Peter Härtling

Alter John

Roman

Mit Bildern von Peter Knorr

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www.gulliver-welten.de

Neuausgabe

© 2007 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz Weinheim Basel

Alle Rechte vorbehalten

© für den Text: 1981 Peter Härtling

© für die Bilder: 2007 Peter Knorr

Neue Rechtschreibung

Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg

Einbandtypographie: Max Bartholl, Frankfurt

Einbandbild: Peter Knorr

ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza

ISBN 978-3-407-74176-9

Ebenfalls lieferbar:

Alter John im Unterricht – Arbeitsheft für Lehrer/-innen in der Reihe Lesen – Verstehen – Lernen

ISBN 978-3-407-62573-1

Beltz Medien Service, Postfach 10 05 65, 69445 Weinheim

Download: www.beltz.de/lehrer

Peter Härtling, geboren 1933 in Chemnitz, lebt in Walldorf/Hessen. Er veröffentlichte Lyrik, Erzählungen, Romane, Essays. Seine Kinderbücher wurden mehrfach ausgezeichnet. Für den Kinderroman Oma erhielt er 1976 den Deutschen Jugendbuchpreis. Bei Beltz & Gelberg sind bisher erschienen: Das war der Hirbel, Oma, Theo baut ab, Ben liebt Anna, Sofie macht Geschichten, Alter John, Jakob hinter der blauen Tür, Krücke, Geschichten für Kinder, Fränze, Mit Clara sind wir sechs, Lena auf dem Dach, Jette, Tante Tilli macht Theater und Reise gegen den Wind. Für sein kinderliterarisches Gesamtwerk wurde Peter Härtling mit dem Sonderpreis zum Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und für sein Gesamtwerk erhielt er den Deutschen Bücherpreis.

Peter Knorr, geboren 1956 in München, studierte Kunsterziehung in Mainz, lebt als freischaffender Zeichner und Illustrator in Nierstein bei Mainz. Er illustrierte viele Kinderbücher und schuf zahlreiche Einbandbilder. Bei Beltz & Gelberg veröffentlichte er außerdem das Bilderbuch Der Wunderkasten (Text von Rafik Schami) und illustrierte zuletzt Jinbal von den Inseln (Text von Klaus Kordon).

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Alter John kündigt sich an

Ehe Alter John einzog, gab es einen gewaltigen Krach. Bei Schirmers muss das so sein. Alles Neue oder Außergewöhnliche wird auf jeden Fall ausführlich und meistens auch laut besprochen. Ohne einen ordentlichen Krach geht das Leben in der Familie nicht voran.

Schirmers saßen beim Abendessen in der Küche. Sie ist der größte Raum in dem alten kleinen Haus, in das sie erst vor kurzem eingezogen sind.

Laura und Jakob verfolgten gespannt die Auseinandersetzung zwischen den Eltern. Mutter war dafür, dass Alter John bei ihnen wohne.

Vater hatte, wie er dauernd sagte, so seine Bedenken. »Alter John ist schon fünfundsiebzig«, sagte er. »Er kann doch bald zum Pflegefall werden. Außerdem spinnt er ein bisschen! Das weißt du doch, Irene.«

»Ja?«, fragte Mutter bloß und machte Vater noch wütender. Wenn die Eltern auf hundert waren, vor allem Vater, dann war es vernünftiger, man mischte sich nicht ein. Laura traute sich trotzdem: »Alter John ist doch Mamas Vater«, sagte sie.

Jakob fügte schnell hinzu: »Unser Großvater!«

»Hältst du mich für dämlich«, schrie Vater und trommelte mit der Gabel auf dem Teller.

Mutter machte ihn darauf aufmerksam, dass der Teller kaputtgehen könne.

