Blake Nelson

Paranoid Park

Roman

Aus dem Amerikanischen von Heike Brandt

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www.beltz.de

© 2008 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten

Die Originalausgabe erschien unter demselben Titel bei Viking, Penguin Group

Copyright © 2006 by Blake Nelson

Published by arrangement with Blake Nelson

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen

Aus dem Amerikanischen von Heike Brandt

Das Dostojewskij-Zitat nach der Übersetzung von Swetlana Geier

Lektorat: Susanne Härtel

Neue Rechtschreibung

Einbandgestaltung: Illustre Gesellschaft

ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza

ISBN 979-3-407-74154-7

FUER DREW

»Junger Mann«, fuhr er fort, indem er sich wieder aufrichtete, »in Ihrem Gesicht lese ich etwas wie Gram.«

Verbrechen und Strafe

Fjodor Dostojewskij

SEASIDE, OREGON
3. JANUAR Am Abend

Liebe . . .!

Ich bin im Strandhaus von meinem Onkel Tommy. Es ist Abend, gegen neun Uhr. Ich sitze im oberen Stock, ganz alleine. Mit einem Stift, einem Spiralblock . . .

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Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Ich weiß nicht mal, ob ich das überhaupt kann. Aber ich versuche es. Schlimmer kann’s dadurch auch nicht werden . . .

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Draußen regnet es und es ist dunkel. Von ferne klingt die Brandung, als würden kleine Bomben explodieren.

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Also gut. Bin gerade unten gewesen und hab mir heißen Kakao gemacht.

Jetzt mal locker, Alter, und fang an zu schreiben. Das bin ich, im Selbstgespräch. Ich muss einfach am Anfang beginnen, ganz entspannt, ganz langsam . . .

Paranoid Park. Da hat’s angefangen. Der Paranoid Park ist ein Skater-Park im Zentrum von Portland. Unter der Eastside Brücke, bei den alten Lagerhäusern. Es ist ein illegaler, ein »Street-Park«, was bedeutet, es gibt dort keine Regeln, es gibt keinen Besitzer und man muss fürs Skaten nicht bezahlen. Der Platz soll vor Jahren von den ersten Skatern angelegt worden sein und hat sich irgendwie die ganze Zeit gehalten.

Da kommen die besten Skater hin, aus Kalifornien, von der Ostküste, von überall her. Außerdem hängen hier die Straßenkids ab. Es gibt einen Haufen Gerüchte, zum Beispiel soll da mal ein Skinhead abgestochen worden sein und so was. Daher sagen alle Paranoid Park. Weil man da voll die Paranoia schieben kann.

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Ich kannte den Paranoid Park durch Jared Fitch. Der ist auf meiner Schule, im zwölften Jahrgang. Er ist ziemlich verrückt, aber irgendwie cool und einer der besten Skater unserer Schule. Der hängt sich mit seinem Skateboard an einen Lieferwagen, der vierzig Sachen fährt, und lässt sich dabei filmen.

So sind wir Freunde geworden. Ich wurde langsam gut und er zeigte mir Tricks. Er hatte Sachen von sich auf Video. Und außerdem jede Menge andere Skater-Videos – solche, die’s in den Geschäften bei uns nicht gibt. Er wusste einfach immer, was angesagt war, und so sind wir zusammengekommen.

Im letzten Sommer waren wir jeden Tag skaten. Wir sind in die Stadt, zum Beispiel in das alte Parkhaus, das abgerissen werden sollte, wo alle heimlich rein sind und Party gemacht haben. Da sind wir dann richtig gute Freunde geworden. Und wir haben auch andere Streetspots geskatet, zum Bespiel die berühmte Selbstmörder-Treppe am Fluss, die total angesagt war. Solche Spots.

Wie gesagt, ich war noch nicht so weit wie Jared, aber ich übte. Und er fand es gut, dass ich jünger war und ehrgeizig. Dass er der Lehrer war und mir Sachen zeigte.

Jedenfalls, in der letzten Woche der Sommerferien, da waren wir in der Stadt, und Jared meinte, lass uns doch mal den Paranoid Park fahren. Erst mal habe ich nichts gesagt. Klar, gehört hatte ich schon vom Paranoid Park, war aber noch nie auf die Idee gekommen, da hinzugehen. Weil das für mich bestimmt eine Nummer zu groß war. Doch als ich sagte, ich glaube, dafür bin ich noch nicht gut genug, lachte Jared und sagte: »Niemand ist für den Paranoid Park gut genug.«

Also sind wir hin. Klar, ich war nervös, stand aber auch irgendwie unter Strom. Den Paranoid Park fahren, das war eine Leistung. Das war was zum Erzählen.

