Sara Kadefors

Aus dem Schwedischen
von Lotta Rüegger

Urachhaus

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Billie. Avgång 9 : 42 till nya livet

bei Bonnier Carlsen Bokförlag, Stockholm.

Die Übersetzung dieses Buches wurde durch die freundlich gewährte Förderung des Swedish Arts Council unterstützt.

ISBN 978-3-8251-5111-9 (epub)

Erschienen 2017 im Verlag Urachhaus

www.urachhaus.com

© 2017 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart

© Text: Sara Kadefors 2016

Umschlaggestaltung: Lena Thunell, Bonnier Carlsen Bokförlag, Stockholm, aufgrund einer Idee von Philip Edqvist, Klasse 5d der Grundschule Hjo.

Die Veröffentlichung in deutscher Sprache wurde mit

Bonnier Rights, Stockholm, vereinbart.

Gesamtherstellung: CPI books GmbH, Leck

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Inhalt

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Die Autorin

Impressum

Der Bahnsteig ist so voll, dass man zum Glück in der Menge untertauchen kann. Sicherheitshalber setze ich mich auf meine Tasche. Hier unten bin ich so gut wie unsichtbar. Die Leute schauen einander in die Augen oder starren ins Leere. Ich rolle auf der Tasche vor und zurück, vor und zurück. Dann hebe ich die Füße und gleite eine kleine Rampe hinunter. Zu spät merke ich, dass der Bahnsteig vor mir endet. Scheiße, denke ich gerade noch, gleich liege ich auf den Gleisen, und dann taucht Cecilia auf und sagt typisch. Aber kurz bevor es so weit ist, ramme ich ein paar Beine. Der Zusammenstoß ist so heftig, dass die Tasche und ich umkippen.

»Entschuldigung«, sage ich.

Der Mann wischt sich mit säuerlicher Miene die Hose ab. Am liebsten hätte ich gelacht. Die Tasche ist ja nicht besonders schmutzig und ich auch nicht. Trotzdem wischt er sich seine Hose so gründlich ab, dass ich gar nicht wissen möchte, was er von mir hält. Vielleicht hat er ja einen Sauberkeitsfimmel, weil er als Kind immer ausgeschimpft wurde, wenn er sich dreckig gemacht hat. In diesem Fall kann er einem wirklich leidtun. Wahrscheinlicher ist aber, dass ihm meine Frisur nicht geheuer ist.

Ich richte mich auf, und der Zug fährt ein. Die Leute umarmen sich ein letztes Mal. Das stimmt mich ein wenig traurig, denn ich sehe ein, dass sie einander vermissen werden. Ich kenne die Sehnsucht aus dem Fernsehen. Ich weiß, dass sie so sehr schmerzen kann, dass die Tränen kommen. Ich weiß, dass sie einem den Schlaf rauben kann. Vielleicht wird es mir in Bokarp ja auch so ergehen. Aber ich glaube es nicht.

Ein junger Mann hebt mir die Tasche beim Einsteigen mühelos in den Zug. Ehe ich ihm danken kann, ist er auch schon verschwunden.

Der Zug fährt an, und ich versuche, meinen Sitzplatz zu finden. Ich ziehe die sperrige Tasche hinter mir her, und einige Leute mustern mich verärgert. Schließlich frage ich den Schaffner, wo mein Sitzplatz ist, und erfahre, dass ich im falschen Wagen bin. Nach einer halben Ewigkeit lande ich endlich im richtigen.

Die erste Person, auf die mein Blick fällt, ist Cecilia. Sie hält ihr Handy ans Ohr und redet mit schriller Stimme. Dann entdeckt sie mich und reißt die Augen auf. »Billie, da bist du ja!«

Ich schiebe die Tasche ins Gepäckfach. Cecilia rennt auf mich zu und umarmt mich ganz fest. Ihr Herz pocht an meinem Ohr.

