Erin Hunter

Warrior Cats

In die Wildnis

Aus dem Englischen von Klaus Weimann

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www.beltz.de

© 2008 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© Working Partners Ltd.

Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel Warrior Cats – Into the Wild bei Harper Collins Children’s Books, London

Lektorat: Susanne Härtel

Neue Rechtschreibung

Umschlaggestaltung/Artwork: Hauptmann und Kompanie

Werbeagentur, München–Zürich, Hanna Hörl

ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza

ISBN 978-3-407-74136-3

Hinter dem Namen Erin Hunter verbergen sich gleich drei Autorinnen. Während Victoria Holmes meistens die Ideen für die Geschichten hat und das gesamte Geschehen im Auge behält, bringen Cherith Baldry und Kate Cary die Abenteuer der KatzenClans zu Papier. Alle drei mögen Katzen und haben großen Spaß daran, neue und spannende Geschichten rund um die KatzenClans zu erfinden. Mittlerweile schreiben sie schon an der dritten Staffel der WARRIOR CATS. Die WARRIOR CATS erscheinen auch als Hörbücher bei Beltz & Gelberg.

Mehr Informationen unter www.warriorcats.de

Für Billy, der unser Zweibeinerheim verlassen hat,

um ein Krieger zu werden.

Wir vermissen ihn noch sehr.

Und für Benjamin, seinen Bruder,

der jetzt mit ihm im SternenClan weilt.

Besonderen Dank an Kate Cary

Karte

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Die Hierarchie der Katzen

DonnerClan

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Anführer

Blaustern – blaugraue Kätzin mit einer Spur Silber um die Schnauze

Zweiter
Anführer

Rotschweif – kleiner, schildpattfarbener Kater mit auffällig rotem Schwanz; Mentor von Borkenpfote

Heilerin

Tüpfelblatt – schöne, dunkle, schildpattfarbene Kätzin mit ungewöhnlich geschecktem Fell

Krieger

(Kater und Kätzinnen ohne Junge

Löwenherz – prachtvoller, golden gestreifter Kater mit dichtem Fell wie eine Löwenmähne; Mentor von Graupfote

Tigerkralle – großer, dunkelbraun getigerter Kater mit ungewöhnlich langen Vorderkrallen; Mentor von Rabenpfote)

Weißpelz – großer, weißer Kater; Mentor von Sandpfote

Dunkelstreif – schlanker, schwarzgrau getigerter Kater; Mentor von Borkenpfote

Langschweif – Kater mit hellem Fell und schwarzen Streifen

Sturmwind – schnellfüßiger, gescheckter Kater

Glanzfell – sehr hellgraue Kätzin mit ungewöhnlich blauen Augen

Mausefell – kleine, schwarzbraune Kätzin

Schüler

(über sechs Monde alt, in der Ausbildung zum Krieger)

Borkenpfote – dunkelbraun getigerter Kater

Graupfote – langhaariger, rein grauer Kater

Rabenpfote – kleiner, magerer, schwarzer Kater mit winzigem weißem Fleck auf der Brust und weißer Schwanzspitze

Sandpfote – helle, gelbbraune Kätzin

Feuerpfote – hübscher Kater mit rotem Fell

Königinnen

(Kätzinnen, die Junge erwarten oder aufziehen)

Frostfell – schönes, weißes Fell und blaue Augen

Buntgesicht – hübsch gescheckt

Goldblüte – helles, gelbbraunes Fell

Fleckenschweif – hell gescheckt, die älteste Königin in der Kinderstube

Älteste

(ehemalige Krieger und Königinnen, jetzt im Ruhestand)

Kurzschweif – großer, dunkelbraun getigerter Kater, dem ein Teil des Schwanzes fehlt

Kleinohr – grauer Kater mit sehr kleinen Ohren. Ältester Kater im DonnerClan

Flickenpelz – kleiner, schwarz-weißer Kater

Einauge – älteste Kätzin im DonnerClan mit hellem Fell. Fast ganz blind und taub

Tupfenschweif – einst hübsche, schildpattfarbene Kätzin mit einem wunderbar gefleckten Fell

SchattenClan

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Anführer

Braunstern – langhaariger, dunkelbraun getigerter Kater

Zweiter
Anführer

Schwarzfuß – großer, weißer Kater mit riesigen, pechschwarzen Pfoten

Heiler

Triefnase – kleiner, grau-weißer Kater

Krieger

Stummelschweif – brauner, gescheckter Kater; Mentor von Erdpfote

Kieselstein – silbern getigerter Kater; Mentor von Nasspfote

Narbengesicht – brauner Kater voller Kampfnarben; Mentor von Zwergpfote

Nachtpelz – schwarzer Kater

Königinnen

Dämmerwolke – kleine, gescheckte Kätzin

Glanzblüte – schwarz-weiße Kätzin

Ältester

Aschenfell – magerer, grauer Kater

WindClan

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Anführer

Riesenstern – schwarz-weißer Kater mit einem sehr langen Schwanz

FlussClan

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Anführer

Streifenstern – riesiger, hell getigerter Kater mit einem schiefen Kiefer

Zweiter
Anführer

Eichenherz – rotbrauner Kater

Katzen außerhalb der Clans

Gelbzahn – alte, dunkelgraue Kätzin mit einem breiten, flachen Gesicht

Wulle – pummeliges, zutrauliches, schwarz-weißes Kätzchen, das in einem Haus am Waldrand lebt

Mikusch – schwarz-weißer Kater, lebt auf einem Bauernhof nahe am Wald

Prolog

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Das Licht des halben Mondes glänzte auf den Granitfelsen und verwandelte sie in Silber. Die Stille wurde nur durch das Plätschern des rasch fließenden, schwarzen Flusses unterbrochen und das Flüstern der Bäume im dahinterliegenden Wald.

In den Schatten rührte sich etwas und von überall her krochen geschmeidige, dunkle Gestalten verstohlen über das Gestein. Ausgestreckte Krallen funkelten im Mondlicht. Wachsame Augen blitzten wie Bernstein. Und dann, wie auf ein stilles Kommando, sprangen die Tiere aufeinander los, und plötzlich wimmelten die Felsen von kämpfenden, kreischenden Katzen.

Mitten in dem wilden Getümmel aus Fell und Krallen presste eine massige, dunkle Tigerkatze einen rotbraunen Kater zu Boden und reckte triumphierend den Kopf.

