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Conquered – Die Verlobung

 

 

Copyright: © 2017 Adina Pion

Umschlagillustration

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Korrektorat

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Dies ist eine erfundene Geschichte. Ähnlichkeiten mit jeglichen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Prolog

 

»Keine Angst, Jasmin, ich lasse dich nicht aus den Augen.«

Keine Angst! Das sagt sich so leicht. Niemals hätte sie zugestimmt, ihn zu begleiten, wenn sie geahnt hätte, welche Art von Ball es war, den sie besuchen würden. Auf dem sie auch noch die Aufmerksamkeit eines bestimmten Mannes auf sich ziehen sollte. Doch im Augenblick konnte Jasmin sich nicht mal vorstellen, sich unter die Menschen zu mischen, die sich an diesem Abend in der Villa Briscola eingefunden hatten. Hier, in der hintersten Ecke des Saals, fühlte sie sich einigermaßen sicher. Vorsichtig linste sie um eine Säule herum, die bisher hervorragend verhindert hatte, dass irgendjemand Notiz von ihr nahm.

Der Saal war gut besucht. Musik, dunkel und geheimnisvoll wie das Raunen eines herannahenden Sturmes, untermalte die unwirkliche Szene vor ihren Augen. Es roch nach schwerem Parfüm und es war warm, geradezu unangenehm heiß. Täuschend echte Kerzenleuchter spendeten düsteres Licht. Leider war es bei Weitem nicht so dunkel, dass sie nicht allerlei beunruhigende Details bemerken würde.

Es waren nicht die kunstvollen Masken, hinter denen die Gäste – ebenso wie sie selbst – einen Teil ihres Gesichtes verborgen hatten, die ihr Angst machten. Auch die Kostümierungen waren nicht der Grund für das wachsende Grummeln in ihrem Magen, obwohl die meisten Kleidungsstücke wohl kaum in der Standardausstattung eines Kostümverleihs für den Karneval zu finden waren. Dazu gewährten sie zu viele Einblicke an den ungewöhnlichsten Stellen.

Nein, für die beklemmende Enge in ihrer Brust, die ihr das Atmen zunehmend schwerer machte, waren die Accessoires verantwortlich, welche die Gäste mit sich führten.

Handschellen. Halsbänder mit großen Ringen daran. Fesseln, die sich kunstvoll um die Körper ihrer Träger schlangen. Kurze Gerten und Peitschen steckten ganz selbstverständlich in breiten Gürteln oder lagen lässig wie ein Spazierstock in der Hand ihres Besitzers. Es sah überhaupt nicht danach aus, als seien diese Dinge nur schmückender Teil der Maskerade. Wo war sie hier nur hineingeraten?

»Denk daran, es ist leicht verdientes Geld«, raunte Jasmins Begleiter ihr ins Ohr.

Ja, das Geld konnte sie wirklich gut gebrauchen. Aber konnte er sie ernsthaft vor diesen düsteren Gestalten hier beschützen? Unsicher wandte Jasmin sich zu ihm um. Seine Verkleidung, ein viel zu weites Harlekinkostüm, trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Weshalb er wohl so ein unattraktives Gewand gewählt hatte?

»Wenn der Plan nun nicht gelingt?«, fragte Jasmin nervös. »Was, wenn er mich gar nicht anziehend findet?«

»Keine Sorge, du hast alles, was ihn interessiert. Denk nur daran, rechtzeitig zu verschwinden, bevor er dich ansprechen kann. Die Verhandlung übernehme ich.«

Sie nickte. Vielleicht kam sie wirklich am einfachsten wieder hier heraus, indem sie genau das tat, was sie zuvor besprochen hatten. Jasmin richtete ihren Blick auf die Flügeltüren am Eingang. Die just in diesem Augenblick von zwei Bediensteten geöffnet wurden.

Einen Moment blieb ihr die Luft weg, als ein Mann mit langen, selbstsicheren Schritten den Saal betrat. Das musste er sein, kein Zweifel. Obwohl sie nach der Beschreibung ihres Begleiters nicht erwartet hatte, dass er so attraktiv sein würde.

Wie die meisten Gäste trug er schwarz, und es stand ihm ausgezeichnet. Schmale Hüften, eine breite Brust und Schultern, die wie gemacht schienen, sich an ihnen anzulehnen. Die auffälligen, blonden Haare trug er ein klein wenig zu lang, was ihm einen verwegenen Touch verlieh. Doch vor allem glaubte sie, selbst über die Entfernung hinweg, die Präsenz zu spüren, die von ihm ausging. Das Kribbeln in ihrem Magen verstärkte sich.

»Das ist er. Los, geh schon!«

Ihr Begleiter versetzte ihr einen Schubs. Jasmin stolperte, dennoch gelang es ihr kaum, die Augen von der Gestalt am anderen Ende des Raumes abzuwenden.

Zögernd setzte sie sich schließlich in Bewegung. Dabei war sie felsenfest davon überzeugt, dass ihr Plan zum Scheitern verurteilt war. Niemals würde dieser Mann Interesse an ihr zeigen. Dennoch schlotterten ihr die Knie bei der Vorstellung, dass sein Blick auf sie fallen könnte, während sie den Saal durchquerte.

 

***

 

Endlich. Elias spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel, als er den Ballsaal betrat. Er hätte gleich nach der Konferenz hierherkommen sollen. Stattdessen hatte er sich mit Ian verquatscht. Als ob sein Freund sich dazu überreden lassen würde, mal wieder mit hierherzukommen. Aber Elias wollte es einfach nicht wahrhaben, dass Ian nun in festen Händen war.

Hoffentlich würde dieser Ausflug dazu beitragen, Ians Gesülze wieder aus dem Kopf zu bekommen. Alice hier und Alice da, war sein Freund denn verrückt geworden? Klar, Alice sah scharf aus, war kein naives Dummchen und legte genau jenes Maß an Widerspenstigkeit an den Tag, das einen Mann wie Ian dauerhaft reizen konnte.

Er selbst bevorzugte seine Partnerinnen etwas devoter und anschmiegsamer. Aber das war ja Ians Sache. Der Aufstand, den sein Freund um Alice machte, war auf jeden Fall ziemlich übertrieben. Hatte Ian wirklich das Wort Liebe in den Mund genommen?! Na, so weit würde es bei ihm jedenfalls nie kommen.

Deshalb kam er so gerne hierher. Es sollte ein Leichtes sein, eine Frau zu finden, die eine Herausforderung für ihn darstellte – der er sich genau bis zum Morgengrauen stellen würde. Eine heiße Nacht, die seiner Partnerin garantiert noch eine Weile in Erinnerung bleiben würde, mehr nicht. Nach einer längerfristigen Bindung stand ihm derzeit nicht der Sinn. Wenn, dann hätte eine solche Beziehung allerdings wenig mit jener zu tun, wie Ian und Alice sie führten.