Vater kümmerte sich nicht darum. Er trommelte weiter und sagte mit vor Zorn zusammengezogenen Augenbrauen: »Ihr habt euch hier überhaupt nicht einzumischen.«

»Aber das ist doch ihr gutes Recht«, fand Mutter, stand auf und zog den Teller unter Vaters wirbelnder Gabel weg. »Die Kinder werden genauso mit Alter John zusammenleben wie wir.«

»Na ja«, brummte Vater, legte die Gabel ein wenig verlegen auf den Tisch und bohrte mit einem Streichholz in seiner Pfeife.

Jetzt war die Luft raus. Es war immer so. Nach der Aufregung konnte Vater richtig lieb und sanft sein. Aber jeder Fliegendreck regte ihn auf.

Mutter setzte sich wieder hin und fragte in die Runde: »Wollen wir ihm schreiben, dass sein Zimmer fertig ist und er kommen kann? Wir hatten ja damals, als wir den Hauskauf planten, ihm versprochen, dass er zu uns ziehen kann.«

»Los, fang an!«, rief Laura.

»Langsam, langsam«, mahnte Vater. »Wir sind noch gar nicht richtig eingezogen. Es ist noch eine Menge im Haus zu reparieren, zu malen, zu zimmern. Ich weiß nicht, ob wir Alter John da nicht stören.«

»Ach was. Er kann sich nützlich machen«, sagte Mutter. »Es wird ihm gefallen.«

»Du musst es wissen«, sagte Vater und zog kräftig an der Pfeife. »Also, was schreiben wir?«

»Lieber Alter John«, sagte Laura.

»Das ist klar«, sagte Vater.

»Nein, das ist überhaupt nicht klar. Mutter könnte auch schreiben: Lieber Vater, und wir könnten schreiben: Lieber Opa«, sagte Jakob.

Mutter lachte. »Da würde er meinen, wir nähmen ihn auf den Arm.«

Vater wurde schon wieder ungeduldig. »Also, was schreiben wir?« Er stand auf, holte aus dem Küchenschrank einen Block und einen Bleistift. Vater konnte unglaublich schön schreiben. Das musste er in seinem Beruf auch können. Er arbeitete in einem Büro, in dem Plakate entworfen wurden.

Er schrieb: Lieber Alter John. Dann rechts darüber: Dempflingen, den 2.3.1976.

Laura diktierte: »Du kannst jetzt kommen.«

»Da fällst du ihm ja mit der Tür ins Zimmer, in dem er noch gar nicht wohnt.« Vater schüttelte den Kopf. »Alter John hat bestimmt nicht erwartet, dass wir unser Haus so schnell in Ordnung bekommen.«

»Schreib ihm doch«, rief Jakob, »unsere Hütte ist jetzt fertig. Du kannst kommen.«

Mutter war mit allem nicht zufrieden. »Alter John hat so seine Tücken«, sagte sie, »wir müssen ihn, auch im Brief, allmählich vorbereiten.«

Man sah ihrem Gesicht richtig an, wie ihr etwas einfiel. – »Wisst ihr noch, wie Alter John mal mit einem Aufzug fahren wollte, den es gar nicht gab?«

Alle erinnerten sich daran und begannen zu lachen.

Da wohnten sie noch in Stuttgart, in einem Mietshaus, im vierten Stock. Alter John besuchte sie zum ersten Mal. Er reiste nicht gerne. Von Schleswig, wo er lebte, nach Stuttgart war es eine anstrengende Reise. Mutter, Laura und Jakob hatten ihn vom Bahnhof abgeholt. Sie erkannten ihn sofort, als er aus dem Wagen stieg. Er war lang, dünn, hatte einen schmalen, beinahe ausgemergelten Kopf und an seinem Kinn hing ein ausgefranster Spitzbart. Es sah komisch aus, als Mutter ihn umarmte. So, als ob sie einen Laternenpfahl umklammerte.