»Eichenherz«, knurrte der getigerte Kater. »Wie kannst du es wagen, auf unserem Territorium zu jagen? Die Sonnenfelsen gehören dem DonnerClan!«

»Nach heute Nacht, Tigerkralle, wird dies ein weiteres Jagdgebiet des FlussClans sein!«, fauchte der rotbraune Kater.

Ein Warnschrei ertönte vom Ufer, schrill und voller Angst. »Passt auf! Da kommen noch mehr FlussClan-Krieger!«

Tigerkralle wandte sich um und sah schlanke, nasse Leiber aus dem Wasser unterhalb der Felsen gleiten. Die fremden Krieger sprangen lautlos das Ufer hinauf und stürzten sich in die Schlacht, ohne auch nur das Wasser aus dem Fell zu schütteln.

Der getigerte Kater warf Eichenherz einen funkelnden Blick zu. »Ihr mögt schwimmen wie die Otter, aber du und deine Krieger haben nichts in diesem Wald verloren!« Er zog die Lippen zurück und bleckte die Zähne, während sich sein Gegner unter ihm zu befreien suchte.

Der verzweifelte Schrei einer Kätzin aus dem DonnerClan erhob sich über den Lärm. Ein drahtiger Kater aus dem Fluss-Clan hatte die braune Kriegerin flach auf den Bauch gedrückt und schnappte nach ihrem Genick. Aus seinem Maul troff noch das Wasser des Flusses, den er soeben durchquert hatte.

Tigerkralle hörte den Schrei und ließ von Eichenherz ab. Mit einem gewaltigen Sprung stieß er den feindlichen Krieger von der Kätzin weg. »Schnell, Mausefell, lauf!«, befahl er ihr, bevor er sich dem Kater zuwandte, der sie bedroht hatte. Mausefell rappelte sich auf, zuckte vor Schmerz zusammen und stürmte trotz der tief klaffenden Wunde in ihrer Schulter davon.

Tigerkralle fauchte vor Wut, als der Kater aus dem Fluss-Clan ihm die Nase aufriss. Blut nahm ihm für einen Augenblick die Sicht, aber ohne darauf zu achten, warf er sich nach vorne und schlug die Zähne in das Hinterbein seines Gegners. Der kreischte auf und kämpfte sich frei.

»Tigerkralle!« Der Ruf kam von einem Krieger, dessen Schwanz rot wie das Fell eines Fuchses war. »Es ist zwecklos! Es sind zu viele Gegner!«

»Nein, Rotschweif. Der DonnerClan gibt sich niemals geschlagen!«, heulte Tigerkralle zurück und sprang an die Seite von Rotschweif. »Dies ist unser Territorium!« Über seiner breiten, schwarzen Schnauze quoll noch immer Blut hervor. Er schüttelte unwillig den Kopf und rote Tropfen spritzten auf die Felsen.

»Der DonnerClan wird deinen Mut zu würdigen wissen, Tigerkralle, aber wir können es uns nicht leisten, noch mehr Krieger zu verlieren«, drängte Rotschweif. »Blaustern würde niemals ihre Krieger gegen eine derartig gewaltige Übermacht kämpfen lassen. Wir werden eine andere Gelegenheit bekommen, uns für diese Niederlage zu rächen.« Unbeirrt erwiderte er den Blick aus Tigerkralles bernsteinfarbenen Augen, dann wandte er sich um und sprang auf einen Felsen am Rande des Waldes.

»Rückzug, DonnerClan! Rückzug!«, schrie er. Sofort kämpften sich seine Krieger von ihren Gegnern frei und zogen sich fauchend und knurrend zu Rotschweif zurück. Einen Herzschlag lang wirkten die Katzen des FlussClans verwirrt. War diese Schlacht so leicht gewonnen? Dann stieß Eichenherz einen Triumphschrei aus und seine Krieger schlossen sich dem Siegesgeheul ihres Zweiten Anführers an.

Rotschweif blickte hinab auf seine Krieger. Mit einem Zucken des Schwanzes gab er das Signal und die DonnerClan-Katzen stürmten die flussabgewandte Seite der Sonnenfelsen hinunter und verschwanden zwischen den Bäumen.

Tigerkralle folgte ihnen als Letzter. Am Rande des Waldes zögerte er und warf einen Blick zurück auf das blutgetränkte Schlachtfeld. Sein Gesichtsausdruck wirkte grimmig, die Augen waren zu wütenden Schlitzen zusammengekniffen. Dann folgte er seinem Clan und entschwand in den schweigenden Wald.

Auf einer verlassenen Lichtung saß allein eine alte, graue Kätzin mit blauen Augen und starrte hinauf zum klaren Nachthimmel. Um sie herum in den Schatten waren das Atmen und die trägen Bewegungen schlafender Katzen zu hören.

Aus einer dunklen Ecke trat eine kleine, schildpattfarbene Kätzin auf flinken, leisen Pfoten hervor.

Die graue Katze senkte grüßend den Kopf. »Wie geht es Mausefell?«, fragte sie.

»Ihre Wunden sind tief, Blaustern«, antwortete die Schildpattfarbene und ließ sich auf dem nachtkühlen Gras nieder. »Aber sie ist jung und stark, sie wird rasch wieder gesund werden.«

»Und die anderen?«

»Auch die werden sich alle erholen.«

Blaustern seufzte. »Welch ein Glück, dass wir diesmal keinen unserer Krieger verloren haben. Du bist eine begabte Heilerin, Tüpfelblatt.« Erneut legte sie den Kopf in den Nacken und betrachtete die Sterne. »Ich bin sehr beunruhigt wegen der Niederlage heute Nacht. Noch nie, seit ich den DonnerClan führe, ist er auf seinem eigenen Territorium geschlagen worden«, murmelte sie. »Es sind schwierige Zeiten. Die Blattfrische verspätet sich dieses Jahr und es hat weniger Junge gegeben. Der DonnerClan braucht mehr Krieger, wenn er überleben will.«

»Aber das Jahr hat doch gerade erst angefangen«, erwiderte Tüpfelblatt ruhig. »Es wird mehr Junge geben, wenn die Blattfrische kommt.«

Die Graue zuckte mit ihren breiten Schultern. »Vielleicht hast du ja Recht. Aber die Ausbildung unserer Jungen zu Kriegern dauert ihre Zeit. Wenn unser Clan sein Territorium verteidigen will, braucht er neue Krieger, so bald wie möglich.«

»Suchst du nach Antworten beim SternenClan?«, fragte Tüpfelblatt sanft und folgte Blausterns Blicken hinauf zum funkelnden Sternenband am dunklen Himmel.