»Herr?«

Eine zierliche Blonde trat auf ihn zu, den Blick demütig auf den Boden gerichtet. Er hörte die Sehnsucht in ihrer Stimme. Sie war nicht unattraktiv, das konnte er dank ihres halb durchsichtigen Kleidchens problemlos erkennen. Zudem drückte ihr ganzer Körper ihre Bereitschaft aus, sich ihm bereitwillig zu Füßen zu werfen, begierig darauf, alles zu tun, was er verlangte.

»Ein anderes Mal vielleicht«, sagte er knapp.

»Danke«, hauchte sie leise und zog sich sofort zurück.

Wie er es sich schon gedacht hatte, musste sie bereits über einige Erfahrungen verfügen, wusste genau, wie sie sich zu verhalten hatte. Aber gerade deshalb interessierte ihn die kleine Blonde nicht. Vielleicht wäre eine Anfängerin heute das Richtige für ihn, eine, die das erste Mal die süße Lust der Unterwerfung kosten wollte?

Elias beschloss, es sich zunächst an der Bar bequem zu machen, bis Madame Fournier sich die Ehre gab. Die Besitzerin der Villa hatte bereits häufiger ihr gutes Gespür bewiesen und ihm genau die richtige Frau für die Nacht empfohlen.

Doch so weit kam er gar nicht. Während er sich noch anschickte, den Raum zu durchqueren, sah er sie auch schon. Eine hochgewachsene, schlanke Frau in einem bodenlangen, schwarzen Kleid. Der weite Rock umspielte ihre Beine, doch die Taille war derartig eng in ein Korsett geschnürt, dass Elias meinte, sie mit den Händen umfassen zu können. Dunkle Locken fielen über ihr Dekolleté und verhüllten den Blick auf ihre Brüste. Im völligen Kontrast dazu trug sie eine weiße Maske, besetzt mit glitzernden Steinen.

Mit kleinen Schritten bewegte sie sich am Rande der versammelten Gäste entlang. Ihre Figur, ihre graziöse und doch unsichere Haltung – all dies faszinierte Elias. Die Frau strahlte genau das aus, was er heute unbewusst gesucht hatte. Sie wollte er in dieser Nacht besitzen und keine andere. Er änderte die Richtung, strebte auf sie zu, doch ehe er sie erreichte, verschwand sie in einem der Boudoirs, die den Damen hier zur Verfügung standen.

Elias fluchte unterdrückt. Sollte er sich jetzt etwa wie ein Schuljunge vor den Toiletten herumdrücken, bis sie wieder herauskam? Andererseits hatte er auch keine Lust, sich die Lady von jemand anderem wegschnappen zu lassen.

»Die Schwarze Witwe gefällt Ihnen, ja?«

Elias drehte sich um und sah sich einem Mann gegenüber, dessen Harlekinkostüm recht unvorteilhaft um seine dürre Gestalt schlackerte.

»Und Sie sind?«, fragte er hochmütig.

»Ich bin der Gehilfe der Dame – derjenige, der ihr helfen soll, einen Mann für die Nacht zu finden.«

Verschwörerisch neigte sich der Harlekin ihm zu und Elias hatte Mühe, vor dem starken Geruch nach Mottenkugeln nicht zurückzuweichen. Wo hatte diese komische Gestalt bloß das Kostüm aufgetrieben?

»So jung und schon Witwe«, raunte der Harlekin, »das hat ihr nicht gutgetan. Sie ist ein richtiges Biest geworden, hochmütig und gemein. Mir scheint, Sie wären ein Mann, wie sie ihn braucht. Sicher sind Sie in der Lage, sie zu zähmen? Sie ahnen ja nicht, wie dringend sie eine starke Hand benötigt, einen Mann, dem sie sich unterordnen kann! Sie müssen sie schon hart anpacken – sicher kein Problem für einen Mann wie Sie? Versprechen Sie mir, die Schwarze Witwe nicht zu schonen, dann wäre es mir eine Ehre, ein Treffen zu arrangieren. Sofort, als Sie den Saal betreten haben, war ich mir sicher, dass Sie der Richtige für diese Aufgabe sind. Wie lässig Sie diese kleine, blonde Schlampe abgefertigt haben! Ich wäre nur zu erfreut, die Schwarze Witwe in Ihre erfahrenen Hände zu geben.«

So, so. Dieser Gehilfe schien ja ganz genaue Vorstellungen zu haben, was die Lady brauchte. Was für ein widerlicher, schleimiger Kerl! Elias’ Eindruck war nach dem kurzen Blick, den er auf die Frau geworfen hatte, ein ganz anderer gewesen. Zu gerne wollte er sich selbst ein Bild von der Dame und ihren Bedürfnissen machen. Aber der Weg zu einer Session führte offenbar über diesen seltsamen Gesellen. Ganz gleich, ob er fand, dass dieser seinen delikaten Auftrag mehr als schlecht erledigte. Abschätzig musterte er den Harlekin und blieb eine Antwort erst mal schuldig.

Zufrieden sah er, wie sich kleine Schweißperlen auf der Stirn seines Gegenübers bildeten und über das weiß geschminkte Gesicht liefen, je länger die Stille zwischen ihnen andauerte. Als der Kerl schließlich begann, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten, brach Elias das Schweigen.

»Ich wäre interessiert«, sagte er und registrierte zufrieden, wie uninteressiert er dabei klang.

»Ah!« Erleichtert atmete der Harlekin auf. »Ich werde die Schwarze Witwe in eines der diskreten Separees bringen. Bitte warten Sie an der Bar auf mich, ich werde Sie holen, wenn die Dame bereit ist.«

»Fünf Minuten«, bestimmte Elias knapp. »Ansonsten werde ich mich anderweitig umsehen.«

»Aber natürlich! Ganz wie Sie wünschen«, schmeichelte der Harlekin und eilte sofort davon.

Elias grinste. Lässig schlenderte er zur Bar und genehmigte sich erst mal einen Scotch. Nach exakt vier Minuten und zehn Sekunden tauchte der Harlekin wieder neben ihm auf.

»Es ist alles bereit, sie erwartet Sie in Zimmer sieben.«

Wunderbar. Das würde sicher eine unvergessliche Nacht werden, ganz gleich, was genau dort geschehen würde. Was der Gehilfe der Lady wohl erzählt hatte, um sie so rasch in eines der Zimmer in den oberen Stockwerken zu locken?

Elias erhob sich und machte sich auf den Weg nach oben. Nummer sieben lag am Ende des langen Korridors im ersten Stock. Ein dicker, roter Teppich dämpfte ihre Schritte, dennoch verriet der Geruch nach Mottenkugeln Elias, dass der Harlekin immer noch dicht hinter ihm war.