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Wir fuhren über die Eastside-Brücke, kreiselten die Abfahrt runter und parkten dann neben einem alten Backsteinbau. Ich weiß noch, dass ich auf der Straße Schienen gesehen habe. Sie glänzten, als würden sie benutzt. Wurden sie auch, wie sich herausstellte.

Der Skatepark selber war über uns, direkt unter der Brücke. Man konnte die Autos und Laster oben drüberrattern hören. Ringsum waren hauptsächlich Industrieanlagen – alte Lagerhäuser und Parkplätze, eingefallene Zäune und so was. Am Ende der Straße war noch ein richtiges Bürogebäude, zu dem immer mal wieder Angestellte fuhren. Sie sahen aus, als fürchteten sie sich ein wenig vor den Jugendlichen, die sich hier rumtrieben.

Wir trugen unsere Bretter die Böschung hoch, drückten uns durch ein Loch im Maschendrahtzaun und krochen auf die Plattform, von der aus wir das ganze Gelände überblicken konnten. Es war kleiner, als ich gedacht hatte, und ziemlich müllig. Jede Menge Bierdosen und Abfall und Graffiti. Aber irgendwie hatte der Ort was, er strahlte was aus.

Es waren nicht viele Leute da – zwei Jungs waren am Skaten, ein Dutzend oder so standen rechts von uns an der Mauer. Wir guckten einem dürren älteren Typen zu, der in dem Bowl gegenüber von uns einen Grind machte. Er trug braune Hosen, die unterm Knie abgeschnitten waren, schwarze Socken und verschlissene schwarze Vans. Auf seinen Armen prangten zwei fette Tattoos und über seinen Bauch zog sich eine große Narbe. Sein Brett war ein komisches altes Teil, völlig zerfleddert, aber der Typ brachte es total. Er war spitze.

Die anderen Jungs waren genauso gut. Die konnten nicht nur skaten, die hatten alle ihren eigenen Style. Ich hatte in der Stadt schon mal den einen oder anderen echten Hardcore-Skater gesehen. Aber noch nie alle auf einmal. Das hier war ihr Park, keine Frage. Das Zentrum des wahren Skater-Universums. Jedenfalls kam mir das so vor.

Jared machte einen Dropin und skatete den Bowl. Mir wurde ganz mulmig beim Zugucken. Wie gesagt, er gehörte zu den besten Skatern, die ich kannte, aber im Vergleich zu den Typen hier war das gar nichts. Ich fuhr dann auch, habe ein paar Runden gedreht und hab’s geschafft, nicht ganz blöde auszusehen. Es war voll geil – der Adrenalin-Schub und alles. Skaten im Paranoid Park mit den ganzen großen Nummern!

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Das war in der letzten Ferienwoche. In derselben Woche hatte mich Jennifer Hasselbach angerufen. Mit der hatte ich Anfang der Sommerferien was angefangen. Im Juli und August hatte sie dann in einem Kinderferienlager gearbeitet, so dass wir uns nicht sehen konnten. Jetzt war sie zurück und lief mir echt hinterher. In der Woche hatte sie drei Mal angerufen.

Ich war nicht so begeistert. Ich meine, sie war süß und alles. Doch als ich ihr vom Paranoid Park erzählte, hat sie gar nichts gerafft. Sie so: »Was willst du in so einem versifften Park, wo’s doch Skate City gibt?« Im Skate City skaten die braven Schüler. Skate City ist ein total öder Indoor-Park hinter dem Einkaufszentrum. Wenn Jennifer nicht kapierte, was das für ein Unterschied war, was sollte es dann?

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Noch eins, und ich glaube, das ist auch wichtig: Die ganzen Sommerferien über hatten sich meine Eltern gestritten und von Trennung geredet. Stress ohne Ende. Mein kleiner Bruder Henry hat andauernd gekotzt. Erst wollte meine Mutter ausziehen, dann hat sie’s doch nicht getan, und dann ist mein Dad zu meinem Onkel Tommy. Eine schreckliche Zeit; der ganze Sommer war eine einzige Katastrophe. Das ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum ich mehr mit Jared abhing. Der war immer so drauf, dass ich alles vergaß, wenn ich mit ihm zusammen war. Deshalb hat mich der Paranoid Park auch angezogen – denn egal, wie schlimm es bei mir zu Hause war, die Typen, die da abhingen, hatten es mit Sicherheit schlimmer erwischt. Das waren echt Ausgestoßene. Manche hatten wahrscheinlich ihr Leben lang auf der Straße verbracht. Denen konnte keiner was.

