Krimis der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre. Dieses Buch enthält folgende Geschichten:
Alfred Bekker: Der Kopf-Abhacker
Alfred Bekker: Amok-Wahn
Alfred Bekker: Ein Ermordeter taucht unter
Alfred Bekker: Ein ganz besonderer Coup
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.
"Haben Sie schon gehört?" fragte mich Mrs. Cross, als sie an meinen Bankschalter trat. "Loretta ist verschwunden."
Ich schluckte, sah der alten Dame in die Augen und wurde rot. Eine alte Krankheit von mir. Ich kann nichts dagegen machen. "Welche Loretta?" fragte ich.
"Wir haben doch nur eine Loretta hier im Ort. Loretta Grayson."
"Oh."
"Sie sind eigentlich noch ein bißchen jung für Gedächtnisschwund!"
"Liegt wohl daran, daß ich schon viel mitgemacht habe."
Es war keine besonders intelligente Antwort, das gebe ich zu, aber mir fiel halt nichts besseres ein. Und außerdem konnte ich ihren unterschwellig tadelnden Tonfall nicht ausstehen. "Wie möchten Sie Ihre fünfzig? So wie immer?"
"Wie immer", nickte sie. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß sie nur in die Bank kam, um mit jemandem zu reden.
Deswegen hob sie ihre Rente in Fünfzig-Dollar-Raten ab. Wenn man so darüber nachdachte, dann war es schon ziemlich traurig.
Sie fing wieder an, von Loretta zu reden, obwohl ich gehofft hatte, daß sie damit aufhören würde. Aber die Sache schien Mrs. Cross ziemlich zu beschäftigen.
Mich auch.
Und das war auch der Grund dafür, daß ich nicht darüber reden wollte. Aber Mrs. Cross kümmerte das nicht. Ihre Worte plätscherten wie ein Wasserfall.
"Was denken Sie darüber?" erkundigte sie sich.
"Ich weiß nicht."
"Man hört jetzt soviel von diesem Wahnsinnigen. Sie wissen schon..."
"Hm."
"Ich meine den, der seinen Opfern den Kopf abhackt..."
Die Sache hatte groß in der Zeitung gestanden. Fünf Leichen, alle geköpft. Die Köpfe hatte man nie gefunden.
Genau der richtige Stoff, um alten Frauen den Schlaf zu rauben und ihnen einen Grund zu geben, sich das Maul zu zerreißen.
Und was war mit jungen Frauen?
Ein anderes Thema.
Ihre faltige Haut wirkte irgendwie reptilienhaft. Die Gläser ihrer Brille waren nahezu flaschendick.
"Sie haben sie doch ganz gut gekannt, oder?" fragte sie.
Ich zuckte etwas zusammen. Mein Gott, ich stierte sie an wie ein Alien-Monster, das direkt von einer stockigen Leinwand heruntergestiegen war.
"Wen?" fragte ich und schluckte. Ich konnte ihren Blick durch die dicken Brillengläser nicht sehen. Nur die tiefen Furche auf ihrer Stirn.
"Na, Loretta! Oh, Gott, jetzt rede ich schon in der Vergangenheit von ihr!"
Ich sagte: "Machen Sie sich keine Sorgen um Loretta."
"Meinen Sie?"
"Ganz bestimmt?"
"Ja. Ich habe sie heute morgen noch gesehen."
"Wirklich?"
"Hören Sie, ich habe noch zu tun."
"Ja, sicher..."
"Bis zum nächsten Mal, Mrs. Cross!"
Sie humpelte davon. Ich atmete tief durch. Und dabei registrierte ich, daß Mrs. Cross einen sehr kurzen Hals hatte. Ich weiß auch nicht, warum mir das in diesem Moment auffiel. Ja, ein sehr kurzer Hals war das
Ich war ziemlich müde, als ich nach Hause kam. Das Haus hatte ich geerbt. Für mich allein war es viel zu groß, aber streng genommen lebte ich auch gar nicht allein. Das Haus war immer voller Freunde.
Immer.
Ich atmete tief durch, als ich die abblätternde Fassade sah. Mein Gott, das Haus brauchte mal wieder einen Anstrich.
Vielleicht im nächsten Frühjahr.
Vielleicht...
Ich schloß die Tür auf.
"Hallo?" rief ich. Dann legte ich den Schalter um. Der Strom ging an. Das Licht auch.
"Loretta?" fragte ich. Sie hatte die Augen geschlossen. Sie sah so friedlich aus, wenn sie die Augen geschlossen hatte. Ich ging zum Tisch, wo ich meine Apparatur aufgebaut hatte und legte einen Hebel um.
Etwas surrte.
Und es stank ein bißchen verschmort.
Loretta machte die Augen auf.
"Schön, daß du wieder da bist."
"War anstrengend heute in der Bank."
"Hat dir Mister Bascomp wieder zugesetzt?"
"Dieser Mann ist die personifizierte Nervensäge!"
"Mach dir nichts draus, Billy."
"Tu ich nicht."
"Irgendwann liegt Mister Bascomp unter der Erde und du bist Direktor!"
Ich zuckte die Achseln und machte ein ziemlich skeptisches Gesicht.
"Der ist ziemlich zäh."
"Du doch auch, oder?"
"Naja, geht so!"
Dann zischte es und ich fluchte vor mich hin. Weißer Qualm stieg auf. In meiner Apparatur gab es einen Kurzen. Loretta schloß die Augen. Sie schloß die Augen, als würde sie sagen wollen: "Welcher erwachsene Mann verbringt seine Zeit schon damit, solche Apparaturen zu bauen?" Aber sie sagte es nicht. Und sie sagte auch nicht, daß ich mit dem Zeug auf dem Tisch vermutlich irgendwann mir selbst das Dach überm Kopf anzünden würde...