Endlich hatten sie das Ende des Ganges erreicht, schwungvoll riss Elias die Tür auf und machte zwei Schritte in den Raum hinein.

Mit allem Möglichen hatte er gerechnet, aber damit nicht: Das Zimmer war leer.

Er fuhr herum. Hinter ihm schloss der Harlekin gerade sorgfältig die Zimmertür.

»Da wir nun allein sind, Baron von Kruchthal, können wir uns mal ganz in Ruhe unterhalten.« Der unterwürfige Ton in der Stimme war völlig verschwunden. »Ich weiß, wo sich gewisse Dokumente befinden. Schon bald werde ich Zugriff darauf haben. Es wäre ziemlich peinlich für Sie, wenn diese an die Öffentlichkeit gelangten, nicht wahr? Also dachte ich mir, gebe ich dem Herrn Baron doch die Möglichkeit, wenigstens einen Teil seines guten Namens zu retten.«

So war das also.

Elias nickte. Er brauchte nicht zu fragen, um welche Papiere es sich handelte. Sah ganz so aus, als müsse er das Versprechen, das er seiner Großmutter auf deren Sterbebett gegeben hatte, doch noch einlösen.

Allerdings musste schon ein bisschen mehr passieren, bevor er sich von so einer windigen Gestalt erpressen ließ. Zunächst musste er Lorenzo darauf ansetzen, alles herauszufinden, was es über Florentina Brunelli zu wissen gab. Und dann würde man ja sehen, wer am Ende die Dokumente, welche die Schande seiner Familie offenbarten, in der Hand hielt.

Eins

 

»Lotti?«

Mein Klopfen an Lottis Schlafzimmer bleibt unbeantwortet, also öffne ich vorsichtig die Tür.

»Bist du dann so weit … ?« Ich entdecke sie vor einem bodentiefen Spiegel. »Lotti, das kannst du unmöglich anlassen!«

»Wie kommst du darauf, Flora? Ich finde, ich sehe hervorragend aus.«

Das stimmt sogar, wenn man es objektiv betrachtet. Zwar machen die graue Bundfaltenhose, das klassische Twinset und die unechte Perlenkette um den schlanken Hals Lotti vielleicht ein paar Jahre älter als die fünfzig, die sie tatsächlich ist. Aber das wäre ja nicht weiter dramatisch. Das Problem ist, dass eine adrette, biedere Erscheinung das Letzte ist, das unsere Feriengäste erwarten.

»Die Bradleys müssen jeden Moment ankommen«, erinnere ich Lotti. »Die rechnen mit einer extravaganten Gräfin und nicht mit einer hausbackenen Landfrau.«

»Gäste kommen?«, entgegnet Lotti, als hätte sie noch nie davon gehört. »Wie schön! Solltest du dich da nicht umziehen, Flora? Und deine schönen Haare! Hast du sie schon wieder ein Stück abgeschnitten? Dieser komische Zopf, den du dir da gemacht hast, sieht aus wie ein Rasierpinsel!«

Als ob mein langweiliger, brauner Schopf von Bedeutung wäre.

»Wie ich aussehe, ist doch völlig egal.«

Schließlich gebe ich in unserer Inszenierung die arme Verwandte, die als Waisenkind nach dem Tod der Eltern von der Gräfin aus purer Barmherzigkeit aufgenommen wurde. Was immerhin annähernd der Wahrheit entspricht. Eine verrückte Adelige, ein kleiner Schuss Familientragödie, dann noch das verwitterte Gemäuer, in dem wir hausen – das reicht in der Regel, um den amerikanischen Gästen einen unvergesslichen Aufenthalt in unserer kleinen Ferienwohnung zu bescheren. Nur dass Lieselotte Gräfin von Aychersee heute scheinbar nicht mitspielen will.

Dabei empfängt sie sonst doch auch selten jemand so gekleidet, wie man es landläufig als angemessen bezeichnen würde. Der Dorfpolizist sah sich erst vor Kurzem einer Lotti in einem rosa schimmernden Nachthemd gegenüber – der arme Mann wusste gar nicht, wo er hinsehen sollte. Glücklicherweise hat er darüber auch den Strafzettel für falsches Parken vergessen, dessen Bezahlung nun schon seit einigen Monaten aussteht.

Inwieweit Lotti das absichtlich macht, kann ich wirklich nicht sagen. Allerdings erreicht man erfahrungsgemäß gar nichts, wenn man sie unter Druck setzt.

»Weißt du was, wenn du dich so wohlfühlst, dann bleibst du einfach so. Ich kontrolliere noch mal schnell, ob in der Ferienwohnung alles in Ordnung ist. Sobald du einen Wagen hörst, kannst du ja herunterkommen, ja?«

»Na gut«, meint Lotti und zieht einen Schmollmund.

Ich seufze. Mitunter wäre mein Leben um einiges unkomplizierter, wenn sich die Cousine meiner verstorbenen Mutter nicht wie ein kleines Kind benehmen würde. Aber ich kann sie auch irgendwie verstehen. Manchmal ist es eben leichter, die Realität einfach links liegen zu lassen.

 

In der Ferienwohnung stelle ich erfreut fest, dass Hilde – unsere Haushaltshilfe – alles perfekt vorbereitet hat. Was auch gut ist, schließlich höre ich in diesem Moment bereits das Brummen eines schweren Motors. Rasch laufe ich nach unten und mühe mich mit dem klobigen Eingangstor ab. Normalerweise benutzen wir die Küchentüre, die ist entschieden praktischer. Aber das ist natürlich nicht das Richtige für die Amerikaner. Zum Glück schaffe ich es genau in dem Moment, als der Wagen vor dem Eingang hält, die quietschenden Türflügel zu öffnen.

Du lieber Himmel, unsere Gäste haben tatsächlich das Kunststück fertiggebracht, als Mietwagen einen riesigen Hummer aufzutreiben. Ich versuche, ein professionelles Lächeln aufzusetzen, das nicht allzu gezwungen wirkt. Ein paarmal atme ich tief ein und aus – das sind schließlich nur zwei Urlauber, und ich habe genau vorbereitet, was ich sagen werde. Da klettern auch schon ein sportlicher Mann mit Kurzhaarschnitt, die breite Brust hervorragend durch ein knallenges Poloshirt betont, und eine kleine, sehr zierliche Frau aus dem Wagen.

»Wonderful«, haucht sie entzückt, während ihr Mann unser altes Gemäuer eher misstrauisch mustert. Das steht schon ein paar Hundert Jahre, das hält schon noch, denke ich. Natürlich sage ich nichts dergleichen, sondern spule brav und etwas gekünstelt meine kleine Willkommensrede ab.

»A very warm welcome to Aychersee Castle«, fange ich höflich an und erkläre den Gästen dann kurz die Örtlichkeiten. Während die Frau ganz freundlich dreinschaut, wirkt er nach wie vor wenig begeistert. Wo zum Teufel steckt Lotti?