Alter John redete nicht viel. Nur wenige Sätze. Doch die hörten sich verdreht an. Alle Ü’s klangen wie I’s und alle Ö’s wie Ä’s. Außerdem begann er beinahe jeden Satz mit einem No. Er sagte zum Beispiel: »No, in Stuttgart ist es gar nicht so ibel.«

Als die Kinder lachten, ärgerte sich Alter John keineswegs. Er sagte: »No, so red ich halt! Ich bin aus Brinn, wo auch eure Mutter geboren wurde. Dort redet man so. So und nicht anders. Brinn heißt in Wirklichkeit Brünn. Aber alle Brünner nennen Brünn Brinn.«

Alter John bestand darauf, seinen Koffer selber zu tragen. Als sie unten im Haus angelangt waren, sah sich Alter John kurz um, drückte auf den Lichtknopf, setzte den Koffer ab und blieb abwartend vor der Kellertür stehen. Mutter fragte: »Willst du ein bisschen verschnaufen, Alter John?«

»No«, sagte er, »es ist besser, ihr geht schon voraus.«

»Du traust dir was zu«, sagte Mutter.

Sie gingen die Treppe hoch, erwarteten, dass er gleich nachkomme. Im zweiten Stock hörten sie noch immer nichts von Alter John. Mutter meinte, man müsse nach ihm sehen. Womöglich gehe es ihm nicht gut.

Unten stand Alter John noch immer wie angewurzelt vor der Kellertür und drückte eben wieder ungeduldig auf den Lichtknopf. »Da seid ihr ja wieder«, sagte er. »No, mir scheint, euer Lift ist kaputt.«

»Unser Lift?«, fragte Mutter verdattert.

»No ja, stehe ich hier nicht vorm Lift?«

»Aber Alter John, das ist die Tür zum Keller.«

»No, ist das mäglich?« Er schüttelte den Kopf, öffnete vorsichtig die Tür und lugte die Treppe hinunter. »Es ist mäglich«, sagte er und nahm den Koffer. »Es ist mäglich, dass Menschen so bläd sind und ein sechsstöckiges Haus ohne Lift bauen.«

Dann begannen alle, Alter John eingeschlossen, zu lachen. – Wie jetzt wieder. Und nun fiel ihnen auch ein, was sie ihm schreiben könnten:

Dass sie oft an ihn denken und oft von ihm reden.

Dass er doch sicher oft sehr allein ist.

Dass sie sich gut vorstellen könnten, mit ihm zusammenzuwohnen.

Dass sie in dem Haus dringend seine Hilfe brauchen.

Dass er ein Zimmer zum Garten hat, sogar mit eigenem Klo und eigener Dusche.

Dass sich alle vier sehr auf ihn freuen.

»Schreib das alles, Thomas«, sagte Mutter, »und in der Reihenfolge, wie wir dir’s gesagt haben.«

»Ich bin doch kein Schnellmerker«, seufzte Vater. Aber er begann sofort zu schreiben.

Die Antwort von Alter John ließ auf sich warten. Selbst Vater fragte jeden Abend, wenn er von der Arbeit kam, als Erstes nach einem Brief von Alter John.

»Wenn er nur ein Telefon hätte«, klagte Mutter.

Telefone konnte Alter John jedoch nicht leiden.

»Er wird schon schreiben.« Vater beruhigte mehr sich selber.

Nach einem Monat kam endlich der ersehnte Brief. Mutter las ihn vor. Es hörte sich so an, als spräche Alter John:

»Meine lieben Kinder und Enkel,

ergebensten Dank für eure Einladung, die ja viel mehr als nur eine Einladung ist. Darum habe ich euch auch nicht postwendend antworten können. Das ist ja eine Entscheidung fürs restliche Leben! Da war manches zu prüfen. Also habe ich gegrübelt und gegrübelt und gegrübelt …«

Laura unterbrach Mutter: »Du musst ›gegriebelt‹ sagen, so wie Alter John.«

Mutter fand das nicht gut: »Sei nicht albern, Laura.«

»Ich bin zu folgendem Entschluss gekommen. Ich werde euer liebenswürdiges Angebot annehmen. Natürlich erst einmal auf Probe. Sagen wir, die Probezeit beträgt ein halbes Jahr. Nach dieser Frist kann entweder ich ausziehen oder ihr könnt mich ausweisen oder ich bleibe. Gestern sprach ich bei der Spedition vor. Mein Umzug erfolgt in drei Wochen. Wie ihr verstehen könnt, möchte ich nämlich meine alten Möbel um mich haben. Auch die Bücher und so weiter. Ich bitte euch, nichts, aber auch gar nichts an dem Zimmer zu tun, welches ihr für mich bereithaltet. Überlasst alles Weitere mir. Regt euch nicht auf. Es genügt, dass ich aufgeregt bin.