»In diesen Zeiten brauchen wir die Worte der alten Krieger, damit sie uns helfen. Hat der SternenClan zu dir gesprochen?«, fragte Blaustern.

»Nicht in den letzten Monden.«

Plötzlich leuchtete eine Sternschnuppe über den Baumwipfeln auf. Tüpfelblatts Schwanz zuckte und auf ihrem Rücken sträubte sich das Fell.

Blausterns Ohren stellten sich auf, doch sie blieb still, während Tüpfelblatt weiter hinauf in die Sterne sah.

Ein paar Augenblicke später senkte Tüpfelblatt den Kopf und murmelte: »Das war eine Botschaft vom SternenClan.« Ein abwesender Blick trat in ihre Augen. »Nur Feuer kann unseren Clan retten.«

»Feuer?«, wiederholte Blaustern. »Aber alle Clans fürchten das Feuer! Wie kann es uns retten?«

Tüpfelblatt schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Aber das ist die Botschaft, die der SternenClan mir mitgeteilt hat.«

Blaustern richtete ihre klaren, blauen Augen auf die Heilerin. »Du hast dich noch nie geirrt, Tüpfelblatt«, sagte sie. »Wenn der SternenClan gesprochen hat, dann muss es so sein. Feuer wird unseren Clan retten.«

1. Kapitel

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Es herrschte tiefe Dunkelheit. Sammy spürte, dass irgendetwas in der Nähe war. Mit weit geöffneten Augen suchte der junge Kater das dichte Unterholz ab. Dieser Ort war ihm fremd, aber die seltsamen Gerüche zogen ihn an, weiter, tiefer hinein in die Schatten. Ihm knurrte der Magen, er war hungrig. Er öffnete das Maul ein wenig, um die warmen Düfte des Waldes besser riechen zu können. Der dumpfe Geruch modernder Blätter mischte sich mit dem verführerischen Duft eines kleinen, pelzigen Tieres.

Plötzlich flitzte etwas Graues an ihm vorbei. Sammy verharrte still. Das Tier verbarg sich in den Blättern, weniger als zwei Schwanzlängen von ihm entfernt. Er wusste, es war eine Maus – er konnte den schnellen Schlag des winzigen Herzens deutlich spüren. Er schluckte und unterdrückte das Grummeln im Magen. Schon bald würde sein Hunger gestillt sein.

Langsam senkte er seinen Körper und brachte sich in Angriffsstellung. Der Wind wehte von der Maus in seine Richtung, deshalb hatte sie ihn noch nicht bemerkt. Noch einmal überprüfte er, wo genau sich sein Opfer befand, dann ging er noch tiefer in die Hocke und sprang kraftvoll ab. Trockene Blätter wirbelten vom Waldboden auf.

Die Maus suchte Deckung und flitzte zu einem Loch im Boden. Aber Sammy war schon über ihr, schleuderte sie in die Luft, bohrte seine dornenscharfen Krallen in das hilflose Tier und warf es in hohem Bogen auf die laubbedeckte Erde. Die Maus war benommen, lebte aber noch. Sie versuchte zu fliehen, doch Sammy packte sie wieder, schleuderte sie erneut in die Luft, diesmal ein wenig weiter weg. Es gelangen der Maus ein paar unsichere Schritte, bevor der Kater sie endgültig schnappte.

Plötzlich ertönte ein lautes Geräusch. Sammy schaute sich um und schnell befreite sich die Maus aus seinen Krallen. Der Kater sah nur noch, wie sie in die Dunkelheit zwischen den verschlungenen Wurzeln eines Baumes huschte.

Wütend gab Sammy die Jagd auf. Seine grünen Augen funkelten, als er sich auf der Suche nach dem Geräusch, das ihn um sein Jagdglück gebracht hatte, wieder umdrehte. Das Klappern war immer noch zu hören und klang jetzt vertrauter. Blinzelnd öffnete Sammy die Augen.

Der Wald war verschwunden. Er lag in einer heißen, stickigen Küche zusammengerollt in seinem Körbchen. Durch das Fenster schien der Mond und warf Schatten auf den glatten Fußboden. Das Geräusch war das Klappern harter, trockener Futterbröckchen gewesen, die in seinen Napf geschüttet wurden. Sammy hatte geträumt.

Er hob den Kopf und legte das Kinn auf den Rand seines Körbchens. Am Hals scheuerte sein Halsband unangenehm. In seinem Traum hatte frische Luft das Fell gestreichelt, wo sonst das Halsband zwickte. Sammy rollte sich auf den Rücken und genoss für ein paar weitere Minuten seinen Traum. Noch immer hatte er den Geruch der Maus in der Nase. Zum dritten Mal seit Vollmond hatte er diesen Traum gehabt und jedes Mal war die Maus seinem Angriff entkommen.

Er leckte sich die Lippen, doch von seinem Körbchen aus stieg ihm nur der staubige Geruch des Futters in die Nase und verjagte die warmen Düfte seines Traums. Seine Besitzer füllten immer seinen Napf auf, bevor sie zu Bett gingen. Aber weiterhin knurrte der Hunger in seinem Magen, und so streckte sich Sammy träge und trottete über den Küchenboden zu seinem Abendessen. Das Futter schmeckte trocken und fad. Widerstrebend schluckte er noch ein weiteres Maulvoll hinunter, dann wandte er sich vom Futternapf ab und schob sich durch die Katzenklappe hinaus ins Freie. Er hoffte, der Duft des Gartens würde ihm das Gefühl aus seinem Traum zurückbringen.

Draußen schien ein heller Mond. Es regnete leicht. Sammy stolzierte durch den gepflegten Garten und folgte dem sternenbeschienenen Kiesweg, wobei er die Steinchen kalt und scharf unter den Pfoten spürte. Er erledigte sein Geschäft unter einem großen Busch mit glänzenden, grünen Blättern und schweren, purpurnen Blüten. Ihr ekelhaft süßer Duft sättigte die feuchte Luft um ihn herum, und er kräuselte die Lippen, um den Geruch aus der Nase zu vertreiben.

Dann ließ Sammy sich oben auf einem der Pfosten im Zaun nieder, der die Grenzen seines Gartens markierte. Das war einer seiner Lieblingsplätze, denn von dort konnte er direkt in die Nachbargärten blicken und auch in den dichten, grünen Wald auf der anderen Seite des Zauns.