Die Gräfin von Aychersee beweist jedoch ausnahmsweise ein perfektes Timing. Kaum bin ich mit meiner kleinen Rede am Ende, habe den Schlüssel überreicht und die Bradleys in die Eingangshalle geführt, da erscheint Lotti am oberen Ende der breiten Paradetreppe. Halleluja, sie hat sich umgezogen!

Ich nenne dieses Outfit ›das kleine Schlossgespenst‹, ein bodenlanges Kleid kombiniert mit einem weißen Umhang, dessen Saum trotz der extrem hochhackigen, silbernen Sandalen an Lottis Füßen auf dem Boden schleift. Wir halten alle drei den Atem an, während sie die alten, ausgetretenen Steinstufen nach unten schreitet. Dass sie ihr Haar mit zwei chinesischen Essstäbchen zu einem unordentlichen Dutt zusammengesteckt hat, ist da wirklich zweitrangig.

Bereits auf der Mitte der Treppe beginnt die Gräfin, leidenschaftlich ihre Freude über den Besuch zum Ausdruck zu bringen. Zwar sprechen unsere Feriengäste kein Wort Deutsch, aber das ist ihr offenbar herzlich egal. Unten angekommen schließt sie die beiden überschwänglich in die Arme und wirft Küsschen in die Luft, ganz so, als handele es sich bei ihnen um lange vermisste Freunde.

»Haben Sie Flora schon kennengelernt? Ja? Ach, ich bin so froh, dass sie bei mir ist und mir meine alten Tage versüßt. Sicher wird sie Ihnen alles zeigen. Sie essen doch bestimmt mit uns, ja? Wie schön!«, zwitschert Lotti fröhlich, um uns dann abrupt stehen zu lassen und in Richtung Salon davonzustöckeln.

Lotti! Abendessen? Mr. Bradley sieht aus, als stemme er mehrmals täglich Gewichte, wie sollen wir den denn satt bekommen?! Wenn das mal nicht Lottis Rache dafür war, dass ich zuvor an ihrem Outfit herumgemäkelt habe!

Zum Glück haben die Bradleys wirklich kein Wort verstanden. Allerdings sehen sie Lotti ganz verzückt hinterher. Na also, geht doch. Ich führe sie rasch zu ihrer Ferienwohnung und empfehle dabei den ›Dorfkrug‹ als typisch deutsche Wirtschaft für das Dinner.

 

***

 

»Das war nicht sehr nett von unseren Gästen, dass sie nicht zum Abendessen erschienen sind.«

Ich stelle die heiße Schokolade auf Lottis Nachttisch und setze mich noch kurz zu ihr aufs Bett. Zum Glück sind sie nicht aufgekreuzt, mit meinem ›Omelett a la Florentina‹, was nichts anderes bedeutet als Eier mit allem, was im Garten gerade so erntereif ist, wären die Bradleys wohl kaum zufrieden gewesen.

»Dabei habe ich mich extra für unseren Besuch hübsch gemacht«, beschwert sich Lotti weiter.

»Dein Auftritt war wirklich perfekt«, lobe ich sie. »Schau, seit der Empfehlung in diesem amerikanischen Forum ›old Europe for adventurers‹ läuft die Vermietung doch richtig gut. Die Gäste erwarten aber auch, dass es hier nicht so aussieht wie in jedem x-beliebigen Hotel. Bei uns gibt’s eben was Besonderes, inklusive exaltierter Gräfin.«

»Exaltierte Gräfin«, schnaubt Lotti entrüstet, doch dann grinst sie spitzbübisch. »Die empfehlen uns weiter, oder?«

»Bestimmt«, bekräftige ich und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. »Gute Nacht, Lotti.«

»Gute Nacht, Flora!«

Zum gefühlt hundertsten Mal frage ich mich, ob Lotti nach dem Tod ihres Mannes tatsächlich ein bisschen verrückt geworden ist oder ob sie uns alle mit ihren Eskapaden einfach nur zum Narren hält.

 

Ich ziehe mich in mein Zimmer zurück, werfe als Erstes den Laptop an und checke meine E-Mails. Schon wieder keine Nachricht von der Agentur. Ich seufze.

Die paar Übersetzungen, die sie mir hin und wieder vermitteln, reichen einfach nicht für ein nennenswertes Einkommen. Mir fehlt schlichtweg eine solide Ausbildung. Damit anzugeben, dass die Muttersprache meines Vaters Italienisch war, reicht eben nicht.

Nur leider habe ich kein Geld für ein Studium. Daran wird sich absehbar auch nichts ändern, wenn ich nicht mehr Aufträge bekomme. Ein verfluchter Teufelskreis. Ganz abgesehen davon will ich Lotti nicht alleine in dem Schloss sitzen lassen.

»Das ist alles deine Schuld, Otto, du verdammter Mistkerl!«, schimpfe ich leise vor mich hin.

Dabei konnte ich Lottis Mann gut leiden und ich werde ihm sicher auch nie vergessen, dass er sofort einverstanden war, als Lotti mich nach dem Tod meiner Eltern aufnehmen wollte. Aber dass er sich das schöne Leben mit uns gar nicht leisten konnte, unbemerkt das Vermögen der Familie an den Spieltischen diverser Casinos durchgebracht hat und Lieselotte mit einem Haufen Hypotheken zurückgelassen hat, kann ich ihm einfach nicht verzeihen.

Allerdings lässt sich das heute Abend auch nicht mehr ändern. Ich fahre den Laptop runter und stecke meine Nase stattdessen in das Buch, das ich gestern auf meinen Reader geladen habe. Warum soll ich nicht auch für ein, zwei Stunden alles hinter mir lassen und in mein kleines Paralleluniversum abtauchen?

›Banditen im Namen der Krone‹, das hört sich jedenfalls ziemlich vielversprechend an! Schon nach wenigen Seiten bin ich völlig in der mystischen Welt gefangen und fiebere mit der Diebin Sharona mit, die nach Hinweisen auf das Versteck eines geheimnisvollen Unterweltkönigs sucht. Ob sie es schaffen wird, ihn zu finden und ihrem Leben eine entscheidende Wendung zu geben?

 

***

 

Ein lautes Hupen reißt mich aus dem Schlaf. Moment mal, wo bin ich hier? Ist das etwa die Bande des Unterweltkönigs, die …

Quatsch! Das war im Buch. Die Hupe allerdings hört sich ziemlich real an. Ich rapple mich hoch und reibe meine schmerzende Wange. Scheinbar habe ich die halbe Nacht auf der Kante des Readers gelegen.