»Meine Kleine, welch ein Glück … Ich dachte mir schon, dass du im Zug bist, aber du musst drangehen, wenn ich dich anrufe, stell dir vor, ich wäre auf dem Bahnsteig geblieben, dann hättest du ganz alleine reisen müssen. Das wäre nicht so gut gewesen, oder?«

Mit einem Seufzer lasse ich mich auf den Sitz fallen. »Ich komme sehr gut ohne dich zurecht.«

»Das ist jetzt nicht besonders nett.«

»Ich bin kein Kind mehr.«

»Mit zwölf ist man sehr wohl noch ein Kind.«

Ihr Blick klebt an meinem Gesicht. Ich bin nicht sauer auf sie, aber ich finde alles ziemlich lächerlich. Alleine zu reisen ist viel einfacher. Wenn Cecilia dabei ist, muss ich mich auch noch um sie kümmern, damit sie das Gefühl hat, gebraucht zu werden.

»Alles wird gutgehen«, sagt sie und setzt sich zurecht. »Wart’s nur ab, das geht alles ganz glatt.«

»Woher willst du das wissen?«

»Das kann ich natürlich nicht, aber ich glaube jedenfalls, dass dir die Familie gefallen wird. Weißt du, Petra, die Mutter, ist einfach ganz toll. Ich habe mehrmals mit ihr gesprochen, und sie wirkt ungemein verständnisvoll.« Cecilia nickt sich sozusagen selbst zu. »Alles wird also gutgehen.«

Cecilia scheint sich selber gut zuzureden. Sie würde niemals verstehen, dass ich keine Angst habe, sondern einfach nur gespannt bin. Ihr hingegen ist anzusehen, dass sie Angst hat. Angst davor, dass alles schiefgeht, dass die Familie nicht so nett ist, wie sie denkt, oder dass ich auf einmal nicht mehr so froh und sonnig bin.

Ein kleines, vielleicht fünfjähriges Mädchen sitzt mit tränenüberströmtem Gesicht einige Reihen vor mir. Sie streckt die Arme über den Gang nach ihrer Mutter aus. »Ich will bei Diiir sitzen!« Mit hochrotem Kopf versucht ihre Mutter, sie zu beschwichtigen. Ich erhebe mich und gehe auf sie zu. »Wir haben zwei Plätze nebeneinander, die können Sie gerne haben, wenn Sie möchten.«

Die Mutter sieht mich verblüfft an. »Aber … das kann ich doch nicht …?«

»Wir können getrennt sitzen. Das ist gar kein Problem.«

Cecilia setzt ihren mitleidigen Blick auf, denn ihr fallen keine plausiblen Einwände ein.

An meinem neuen Platz darf ich endlich wieder ich selbst sein. Ich tue so, als wäre ich ganz alleine unterwegs, und lehne mich behaglich zurück. Mama und ich simsen. Ich schreibe ihr, dass alles in Ordnung ist, und sie antwortet, dass sie an mich denkt. Danach überlege ich, wie es bei meiner Ankunft sein wird und wie wohl diese Mutter und dieser Vater sind. Ob sie dieselben Fernsehserien mögen wie ich?

Ich und der Mann neben mir kommen ins Gespräch. Er fährt zu seinem Sohn, der gerade sein drittes Kind bekommen hat. Ich helfe ihm mit den Einstellungen auf seinem Handy und installiere ihm eine App, die Vögel an ihrem Gesang erkennt. Zum Dank lädt er mich ins Bordbistro ein. Cecilia sieht uns erstaunt hinterher und würde uns bestimmt am liebsten folgen, weiß aber, dass das nur unnötiges Aufsehen erregen würde.

Im Bordbistro erzähle ich meinem neuen Freund, was mich bei meiner Ankunft erwartet. Er sieht mich voller Ernst an und sagt, dass es in der Tat recht spannend sein kann, Einblicke in eine ganz neue Welt zu gewinnen. Ich pflichte ihm mit eifrigem Nicken bei. Er hat es wirklich begriffen – es wird echt spannend. Danach reden wir darüber, wie man über den Tod der Frau hinwegkommt, mit der man über vierzig Jahre zusammengelebt hat.