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Jedenfalls ging die Schule wieder los. Etwa eine Woche lang hat’s Spaß gemacht und dann war’s ätzend wie sonst. Jared und ich haben uns immer mehr aufs Skaten verlegt. Wir wollten noch mal zum Paranoid Park. An einem Samstagabend. Der nächste Samstag war der siebzehnte September.

Wir hatten alles geplant. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich bei Jared übernachten würde, damit wir gleich morgens zu der Wintersport-Messe gehen konnten. Da Jareds Mutter an dem Wochenende nach Las Vegas fuhr, konnten wir machen, was wir wollten. Zum Beispiel die ganze Nacht wegbleiben.

Blöde war nur, dass Jennifer Hasselbach genau an dem Abend mit mir weggehen wollte. In der Schule schäkerte sie mit mir rum und deutete an, dass sie’s machen würde. Das war verlockend. Aber ich wollte echt zum Paranoid Park. Mit Jennifer rummachen könnte ich ein andermal.

Der Plan war so: Meine Mutter wollte mir ihr Auto leihen. Ich würde zu Jared fahren. Und am Abend würden wir beide den Paranoid Park checken.

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Aber dann gab’s ein Problem.

Den ganzen Sommer über war Jared auf eine abgedrehte College-Studentin scharf gewesen, die im Café bei ihm um die Ecke gearbeitet hatte. Angeblich stand sie total auf Sex, und alle sagten, sie sei reichlich durchgeknallt. Jared war ihr den ganzen Sommer hinterher gewesen, aber nie hatte es geklappt. Doch am Abend vor unserem Wochenende hatte sie ihn angerufen. Sie langweilte sich und wollte, dass Jared zu ihr ins College kommt, Party machen. Selbstredend hat er ja gesagt.

Als ich bei ihm eintraf, war er am Packen. Ich war total stinkig. Aber ich konnte nichts machen. Jared war sicher, dass es voll abgehen würde, und das würde er sich nicht entgehen lassen.

Ich saß auf seinem Bett und schaute zu, wie er Kondome in die Tasche steckte. Ich sagte, dass es total beknackt sei, wegen irgendeinem abgedrehten Mädchen den Paranoid Park sausen zu lassen – noch dazu wegen einer, die ihn den ganzen Sommer über habe auflaufen lassen. Er schüttelte den Kopf. Er war sicher, sie würde es mit ihm treiben. Er sagte, ich solle Jennifer anrufen. Sie schien doch scharf auf mich zu sein – worauf wartete ich denn noch? Skaten könnten wir doch auch am nächsten Wochenende.

Aber Jennifer war mir nicht so wichtig. Wirklich wichtig war mir der Paranoid Park.

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Ich brachte Jared zum Busbahnhof. Er redete nur von der Nummer, die er schieben würde. Ich sagte nicht viel. Ich weiß noch, dass ich traurig war, als ich ihn absetzte. Ich weiß noch, dass ich wünschte, ich hätte bessere Freunde.

Das war das Blöde an meiner Schule. Die normalen Leute waren langweilig, und die paar, die cool waren, so wie Jared, die waren einfach zu abgedreht. Es machte zwar Spaß, mit denen abzuhängen, aber die zogen nie irgendwas richtig durch. Auf die konnte man sich nie verlassen.

Als ich Jared am Busbahnhof absetzte, gab er mir seinen Schlüssel, so dass ich trotzdem bei ihm übernachten konnte. Es war niemand sonst im Haus, also hatte ich immer noch alle Optionen. Ich konnte Jennifer anrufen oder am Computer spielen, was auch immer. Ich hatte die ganze Nacht für mich.

Ich ließ den Busbahnhof hinter mir und fuhr in der Gegend rum. An dem Abend konnte man zum ersten Mal den Herbst spüren; die Luft roch nach verbranntem Holz und hatte diesen trockenen, nebligen Geschmack. Auch andere Oberschüler fuhren in ihren Autos herum; alles war neu und aufregend, das Schuljahr, die Mode, die Musik im Radio.

Irgendwann hatte ich genug von der Fahrerei. Auf der Rückbank lag mein Skateboard, und ich überlegte, ob ich ins Skate City gehen sollte. Doch das war mir zu ätzend. Dann wollte ich zur Selbstmörder-Treppe, bis mir einfiel, dass die nachts verschlossen war. Und das große Parkhaus war inzwischen eingezäunt . . .