Siedendheiß fällt mir ein, dass heute Hühnerfutter geliefert werden soll. Dass die Tiere Hunger haben, ist auch nicht zu überhören, zu dem Hupkonzert gesellt sich auch noch das wütende Gackern des Federviehs. Scheiße, seit wann ist denn der alte Eberhard vom Landhandel so ungeduldig? Sonst latscht der doch auch einfach in die Küche und versucht erst mal, Hilde einen Kaffee aus dem Kreuz zu leiern. Überhaupt, wo stecken Hilde und Lotti eigentlich?

Ich quäle mich aus dem Bett, schnappe mir Jeans und T-Shirt und stülpe mir beides auf dem Weg nach unten über. Wenn der Eberhard mir die Gäste aus dem Schlaf gerissen hat, kann er aber was erleben!

Ich haste die Treppe hinunter, renne den Gang zur Küche entlang, greife noch schnell nach einem Paar knallroter Gummistiefel und reiße die Tür nach draußen auf.

»Eberhard, was soll denn das …«

Abrupt halte ich inne. Anstelle des rundlichen Eberhards steht ein junger Kerl mit kurzen, schwarzen Haaren neben dem grünen Lieferwagen, in der einen Hand eine Zigarette, während er mit der anderen durch das offene Fenster des Wagens fröhlich die Hupe betätigt. Der Typ ist so schlank, dass er schon fast hager wirkt, zudem stehen seine Ohren leicht vom Kopf ab. Wenigstens stellt er das Hupen ein, als er mich sieht.

»Wo ist Eberhard?«, verlange ich zu wissen und hebe drohend einen Gummistiefel.

»Urlaub.« Irritiert mustert er meine nackten Füße. »Bist du die Gräfin?«

»Natürlich nicht!« Mit so viel Würde wie möglich schlüpfe ich in die Gummistiefel. »Wir haben hier übrigens Feriengäste, lass also bitte das nächste Mal den Krawall.«

Normalerweise käme es mir nicht in den Sinn, einen Fremden so anzugehen. Liegt es daran, dass ich so überrascht bin, dass nicht Eberhard vor mir steht? Oder ist der Kerl womöglich einer der wenigen, mit denen ich mich auf Anhieb ganz ungezwungen unterhalten kann?

»Du meinst nicht zufällig die da?« Grinsend zeigt er über seine Schulter.

Tatsächlich joggen unsere Amis in diesem Moment die Auffahrt hoch, beide in eng anliegenden, türkisen Trikots. Im doppelten Sinn ein erfreulicher Anblick! Ich winke den Gästen zu, dann wende ich mich wieder dem dürren Fahrer zu.

»Also schön. Du kannst mir bei Abladen helfen. Ich bin übrigens Flora.« Hoffentlich kriegt der die schweren Säcke überhaupt hoch.

»Kilian«, entgegnet er. »Allerdings …«, er angelt durch das Fenster nach dem Lieferschein, »… bekomme ich erst mal 56,70 Euro.«

»Setz es auf die Rechnung. Am Monatsanfang schaue ich beim Landhandel vorbei und zahle alles.«

Er runzelt die Stirn und wiegt bedenklich den Kopf hin und her.

»Davon steht hier aber nichts. Ich weiß nicht, ob ich das machen kann.«

Das auch noch. Ob es wohl hilft, wenn ich ihm drohe, die aufgebrachte Hühnerschar auf ihn zu hetzen, wenn er das Futter nicht rausrückt?

»Das machen wir aber immer so«, erkläre ich bemüht freundlich.

»Also ich weiß nicht …, wenn ihr nicht zahlt, stehe ich aber dumm da.«

»Na hör mal, wir sind doch hier nicht auf dem Flohmarkt. Du weißt doch, wo du uns finden kannst.«

»Aber ich kenne dich ja gar nicht.«

»Das ist doch nicht meine Schuld.«

»Meine auch nicht.«

Plötzlich erhellt ein Lächeln sein Gesicht.

»Du könntest mit mir ausgehen. Dann lernen wir uns kennen und ich weiß, dass ich dir vertrauen kann.«

Ich verdrehe genervt die Augen.

»Bis du Vertrauen gefasst hast, sind die Viecher verhungert.«

Das Geplänkel mit dem Typen ist ja eigentlich ganz witzig. Aber das hört sich verdächtig nach einem Date an, was er da vorschlägt. Darauf habe ich nun weniger Lust. Allerdings brauche ich das Futter wirklich dringend.

»Natürlich könnte ich es nicht verantworten, dass den Hühnern ein Leid geschieht«, sagt Kilian jetzt auch noch theatralisch. »Selbstverständlich lasse ich in diesem Fall das Futter da.«

Wider Willen muss ich lachen. Ein Abend mit Kilian könnte ja sogar ganz nett werden. Am besten, ich lasse es einfach darauf ankommen.

»Also gut«, sage ich.

»Mittwochnachmittag?«, fragt er. »Da wäre Kino-Tag.«

»In Ordnung.« Ich strecke ihm meine Hand hin und er schlägt ein. »Jetzt hilfst du mir aber!«

»Logisch«, grinst er.

Tatsächlich schafft er es mühelos, sich einen der schweren Säcke auf die Schulter zu hieven. Und nach dem Abladen hilft er mir sogar noch dabei, die Hühner zu füttern. Währenddessen erzählt er auch gleich, dass er den ganzen Sommer über beim Landhandel jobbt.

»Bevor das neue Semester anfängt, sollte noch ein bisschen Geld reinkommen.«

Warum weiß eigentlich jeder außer mir, wie er am besten die Ziele erreicht, die er sich so gesetzt hat?

»Wenn du jedem beim Füttern hilfst, wirst du dir aber nicht viele Freunde im Landhandel machen«, warne ich.

»Bleibe ich eben abends länger, ich kenne hier ja eh keinen.«

»Wir lernen uns ja gerade kennen«, sage ich und trete mir gedanklich gleich selber in den Hintern. Hoffentlich glaubt er jetzt nicht, dass ich mit ihm flirte!

Prompt zwinkert er mir zum Abschied verschwörerisch zu. Wenn ich ihm bloß keine falschen Hoffnungen gemacht habe. Er scheint ja ein netter Kerl zu sein, aber von den berühmten Schmetterlingen im Bauch kann bei mir keine Rede sein.

Oder liegt es einfach nur daran, dass Kilian mich auf dem falschen Fuß erwischt hat? Wenn man so unvermutet aus dem Bett gerissen wird, ist es ja wohl klar, dass man nicht gleich in der richtigen Stimmung ist, um mit jemandem anzubändeln.

Mal sehen, was der Mittwoch bringt.

Aktuell ist es sowieso wichtiger, dass ich mal in Erfahrung bringe, was Lotti und Hilde eigentlich treiben.

 

***

 

»Du siehst heute besonders entzückend aus«, sagt Lotti, als ich am Mittwoch zum Abendessen herunterkomme.