Der Zug hält an einem Ort, von dem ich noch nie gehört hatte, bevor ich das Ticket dorthin in der Hand hielt.

Das Einzige, was ich mit Sicherheit darüber weiß, ist, dass er sieben Stunden von meinem Zuhause entfernt ist. Ich nehme meine schwere Tasche und steige vor Cecilia aus.

»Wie geht’s, Billie?«

Eigentlich ist an Cecilia nur auszusetzen, dass sie in ihrer Ausbildung gelernt hat, ich würde sie brauchen. Es ist ein Problem, dass Leute wie sie lernen, alle sogenannten Kinder wären gleich. Sie glauben, ich hätte die gleichen Bedürfnisse wie andere Zwölfjährige, die am Wochenende mit ihren Eltern aufs Land fahren und sich freitagabends eine Chipstüte mit drei anderen teilen.

Ich lasse meine Tasche mit einem dumpfen Knall zu Boden fallen und sehe mich um. Der Bahnhof besteht aus einem älteren Ziegelgebäude und drei Gleisen. Die anderen Mitreisenden, die hier ausgestiegen sind, verschwinden Richtung Parkplatz. Ich habe keine Ahnung, wie die Leute aussehen, nach denen ich Ausschau halten soll. Wir haben nur einmal am Telefon miteinander geredet. Der Zug fährt an. Auf dem Bahnsteig ist es auf einmal sehr still, und ich beginne beinahe, beinahe, mich ein wenig zu fürchten. Eine Krähe sitzt oben auf der Bahnsteigleuchte und starrt mich an, als würde sie sich überlegen, was ich da unten mache.

»Vielleicht warten sie ja auf der anderen Seite«, sagt Cecilia. Ich sehe ihr an, dass sie denkt, ich sei jetzt doch noch froh, sie dabeizuhaben. Aber mich freut vor allem, dass sie zu spät kommen. Vielleicht sind sie nicht ganz so perfekt, wie ich erwartet hatte.

Wir betreten das kleine Bahnhofsgebäude und verlassen es wieder auf der anderen Seite. Eine offenbar sehr kleine Stadt liegt vor uns. Die meisten Häuser sind gelb und zweistöckig. In einiger Entfernung sehe ich eine Mutter mit einem Kinderwagen, einen in sich zusammengesunkenen Mann mit einer grünen Plastiktüte und eine ältere Dame mit einer Handtasche. Während wir warten, singe ich »I Want You Back« von The Jackson Five. Das mache ich immer, wenn ich mir die Zeit vertreiben muss.

Cecilia ist vollauf damit beschäftigt, sich Sorgen zu machen. Sie holt ihr Handy heraus. Bevor sie die ganze Nummer eingetippt hat, biegt ein eisblauer Wagen auf den Parkplatz ein und hält mit quietschenden Bremsen vor uns. Zwei Personen steigen eilig aus.

»Entschuldigt …«

Die Mutter betrachtet mich mit eindringlichem Blick. Sie ist groß und blond und trägt weite, weiße Kleider. Der Vater mit einem winzigen Pferdeschwanz murmelt etwas, das wie »Verzeihung« klingt.

»Hallo Billie, ich bin Petra.«

Man sieht, dass sie nicht weiß, ob sie mich umarmen soll oder nicht. Ich will es ihr leicht machen und werfe mich in ihre Arme. Sie ist dünn und etwas knochig, riecht aber gut. Während wir uns umarmen, höre ich ein Geräusch, das ihrer Kehle entschlüpft, und merke, dass ich sie vielleicht zu fest drücke. Ich lasse sie los und umarme den Vater, aber nicht ganz so fest. Er sagt, er heißt Mange, also Magnus.

»Wir verspäten uns eigentlich nie«, sagt er.

»Nein«, ergänzt Petra, »aber manchmal geschehen unerwartete Dinge im Leben.«

Sie wirkt so ernst, dass es fast schon wieder lustig ist.