Sie sagte nichts.
War auch am besten so. Aber das war das Gute an ihr. Sie wußte einfach, wann sie den Mund halten mußte.
Von vielen kann man das nicht sagen.
Am nächsten Tag stand etwas von einer Leiche in der Zeitung.
Sie war ganz in der Nähe in einem Maisfeld gefunden worden.
Und sie hatte keinen Kopf.
Die ganze Gegend sprach darüber.
Auch Dorothy, die in Bewleys Cafe arbeitete, wo ich immer in der Mittagspause hinging. Da ich meine Pause erst machte, als die Mittagszeit schon längst vorbei war, hatte sie Zeit, sich zu mir zu setzen.
Wir waren die einzigen in dem Laden.
"Ich frage mich, was er mit den ganzen Köpfen macht", sagte sie.
"Wer?"
"Na, der Verrückte!"
"Woher weißt du, daß es ein Mann ist?"
Sie zuckte die Achseln. "Habe ich einfach so angenommen.
Übrigens habe ich gehört, daß die Tote Loretta Grayson sein soll."
"Ach, ja? Wie will man das sagen - ohne Kopf?"
"Ihre Sachen gehörten Loretta."
"Naja..."
"Furchtbar sowas."
"Schlimm."
"Willst du noch einen Kaffee, Billy?"
Ich hob die Schultern. "Sicher." Ich war etwas müde.
Ein bleiernes Gefühl hatte sich in mir breitgemacht. Es ging von meinem Kopf aus, begann irgendwo hinter der Stirn und es dauerte gar nicht lange, dann war es bis in die Zehenspitzen vorgedrungen.
"Ich würde dich gerne mal besuchen, Billy."
"Heute besser nicht."
"Wieso nicht?"
"Heute paßt es schlecht."
"Vielleicht komme ich einfach mal vorbei, ja?"
"Ich weiß nicht..."
Als ich wieder zu Hause war, wurde mir klar, daß ich Loretta nicht wieder hinkriegen würde. Ich experimentierte noch etwas mit den Drähten herum, die ich an ihrem Kopf angebracht hatte. Über feine elektrische Impulse ließen sich die Augenlider und der Mund öffnen und schließen. Sie wirkte dann so lebendig, auch wenn ihre Gesichtszüge manchmal etwas maskenhaft blieben. Ich vermied daher, sie grellem Licht auszusetzen. Man muß die Dinge nicht so genau sehen. Muß man wirklich nicht. Sie war da. Loretta. Einfach da. Eine Gefährtin. Sie konnte auch den Mund halten. Habe ich das schon erwähnt? Ich weiß nicht...
Traurigkeit erfaßte mich.
"Was ist los, Billy?"
"Ich weiß es nicht."
"Warum ist da immer dieser weiße Qualm?"
Ich schluckte. "Ich krieg' das schon hin, Loretta."
Eine Lüge.
Als der weiße Qualm erneut aufstieg, schaltete ich die Apparatur ab. Schade, dachte ich. Du wirst mir fehlen.
"Was?"
"Nichts."
Der bleiche, tote Mund verstummte.
Endgültig.
Ich ging zum Kühlschrank, fragte mich, was ich verkehrt gemacht hatte und nahm mir eine Dose Budweiser. Das Bier war warm. Scheiße. Ich hatte nicht daran gedacht, daß ich den Stecker herausgezogen hatte, um die Dose für meine Apparatur nutzen zu können. Ich schlürfte die warme Brühe, machte den Fernseher an, hörte aber nicht richtig zu.
Beim nächsten Mal mache ich es besser, dachte ich. In Gedanken ging ich die gesamte Schaltung noch einmal durch.
Ich sah dabei zu Loretta hinüber.
Zu ihrem Kopf.
Irgendein Schleim tropfte unten aus der Öffnung am Hals, die ich eigentlich mit einer Polyester-Dichtung verstopft hatte.
Es war fünf Uhr nachmittags, als Dorothy kam. Sie trug ein Kleid. Ich hatte sie noch nie in einem Kleid gesehen, immer nur in karierten Hemden und Jeans.
Ich starrte sie an. Sie wurde rot. Ich wahrscheinlich auch.
"Hi!"
"Hi, Dorothy!"
"Ich dachte, ich komme mal vorbei."
"Tja..."
"Komme ich ungelegen?"
"Nein, aber..."
Ich hielt sie zurück, als sie an ihm vorbeigehen wollte.
Sie sah mich an. Ihre Augenbrauen bildeten eine Schlangenlinie. Eine Frage stand in ihrem Gesicht.
"Hast du Besuch?"
"Quatsch."
"Was ist dann los?"
"Ich muß eben was wegräumen, Dorothy. Dann kannst du reinkommen, okay?"
"Irgendwie riecht das komisch bei dir da drinnen..."
"Ich habe gebastelt. Mit Polyester... Warte hier, ja?"
"Okay", seufzte sie.
Ich wußte nicht, wo ich Lorettas Kopf so schnell hinstecken sollte. Ich packte ihn schließlich in den Mülleimer. Die Klappe ging nicht richtig zu. Ich mußte ihn ziemlich quetschen.
Die Apparatur ließ ich so stehen, wie sie aufgebaut war.
Es hätte zuviel Arbeit gemacht, alles von neuem zu verkabeln. Nur die Blutflecken wischte ich weg. Und diesen Schleim, der aus Lorettas Kopf herausgequollen war. Aber viel war davon nicht vorhanden.
Ich bin immer sehr reinlich.
Ich holte die Axt.
Der Puls schlug mir bis zum Hals.
Dorothy...
Sie hat ein schönes Gesicht, dachte ich. Und einen schlanken, langgezogenen Hals. Anders als Mrs. Cross.
"Du kannst reinkommen, Dorothy!"