Na ja, ich weiß nicht. Nur weil ich eine weiße Tunika anstelle meiner allgegenwärtigen T-Shirts trage und ein bisschen Make-up aufgelegt habe? Allerdings muss ich zugeben, dass mir der Gedanke gekommen ist, dass Kilian vielleicht auch nicht den allerbesten ersten Eindruck von mir hatte – barfuß und mit wild vom Kopf abstehenden Haaren, kein Wunder, dass er uns das Hühnerfutter nicht ohne Bezahlung dalassen wollte! Also habe ich beschlossen, dass wir am besten einfach noch mal von vorne anfangen.

»Kilian heißt also dein Date«, sagt Lotti und schenkt uns beiden einen Sherry ein. »Ich würde mich so freuen, wenn es endlich einen jungen Mann in deinem Leben gäbe, der dein Herz höher schlagen lässt.«

Ich verdrehe die Augen.

»Ich kenne ihn noch gar nicht richtig.«

»Manche Dinge merkt man sofort. Bekommst du weiche Knie, wenn du ihm gegenüberstehst? Klopft dein Herz vor Aufregung, dass du ihn gleich wiedersiehst? Taucht sein Gesicht in allen deinen Träumen auf?«

Ich starre Lotti mit offenem Mund an.

»Kannst du es kaum erwarten, ihn zu berühren? Brennt deine Haut an den Stellen, die er angefasst hat?«

Äh, nicht wirklich.

»Tja dann …«, sagt Lotti und zuckt mit den Achseln. »Hoffentlich ist wenigstens der Film gut.«

Ich spare mir eine Antwort und kippe stattdessen den Sherry in einem Zug herunter.

»Aber jetzt essen wir erst mal«, sagt sie. »Ich habe gekocht.«

Aha. Für Lotti scheint die Sache klar zu sein. Aber ich habe fest vor, Kilian eine Chance zu geben. Soll ich hier als alte Jungfer enden, nur weil es in der Gegend an Traumprinzen mangelt? Da ist es doch besser, kleinere Brötchen zu backen. Ich werde jedenfalls gleich mit einem netten Kerl ausgehen, der bestimmt gut zu mir passen würde. Dann sehe ich ja, ob sich etwas daraus ergibt.

Unbeeindruckt von meinem missmutigen Gesichtsausdruck entfernt Lotti mit einer großen Geste die Wärmeglocken von unseren Tellern. Verdutzt starre ich auf vier gedünstete Karotten, hübsch mit Petersilie garniert.

Doch wie immer tun wir so, als wäre unser Abendessen nichts Ungewöhnliches, und verspeisen die Karotten von den uralten Porzellantellern, von denen Ottos Vorfahren noch die erlesensten Speisen gekostet haben.

 

***

 

»Ich habe Karten für ›The Huntsman & the Ice Queen‹, ich hoffe, das ist okay«, sagt Kilian, kaum dass ich zu ihm in einen rostigen Golf geklettert bin.

»Klar.«

Ein Fantasyabenteuer. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, ist aber genau nach meinem Geschmack. Fängt doch gut an.

Auf der Fahrt erzählt Kilian von seinem Studium – Brauwesen und Getränketechnologie –, ich wusste gar nicht, dass man so was studieren kann. Sein Redeschwall enthebt mich der Notwendigkeit, etwas von mir zu erzählen. Noch ein Pluspunkt für Kilian, bleibt mir doch so die immer gleiche Reaktion erspart. Erst die geheuchelte Begeisterung Was, deine Mutter ist mit einem Zirkusreiter durchgebrannt?, dann das Mitleid Oh, deine Eltern sind beide tot? Ich hasse das!

Im Kino spendiert Kilian auch noch Popcorn und Cola, super, nach meinem ›opulenten‹ Abendessen kommt mir das gerade recht. Derartig positiv gestimmt lasse ich es zu, dass Kilian den Arm um meine Schultern legt, kaum dass der Film begonnen hat.

Während das Abenteuer auf der Leinwand rasant fortschreitet, landet seine Hand auf meinem Knie. Wandert langsam nach oben.

Fühlt sich eigentlich ganz okay an. Als er sich zu mir beugt und seinen Mund auf meinen presst, öffne ich meine Lippen und lasse seine Zunge hinein. Er schmeckt nach Popcorn und Cola.

Unsere Zungenspitzen stupsen sich an, umkreisen einander. Unangenehm ist anders. Dennoch ertappe ich mich dabei, dass ich heimlich auf die Leinwand schiele, um nicht zu viel von dem Film zu verpassen.

Das hier fühlt sich einfach nicht richtig an. Als Kilians Hand weiter auf Erkundungstour geht, löse ich meinen Mund von seinem und rücke ein Stück von ihm ab.

»Kilian …«

»Geht es zu schnell? Tut mir leid, Flora. Wir lassen es langsamer angehen, ja?«

»Ich …«

»Kein Problem, wirklich.«

Er streichelt meine Schulter, rückt jedoch ebenfalls ein Stück von mir ab. Gut. So ganz will ich es noch nicht wahrhaben, dass es zwischen Kilian und mir nicht so richtig funkt. Oder brauche ich doch einfach noch ein bisschen Zeit? Vielleicht hilft es, wenn wir uns besser kennenlernen. Umso schöner, dass er da so verständnisvoll ist.

 

***

 

Drei Stunden später liege ich im Bett und starre an die Decke. Kilian hat mich wieder nach Hause gebracht, ganz gentlemanlike, ohne mich weiter zu bedrängen. Trotz meines zurückhaltenden Verhaltens wollte er mich gerne wiedersehen.

Er ist echt okay. Was wohl geschehen wäre, wenn ich ihn nicht unterbrochen hätte? Ob er weitergegangen wäre? Vielleicht meine Brüste gestreichelt hätte?

Ich schließe die Augen und umfasse mit meinen Händen meinen Busen, knete ihn sanft. Doch so richtig aufregend finde ich die Vorstellung von Kilians Händen auf meinem Körper nicht. Aber vielleicht bin ich einfach nicht der Typ für die Liebe auf den ersten Blick. Wenn Kilian noch mal mit mir ausgehen will, werde ich jedenfalls Ja sagen.

Ich rolle mich zusammen. Der Roman über die Diebin Sharona fällt mir wieder ein. Das Ende des Buches hat mich nicht so überzeugt. Wäre ich die Diebin, alles wäre anders gekommen. Schon bin ich in meiner Fantasie mitten in der Geschichte …

 

Endlich ist es mir gelungen herauszufinden, wie man Zutritt zu dem verborgenen Versteck der Räuberbande erlangt. In der unscheinbaren Mauer tut sich eine Geheimtür auf. Ich schleiche hindurch und stehe in einem düsteren, kalten Gewölbe. Mit einem lauten Knall fällt die Geheimtür hinter mir ins Schloss. Ich fahre herum und versuche sie erneut zu öffnen, vergeblich.