»Das macht nichts«, antworte ich.

Petra lächelt nett. »Wir haben noch schnell bei der Sporthalle gehalten, um ein paar Sachen zu holen, aber Magnus wurde von einem Vater aufgehalten, und tja …« Sie wirft Mange einen raschen Blick zu. Er scheint sie nicht gehört zu haben.

Dass Mange Sportlehrer ist, leuchtet mir durchaus ein, aber Petra sieht überhaupt nicht wie eine Pfarrerin aus. Obwohl ich natürlich noch nie eine Pfarrerin getroffen habe. Niemand in meinem Bekanntenkreis hat je einen Pfarrer oder eine Pfarrerin getroffen. Was machen die wohl tagsüber, wenn keine Hochzeiten oder Abschlussfeiern stattfinden?

»Trägst du denn kein Kreuz?«

Petra sieht mich mit weit geöffneten Augen erstaunt an.

»Ein Kreuz?«

»Ich dachte, Pfarrer tragen immer ein Kreuz um den Hals. Oder einen weißen Kragen. Aber ich kenne mich mit heiligen Dingen nicht so aus.«

Petra schluckt und lächelt wieder so nett. »Den Kragen trage ich eher selten, aber ein kleines Kreuz habe ich tatsächlich um.« Sie fährt sich mit einem Finger den Hals entlang und zieht eine dünne Kette unter dem Pullover hervor. »Hier.«

Mange ergreift meine Tasche, und ich lasse es geschehen, weil es ihm ganz offensichtlich wichtig ist. Cecilia und ich nehmen auf der Rückbank Platz. Im Auto riecht es sauber, und nirgendwo liegen Verpackungen von Süßigkeiten herum. Ich will die hellen Sitze nicht schmutzig machen und lege meine Hände sicherheitshalber in den Schoß.

Sobald der Wagen die kleine Stadt verlässt, fällt mir ein, dass die Familie Persson ja gar nicht hier, sondern einige Kilometer außerhalb wohnt.

»Wie lange wohnt ihr schon in Bokarp?«, frage ich.

»Elf Jahre«, antwortet Petra. »Wir sind hierhergezogen, als Alvar ein Jahr alt war.«

»Warum gefällt es euch da?«

Petra dreht sich zu mir um. Ihre Augen sind wirklich unnatürlich groß. »Weil es so ruhig und nett ist. Und weil wir alle Leute kennen.«

»Und was ist so gut daran, alle Leute zu kennen?« Sie schielt zu Mange hinüber, der sich vollkommen aufs Fahren konzentriert.

»Nun, … ich denke, es verleiht ein Gefühl der Sicherheit.«

»Was ist an Sicherheit so gut?«

»Billie!«

Cecilia wirft mir einen strengen Blick zu. Vielleicht denkt sie ja, dass ich frech sein will, aber das stimmt gar nicht. Ich frage mich wirklich, warum Sicherheit so gut sein soll. Wenn ich mich zwischen »sicher« und »lustig« entscheiden müsste, würde ich allemal »lustig« wählen. Bevor ich meine Gedanken in Worte fassen kann, reißt Cecilia das Gespräch an sich. Sie erkundigt sich nach Alvar und seiner Schwester, die Tea heißt. Ich erfahre, dass Alvar Tischtennis spielt und es liebt, im Gartenhäuschen zu basteln, und dass sich Tea gerne verkleidet. Ich versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Das klingt doch nett, nicht wahr, Billie?«

»Unbedingt«, antworte ich.

Dass wir Bokarp erreichen, merke ich gar nicht. Ich glaube allen Ernstes, dass uns die Landstraße noch irgendwo hinführt.

»Wir sind da«, sagt Petra plötzlich.

Im gleichen Moment bremst Mange, und der Motor wird ausgeschaltet. Ist das wirklich möglich? Wir haben vor einem braunen Haus gehalten, das sich wirklich nur als braunes Haus beschreiben lässt. Irgendwie gibt es nicht mehr darüber zu sagen. Ich sehe mich um. Überall stehen fast identische Häuser, nur in anderen Farben. Widerstrebend steige ich aus.

