr aus der Tiefe des dunklen Raums. Von oben.

»Es ist bestimmt noch etwas übrig, meine Herren.«

Selbst der tapfere Peregrin Aber zuckte zusammen, und Jonas glaubte, sein erstes Gespenst zu sehen. Brand hatte oft von den Geistern der Heide erzählt, unter ihnen ein kopfloser Reiter. Dem Gespenst, das er jetzt sah, fehlte allerdings der Körper. Hoch über ihnen nämlich, im hinteren Teil des großen Raums, erschien ein bloßer Kopf und schwebte langsam zu ihnen herab. Kerzenlicht spiegelte sich in den runden Gläsern einer Brille, Jonas machte eine hohe, schmale Stirn aus und eine scharfe Nase.

»Ich hoffe, Ihre Reise war angenehm, Herr Doktor. Ich habe Sie erwartet.« Die Stimme war so dunkel wie der Raum, aus dem sie kam.

»Hochwürden!«, stieß Peregrin Aber aus und dazu jede Menge Luft.

Jonas begriff. Da stieg jemand eine im Dunkel liegende Treppe herunter und war so schwarz gekleidet wie die Nacht. Stufe um Stufe senkte der Kopf sich zu ihnen herab. Schließlich hallten Schritte über den Fußboden.

Niemand sprach, bis der Mann ihren kleinen Kreis erreicht hatte. Er hielt sich sehr aufrecht und alles an ihm war lang, das Gesicht, die Hände, mit denen er den Kerzenständer hielt, sogar die Zähne. Sie waren dünn und spitz wie Nägel.

»Guten Abend«, sagte der Mann, aber das klang wie eine Drohung.

»Guten Abend«, antwortete Peregrin Aber mit Nachdruck. »Sie steigen ja zu uns herab wie der Heilige Geist, Hochwürden.«

Der Mann sah auf Peregrin Aber hinab und begann dann Jonas zu mustern. Immer noch waren seine Augen unsichtbar, in den Brillengläsern flackerte das Licht der Kerze.

»Wer ist das, Herr Doktor?«, sagte der Mann, als hielte er mit spitzen Fingern etwas hoch.

Peregrin Abers Lippen wurden schmal. »Wir wollen nicht so tun, als wüssten wir nicht, dass Veränderungen ins Haus stehen, Hochwürden. Das ist der junge Herr Jonas Nichts, den ich soeben abgeholt habe. Und das«, sagte der Advokat und wandte sich Jonas zu, »ist der Herr Pfarrer Irmingast. Baroness Almas geistiger Beistand. Habe ich das richtig ausgedrückt, Hochwürden?«

Irmingast überhörte die Frage. Nach wie vor hatte er nur Augen für Jonas. Unsichtbare Augen, der spiegelnden Brillengläser wegen.

»Nichts heißt du, mein Junge? Ein ungewöhnlicher Name. Was soll er bedeuten?« Der Pfarrer wandte sich an den Advokaten. »Ein Bastard, nehme ich an.«

Jonas wusste, was ein Bastard war, ein uneheliches Kind. Aber ob er ein Bastard war, wusste er nicht. Vielleicht wäre er in diesem Augenblick lieber einer gewesen als – nichts.

»Gott liebt jedes seiner Schäfchen und seine Liebe macht uns alle gleich. Ist es nicht so, Hochwürden?« Irmingast und der Advokat standen sich gegenüber wie Jungs auf dem Kirchplatz, kurz bevor sie sich die Nasen blutig schlagen.

»Gewiss.« Irmingast lächelte dünn und zeigte seine schrecklichen Zähne. »Und wie alt bist du, Jonas Nichts? Zwölf würde ich sagen. Ja. Zwölf.« Seine Stimme war leiser geworden, und er nickte kaum merklich, so, als würde ihm nach langer Zeit ein alter Verdacht bestätigt.

Jonas wurde gleichzeitig heiß und kalt. »Ich bin schon dreizehn, Hochwürden«, sagte er mit zitternder Stimme und fingerte in seiner Hosentasche nach Rubens Zettel.