Es hatte aufgehört zu regnen. Hinter ihm lag der kurz geschorene Rasen im Mondlicht, aber jenseits des Zauns war der Wald voller Schatten. Sammy streckte den Kopf vor, um die feuchte Luft einzuschnuppern. Seine Haut war warm und trocken unter dem dichten Haar, doch noch immer spürte er das Gewicht der Regentropfen auf seinem rötlichen Fell.

Er hörte, wie seine Besitzer zum letzten Mal von der Hintertür nach ihm riefen. Wenn er jetzt zu ihnen ginge, würden sie ihn mit liebevollen Worten und Zärtlichkeiten begrüßen und ihn in ihr Bett einladen, wo er sich schnurrend zusammenrollen und sich warm in eine Kniekehle schmiegen würde.

Diesmal jedoch beachtete Sammy die Stimmen seiner Besitzer nicht, sondern wandte den Blick wieder dem Wald zu. Der scharfe Geruch der Bäume war nach dem Regen frischer geworden.

Plötzlich stellten sich die Haare auf seinem Rücken auf. Bewegte sich dort etwas? Beobachtete ihn jemand? Sammy starrte geradeaus, aber es war unmöglich, etwas zu erkennen oder zu riechen in der dunklen, nach Bäumen duftenden Luft. Kühn hob er das Kinn, stand auf und dehnte sich, streckte die Beine und krümmte den Rücken, wobei er sich am Zaunpfahl festkrallte. Er schloss die Augen und atmete tief den Duft des Waldes ein, so verheißungsvoll, als wollte er ihn in die wispernden Schatten locken.

Er spannte seine Muskeln an und duckte sich kurz. Dann sprang er auf leichten Pfoten hinab in das harte Gras auf der anderen Seite des Gartenzauns. Als er landete, tönte das Glöckchen an seinem Halsband durch die stille Nachtluft.

»Wohin gehst du, Sammy?«, miaute eine vertraute Stimme hinter ihm.

Er blickte auf. Ein schwarz-weißer Kater balancierte ungelenk auf dem Zaun.

»Hallo, Wulle«, sagte Sammy.

»Du willst doch nicht etwa in den Wald, oder?« Wulle riss seine bernsteinfarbenen Augen weit auf.

»Will mich nur mal umsehen«, beteuerte Sammy und trat verlegen von einer Pfote auf die andere.

»Mich würdest du da nicht hinbekommen. Es ist gefährlich!« Wulle kräuselte voller Abwehr die Nase. »Henry sagt, er ist einmal in den Wald gegangen.« Das Kätzchen hob den Kopf und deutete mit der Nase über die Zaunreihen hinweg auf den Garten, wo Henry lebte.

»Dieser fette, alte Kater ist nie im Leben in den Wald gegangen!«, meinte Sammy verächtlich. »Er ist kaum über den eigenen Garten hinausgekommen seit seinem Besuch beim Tierarzt. Der will doch nichts anderes mehr als essen und schlafen.«

»Nein, das ist nicht wahr. Er hat dort ein Rotkehlchen gefangen!«, beharrte Wulle.

»Nun, wenn das stimmt, dann war das vor dem Tierarzt. Jetzt beklagt er sich nur noch über die Vögel, weil sie seinen Schlaf stören.«

»Nun, jedenfalls«, fuhr Wulle fort und beachtete die Verachtung in Sammys Stimme nicht weiter, »Henry hat mir erzählt, dass es da alle möglichen gefährlichen Tiere gibt. Riesige Wildkatzen, die lebendige Kaninchen zum Frühstück fressen und ihre Krallen an alten Knochen wetzen!«

»Ich will mich ja nur umschauen«, wiederholte Sammy. »Ich bleibe nicht lange.«

»Sag nur nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte!«, schnurrte Wulle und ließ sich vom Zaun zurück in seinen eigenen Garten fallen.

Sammy setzte sich in das Gras hinter dem Gartenzaun. Nervös leckte er sich die Schulter und fragte sich, wie viel von Wulles Gerede wohl der Wahrheit entsprach.

Plötzlich bemerkte er die Bewegung eines kleinen Tieres, und er beobachtete, wie es unter ein paar Brombeerzweige huschte.

Unwillkürlich duckte Sammy sich und schob sich langsam, eine Pfote vor die andere setzend, durchs Gestrüpp. Mit gespitzten Ohren, weit geöffneten Nasenlöchern und starren Augen bewegte er sich auf das Tier zu. Er konnte es klar erkennen, wie es sich zwischen den dornigen Zweigen aufsetzte und an einem großen Samenkorn nagte, das es zwischen den Pfoten hielt. Es war eine Maus.

Sammy wiegte sich auf den Hinterbeinen hin und her, bereit zum Sprung. Er hielt den Atem an, damit sein Glöckchen nicht wieder klingelte. Sein ganzer Körper war angespannt und sein Herz hämmerte. Das war sogar noch besser als in seinen Träumen! Dann zuckte er zusammen, als er plötzlich ein Geräusch von knackenden Zweigen und raschelnden Blättern hörte. Sein Glöckchen klingelte verräterisch und die Maus verschwand im dichten Geflecht des Brombeergebüschs.

Sammy stand nun vollkommen still und blickte sich um. Er konnte die weiße Spitze eines roten, buschigen Schwanzes sehen, der vor ihm durch einen Haufen hoher Farnwedel glitt, und er nahm einen starken, fremdartigen Geruch wahr, der eindeutig einem Fleischfresser gehörte, aber weder einer Katze noch einem Hund. Durch das fremde Tier abgelenkt, vergaß Sammy die Maus und beobachtete neugierig den roten Schweif. Er wollte wissen, was da war.

Er schlich sich näher heran, dabei waren alle seine Sinne angespannt und nach vorn gerichtet. Dann hörte er ein weiteres Geräusch. Es ertönte hinter seinem Rücken, klang aber gedämpft und war weiter entfernt. Er stellte die Ohren nach hinten, um es besser zu hören. Pfotenschritte?, fragte er sich, hielt aber den Blick fest auf das fremdartige rote Fell vor sich gerichtet und schlich weiter darauf zu. Erst als das schwache Knistern hinter ihm zu einem lauten und sich schnell nähernden Blätterrascheln anschwoll, wurde Sammy klar, dass er sich in Gefahr befand.