Dann wendete ich und fuhr Richtung Paranoid Park. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Eigentlich war ich noch nicht so weit, alleine da hinzugehen. Ich war nicht gut genug. Aber aus irgendeinem Grund bin ich doch hin.

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Ich kreiselte unter die Eastside-Brücke, wie Jared es getan hatte, aber da unten war es so dunkel und einsam, dass ich lieber dort nicht parkte. Dem Auto meiner Mutter sollte nichts passieren. Ich fuhr zurück über die Brücke, stellte den Wagen im besseren Teil des Zentrums ab und fuhr dann auf meinem Skateboard zurück.

Eine rostige Treppe führte von der Brücke runter. Beim Hinabsteigen sah ich den ganzen Park unter mir. Es war Samstagabend und knallvoll: krasse Skater, heiße Bräute, Leute, die Party machten, rumalberten, abhingen. Ich spürte, wie mein Herz klopfte, als ich von der Treppe sprang. Das hier war nicht irgendeine Schüler-Bierparty. Das hier war ein anderes Kaliber.

Ich machte mir einen Plan: Erst mal würde ich nicht skaten, bloß sitzen und gucken und nicht auffallen. Vielleicht würde ich überhaupt nicht skaten; vielleicht würde ich bloß die Lage checken, für später, wenn Jared wieder dabei war.

Und das habe ich auch gemacht. Ich fand einen freien Platz an der großen Betonmauer und setzte mich auf mein Brett, als würde ich auf jemanden warten. Das klappte bestens. Niemand belästigte mich und es hat total Spaß gemacht. Ich hätte die ganze Nacht dasitzen können, den Skatern zugucken und den Mädchen und allem, was sonst noch so abging. Das Blöde war, dass ich auch noch an andere Sachen denken musste. Zum Beispiel an meine Eltern. Mein Dad war angeblich ausgezogen, aber er kam immer wieder vorbei und nervte, und das kriegte meine Mom nicht auf die Reihe. Und mein armer Bruder Henry – der war dreizehn und konnte sich so aufregen, dass er sein Abendbrot auskotzte. So war der. Der kam mit Stress überhaupt nicht klar.

Und ich dachte an Jennifer. Sie schien es echt auf mich abgesehen zu haben. Ich meine, sie war nett und alles, aber wollte ich wirklich mit ihr gehen? Außerdem war sie noch »Jungfrau«, was bedeutete, dass sie »es« irgendwann einmal tun wollte, und dann würde es richtig ernst werden. Ich meine, es gibt Schlimmeres. Ich hätte mir nur gewünscht, dass sie mir besser gefallen würde. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten mehr gemeinsam . . .

»Hey«, sagte jemand hinter mir.

Ich drehte mich um. Über mir auf der Betonmauer saß ein schräger Typ. Neben ihm hockte noch einer und ein Mädchen. Die beiden Typen glotzten zu mir runter. Das Mädchen zündete sich eine Zigarette an.

»Fährst du mit dem Brett oder willst du bloß den ganzen Abend draufsitzen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nö. Ich warte auf wen.«

»Kann ich’s haben? Solange du wartest?«

»Nee, lieber nicht.«

»Was ist das für ’n Teil?«

Ich sagte es ihm. Er gab zu, dass er nicht viel Ahnung von Skateboards hatte, und fragte mich aus. Ich erklärte ihm, was für ein Deck meins hatte und was für Trucks.

Er fragte noch mal, ob ich es ihm borgen würde. »Bloß fünf Minuten. Eine Runde. Komm schon. Wenn ich nicht zurückkomme, kannst du das Mädchen haben«, sagte er.

Die beiden Typen lachten, das Mädchen aber nicht. Sie war jünger als die beiden. Die drei hatten Bier und Zigaretten und wahrscheinlich noch anderes Zeug. Die beiden Jungs waren Punks, noch zu jung zum Alkoholkaufen. Sie waren schmutzig und hatten diesen harten Blick drauf. Jared nannte solche Leute »Straßenkids«.

Ich wollte mein Brett nicht verleihen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich das anstellen sollte. Das hat der Typ mir offenbar angesehen. Er sprang von der Mauer. »Komm schon, Alter, fünf Minuten«, sagte er.

»Mein Freund ist gleich hier«, sagte ich.

»Alter«, sagte er entschieden. »Fünf Minuten. Und dann kriegst du’s zurück. Großes Ehrenwort.«

Ich gab’s ihm.