»Wen haben wir denn da?«

Erschrocken zucke ich zusammen, als mich auch schon zwei Hände, groß wie Schaufelräder, packen und herumwirbeln. Ich starre in ein pockennarbiges Gesicht. Verdammt, ich wurde erwischt!

Der hässliche Geselle hält sich nicht mit Konversation auf, sondern wirft mich kurzerhand über seine Schulter und trägt mich davon. Wütend hämmere ich mit meinen Fäusten auf seinen Rücken, doch er lacht nur. Erst als wir eine kleine Gefängniszelle erreicht haben, lässt er mich runter, stößt mich in den kargen Raum. Mit lautem Rasseln schließt sich die Gittertür.

»Ihre Majestät wird sich persönlich um dich kümmern«, spottet er, und ich höre sein fieses Lachen noch, als er längst verschwunden ist. Ich greife in meinen Beutel, finde jedoch nichts, was mich aus meiner misslichen Lage befreien könnte.

Schon höre ich den Klang schwerer Stiefel, die sich meinem Gefängnis nähern. Ich presse mich an die hinterste Wand meiner Zelle. Was nun?

Mit einem Mann, wie er nun auf der anderen Seite der Gitterstäbe auftaucht, habe ich nicht gerechnet. Dass der Unterweltkönig kein Hänfling sein würde, habe ich mir schon gedacht, aber muss er denn so groß sein? Und so wütend? Er wirkt jedenfalls sehr wütend, so wie er dasteht, die Arme vor der breiten Brust verschränkt, die dunklen Augen funkeln grimmig.

Eine schwarze Haarsträhne fällt ihm in die Stirn. Mühsam löse ich meinen Blick von seinem Gesicht, doch die Betrachtung seines muskulösen Körpers trägt nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Mein Hals ist ganz trocken, verzweifelt versuche ich, zu schlucken.

»Kannst du zahlen?«, knurrt er.

»Was?«, krächze ich.

»Lösegeld!«

Ich kann nur den Kopf schütteln.

»Dann muss ich mir wohl etwas anderes nehmen.«

Beiläufig öffnet er die schwere Tür zu meinem Gefängnis wieder, wobei mir ein Blick auf seine beeindruckenden Muskeln gewährt wird. Dann kommt er langsam näher, bis er ganz dicht vor mir steht. Ängstlich presse ich mich an die Wand, widerwillig fasziniert von seiner Erscheinung. Ich kann nicht verhindern, dass meine Zunge sehnsüchtig über meine Lippen wandert. Wird er mich gleich küssen?

Doch er packt kurzerhand mein Hemd am Kragen und reißt es vorne auf. Die Knöpfe springen in alle Richtungen davon. Ich schreie entsetzt auf. Seine riesigen Hände umfassen meine Brüste, massieren sie erst sanft, dann immer heftiger. Keuchend lasse ich ihn einfach nur gewähren, völlig unfähig, mich zu bewegen. Seine rauen Hände auf meiner empfindlichen Haut lösen atemberaubende Gefühle in mir aus, verursachen eine angenehme Hitze in meinem Körper.

»Gefällt dir das?«, raunt er.

»Ja, ja«, kann ich nur stöhnen.

Seine Finger umkreisen meine Höfe. Längst haben sich meine Nippel aufgerichtet, recken sich ihm hart und fast schmerzhaft entgegen.

»Mehr«, keuche ich.

Er kneift zu, gerade so fest, dass sein Griff meine Lust noch mehr anstachelt.

»Ja?«

»Ja, ja!«

Ich strecke meine Hände aus, will ihn auch berühren. Doch er packt meine Handgelenke, dreht meine Arme auf den Rücken und hält sie dort fest. Frustriert seufze ich auf, doch er lacht nur. Drängt mich mit seinem Körper an die Wand, sodass ich unfähig bin, mich zu bewegen. Dann erst setzt er seinen sinnlichen Angriff auf meine Brüste fort, liebkost sie abwechselnd zärtlich, um dann umso fester zuzupacken.

Ich wimmere leise. Wellen der Erregung durchlaufen meinen Körper und mein Schoß pocht vor Verlangen. Instinktiv scheint er das zu spüren, schiebt eine Hand in meine Hose, tastet sich langsam zu meinen intimsten Stellen vor.

»Ganz feucht«, lobt er.

Seine Finger umkreisen meinen Kitzler, dann fährt er durch meine Spalte. Vor und zurück, erst langsam, dann immer schneller. Ich stöhne laut, lasse meine Hüften kreisen, versuche, ihn noch deutlicher zu spüren.

Seine Berührungen werden intensiver, mit leichtem Druck massiert er meine Klit. Mein Atem geht immer heftiger, mein Körper zittert vor Verlangen.

»Komm für mich!«, sagt er scharf, und wie auf Befehl durchströmen heiße Wellen meinen Körper. Mir entfährt ein kleiner Schrei, während seine Hände mich sicher halten.

 

Langsam verblasst die Vorstellung des mysteriösen Unterweltkönigs. Ich nehme meine Hand aus meinem Slip und verberge mein Gesicht in meinem Kissen. Trotz meines Orgasmus fühle ich mich unbefriedigt. Sex ist doch was für zwei Leute. Frustriert ziehe ich die Decke über meinen Kopf. Das kann doch nicht alles sein, immer nur ich mit meinen Fantasiefiguren im Bett!

Zwei

 

Ein weiteres Mal reißt mich ein lautes Hupen aus dem Schlaf. Stöhnend mache ich die Augen auf und presse die Hände an meinen Kopf. Was ist denn nun schon wieder?!

»Flora! Post!«, höre ich Lotti rufen.

Das auch noch. Hoffentlich nicht der dämliche Strafzettel!

Ich beeile mich und kurz darauf setze ich mich zu Lotti auf die Stufen vor unserem Eingang und nehme dankbar eine Tasse Kaffee entgegen. Heute hat sie sich für einen Morgenmantel, bestickt mit einem chinesischen Drachen, sowie neongrüne Flipflops an den Füßen entschieden, ihre Haare sind zu Gretchenzöpfen geflochten. Einträchtig winken wir den Bradleys hinterher, die mit einer Wanderkarte in der Hand das Schloss verlassen.

»Unerfreuliche Nachrichten?«, frage ich.

Doch der Umschlag, den Lotti aus den weiten Falten ihres Morgenmantels hervorzieht, sieht definitiv nicht nach einem offiziellen Schreiben aus. Er ist strahlend weiß und mit dunkelblauen Ornamenten verziert.

Ach, herrje. Ich ahne, was das sein könnte. Seufzend reiße ich den Brief auf und entnehme ein ordentlich gefaltetes, dickes Blatt Papier, das im gleichen Stil wie der Umschlag verziert ist.