Eine ältere Frau nähert sich und schiebt so ein Wägelchen für alte Leute vor sich her. Sobald sie Petra erblickt, hellt sich ihr Gesicht auf.

»Vielen Dank für deine schönen Worte. Ich könnte dir bis in alle Ewigkeit zuhören.«

»Ich hoffe, das bleibt dir erspart«, erwidert Petra. »Geht’s Lennart gut?«

»Ja, schon, aber die Hüfte macht ihm leider immer noch Kummer …«

»Ich schaue in den nächsten Tagen bei euch vorbei. Und bringe Rhabarbersaft mit.«

Die Frau freut sich sichtlich, und Petra winkt ihr noch zum Abschied zu. Dann nehmen Cecilia und sie mich in ihre Mitte und geleiten mich zur Türe, als bräuchte ich ihre Stütze.

Ich kann es nicht fassen, dass ich hier wohnen soll! In dieser Langeweile! Ich weiß natürlich von solchen Wohngegenden, aber ich war noch nie in einer. Die kleine Stadt, in der der Zug gehalten hat, erscheint mir plötzlich wie ein Paradies. Ich ergreife Cecilias Hand und stelle mich auf die Zehenspitzen. »Du, das geht nicht«, flüstere ich ihr ins Ohr. »Das geht echt nicht.«

Im Inneren des braunen Hauses ist alles weiß gestrichen. Es ist so weiß, dass es unbewohnt wirkt. Niemand scheint hier je gespielt zu haben oder an eine Wand gestoßen zu sein. An den Wänden hängen Trockenblumen und ein Landschaftsbild in langweiligen Farben. Auf dem Fußboden stehen die Schuhe ordentlich aufgereiht, und an den Haken hängen vier Jacken.

»Hier kannst du deine Jacke hinhängen«, erläutert Mange überflüssigerweise.

Petra ruft die Kinder und schaut dabei die Treppe hinauf. Ich merke, dass sie nervös ist. Werden ihre Kinder mich wohl mögen? Werde ich die Kinder mögen?

Im ersten Stock sind Schritte zu hören, und im nächsten Augenblick erscheinen Füße auf der Treppe. Ein Mädchen mit rosa Leggings und hoch sitzendem Pferdeschwanz hüpft die Stufen herunter. Hinter ihr erscheint ein Junge mit einem Pony, der ihm in die Augen hängt. Sein Körper schreit förmlich, dass er weg will. Kein Wunder. Bislang habe ich in diesem Haus noch keine gemütliche Ecke entdeckt. Außerdem ist es kalt hier. Ich habe keine Lust, meine Schuhe auszuziehen.

Mange stellt uns einander vor und klingt dabei unangemessen fröhlich. Tea legt mir etwas in die Hand.

»Willkommen.«

Ich sehe mir den rosa Gegenstand an. »Shiny lips« steht darauf. Ein Willkommensgeschenk? Das ist aber nett. Ich bedanke mich ordentlich, obwohl ich kein Lipgloss benutze. Tea glitzert mich wie ein Püppchen an. Petra mit den unnatürlich großen Augen und der durchsichtigen Haut wirkt ebenso unwirklich. Ihre dünne Bluse hängt wie auf einem Kleiderbügel. Ihr Haar wird von einer silbernen Spange im Nacken perfekt geformt und zusammengehalten.

Als Erstes wollen sie mir die Zimmer im Erdgeschoss zeigen. Hier befinden sich die Küche, das Wohnzimmer und noch ein Zimmer, in dem die Eltern schlafen.

Die Kälte des eisigen Fußbodens kriecht mir die Beine hinauf. Petra macht das Licht an, obwohl es noch nicht dämmert. Alles ist und bleibt weiß. Nirgendwo liegen Sachen herum. Ich frage mich, wo sie alles hingelegt haben, ob es vielleicht ein Zimmer gibt, in dem sie ihre Gegenstände verstauen, oder ob sie sie in die Garage gebracht haben.