Er guckte es von oben bis unten an und ging dann damit zur Kante der Rampe. Auf der anderen Seite wartete ein Mädchen, und er bedeutete ihr, sie solle zuerst fahren. Er machte eine Riesenshow draus. »Nein, nach dir, ich bestehe darauf«, rief er und winkte schwungvoll. Ein echter Showtyp, dachte ich. Der hatte richtig was Theatermäßiges.

Er fuhr von der Rampe. Technisch war er nicht besonders gut, er konnte nur fahren. Aber er hatte Style. Er schlängelte sich durch die Anlage, wobei er öfter beinahe stürzte. Wer ihn sah, lachte. »Hey, Schramme!«, rief jemand. Andere Leute johlten und schrien. Er war so was wie der Hausclown. Aber die Leute hatten auch ein bisschen Schiss vor ihm, das konnte man sehen.

Derweil stellten sich seine Freunde vor. An den Namen von dem Typen kann ich mich nicht erinnern. Das Mädchen hieß Paisley. Der Typ fragte mich, ob ich öfter herkäme, denn sie hätten mich noch nie gesehen. Ich sagte, ich sei bis jetzt erst einmal hier gewesen. Ich weiß noch, dass ich den Typen nicht wirklich angucken wollte, aber das Mädchen hab ich irgendwie angestarrt. Sie war so jung – jünger als ich, vielleicht vierzehn. Schramme und sein Freund waren beide älter. Die ganze Situation war ziemlich kippelig.

»Guckt mal, Schramme!«, sagte der Typ. Schramme hatte das Gleichgewicht verloren und machte daraus eine große Show, wedelte mit den Armen, als wollte er sich über die ernsthaften Skater lustig machen. Er war ein echter Clown.

Nach genau fünf Minuten kam er zurück. Er kam den Bowl hochgeschossen, fing das Brett mit einer Hand auf und gab es mir zurück.

»Danke, mein Freund«, sagte er.

»Klar doch«, sagte ich. Mir fiel auf, dass ihm ein Zahn fehlte, ein Schneidezahn.

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Eigentlich hatte ich hinterher gleich abhauen wollen. Aber sobald ich mein Brett zurückhatte, fühlte ich mich sicher oder zumindest sicher genug, um noch ein bisschen bleiben zu können. Ich nehme mal an, ich war neugierig auf Schramme und seine Freunde.

Wir redeten. Ich saß mit ihnen auf der Mauer. Schramme und der andere Typ blödelten rum, sie wollten mich beeindrucken, denke ich. Das Mädchen sagte nichts. Ich musste sie immer wieder angucken. Sie hatte ein selbstgemachtes Tattoo am Handgelenk und schwarz lackierte Fingernägel, ihr Gesicht hatte was Höhlenmenschmäßiges. Ich hätte gerne gewusst, wo sie herkam, was für eine Familie sie hatte, ob sie überhaupt noch eine hatte.

Schramme redete am meisten. Er stellte mir Fragen übers Skaten, behandelte mich wie einen Experten und betonte immer, wie sehr ihm die Philosophie des Skatens gefiel, vor allem das Rebellische dabei. Ein Sport für Einzelgänger, sagte er. Die Skater seien wie Samurais, bloß hätten die Skater Bretter statt Schwerter.

Ich wollte von ihm was über den Paranoid Park wissen, zum Beispiel, was mit dem abgestochenen Skinhead war. Schramme erzählte mir die ganze Geschichte – dass der Skinhead gar nicht wirklich abgestochen worden sei, dass er eigentlich gar kein Skinhead gewesen sei und dass man die ganze Geschichte im Laufe der Jahre mächtig aufgeplustert habe.

Es war cool, mit den Typen zu reden. Ich hatte längst gehen wollen, aber ich wusste nicht, wohin, und es war irgendwie spannend, sich mit so einem wie Schramme zu unterhalten. Er war schon die ganze Westküste rauf- und runtergezogen, war illegal auf Zügen mitgefahren und hatte in Busbahnhöfen geschlafen und so. Im Sommer hatte er sich in San Diego mit einem Bullen geprügelt, so dass er da nicht mehr hinkonnte. Er wollte in Phoenix überwintern und mit einem Freund eine Band aufmachen. Ganz schön wilde Sachen. Vor allem das Aufspringen auf Züge. Eisenbahnen fand ich schon immer gut. Und ich hab mir immer gewünscht, mal auf einen Zug aufzuspringen.