»Ach!« Irmingast hielt seine Kerze ein wenig tiefer, um Jonas besser betrachten zu können. »Sag, ist dein eines Auge blind?« Die Kerzenflamme kam Jonas’ Gesicht plötzlich bedrohlich nah. Er spürte die Blicke auf sich. Nicht nur den von Irmingast. Auch Tabbi beugte sich jetzt neugierig zu ihm herab.

»Nein«, flüsterte Jonas. »Ich kann gut sehen.«

Peregrin Aber räusperte sich. »Der Junge hat einfach verschiedenfarbige Augen. So was kommt vor.« Er räusperte sich noch einmal.

»Ja«, sagte Irmingast leise, bevor er wieder die Stimme hob. »Und etwas mager bist du auch.« Seine spitzen Finger schlossen sich um Jonas’ Oberarm. Noch nie war Jonas eine Berührung so unangenehm gewesen. »Sie haben dich nicht anständig gefüttert, Kleiner.« Irmingast drückte noch einmal zu, bevor er ihn wieder losließ und seine Brille zurechtrückte. Immer noch waren seine Augen nicht zu sehen. »Tabbi! Bestimmt finden sich auch ein paar ordentliche Kleider in den Schränken des Hauses. Der junge Mann sieht doch etwas ärmlich aus. Wollen Sie sich darum kümmern?«

Tabbi nickte beflissen. »Natürlich, Hochwürden«, sagte sie.

Jonas rieb sich unauffällig den Arm. Er wollte Irmingasts Berührung wegwischen.

»Und für eine Mahlzeit ist gesorgt? Tabbi?«

»Ja, Hochwürden.«

»Fein.« Irmingast bleckte erneut die Zähne und lächelte reihum jedem zu. An Jonas blieb sein Spiegelblick hängen. »Dann sehen wir uns morgen. Zur Testamentseröffnung. Ich wünsche einen gesegneten Appetit. Gute Nacht allerseits.« Und nach einer angedeuteten Verbeugung stieg er die Treppe wieder hinauf, Stufe für Stufe, ohne Eile.

Jonas hatte eine Gänsehaut, als er das Licht der Kerze endlich verschwinden sah.

Sie aßen in einer kalten Küche, die Jonas mit ihrem Steinfußboden und dem Doppelgewölbe wie eine Grotte vorkam. Tabbi tischte auf, lief vom Tisch zum Küchenschrank, vom Küchenschrank wieder zum Tisch und dann in die Speisekammer. Vielleicht war sie froh, sich nicht setzen zu müssen.

Peregrin Aber speiste lustlos und Jonas brachte gar nichts hinunter. Er war hellwach und zugleich so erschöpft, dass er schrecklich fror. Wenn er auf das Essen sah, musste er an die langen Zähne des Pfarrers denken und stellte sich vor, wie sie sich in etwas Weiches bohrten. Die Aussicht auf eine Nacht allein in einem Zimmer auf Wunderlich versetzte ihn in heillose Unruhe. Er sehnte sich nach seiner Küchenbank und den vertrauten Geräuschen, nach Brands pfeifendem Schnarchen und dem fernen Rumoren im Stall.

Indem er sich mit seinem Taschentuch die Mundwinkel tupfte, gab Peregrin Aber das Signal zum Aufbruch. Tabbi hatte einen großen Leuchter beschafft und für den Advokaten und seinen jungen Schützling je ein Nachtlicht. So bewaffnet, ging es durch die große, dunkle Halle jene Treppe hinauf, über die auch Irmingast verschwunden war.

Die Treppe hatte endlos viele Stufen und knarzte wie ein altes Schiff. Überall roch es muffig. Tabbis Leuchter malte wilde Schatten an die Wände eines breiten Korridors im ersten Stock. Aus schweren Bilderrahmen sahen ihnen blasse Gestalten misstrauisch nach. Nur für Augenblicke wurden diese Gestalten sichtbar, dann verschmolz die dicke Ölfarbe wieder mit der Dunkelheit.

»Lauter Finken«, murmelte Peregrin Aber, und das sollte wohl heißen, dass die Bilder Verwandte von Clara und Alma darstellten. Weitere Erklärungen jedoch blieben aus. Der Advokat hatte es eilig. Er hielt sein Nachtlicht am lang ausgestreckten Arm und lief ihm hinterher. Hinter jeder Tür, an der sie vorbeikamen, vermutete Jonas den Pfarrer oder Alma, und bestimmt wäre sein Herz stehengeblieben, hätte sich eine dieser Türen geöffnet.