»Habt ihr extra aufgeräumt?«

Petra fummelt an ihrer Kette. »Nein …«

»Vielleicht ein wenig?«, frage ich mit Hoffnung in der Stimme.

»Mama räumt dauernd auf«, sagt Tea.

Manges Hand schießt ohne Grund auf mich zu und wuschelt mein Haar.

Im Obergeschoss liegen Alvars und Teas Zimmer und auch das, in dem ich zukünftig wohnen soll. Auch hier sind die Wände weiß. Auf dem Bett liegt eine blau-weiße Tagesdecke und auf dem Tisch steht eine Vase mit gelben Blumen. Es ist so kalt, dass ich nur noch weg will.

»Hier wirst du es aber gemütlich haben«, sagt Cecilia.

Ich nicke zustimmend, weil ich sehe, dass Petra nervös ist. Sie tut mir leid. Sie soll sich keine Sorgen machen müssen, dass es mir hier nicht gefällt.

Jetzt öffnet sie den Schrank und zeigt mir, wo ich meine Kleider hinhängen kann. Ein paar verwaiste Kleiderbügel baumeln einsam darin. Irgendwie ist es ein unerfreulicher Anblick. Außerdem habe ich noch nie etwas auf einen Kleiderbügel gehängt.

Plötzlich möchte ich mich am liebsten in eine Schachtel verkriechen und dort verstecken. Dieses Haus ist viel zu geräumig. Mein Zimmer ist viel zu geräumig. Ich weiß gar nicht, was ich mit so vielen Quadratmetern anfangen soll. Zu Hause gehört mir nur die Ecke, in der mein Bett steht. Ich habe noch nie einen Schreibtisch gehabt. Außerdem herrscht bei der Familie Persson eine ganz komische Stimmung. Als träten sie alle in einer Fernsehsendung auf. Ich wünsche mir, dass die Kameras ausgeschaltet werden und alle wieder sie selbst sind.

Alvar und Tea sind vor dem Zimmer stehen geblieben wie gespenstische Kinder in einem Horrorfilm, ernst und schweigsam. Alvar hat mir immer noch nicht in die Augen geschaut, was mich schon ein bisschen ärgert. Schließlich könnte er sich doch ein wenig Mühe geben, wenn jemand Neues in die Familie kommt? Er könnte doch wenigstens zwei Worte sagen.

»In welche Klasse gehst du?«, frage ich ihn, obwohl ich es bereits weiß.

»In die sechste. Wir gehen dann in die gleiche Klasse.«

»Toll.«

»Mhm.« Aber er scheint sich nicht sonderlich zu freuen.

»Das ist doch wunderbar«, sagt Petra immerhin. »Ihr könnt dann zusammen zur Schule gehen.«

Cecilia nickt eifrig. »Es ist immer gut, bereits jemanden zu kennen, wenn man in eine neue Klasse kommt, nicht wahr, Billie?«

Ich nicke. Aber eigentlich bin ich gar nicht ihrer Meinung. Es ist allemal besser, alleine aufzutauchen und nicht auf andere Rücksicht nehmen zu müssen. Vielleicht muss ich Alvar den ganzen Tag lang mit mir rumschleifen.

Petra und Tea tuscheln miteinander. Tea möchte mir offenbar ihr Zimmer zeigen. Sie hüpft mit wippendem Pferdeschwanz voraus und öffnet voller Stolz die Türe mit dem Bitte-nicht-stören-Schild. Die Wände sind rosa und das Zimmer ist voller rosa Gegenstände. Auf dem Bett liegen flauschige rosa Kissen, und vor den Fenstern hängen rosa Glitzergardinen.

»Warum magst du Rosa so sehr?«, frage ich.

Teas Lächeln erlischt.

»Sie hat schon immer Rosa geliebt«, sagt Petra, klingt aber nicht ganz überzeugt.

»Viele Leute mögen Rosa«, erwidere ich.