Das Wesen traf ihn wie eine Explosion und er wurde seitlich in einen Haufen Brennnesseln geworfen. Sich windend und jaulend versuchte er, den Angreifer abzuschütteln, doch der hatte sich auf seinem Rücken festgekrallt und hielt ihn mit unglaublich scharfen Krallen fest. Sammy spürte, wie spitze Zähne in seinen Nacken drangen. Er drehte und krümmte sich von den Schnurrhaaren bis zum Schwanz, konnte sich aber nicht befreien. Einen Augenblick lang fühlte er sich hilflos. Dann erstarrte er und warf sich nach einem Augenblick blitzschnell auf den Rücken. Instinktiv wusste er zwar, wie gefährlich es war, seinen Bauch ungeschützt darzubieten, aber darin lag seine einzige Chance.

Er hatte Glück – der Trick schien zu funktionieren. Er hörte ein »Hhuufff«, als die Luft aus dem Gegner unter ihm gepresst wurde. Wild um sich schlagend konnte Sammy sich nun befreien. Ohne einen Blick zurück rannte er in Richtung Haus.

In seinem Rücken verrieten ihm raschelnde Pfotenschritte, dass sein Angreifer die Verfolgung aufgenommen hatte. Trotz der schmerzenden Kratzer unter seinem Fell beschloss Sammy, sich lieber umzudrehen und zu kämpfen, als sich noch einmal einem Sprung von hinten auszusetzen. Er hielt abrupt an, wirbelte herum und stand nun seinem Verfolger gegenüber.

Es war ebenfalls ein Katzenjunges mit zerzaustem, grauem Fell, kräftigen Beinen und einem breiten Gesicht. Augenblicklich roch Sammy, dass es ein Kater war, und er ahnte die Kraft unter dem weichen Fell der stämmigen Schultern. Überrumpelt von Sammys Kehrtwende krachte das Katzenjunge ungebremst in ihn hinein und fiel in sich zusammen wie ein benommenes Häufchen.

Der Zusammenstoß nahm Sammy kurz den Atem und er wankte. Rasch stand er jedoch wieder auf festen Pfoten und krümmte den Rücken, plusterte das orangefarbene Fell auf, bereit, sich auf das fremde Katzenjunge zu stürzen. Aber sein Angreifer setzte sich einfach auf und begann, seine Vorderpfote zu lecken. Alle Anzeichen von Angriffslust waren verflogen.

Sammy war merkwürdig enttäuscht. Sein ganzer Körper war angespannt und kampfbereit.

»Hallo, Hauskätzchen!«, miaute der graue Kater fröhlich. »Du hast dich ja ziemlich gut zur Wehr gesetzt für ein zahmes Kätzchen!«

Einen Augenblick lang blieb Sammy noch wachsam und überlegte, ob er nicht trotzdem angreifen sollte. Dann erinnerte er sich an die Kraft in den Pfoten des jungen Katers, als der ihn zu Boden gedrückt hatte. Er entspannte sich, lockerte die Muskulatur und streckte den Rücken. »Und ich werde wieder mit dir kämpfen, wenn es nötig ist«, knurrte er.

»Ich heiße übrigens Graupfote«, fuhr der junge Kater fort, ohne Sammys Drohung zu beachten. »Ich werde als Krieger des DonnerClans ausgebildet.«

Sammy schwieg. Er verstand nicht, wovon dieser Grau-Irgendwas da sprach, aber er spürte, dass die Bedrohung vorüber war. Er verbarg seine Verwirrung, indem er den Kopf senkte, um sich das zerzauste Brustfell zu lecken.

»Was hat ein Hauskätzchen wie du draußen im Wald verloren? Weißt du nicht, dass es da gefährlich ist?«, fragte Graupfote.

»Wenn du das Gefährlichste bist, was der Wald zu bieten hat, dann werde ich damit schon fertig«, gab Sammy zurück.

Für einen Augenblick schaute Graupfote ihn an und kniff die großen, gelben Augen zusammen. »Oh, ich bin bei Weitem nicht das Gefährlichste. Wenn ich nur schon ein halber Krieger wäre, hätte ich einem Eindringling wie dir ein paar wirkliche Verletzungen verpasst.«

Sammy verspürte einen Anflug von Angst bei diesen bedrohlichen Worten. Was meinte diese Katze mit »Eindringling«?

»Jedenfalls«, sagte Graupfote, während er seine scharfen Zähne nutzte, um ein Grasbüschel zwischen seinen Krallen herauszuziehen, »warst du es mir nicht wert, dich richtig anzugreifen. Offensichtlich gehörst du zu keinem der anderen Clans.«

»Andere Clans?«, wiederholte Sammy verwirrt.

Graupfote stieß einen ungeduldigen Zischlaut aus. »Du musst doch von den vier Clans gehört haben, die in dieser Gegend jagen! Ich gehöre zum DonnerClan. Die anderen Clans versuchen immer wieder, Beute von unserem Territorium zu stehlen, besonders der SchattenClan. Die sind so wild, die hätten dich gleich in Fetzen gerissen, ohne überhaupt auch nur eine Frage zu stellen.«

Graupfote fauchte wütend und fuhr dann fort: »Sie kommen und machen Beute, die von Rechts wegen uns gehört. Es ist die Aufgaben der DonnerClan-Krieger, sie von unserem Territorium fernzuhalten. Wenn ich mit meiner Ausbildung fertig bin, dann werde ich so gefährlich sein, dass die anderen Clans in ihren flohverseuchten Häuten nur noch vor mir zittern. Dann wagen sie nicht mehr, in unsere Nähe zu kommen!«

Sammy kniff die Augen zusammen. Dies musste eine der Wildkatzen sein, vor denen Wulle ihn gewarnt hatte! Die ein gefährliches Leben in den Wäldern führten, jagten und sich um jedes bisschen Nahrung bekriegten. Trotzdem hatte Sammy keine Angst. Irgendwie bewunderte er diesen selbstbewussten jungen Kater.

»Du bist also noch kein Krieger?«, fragte er.