Schließlich hielt Tabbi vor einer von ihnen an, den großen Leuchter fest in der Hand. »Ich habe gedacht, der Junge schläft am besten im Gästezimmer neben Ihrem, Herr Doktor«, sagte sie. »Es gibt eine Verbindungstür.« Sie lächelte Jonas an.

»Ja, ja«, sagte Peregrin Aber. »Der Junge muss aber hundemüde sein. Er wird schlafen wie ein Stein.« Er sah zu Jonas herüber. »Nicht wahr?«

Jonas nickte stumm. Er hatte verstanden. Ohnehin hätte er es nicht gewagt, den Advokaten zu stören.

Peregrin Aber steuerte auf seine Tür zu. »Gute Nacht, Jonas Nichts. Zeigen Sie ihm alles, Tabbi.« Und schon war er verschwunden, Nachtlicht voraus.

Jonas blieb allein mit Tabbi im Korridor zurück. Das Kerzenlicht fiel auf ein weiteres Gemälde gleich neben der Tür. Ein Mann mit langem, schwarzem Haar, Schnurrbart und einem weißen Kragen blickte den Gang entlang. Jonas fielen seine Hände auf, die sich auf den Bilderrahmen zu stützen schienen. Die Hände waren lang und leblos und weiß wie Wachs.

»Komm, Junge. Du musst dich nicht fürchten.« Tabbi öffnete die Tür und die Kerzen erhellten ein großes Zimmer. Schwere Vorhänge hingen vor den nachtschwarzen Fenstern, hinter dem Kamingitter war ein Feuer eben erst erloschen. Noch war es im Zimmer warm. Jonas bemerkte ein großes, hohes Bett mit einem Baldachin, in das er beinahe würde hinaufklettern müssen. An der Wand gegenüber stand ein zierlicher Sekretär, davor ein Stuhl auf dünnen Beinen. Jonas war erleichtert, dass das Bild über dem Sekretär eine Kutsche zeigte. Wenigstens würde ihn niemand anstieren, wenn er erst allein im Zimmer wäre.

»Gefällt es dir, Jonas?«, fragte Tabbi. »Eigentlich müsste ich ja Herr zu dir sagen. Junger Herr … Nichts.« Sie zögerte, bevor sie weitersprach. »Ich habe mir natürlich auch so meine Gedanken gemacht. Wegen des Testaments. Ruben und ich – also … wir freuen uns, dass du da bist.«

Jonas wurde rot. Es wusste nicht, was er darauf sagen sollte. »Das Zimmer ist sehr schön«, murmelte er schließlich und sah auf den dicken Teppich voller wilder Muster. Er hätte Tabbi gern erzählt, dass er noch nie in einem Bett geschlafen hatte, sondern immer bloß auf einem Strohsack.

»Na ja«, sagte Tabbi. »Das ist natürlich alles ziemlich viel für dich. Und wir werden ja noch reichlich Gelegenheit haben, uns zu unterhalten.« Sie rückte ihre Nachthaube zurecht. »Da liegt ein Nachthemd auf deinem Bett. Schlaf gut, Junge.«

Hinter ihr klappte die Tür zu.

Jonas lauschte noch eine Weile auf Tabbis Schritte, dann ging er langsam auf das riesige Bett zu und stellte seine Kerze auf einen Nachttisch. Das Holz des Nachttischs war poliert, und Jonas strich mit der Hand darüber und bewunderte die Einlegearbeiten. Wie viele Farben Holz haben konnte.

Auf dem Bett lag Elsas Pappköfferchen, neben dem ausgebreiteten Nachthemd. Jonas befühlte den Stoff. Er war ganz weich, nicht zu vergleichen mit dem groben Hemd, das er trug. Aber was war das? Jonas musste lächeln, als er seinen dritten Zettel fand. Ruben musste ihn auf das Nachthemd gelegt haben, als er den Koffer brachte.

ICH BESCHÜTZE DICH