Thriller von Alfred Bekker (Henry Rohmer)
Der Umfang dieses Ebook entspricht 140 Taschenbuchseiten.
In einem großen Kaufhaus richtet ein Amokläufer ein wahres Blutbad an. Stand der Täter unter Drogen oder trieb ihn ein krankhafter Wahn zu seiner Tat? Die Ermittler finden jedoch heraus, dass dieses Massaker einen ganz anderen Hintergrund hat...
Und es ist erst der Anfang einer blutigen Serie...
Action Thriller von Henry Rohmer
Henry Rohmer ist das Pseudonym des vor allem durch seine Fantasy-Romane und Jugendbücher bekanntgewordenen Schriftstellers Alfred Bekker.
Ein CassiopeiaPress E-Book
© by Author
© 2015 der Digitalausgabe by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de
"Legt euch hin, verdammt noch mal, oder ich niete euch alle um!", rief Ron Dexter. Er feuerte zweimal seine Automatik ab. Schreie gellten durch das New Yorker Kaufhaus Macy's. Eine der Kugeln durchdrang die Verkleidung unterhalb des Rolltreppenhandlaufs. Etwas zischte. Ein Teil der Beleuchtung fiel aus. Die Rolltreppe blieb mit einem Ruck stehen. Etwa zwei Dutzend Personen befanden sich dort, wurden durcheinandergewirbelt, duckten sich. Dexter feuerte über ihre Köpfe hinweg. Der bärtige Mittvierziger trug einen Army-Helm, eine Tarnhose mit Springerstiefeln sowie eine abgeschabte Lederjacke mit aufgenähtem Totenkopf und der Aufschrift BORN TO RIDE HARLEY. Dexters Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen stark erweitert. Das Gesicht glich einer verzerrten Maske. Niemand unter den Geiseln zweifelte daran, einem Wahnsinnigen in die Hände gefallen zu sein.
Aus den Augenwinkeln heraus nahm Dexter eine Bewegung wahr. Er wirbelte herum, die Automatik im Beidhandanschlag. Mehrere Kunden und zwei Verkäuferinnen standen in der Nähe der Registrierkasse.
"Wer eine falsche Bewegung macht stirbt!"
Ein Mann im dunklen Anzug griff sich unter das das Jackett. Sein Kopf war hochrot, er rang nach Luft.
Dexter feuerte.
Die Kugel traf den Mann in die Stirn.
Er schlug der Länge nach zu Boden. Regungslos blieb er in verkrampfter Haltung liegen. Das Jackett rutschte zur Seite. Von einer Waffe war nichts zu sehen.
Die anderen Geiseln des Wahnsinnigen waren wie erstarrt.
Niemand rührte sich.
"Auf den Boden!", knurrte Dexter.
Auch die Geiseln in der Nähe der Registrierkasse legten sich nach und nach nieder. Dexter feuerte einmal zwischen sie. Die Kugel fuhr in den Teppichboden.
Eine Frau stieß einen schrillen Schrei aus.
Dexter drehte sich herum, schoss in Richtung eines Kleiderständers, wo er eine Bewegung gesehen zu haben glaubte. Ein Spiegel wurde getroffen und zersprang.
"Ihr kriegt mich nicht!", schrie Dexter mit heiserer Stimme. Die Halsschlagader trat dabei deutlich hervor, pulsierte.
Er blickte hinauf zu den Balustraden der oberen Geschosse. Dexter stand inmitten eines Atriums. Licht fiel durch eine Glaskonstruktion in der Decke. Fünfundzwanzig Meter oder acht Stockwerke lagen zwischen Dexters Standort und diesem Licht. Von den Balustraden aus konnte man von höheren Stockwerken zum Ort des Geschehens hinunterblicken. Hier und da sahen neugierige Passanten nach unten. Sie hatten zwar die Schüsse gehört, aber niemandem war klar, was sich weiter unten abspielte.
Dexter stieß einen wilden Schrei aus.
Er schoss eine Salve von fünf schnell nacheinander abgefeuerten Schüssen ab.
Die Neugierigen an den Balustraden verzogen sich.
Dexter wandte sich den neben der Registrierkasse am Boden liegenden Geiseln zu.
Neben dem Mann, den er erschossen hatte, bildete sich eine immer größer werdende Blutlache. Eine der Verkäuferinnen zitterte, war einem Nervenzusammenbruch nahe.
Sie biss die Lippen aufeinander.
Dexter riss das Magazin aus der Automatik, griff in die Seitentasche seiner Lederjacke und ersetzte es durch ein Frisches.
An der Balustrade des nächst höheren Stockwerks gingen Security Guards in Stellung. Sie blieben mit ihren Revolvern vom Kaliber .38 lieber in Deckung. Auf eine Situation wie diese hatte sie niemand vorbereitet.
Dexter feuerte in ihre Richtung.
Dann zog er eine Handgranate unter der Lederjacke hervor. Er hatte sie an dem breiten Army-Gürtel getragen, an dem außerdem noch eine Munitionstasche und ein Kampfmesser hingen. Drei weitere dieser Hölleneier befanden sich außerdem noch dort.
"Verschwindet da oben!", rief er. "Oder ich jage hier alles in die Luft."
Eine Megafonstimme ertönte.
"Seien Sie vernünftig! Wir möchten mit Ihnen reden!"
Dexter wirbelte herum, feuerte sofort in die Richtung aus der er die Megafonstimme gehört zu haben glaubte. Er erwischte mit seiner Salve ein Mobilé aus ultraleichten Plastik-Micky-Maus-Figuren, das scheinbar freischwebend an fast unsichtbaren Fäden von der Decke hing.
"Was immer auch Ihre Forderungen sein mögen, wir können darüber reden!", meldete sich erneut die Megafonstimme. "Tun Sie jetzt nur nichts Unüberlegtes!"