»Warum? Hast du geglaubt, ich wäre einer?«, schnurrte Graupfote stolz. Dann schüttelte er den breiten, pelzigen Kopf. »Ich werde noch ewig lange kein Krieger sein. Erst muss ich noch die ganze Ausbildung machen. Junge Katzen müssen sechs Monde alt sein, bevor sie überhaupt anfangen können mit dem Training. Heute bin ich zum ersten Mal nachts als Schüler draußen.«

»Warum suchst du dir nicht lieber einen Besitzer mit einem hübschen, bequemen Haus? Dein Leben wäre dann viel einfacher«, miaute Sammy. »Es gibt viele Hausbewohner, die ein Katzenjunges wie dich aufnehmen würden. Du musst dich nur irgendwo hinsetzen, wo du ihnen auffällst, und ein paar Tage lang hungrig aussehen …«

»Und sie würden mich mit Bröckchen füttern, die wie Kaninchenköttel aussehen, und mit weichem Schlabber!«, unterbrach ihn Graupfote. »Auf keinen Fall! Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als ein Hauskätzchen zu sein! Sie sind nichts anderes als Spielzeuge für die Zweibeiner! Einen Fraß essen, der nicht mal wie Nahrung aussieht, ihr Geschäft in einer Kiste mit Splitt machen, die Nase nur rausstrecken, wenn die Zweibeiner es ihnen erlauben? Das ist doch kein Leben! Hier draußen ist es wild und es ist frei. Wir kommen und gehen, wie es uns gefällt.« Er schloss seine Rede, indem er stolz ausspuckte, dann sagte er frech: »Bevor du nicht eine frisch getötete Maus gegessen hast, bist du nicht lebendig gewesen. Hast du jemals eine Maus gekostet?«

»Nein«, gab Sammy ein wenig kleinlaut zu. »Noch nicht.«

»Ich denke, du wirst es nie verstehen«, seufzte Graupfote. »Du bist nicht in der Wildnis geboren. Das ist entscheidend. Du musst mit Kriegerblut in den Adern geboren sein und mit dem Gefühl von Wind in deinen Schnurrhaaren. Schmusekätzchen, die in ein Zweibeinernest hineingeboren wurden, können nie auf die gleiche Weise empfinden wie wir.«

Sammy erinnerte sich daran, was er in seinem Traum gefühlt hatte. »Das stimmt nicht«, widersprach er verärgert.

Graupfote antwortete nicht. Er erstarrte plötzlich mitten beim Lecken der Pfoten und prüfte mit der Nase die Luft. »Ich rieche Katzen aus meinem Clan«, zischte er. »Du solltest verschwinden. Sie werden nicht begeistert sein, wenn sie dich bei der Jagd auf unserem Territorium finden!«

Sammy sah sich um und wunderte sich, wie Graupfote wissen konnte, dass sich eine Katze näherte. Er selbst konnte in der laubduftenden Brise keine Veränderung riechen. Aber sein Fell stellte sich auf angesichts der Dringlichkeit in Graupfotes Stimme.

»Schnell!«, zischte Graupfote. »Lauf!«

Sammy wollte gerade in die Büsche springen und sich in Sicherheit bringen, doch es war zu spät. Eine Stimme ertönte hinter ihm, streng und drohend: »Was geht hier vor?«

Sammy drehte sich um und sah eine große, graue Kätzin majestätisch aus dem Unterholz treten. Sie war prachtvoll. Weiße Haare umgaben ihre Schnauze, und eine böse Narbe teilte das Haar auf ihren Schultern, doch im Mondschein glänzte ihr glattes, graues Fell wie Silber.

»Blaustern!« Graupfote kauerte sich neben Sammy nieder und verengte die Augen. Noch tiefer duckte er sich, als eine zweite Katze, ein schöner, golden gestreifter Kater, der grauen Kätzin auf die Lichtung folgte.

»Du solltest nicht so nahe zum Zweibeinerort gehen, Graupfote!«, knurrte der golden Gestreifte ärgerlich und kniff die grünen Augen zusammen.

»Ich weiß, Löwenherz, es tut mir leid.« Graupfote senkte die Augen.

Sammy ahmte ihn nach und drückte sich tief auf den Waldboden. Seine Ohren zuckten nervös. Die beiden Katzen vermittelten einen Eindruck von Kraft, wie er ihn von seinen Gartenfreunden nicht kannte. Vielleicht stimmte das ja, wovor Wulle ihn gewarnt hatte.

»Wer ist das?«, fragte die Kätzin.

Sammy zuckte zusammen, als sie ihn anblickte. Ihre durchdringend blauen Augen bewirkten, dass er sich noch verletzlicher vorkam.

»Er ist ungefährlich«, miaute Graupfote rasch. »Er ist kein Krieger aus einem anderen Clan, nur ein Zweibeinerkätzchen, das hinter den Zaun gehört.«

Nur ein Zweibeinerkätzchen! Die Worte empörten Sammy, aber er hielt den Mund. Der warnende Ausdruck in Blausterns Augen zeigte ihm, dass sie den Ärger in seinen Augen gesehen hatte, und er wandte den Blick ab.

»Das ist Blaustern, die Anführerin meines Clans!«, zischte Graupfote ihm leise zu. »Und Löwenherz. Er ist mein Mentor, das bedeutet, er bildet mich zum Krieger aus.«

»Danke für die Vorstellung, Graupfote«, miaute Löwenherz kühl.

Blaustern starrte immer noch Sammy an. »Du kämpfst gut für ein Zweibeinerkätzchen«, sagte sie.

Sammy und Graupfote tauschten verwirrte Blicke. Woher konnte sie das wissen?

»Wir haben euch beide beobachtet«, fuhr Blaustern fort, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Wir hatten uns gefragt, wie du mit einem Eindringling fertig werden würdest, Graupfote. Du hast ihn mutig angegriffen.«

Graupfote schien sich über Blausterns Lob zu freuen.

»Setzt euch jetzt auf, beide!« Blaustern blickte Sammy an. »Du auch, Hauskätzchen.« Sofort setzte er sich auf und hielt Blausterns Blick stand, während sie mit ihm sprach.

»Du hast auf den Angriff gut reagiert, Hauskätzchen. Graupfote ist kräftiger als du, aber du hast deinen Verstand gebraucht, um dich zu verteidigen. Und du hast dich ihm gestellt, als er dich verfolgte. Ich habe noch nie ein Hauskätzchen gesehen, das sich so verhalten hat.«

Sammy brachte ein dankbares Nicken zustande, beeindruckt von so viel unerwartetem Lob. Blausterns nächste Worte überraschten ihn noch mehr.