In Liebe, euer Alter John.«

»Er fängt schon an mit seinen Spinnereien«, sagte Vater, nachdem Mutter den Brief vorgelesen hatte.

»Hoffentlich gefällt ihm die Tapete«, sagte Mutter.

»Reg mich bloß nicht auf«, knurrte Vater und war schon wieder auf neunzig.

»Ich freu mich aber auf Alter John«, sagte Laura.

»Ich auch«, schrie Jakob.

»Glaubst du, wir uns nicht?«, rief Vater, hielt die Pfeife wie ein Ausrufezeichen und ging das leere Zimmer besichtigen, in das Alter John bald einziehen würde.

Alter John kommt an

Erst hatte Alter John mit dem Zug reisen wollen. Dann telegrafierte er im letzten Augenblick:

»ankomme mit lastwagen von spedition stop bin erster beipack stop alter john«.

»Was soll das wieder bedeuten?« Mutter schüttelte verzweifelt den Kopf. »Also ein bisschen verrückt ist Alter John wirklich.«

Vater bestritt das: »Nein! Das ist ganz richtig. Die wenigen Möbel von Alter John füllen ja nicht einen ganzen Wagen. Darum hat man sie einem größeren Umzug beigepackt, verstehst du, Irene! Sie werden anscheinend als Erste ausgeladen. Darum wird er wahrscheinlich ziemlich früh ankommen.«

Die Familie war aufgeregt. Es ging ja um mehr als nur einen Besuch. Es ging um jemanden, mit dem sie von nun an leben würden.

Vater hatte sich extra freigenommen.

Mutter putzte im Haus herum, guckte immer wieder in das leere Zimmer von Alter John hinein, als wolle sie prüfen, ob was fehle.

Es fehlte noch alles!

Laura und Jakob mussten in die Schule. Als der Schulbus sie mittags im Dorf absetzte und sie nach Hause rannten, stand noch kein Möbelwagen vorm Haus. Dafür tigerte Vater vor dem Zaun hin und her. Sie wagten es erst gar nicht, ihn anzusprechen. Vater sagte ungefragt: »Alter John ist noch nicht da. Er müsste längst hier sein, nach meinen Berechnungen.«

Als sie ins Haus hineingingen, fragte Jakob Laura leise: »Was sind das für Berechnungen von Papa?«

Laura tippte sich, anstatt zu antworten, mit dem Finger an die Stirn.

Jakob guckte sich prüfend nach Vater um. Der war wohl wieder in seine Berechnungen vertieft.

Mutter stand am Herd. »Der Braten zerfällt mir ganz«, jammerte sie. »Wer konnte schon wissen, dass es so spät wird!«

Laura und Jakob verzogen sich lieber in ihre Zimmer. Laura drehte sogar den Schlüssel um, so dass niemand unangemeldet zu ihr reinkonnte.

Jakob fand das blöd. Schön fand er es, dass er jetzt eine Bude für sich hatte. In der Stadt wohnten und schliefen er und Laura in einem engen Zimmer und stritten dauernd. Es war überhaupt eine tolle Sache mit dem Haus. Vater hatte lange suchen müssen. Jetzt hatten sie’s! Sogar mit einem großen Garten. In dem standen Apfel- und Birnbäume, nur ein Nussbaum noch nicht, den Vater sich wünschte. Er wollte ihn noch in diesem Jahr pflanzen.

Sie verließen ihre Zimmer nicht, bis Mutter zum Essen rief.