Schweißperlen glänzten auf Ron Dexters Stirn.
Er wirkte wie ein gehetztes Tier.
Dexter wandte sich einem der neben der Registrierkasse am Boden liegenden Geiseln zu. Er stieß eine junge Verkäuferin mit dem Stiefel an. "Aufstehen!", knurrte er.
Die Verkäuferin wimmerte.
Am Revers ihres blauen Kleides hing ein Namensschild.
Sarah Norman stand darauf.
Das lange, blonde Haar war durcheinandergewirbelt, das Make-up vollkommen verlaufen.
Dexter richtete seine Waffe auf sie.
Er deutete auf die andere Seite des Raums, wo eine Tür zum Treppenhaus führte.
"Ich will, dass Sie vor mir hergehen!", rief er.
"Bitte..."
Sarah Norman wimmerte. Tränen flossen über ihr Gesicht. Sie zitterte am ganzen Körper. Dexter fasste sie am Arm, stieß sie vorwärts.
Er deutete mit dem Lauf der Automatik in Richtung der Tür zum Treppenhaus.
"Wo ist der Schlüssel?", fragte er.
"Es ist nicht abgeschlossen!"
In den New Yorker Hochhäusern war es lange üblich gewesen, die Zugänge zum Treppenhaus abzuschließen und erst im Notfall durch Sicherheitspersonal öffnen zu lassen. Seit dem Einsturz des World Trade Centers hatte man in dieser Hinsicht vielerorts umgedacht. Im Ernstfall ging nämlich wertvolle Zeit verloren.
Dexter führte Sarah Norman vor sich her, blickte zwischendurch nach oben. Das gesamte Bereich, in dem er sich befand, war von den Balustraden der oberen Etagen aus einsehbar. Ich bin hier wie auf dem Präsentierteller!, durchzuckte es ihn.
Er wirbelte herum, schoss über einen Kleiderständer hinweg, hinter dem er eine Bewegung erkannt zu haben glaubte.
Sein Blick glitt zur Seite.
Zwischen zwei Regalfronten war eine gerade Gasse, die sich bis zur anderen Seite des Verkaufsraums zog. Dort befand sich ein Nebenausgang für das Personal. Die Tür stand offen.
In geduckter Haltung lauerten dort drei schwarz uniformierte Security Guards.
Die Revolver trugen sie im Anschlag.
"Waffe weg!", brüllte einer von ihnen.
Sie zögerten.
Keiner von ihnen wagte zu schießen. Die Gefahr für die Geisel war unkalkulierbar. Dexter handelte blitzschnell.
Er zog Sarah Norman wie einen Schutzschild vor sich, feuerte gleichzeitig seine Automatik ab. Fünf Schüsse in rascher Folge wummerten durch den Gang.
Einer der Security Guards sank getroffen zu Boden.
Die anderen beiden gingen rechts und links hinter den Regalfronten in Deckung.
"Verzieht... euch, ihr... Ärsche!", brüllte Dexter.
Sein Gesicht wurde zur Grimasse. Die Augäpfel traten hervor. Die Halsschlagader ebenfalls. Sie pulsierte deutlich sichtbar. Dexter brüllte weiter. Aber niemand verstand, was er sagte. Es hörte sich wie das Lallen eines Betrunkenen an. Laute, Silben, manchmal Wortfetzen, die aber keinen Sinn ergaben.
Sarah Norman stieß einen schrillen Schrei aus.
Dexter schob sie vorwärts.
Schließlich blieb er etwa zehn Meter vor dem Treppenhaus-Zugang stehen.
Er gab Sarah einen Stoß, richtete seine Automatik auf sie.
"Tür öffnen!"
Sarah Norman wimmerte, schien einem Nervenzusammenbruch nahe zu sein.
Sie bewegte sich schleppend auf die Tür zu.
"Schneller!"
Dexter glaubte hinter sich eine Bewegung zu erkennen, wirbelte herum, feuerte ohne zu zielen. Zwei Kugeln fetzten in einen Kleiderständer hinein, zerrissen den Stoff von einem Dutzend Long Jacketts. Sarah Norman rannte in Richtung des Treppenhauszugangs. Offenbar glaubte sie, dem Wahnsinnigen entkommen zu können. Sie erreichte den Treppenhauszugang, riss die Tür auf. Dahinter standen mehrere Uniformierte Security Guards. Sie hielten ihre Waffen im Anschlag.
Dexter handelte reflexartig.
Er griff mit der linken zum Gürtel, riss eine der Handgranaten hervor. Mit den Zähnen betätigte er den Auslöser. Die Granate war jetzt scharf. Dexter schleuderte sie in Richtung der Guards, feuerte gleichzeitig auf sie.
Die Uniformierten hatten Dexter nicht rasch genug durch einen gezielten Schuss ausschalten können.
Sarah Norman stand ihnen im Weg.
Dexters Handgranate detonierte. Sowohl Sarah als auch die Security Guards wurden davon erfasst.
Die Schreie wurden vom Explosionsgeräusch übertönt. Dexter selbst bekam noch die Druckwelle zu spüren, wurde zu Boden gerissen.
Er rollte sich ab.
Die mörderische Flammenhölle sengte ihn an. Sein Jackenärmel fing Feuer. Dexter schrie auf, ruderte heftig mit dem Arm, schlug damit auf den Boden.
Die Flamme erlosch.
Dexter rappelte sich auf.
Er drehte sich herum. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.
Zum Aufzug!, durchzuckte es ihn.
Eigentlich hatte er den Lift nicht benutzen wollen. Das Risiko war einfach zu groß. Durch Abschalten des Stroms konnte man ihn ziemlich leicht kaltstellen.
Aber jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als das Risiko einzugehen.