»Ich habe mich gefragt, wie du dich hier draußen machen würdest, außerhalb deines Zweibeinergebiets. Wir patrouillieren häufig an dieser Grenze, da habe ich dich oft auf deinem Grenzpfosten sitzen und in den Wald hinausstarren sehen. Und jetzt hast du es endlich gewagt, deine Pfoten in fremdes Gebiet zu setzen.« Blaustern blickte Sammy nachdenklich an. »Du hast anscheinend eine natürliche Jagdbegabung. Scharfe Augen. Du hättest diese Maus gefangen, wenn du nicht so lange gezögert hättest.«

»Wirklich?«, stammelte Sammy.

Jetzt sprach Löwenherz. Sein tiefes Miauen war respektvoll, aber eindringlich. »Blaustern, das ist ein Hauskätzchen! Er sollte nicht auf DonnerClan-Territorium jagen. Schick ihn nach Hause zu seinen Zweibeinern!«

Sammys Fell kribbelte bei diesen abschätzigen Worten.

»Mich nach Hause schicken?«, miaute er unwillig. Blausterns Worte hatten ihn mit Stolz erfüllt. Sie hatte ihn bemerkt, sie war von ihm beeindruckt gewesen. »Aber ich wollte doch nur eine oder zwei Mäuse jagen. Sicherlich gibt es genug davon für alle.«

Blaustern hatte den Kopf Löwenherz zugewandt, um seine Worte zu würdigen. Nun fuhr ihr Blick zurück zu Sammy. Ihre blauen Augen funkelten vor Zorn. »Es gibt nie genug für alle«, fauchte sie. »Wenn du nicht so ein verwöhntes, überfüttertes Leben führen würdest, wüsstest du das!«

Sammy war verwirrt von Blausterns plötzlicher Wut, aber Graupfotes entsetztes Gesicht machte ihm klar, dass er zu offenherzig gesprochen hatte. Löwenherz trat an die Seite seiner Anführerin und beide Krieger ragten nun einschüchternd über ihm auf. Sammy blickte Blaustern in die drohenden Augen und sein Stolz schmolz dahin. Das waren keine gemütlichen Katzen vor dem Kaminfeuer, mit denen er es hier zu tun hatte, das waren wilde, hungrige Katzen, die wahrscheinlich zu Ende führen würden, was Graupfote angefangen hatte.

2. Kapitel

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»Nun?«, zischte Blaustern. Ihr Gesicht war nur eine Mauslänge von seiner Nase entfernt. Der vor ihm aufragende Löwenherz betrachtete ihn schweigend.

Sammy legte die Ohren an und duckte sich unter dem kalten Blick des goldenen Kriegers. Sein Fell kribbelte.

»Ich bin keine Bedrohung für euren Clan«, sagte er, die Augen auf seine zitternden Pfoten gesenkt.

»Du bedrohst unseren Clan, wenn du uns die Nahrung wegnimmst«, fauchte Blaustern. »Du hast schon genug Futter in deinem Zweibeinernest. Du kommst nur hierher und jagst zum Vergnügen. Wir aber jagen, um zu überleben.«

Wie ein Schwarzdornstachel durchbohrte Sammy die Wahrheit dessen, was die Kriegerkönigin gesagt hatte, und plötzlich verstand er ihre Wut. Sein Körper zitterte nicht mehr, er setzte sich auf und stellte die Ohren gerade. Er hob den Blick und sah ihr in die Augen. »So habe ich das bisher nicht gesehen. Es tut mir leid«, beteuerte er ernsthaft. »Ich werde hier nicht wieder jagen.«

Blausterns gesträubte Nackenhaare legten sich, und sie gab Löwenherz ein Zeichen, zurückzutreten.

»Du bist ein ungewöhnliches Hauskätzchen«, miaute sie.

Sammys Ohren zuckten, als er Graupfote erleichtert seufzen hörte. Er bemerkte auch die Zustimmung in Blausterns Stimme und sah, wie sie einen vielsagenden Blick mit Löwenherz tauschte. Das machte ihn neugierig. Was blitzte da auf zwischen den beiden Kriegern?

Ruhig fragte er: »Ist das Überleben hier wirklich so schwer?«

»Unser Territorium umfasst nur einen Teil des Waldes«, erklärte Blaustern. »Wir kämpfen mit anderen Clans um das, was wir haben. Und dieses Jahr bedeutet die späte Blattfrische magere Beute.«

»Ist euer Clan sehr groß?«, wollte Sammy mit weit aufgerissenen Augen wissen.

»Groß genug«, antwortete Blaustern. »Unser Territorium kann uns ernähren, aber es bleibt keinerlei Beute übrig.«

»Seid ihr also alle Krieger?«, fragte Sammy begierig. Blausterns zurückhaltende Antworten machten ihn nur noch neugieriger.

Löwenherz erwiderte: »Einige sind Krieger. Andere sind zum Jagen zu jung oder zu alt oder müssen sich um die Jungen kümmern.«

»Und ihr lebt alle zusammen und teilt euch die Beute?«, murmelte Sammy ehrfürchtig und dachte ein wenig schuldbewusst an sein eigenes leichtes, egoistisches Leben.

Wieder sah Blaustern Löwenherz an und der golden gestreifte Kater erwiderte fest ihren Blick.

Schließlich wandte sie sich erneut Sammy zu: »Vielleicht solltest du diese Dinge selbst herausfinden. Würdest du dich gern dem DonnerClan anschließen?«

Sammy war so überrascht, dass er nicht antworten konnte.

Blaustern fuhr fort: »Wenn ja, dann würdest du zusammen mit Graupfote trainieren, um ein Clan-Krieger zu werden.«

»Aber Hauskätzchen können keine Krieger werden«, platzte Graupfote heraus. »Sie haben kein Kriegerblut!«

Ein trauriger Blick verdüsterte Blausterns Augen. »Kriegerblut«, sagte sie seufzend. »Zu viel davon ist in letzter Zeit vergossen worden.«

Sie verfiel in tiefes Schweigen, doch Löwenherz fuhr fort: »Blaustern bietet dir nur eine Ausbildung an, junges Kätzchen. Es gibt keine Garantie, dass du auch ein richtiger Krieger wirst. Es könnte sich als zu schwierig für dich erweisen. Schließlich bist du an ein bequemes Leben gewöhnt.«

Die Worte von Löwenherz reizten Sammy. Er wandte den Kopf und blickte den goldgestreiften Kater an. »Warum bietet ihr mir dann überhaupt die Gelegenheit?«

Es war jedoch Blaustern, die ihm antwortete: »Du hast recht, dass du nach unseren Beweggründen fragst, junger Kater. Der Grund ist, dass der DonnerClan mehr Krieger braucht.«

»Dir muss klar sein, dass Blaustern dieses Angebot nicht leichtfertig macht«, sagte Löwenherz warnend. »Wenn du von uns ausgebildet werden willst, müssen wir dich in unseren Clan aufnehmen. Du musst entweder mit uns leben und unsere Lebensweise respektieren oder für immer in dein Zweibeinerheim zurückkehren. Du kannst nicht mit einer Pfote in deiner Welt und mit der anderen in unserer Welt leben.«

Eine kühle Brise kam im Unterholz auf und zauste Sammys Fell. Er schauderte, aber nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung wegen der unglaublichen Möglichkeiten, die sich vor ihm auftaten.