 

Liebe Flora,
ich würde mich freuen, wenn ich Dich zu unserer jährlichen Vernissage in unserer Galerie
Lupo Bianco begrüßen dürfte.
Die Veranstaltung findet am 2. Juli 2016 ab 19:00 Uhr in unseren Räumlichkeiten statt.
Für das leibliche Wohl ist ebenfalls gesorgt.
Übernachtungsmöglichkeiten für unsere auswärtigen Gäste stehen zur Verfügung.
Ich freue mich auf Dich
Giacomo Ciorcalo

 

Unter dem akkuraten Text, den sicher Giacomos Lebensgefährtin Andrea geschrieben hat, steht noch ein hingekritzeltes Postskriptum.

Ich habe eine Überraschung für Dich!

Ich seufze.

»Lotti, diesmal werde ich wirklich absagen. Ich kann jetzt nicht in die Toskana reisen, wir haben Reservierungen für die Ferienwohnung, und ich hoffe, dass auch Übersetzungen reinkommen.«

»Dann fahr halt nur übers Wochenende«, schlägt Lotti unbeeindruckt vor. »Du kommst doch in letzter Zeit gar nicht mehr raus. Wenn das so weitergeht, wirst du noch ganz komisch im Kopf.«

Na, das sagt die Richtige! Immerhin war ich im Kino. Und davor war ich … ach, egal. Viel wichtiger ist doch auch, dass ich keine Lust habe, einen Teil meines mühsam angesparten Geldes in ein Zugticket zu investieren. Außerdem müsste ich Hilde dazu bringen, in der Zeit auf Schloss Aychersee zu bleiben, das macht sie garantiert auch nicht umsonst. Aber mit solch banalen Argumenten kann man Lotti grundsätzlich nicht kommen.

Dabei ist es durchaus nicht so, dass ich Giacomo und Andrea nicht leiden kann. Ganz im Gegenteil, ich mag den verrückten, italienischen Maler recht gerne. Er kannte meinen Vater, hat als junger Künstler eine beeindruckende Serie von Bildern von ihm und seinen Pferden gemalt.

Als wir noch zu Ottos Lebzeiten einmal den Sommerurlaub in der Toskana verbrachten, haben wir auch Giacomos Galerie besucht. Der mich daraufhin regelmäßig eingeladen hat. Schöne Tage waren das immer – wenn nur diese Vernissage nicht wäre!

All diese aufgebrezelten, internationalen Kunden, die so furchtbar kluge Gespräche führen. Und ich dazwischen, ohne die geringste Idee, was ich sagen könnte. Dabei spreche ich doch drei Sprachen, zwei davon fließend. Doch inmitten all der reichen und bedeutenden Kunstkenner fühle ich mich regelmäßig so, als hätte ich einen Knoten in der Zunge. Wenn ich nur an das letzte Mal denke, wie abschätzig einige Frauen mein bunt bedrucktes Kleid vom Flohmarkt gemustert haben, schrecklich! Doch das bringt mich auf eine Idee.

»Das ist schon in drei Tagen. Ich habe wirklich nichts Passendes zum Anziehen.«

Lotti runzelt die Stirn und mustert mich kritisch.

»Du bist einfach zu lang für meine Sachen«, verkündet sie schließlich missmutig.

Na, Gott sei Dank. Das hätte mir gerade noch gefehlt.

»Aber warte mal … die Irmgard, die war auch so ein langer Lulatsch. Das müsste gehen.«

Energisch steht sie auf und schlappt ins Haus.

»Lotti! Was meinst du? Doch nicht etwa meine Großtante Irmgard?!«

»Komm schon.«

»Lieselotte von Aychersee!«, rufe ich ihr hinterher und stapfe in die Eingangshalle. »In einem mottenzerfressenen Fummel meiner Großtante gehe ich nirgendwohin – schon gar nicht nach Italien. Die Frau ist seit Jahren tot, und da war sie schon alt. Lotti! Bleib stehen!«

Lotti steht bereits mitten auf der Paradetreppe.

»Also, pass auf. Wenn dir wirklich nichts aus Irmgards Truhe gefällt, okay. Dann schick Giacomo eine Absage und ich werde kein einziges Wort mehr darüber verlieren. Aber wenn doch – dann fährst du in die Toskana!«

Pah, na, das ist ja mal eine ungefährliche Wette.

»Du sagst kein Wort mehr darüber?«

»Versprochen.«

»Einverstanden.«

Ich folge Lotti weiter nach oben, bis auf den staubigen Dachboden, mitten hinein zwischen die ausrangierten Möbel von mehreren Generationen. Nach Ottos Tod waren wir hier häufig auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Leider meist erfolglos.

Doch heute scheint Lotti ganz genau zu wissen, was sie sucht. Sie zerrt eine schlichte Holztruhe hervor.

»Das müsste sie sein. Los, mach auf!«

Lässig klappe ich den Deckel auf. Wahrscheinlich ist da drin eh alles zu Staub zerfallen.

Zunächst stoße ich auf eine ganze Batterie von Mottensäckchen, die tatsächlich immer noch ihren typischen Geruch verbreiten. Darunter liegen, ordentlich in Seidenpapier eingeschlagen, mehrere Kleidungsstücke. Ich wickle das erste aus.

»Was ist denn das?! Ihr Hochzeitskleid? Wow!«

Das lange, weiße Kleid ist mit Silberfäden durchwirkt, ansonsten ist es ganz schlicht gehalten. Trotzdem wirkt es wahnsinnig elegant. Ich halte es vor mich hin. Lotti hatte recht, Irmgard muss eine ähnliche Figur gehabt haben wie ich. Sollte doch mal jemand auftauchen, den ich heiraten möchte – ich hätte da schon mal ein Kleid.

»Sie hat es zur Taufe deiner Mutter getragen«, erklärt Lotti.

Vorsichtig hänge ich es zur Seite. Das nächste Stück, das ich auspacke, ist ebenfalls ein langes Kleid, diesmal in Schwarz. Auf den ersten Blick wirkt es sehr streng, hochgeschlossen und mit langen Ärmeln. Doch dann fällt mir auf, dass es einen schier endlosen Schlitz am Rücken hat. Du lieber Himmel, der Ausschnitt muss bis zum Po reichen! Wie verrucht. Ich hänge es ebenfalls zur Seite.

Die nächsten Stücke sind nicht so ganz mein Geschmack, grelle Farben und Rüschen, nein danke. Aber ganz unten kommt noch ein helles Kleid zum Vorschein, knielang diesmal, mit Petticoatrock und Neckholderoberteil im Stil der 50er-Jahre.

»Irmgard hat deinen Großonkel Walter zu einem Rock-’n’-Roll-Kurs überredet«, erzählt Lotti beiläufig.