Ich bin eingekreist!, durchfuhr es ihn. Seine Verfolger schienen überall zu sein. Ein Laserstrahl brach sich für Sekundenbruchteile in einer Glasscheibe. Dexter reagierte blitzschnell, hechtete hinter eine Regalwand. Dort, wo er gerade noch gestanden hatte, brannte sich ein Projektil in den Teppichboden. Dexter sah den Laserpunkt wandern. Der Schütze musste sich auf einer der Balustraden der oberen Stockwerke befinden. Ihr werdet mich nicht kriegen!, schwor er sich. Und wenn ich dafür das ganze Gebäude in die Luft sprengen muss!
Milo und ich waren Richtung Midtown Manhattan unterwegs. Es war gegen 17.00 Uhr. Ausnahmsweise waren wir einmal relativ pünktlich aus dem Bundesgebäude an der Federal Plaza herausgekommen, um Feierabend zu machen.
Trotzdem sollte es an diesem Abend noch mehrere Stunden dauern, ehe ich Milo an der bekannten Ecke absetzen konnte.
Wir erhielten einen dringenden Notruf aus der Zentrale. Mister Jonathan D. McKee war persönlich am Apparat. "Fahren Sie sofort zum Kaufhaus Macy's, da ist im Moment die Hölle los!", berichtete uns der Chef des FBI Field Office New York. Wir hörten seine Stimme über die Freisprechanlage des Sportwagens, den die Fahrbereitschaft des FBI uns zur Verfügung stellte. "Ein offensichtlich geistesgestörter Amokschütze befindet sich dort, hat zeitweilig Geiseln genommen und wild um sich geschossen. Unter anderem sprengte er mehrere Wachleute und eine Angestellte mit einer Handgranate in die Luft. Spezialkommandos der City Police sind auf dem Weg zum Einsatzort..."
"Einen gemütlichen Feierabend hatte ich mir anders vorgestellt, Sir", sagte ich, ließ dabei das Seitenfenster herunter.
Milo reichte mir das Rotlicht an.
Ich setzte es auf das Dach.
"Tut mir leid, Jesse, muss leider sein. Sie und Milo sind am dichtesten dran!", setzte Mister McKee noch hinzu.
"Schon in Ordnung", meinte Milo.
Ich trat das Gaspedal durch, schaltete die Sirene ein.
Minuten später erreichten wir das Macy's.
Dutzende von Einsatzwagen der City Police waren bereits am Ort des Geschehens.
Wir hatten Glück, so nahe am Ort des Geschehens gewesen zu sein. Andernfalls hätten wir Schwierigkeiten gehabt, überhaupt noch durchzukommen. In spätestens einer Viertelstunde würde der Verkehr um das Macy's herum zum Erliegen kommen. Ich stellte den Wagen am Straßenrand ab.
Wir stiegen aus und legten die Kevlar-Westen an. Die Dinger sind zwar unbequem, können aber Leben retten. Bei Einsätzen wie diesem sind sie für jeden G-man Pflicht. Außerdem legten wir Ohrhörer und Mikro an. Wenn wir tatsächlich ins Macy's hineingingen, um den Amokläufer zu stellen, dann war das nur denkbar, wenn wir die ganze Zeit über mit der NYPD-Einsatzleitung vor Ort in Funkkontakt blieben.
Zahlreiche panikerfüllte Kunden strömten ins Freie. Ein noch so großes Aufgebot an Police Officers hätte sie nicht aufhalten können.
Die Situation war chaotisch.
Die NYPD-Kollegen versuchten verzweifelt, etwas Ordnung zu schaffen. Ein Team des Emergency Service stand zum Einsatz bereit. Aber noch konnte es nicht in Aktion treten.
Ein paar Dutzend Meter von uns entfernt sah ich das Kamerateam eines Lokalsenders. Cops verhinderten, dass es sich weiter dem Eingangsbereich des Macy's näherte.
Die mobile Einsatzzentrale befand sich in einem Van der City Police.
Dort trafen wir den Einsatzleiter. Captain Mike Rovanovich vom 23. Precinct.
Rovanovich war ein etwas fülliger Mittvierziger. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn.
"Schön, dass euer Field Office jemanden geschickt hat!", sagte er in unsere Richtung. "Wir brauchen jede Unterstützung. Leider läuft hier alles im Moment noch ziemlich chaotisch..."
"Wo befindet sich der Kerl?", fragte ich.
"Das ist ja das Problem! Wir haben ihn verloren!"
"Was?"
"Er stieg in einen Aufzug, nachdem er mit einer Handgranate mehrere Wachleute und eine Verkäuferin in die Luft sprengte. Aber anscheinend ist er nirgendwo ausgestiegen! Sonst wäre das auf der Videoüberwachung zu sehen gewesen."
"Dann ist der Kerl noch im Lift!", stellte ich fest.
"Die Kabine war leer!", gab Mike Rovanovich zur Antwort.
Ich überprüfte die Ladung meiner SIG und stellte den zu meinem Ohrhörer passenden Funkempfänger auf die bei der City Police gebräuchliche Frequenz ein.
"Sie haben sicher schon von diesen verrückten Lift-Surfern gehört, Captain!"
Captain Rovanovich runzelte die Stirn. "Sie meinen, der Kerl turnt jetzt an den Drahtseilen im Liftschacht herum?"
Unsere Kollegen Jay Kronburg und Leslie Morell trafen wenig später ein. Ihr Weg hier her war etwas länger gewesen als der unsere. Ein Spezialeinsatzkommando steckte im Stau fest. Rund um das Macy's war in Midtown Manhattan der Verkehr total zusammengebrochen. Die Vielzahl von Einsatzfahrzeugen war daran nur zum Teil Schuld. Tausende von Besuchern des Macy's strömten völlig unkontrolliert aus dem Kaufhaus, liefen zu ihren Fahrzeugen in der Tiefgarage und versuchten von Panik getrieben diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Familien mit Kindern waren darunter, die einen vergnüglichen Spätnachmittag beim Einkaufsbummel hatten verbringen wollen.