»Fragst du dich, ob es sich lohnt, dein bequemes Hauskatzendasein aufzugeben?«, fragte Blaustern freundlich. »Aber kennst du auch den Preis, den du für deine Wärme und das Futter zahlen musst?«

Sammy sah sie unsicher an. Es stimmte schon, sein Zusammentreffen mit diesen Katzen hatte ihm gezeigt, wie einfach und luxuriös sein Leben eigentlich war.

»Ich sehe, dass du noch ein Kater bist«, fuhr Blaustern fort, »trotz des Zweibeinergestanks, der in deinem Fell hängt.«

»Wie meinst du das: noch ein Kater?«

»Du bist von den Zweibeinern noch nicht zum Abschneider gebracht worden«, sagte Blaustern ernst. »Denn dann wärst du ganz anders. Sicherlich nicht mehr so wild darauf, mit einer Clan-Katze zu kämpfen.«

Sammy war verwirrt. Doch plötzlich musste er an Henry denken, der seit seinem Besuch beim Tierarzt fett und faul geworden war. War es das, was Blaustern mit dem Abschneider meinte?

»Der Clan mag nicht in der Lage sein, dir so leicht Nahrung oder Wärme zu bieten«, fuhr Blaustern fort. »In der Zeit der Blattleere können die Nächte im Wald grausam sein. Der Clan wird von dir große Treue und harte Arbeit verlangen. Man wird von dir erwarten, dass du den Clan, wenn nötig, mit deinem eigenen Leben beschützt. Und es gibt viele Mäuler zu füttern. Aber der Lohn ist groß. Du wirst ein Kater bleiben. Du wirst in den Lebensweisen der Wildnis ausgebildet werden. Du wirst lernen, was es bedeutet, eine richtige Katze zu sein. Die Stärke und die Gemeinschaft des Clans werden immer mit dir sein, selbst wenn du allein auf Jagd gehst.«

Sammy schwirrte der Kopf. Blaustern schien ihm das Leben anzubieten, das er in seinen Träumen so oft geführt hatte und das so verlockend schien, aber konnte er auch in der Wirklichkeit so leben?

Löwenherz unterbrach seine Überlegungen: »Wir sollten gehen, Blaustern. Lass uns hier nicht weiter unsere Zeit vergeuden. Wir müssen rechtzeitig zu Mondhoch die andere Patrouille treffen. Tigerkralle wird sich schon fragen, was aus uns geworden ist.«

»Wartet«, miaute Sammy. »Kann ich mir euer Angebot überlegen?«

Blaustern blickte ihn eine lange Weile an und nickte dann. »Löwenherz wird morgen bei Sonnenhoch hier sein«, sagte sie. »Gib ihm dann deine Antwort.«

Blaustern murmelte leise ein Signal und wie in einer einzigen Bewegung drehten sich die drei Katzen um und verschwanden im Unterholz.

Sammy blinzelte. Aufgewühlt und verunsichert starrte er durch das Laubdach über sich hinauf zu den Sternen, die am klaren Himmel funkelten. Der Geruch der Clan-Katzen hing noch schwer in der Abendluft. Und als er sich umwandte und auf den Weg nach Hause machte, spürte er ein merkwürdiges Gefühl in seinem Inneren, das ihn zurück in die Tiefen des Waldes zog. Sein Fell prickelte angenehm in dem leichten Wind und die raschelnden Blätter schienen seinen Namen hinein in die Schatten zu flüstern.

3. Kapitel

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Als Sammy am nächsten Morgen ausschlief, kehrte der Mäusetraum noch lebhafter zurück als zuvor. Von seinem Halsband befreit, pirschte er sich im Mondlicht an das furchtsame Tier heran. Aber diesmal wusste er, dass er beobachtet wurde. Aus dem Schatten des Waldes sah er Dutzende von gelben Augen leuchten. Die Clan-Katzen waren in seine Traumwelt eingedrungen.

Sammy erwachte und blinzelte im hellen Sonnenschein, der über den Küchenfußboden strömte. Sein Fell fühlte sich in der Wärme schwer und dicht an. Sein Futternapf war aufgefüllt, in seiner ausgespülten Wasserschüssel befand sich bitter schmeckendes Zweibeinerwasser. Sammy zog es vor, draußen aus Pfützen zu trinken, aber wenn es heiß oder er sehr durstig war, musste er zugeben, dass es einfacher war, drinnen Wasser zu schlabbern. Konnte er wirklich dieses bequeme Leben aufgeben?

Er aß, dann zwängte er sich durch die Katzenklappe hinaus in den Garten. Es versprach ein warmer Tag zu werden und der Garten war voller Blütenduft.

»Hallo, Sammy!«, miaute eine Stimme vom Zaun herab. »Du hättest vor einer Stunde auf sein müssen. Die Spatzenbabys waren unterwegs und haben ihre Flügel gestreckt.«

»Hast du welche gefangen?«, fragte Sammy.

Wulle gähnte und leckte sich die Nase. »Hatte keine Lust. Ich war noch satt von zu Hause. Trotzdem, warum bist du nicht früher rausgekommen? Gestern hast du dich noch beklagt, dass Henry seine Tage verschläft, und heute verhältst du dich nicht viel besser.«

Sammy setzte sich auf die kühle Erde neben dem Zaun und legte seinen Schwanz ordentlich über die Vorderpfoten. »Ich war doch gestern Abend im Wald«, erinnerte er seinen Freund. Sofort spürte er, wie das Blut durch seine Adern schoss und sich sein Fell sträubte.