Nach einer Weile war ihr Bier alle. Und sie brauchten Zigaretten. Schramme sagte, er würde gehen. Ob ich Geld hätte?

Ich hatte mir schon gedacht, dass die mir irgendwann mal mit Geld kommen würden, also sagte ich erst mal nein. Aber als dann die anderen jeder fünf Dollar zum Vorschein brachten, fand auch ich in meiner Jeanstasche einen Fünfer und gab den dazu. Schramme fragte, ob ich ein Auto hätte, und da war ich froh, dass ich es auf der anderen Seite des Flusses gelassen hatte. Ich sagte nein, ich sei mit dem Bus gekommen.

Schramme bot an, zum nächsten Supermarkt zu laufen. Das sei ziemlich weit. Ob ich mit ihm mitgehen würde?

Nein. Ich wollte lieber hier abhängen. Aber dann guckte der andere Typ auf seine Uhr. »Hey, der Zehn-Uhr-Zwanzig kommt gleich«, sagte er. »Den könnt ihr kriegen.«

»Hey«, sagte Schramme zu mir. »Haste Lust, auf’n Zug zu springen?«

Ich blickte zu ihm hoch. Doch, irgendwie schon. »Was für ’n Zug?«

»Der Zehn-Uhr-Zwanzig. Der kommt jede Nacht hier durch. Mit dem können wir bis zum Supermarkt fahren.«

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Sie überredeten mich. Oder ich wollte selber. Wie’s genau war, weiß ich nicht mehr.

Der andere Typ und das Mädchen wollten auf mein Brett aufpassen, aber ich sagte, ich würde es mitnehmen. Schramme sagte, es würde im Weg sein, aber ich ließ mich nicht umstimmen.

Wir krochen durch das Loch im Maschendrahtzaun. Ich folgte Schramme, rutschte auf dem Arsch die Böschung runter. Ich blickte auf Schrammes Stoppelkopf und hoffte, dass ich keinen Fehler machte. Er würde mich doch nicht ausrauben, oder? Mir mein Brett klauen? Und wenn schon. In dem Moment war mir das ziemlich egal.

Am Fuße des Hügels klopften wir uns den Sand ab. Da hörte ich den Zug tuten. Ich spürte den Boden unter mir beben.

»Das ist er!«, schrie Schramme und rannte aufgeregt los. Ich lief ihm hinterher, mein ganzer Körper kribbelte vor Vorfreude. Ich konnte nicht glauben, dass das wirklich geschah. Ich springe auf einen Zug! Jared würde platzen vor Neid. Geschah ihm ganz recht!

Wir rannten an den alten Gebäuden vorbei, bis wir zu den Gleisen kamen. Es war der Zug, er kam wirklich. Sein einzelner Scheinwerfer leuchtete uns direkt an.

»Zurück«, sagte Schramme, als wir am Gleisbett waren. »Die dürfen uns nicht sehen.«

Wir duckten uns hinter eine Laderampe. Da blieben wir hocken, spähten, schnauften.

Die Lokomotive war auf unserer Höhe. Unglaublich, wie groß und mächtig sie aussah.

Als sie durch war, richtete sich Schramme auf. Er betrachtete die vorbeifahrenden Waggons. Dann entschied er sich für einen und lief los, neben dem Waggon her.

»Komm schon, lauf!«, schrie er über den Lärm des Zuges hinweg.

Ich klemmte mir das Brett unter den Arm und raste hinter Schramme her, ins Dunkle.

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Der Zug schien nicht sehr schnell zu sein – zumindest nicht bis zu dem Moment, als ich neben ihm war. Wir mussten mächtig sprinten, um dranzubleiben. Schramme steuerte auf eine Metallleiter zu, die an der Seite eines Getreidewaggons hing. Er sprang, bekam sie zu fassen und zog sich hoch, bis er auf der untersten Sprosse stand. Er winkte mir zu, ich solle es auch so machen.

Ich hatte immer noch mein Skateboard und das war lästig. Doch ich schob es rüber in die linke Hand und packte mit der rechten die Leiter des nächsten Waggons. Ich hielt das Brett fest und zog mich hoch genug, dass ich die Füße auf die unterste Sprosse stellen konnte.

Schramme hob den Daumen, als er das sah. Ich hatte bewiesen, dass ich kein totaler Trottel war.

Jetzt waren wir auf dem Zug. Fuhren mit. Schramme schrie mir zu, in einer Viertelmeile oder so würden wir zum Rangierbahnhof kommen. Dort könnten wir abspringen und zum Supermarkt gehen.