Die Panik, die der Amokläufer verbreitet hatte, musste sich rasend verbreitet haben. Es hatte keinen Sinn, diese Menschenmassen mit einer Handvoll Cops aufhalten zu wollen. Das hätte nur in einer Katastrophe geendet. Wir konnten nur hoffen, dass die Security Guards in der Videozentrale wirklich sehr genau ihre Bildschirme kontrolliert hatten.
Wenn nicht, war der Amokläufer vielleicht mit den Menschenmassen hinausgespült worden, ohne dass ihn jemand bemerkt hatte.
In dem Fall hatten wir schlechte Karten.
Captain Rovanovich entschied, das Eintreffen des Spezialkommandos nicht abzuwarten.
Wir gingen in das Gebäude hinein. Das Emergency Service-Team folgte uns. Der Strom der von Panik ergriffenen Macy's-Kunden kam uns dabei entgegen und sorgte dafür, dass wir länger brauchten als gewöhnlich. Rovanovich leitete den Einsatz vom Van aus. Er war dabei in ständigem Funkkontakt mit der Videoüberwachungszentrale des privaten Security Service, der normalerweise innerhalb des Kaufhauses für Sicherheit zu sorgen hatte.
Bei den Aufzügen trafen wir ein paar Security Guards.
Sie waren mit der Situation vollkommen überfordert. Der Schrecken stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
"Fragen Sie mal nach, welchen Lift der Killer benutzt hat!", wandte ich mich über Funk an Captain Rovanovich.
Wenig später konnte mir der NYPD-Captain darauf eine Antwort geben.
"Er hat die Nummer 5 benutzt!"
"Danke!"
Ich ging zum Aufzug mit der Nummer fünf und sorgte per Knopfdruck dafür, dass sich die Kabine in Bewegung setzte.
Wir G-men und einige der City Police-Cops warteten geduldig ab, während die anderen sich auf den Weg in den siebten Stock machten. Dort sollte es einen schwerverletzten Mann mit einer Schusswunde geben. Sicherheitshalber nahmen die Kollegen den Weg über das Treppenhaus.
Schließlich war der Amokläufer in Besitz von Handgranaten. Vielleicht hatte er auch weiteren Sprengstoff dabei. Sobald er sich in die Enge getrieben fühlte, war dieser Tätertyp vollkommen unberechenbar.
Die Kabine von Nummer 5 erreichte das Erdgeschoss.
Ich wandte mich an einen der hauseigenen Security Guards.
"Können Sie im Aufzugsbereich den Strom abschalten?"
"Das ist gegen die Vorschriften, Sir!", bekam ich zur Auskunft. "Schließlich könnten sich noch Personen in den Aufzügen befinden...!"
"Tun Sie es trotzdem, wir können nicht länger warten!"
"Ich werde die Verantwortung nicht übernehmen!", erwiderte der Guard.
Milo meldete sich zu Wort. "Wenn der Kerl wirklich irgendwo in diesem Schacht herumklettert, dann sollten wir ihn schleunigst stellen!", fand er. "Schließlich hat er Handgranaten bei sich."
Jay Kronburg wandte sich an den Wachmann. "Wir übernehmen die Verantwortung! Also stellen Sie den Strom ab!"
Ich wartete nicht länger. Sollte Jay versuchen, mit der Autorität eines Ex-Cops dafür sorgen, dass die Stromversorgung der Aufzüge abgeschaltet wurde.
Ich betrat die Kabine. Milo folgte mir. Ich deutete mit dem Lauf der SIG hinauf zum Kabinendach. "Schau dir das an!"
"Du hattest den richtigen Riecher, Jesse!"
Eine der Platten des Kabinendachs war aus ihrer Halterung gebrochen worden. Der Täter hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie wieder exakt in die Lücke hineinzupassen.
Milo bildete mit den Händen einen Tritt.
Ich steckte die SIG ein, schwang mich hinauf. Die Platte war lose. Sie ließ sich zur Seite schieben. Mit einem schabenden Laut fiel sie vom Kabinendach herunter in die Tiefe. Und das mussten mindestens noch einmal zehn oder zwölf Meter sein, schließlich befanden sich unterhalb des Macy's mehrere Parkdecks, zu denen man ebenfalls über die Aufzüge gelangen konnte.
Ich zog mich mit einem Klimmzug empor. Die Öffnung war groß genug, um hindurchzuklettern. Der Amokschütze hatte es etwas schwerer gehabt. Ich vermutete, dass er die seitlichen Haltegriffe als Tritte benutzt und die Finger durch das Gitter eines Lüftungsschlitzes knapp unterhalb der Decke gekrallt hatte. Ich griff zur SIG, blickte mich um. Es herrschte Halbdunkel. Eine schwache Notbeleuchtung gab es hier im Schacht. Irgendwo weit über mir fiel spärliches Licht durch dicke Glasbausteine in der Gebäudedecke.
"Siehst du was?", fragte Milo.
Ich brauchte einige Augenblicke, um mich an das Halbdunkel zu gewöhnen.
Ein knarrender Laut ließ mich abwärts blicken. Eine der Liftkabinen wurde angehoben, kam langsam höher. Von dem Amokläufer sah ich dort jedoch keine Spur.
Immer wieder machten sogenannte Lift-Surfer von sich reden, die eine Mutprobe daraus machten, in den Schächten von einer Kabine zur anderen zu springen. Ein riskantes Spiel. Schon so mancher war dabei buchstäblich zerrissen worden. Die Sicherheitsbestimmungen waren inzwischen verschärft worden, sodass es schwieriger war, die Liftkabine zu verlassen. Offenbar reichten diese verschärften Vorschriften noch immer nicht aus.
Von oben senkte sich ebenfalls eine Kabine herab.
Ich hörte die Megafonansagen der NYPD-Kollegen. Alle, die sich noch im Gebäude aufhielten, wurden angewiesen, nicht die Fahrstühle zu benutzen.
Dann hielten beide Liftkabinen mit einem Ruck.
Die Notbeleuchtung verlosch.
"Hier spricht Special Agent Jesse Trevellian vom FBI!", rief ich. Meine Worte hallten im Schacht wider. Ich musste langsam und deutlich sprechen. "Wir wissen, dass Sie hier sind! Sie haben keine Chance zu entkommen. Aber was immer auch Ihr Anliegen sein mag, Sie werden in einem fairen Prozess die Möglichkeit bekommen, es an die Öffentlichkeit zu bringen!"
Ich lauschte. Was ich gesagt hatte, war nicht mehr als ein Schuss ins Blaue. Niemand von uns wusste, was wirklich in dem Kopf des Amokläufers vor sich ging. Manche wollten einfach nur auf spektakuläre Weise in die Öffentlichkeit. Gescheiterte Existenzen, die sich einen großen Abgang inszenierten und sich dabei Vorbilder aus den Medien nahmen. Je nachdem, wie der groß der Schaden war, den sie angerichtet hatten, starben diese Menschen in der Gewissheit, dass der Bürgermeister, der Gouverneur oder in besonders schweren Fällen sogar der Präsident öffentlich von ihnen Notiz genommen hatte.
Es gab andere Fälle, in denen sich die Betreffenden einfach nur voll bewusstseinsverändernder Drogen gepumpt hatten.
Ich hoffte nicht, dass der Kerl, mit dem wir es zu tun hatten, zu dieser Kategorie zählte.
Denn die Angehörigen dieser Sorte konnte man mit noch so geschickt gewählten Worten nicht beeinflussen.
Milo kletterte inzwischen zu mir herauf.
Noch immer herrschte ansonsten absolute Stille im Schacht.
"Hören Sie, man wird Ihnen helfen!", rief ich. "Ich bin überzeugt davon, dass Sie Hilfe brauchen. Ich verspreche Ihnen, dass man Sie Ihnen auch geben wird! Es muss mit dem heutigen Tag nicht alles für Sie zu Ende sein! Allerdings können Sie dieses Gebäude nur lebend verlassen, wenn Sie sich ergeben!"
Wieder keine Antwort.
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, ein rotes Blitzen hoch über mir zu sehen. Ein Laserstrahl, der an mehreren Stellen mit den fingerdicken Drahtseilen zusammentraf. Dadurch wurde er selbst auf die große Entfernung hin für einen Sekundenbruchteil gut sichtbar.
"Er ist dort oben", flüsterte ich Milo zu, der nach unten geblickt und davon nichts mitbekommen hatte.
"Wie kommst du darauf?", fragte mein Partner.
"Ich habe den Laserpointer seiner Waffe gesehen."
"Warum hat er sich verdammt noch einmal nach oben tragen lassen? Das gibt doch keinen Sinn, Jesse!"
"Vielleicht doch!"
"Du meinst, da wird man ihn zuletzt suchen!"
"Ich hoffe, dass das der einzige Grund ist", murmelte ich. Ich gab die ungefähre Position, an der ich den Strahl des Laserpointer zu sehen geglaubt hatte, an die Einsatzzentrale durch. Captain Rovanovich konnte so schon einmal ein paar Leute auf den Weg schicken.
Milo wandte den Kopf zu mir.
"Na, was ist? Hat der Amateurpsychologe Jesse Trevellian schon aufgegeben oder versuchst du noch einmal, den Typ aus der Reserve zu locken?", fragte Milo.
Er fasste die SIG mit beiden Händen.
Suchend blickte er empor.
Das schwache Gegenlicht, das durch die Glasbausteine in der Decke drang, machte es nicht gerade einfacher, etwas zu erkennen. Aber einen Scheinwerfer zu benutzen, wäre für uns vermutlich Selbstmord gewesen. Der Amokläufer hätte dann ein gut sichtbares Ziel vor sich gehabt.
Ein schabendes Geräusch war zu hören, hallte mehrfach wider.
Immerhin bestätigte mich das in der festen Überzeugung, dass dort oben tatsächlich jemand war.
"Hier ist nochmal Jesse Trevellian vom FBI", rief ich zu ihm hinauf. "Draußen warten ein paar Fernsehteams und Presseleute! Aber das Macy's ist komplett abgeriegelt. Von denen kommt keiner nahe genug heran, um Sie auf das Band zu bekommen! Sie wollen doch, dass man von Ihnen Notiz nimmt, oder?"
Die Antwort des Amokläufers bestand aus Schweigen.
"Wenn Sie aufgeben, sorge ich dafür, dass Sie vorne durch den Haupteingang geführt werden, wenn Sie das wollen. Dann werden Ihr Gesicht und das, was Sie in die Kameras sagen, um die ganze Welt gehen. Es ist beste Prime Time. Sie werden der Aufmacher in den Abendnachrichten sein! Was ist? Ist das kein Angebot?"
Wieder war ein Geräusch zu hören. Es klang wie ein Ratsch. Eine Waffe wurde durchgeladen. Dann folgte ein Schrei. Ein dunkler Schatten fiel aus Höhe des fünfzehnten oder sechzehnten Stocks. Der Körper eines Menschen. Genau das hatte ich befürchtet. Deswegen, so glaubte ich in diesem Moment, war der Amokläufer aufwärts "gesurft". Er gehörte offenbar zu jener Sorte, denen es einzig und allein um die Inszenierung eines dramatischen Abgangs ging.
"Verdammt!", knurrte Milo.
Im nächsten Moment hörten wir tief unten seinen Körper aufschlagen.
Ein alptraumhafter Laut.
Im nächsten Moment wurde es hell im Schacht. Eine gewaltige Explosion brach los. Tief unter uns war eine Flammenhölle. Der Knall war ohrenbetäubend. Offenbar war eine der Handgranaten losgegangen, die der Kerl bei sich trug. Wahrscheinlich hatte er den Auslöser noch gezogen, während er in die Tiefe fiel. Die Druckwelle erfasste die Liftkabine, auf deren Dach wir uns befanden mit voller Wucht. Wir mussten uns festhalten, klammerten uns an den Drahtseilen fest. Es wurde höllisch heiß. Wir kletterten in die Kabine zurück. Zuerst Milo, dann ich. Leslie und Jay nahmen uns in Empfang, halfen uns dabei. Eine weitere Detonation erschütterte jetzt den gesamten Aufzugsschacht.
"Der Kerl scheint jede Menge Explosives bei sich gehabt zu haben", kommentierte Milo den zweiten Knall.
Wir traten aus der Kabine heraus.
"Jesse! Milo! Was ist da bei euch los, verdammt noch mal?", dröhnte die Stimme von Captain Rovanovich in meinem Ohrhörer.
Ich atmete tief durch.
"Der Kerl hat sich das verschafft, worauf er es wohl von Anfang an abgesehen hatte - einen spektakulären Abgang", berichtete ich.
"Er hätte auf dein Angebot eingehen sollen, Jesse!", murmelte Milo düster. "Dann wäre er auch berühmt geworden..."
Ich schloss einige Augenblicke lang die Augen. Die aufgeregte Stimme von Captain Rovanovich beachtete ich für den Moment nicht weiter. Irgendetwas stimmt hier nicht, durchzuckte es mich. Ich konnte nicht sagen, was genau es war. Aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass es hier um mehr ging, als nur um einen Mann, der in die Psychiatrie gehört hätte. Ich zermarterte mir das Hirn, versuchte mir noch einmal im Einzelnen zu vergegenwärtigen, was gerade geschehen war. Irgendein winziges Detail passte nicht ins Bild. Nur ein winziges Stück in einem Puzzle. So sehr ich mich auch anstrengte, es fiel mir nicht ein. Noch nicht.
Am nächsten Morgen saßen wir im Besprechungszimmer von Mister McKee, dem Chef des FBI Field Office New York im Rang eines Special Agent in Charge. Außer Milo und mir waren auch die Agenten Jay Kronburg und Leslie Morell anwesend. Darüber hinaus Max Carter aus dem Innendienst unseres Field Office.
"Ich möchte mich für Ihren Einsatz bedanken", sagte Mister McKee. "Dass dieser Mann es am Ende doch vorgezogen hat, seinem Leben ein spektakuläres Ende zu setzen, war ganz gewiss nicht Ihr Fehler! Immerhin scheint sich der Verdacht, dass dieser Amoklauf irgendeinem terroristischen Hintergrund hat, bislang nicht bestätigt zu haben...."
Seit dem Anschlag auf das World Trade Center waren sämtliche offiziellen Stellen in den USA in dieser Hinsicht äußerst sensibel und gingen jedem, auf den ersten Blick noch so geringfügigen Verdacht nach. Dabei drohte die Gefahr durchaus nicht nur durch die Anhänger von Al-Quaida. Manchmal geriet allzu leicht in Vergessenheit, dass einige der schlimmsten und skrupellosesten Terror-Anschläge der letzten Jahre von US-Bürgern im eigenen Land verübt worden waren. Der Bombenleger von Oklahoma City war da nur ein Beispiel.
Ich nippte an meinem Kaffee.
Mandys Spezialmischung. Der Kaffee, den die Sekretärin unseres Chefs braute, war im gesamten Bundesgebäude an der Federal Plaza eine Legende.
Mister McKee gab inzwischen das Wort an Max Carter weiter. "So wie ich das sehe, dürfte der Fall so gut wie abgeschlossen sein, auch wenn noch nicht alle Berichte vollständig vorliegen. Bei dem Amokläufer handelt es sich um einen ehemaligen US-Marine und Teilnehmer am ersten Golfkrieg 1991. Ronald W. Dexter jr., ein für seine Tapferkeit ausgezeichneter Sergeant. Sein letzter Einsatz war in Somalia. Dexter kehrte hochgradig traumatisiert zurück und wurde für dienstunfähig erklärt. Nach seinem Ausscheiden aus dem Marine Corps schloss er sich einer Rocker-Gang an, deren Angehörige von Clubbesitzern als Türsteher engagiert wurden. Diese Türsteher kontrollierten, welche Dealer und Prostituierten in die Clubs hineinkamen und welche nicht."
"Sicher ein einträgliches Geschäft!", kommentierte Jay Kronburg.
Carter fuhr fort. "Dexter handelte sich ein paar Vorstrafen wegen Körperverletzung ein, war wohl zeitweilig auch drogensüchtig. Nach Angaben seines Bewährungshelfers hat ihn am Ende sogar seine Gang ausgestoßen..."
Ein tragisches Schicksal, ging es mir durch den Kopf. Vom gefeierten Held aller Patrioten zu einem drogensüchtigen Outcast. Aber war das Grund genug, um mit einer Waffe und mehreren Handgranaten in ein großes Kaufhaus zu gehen, um dort ein Blutbad anzurichten? Keiner der Menschen, die dort in Mitleidenschaft gezogen worden waren, hatte Dexter etwas angetan. Der pure Zufall hatte sie zu seinen Opfern gemacht.
Ich lehnte mich etwas zurück, nahm noch einen Schluck Kaffee.
Max Carter setzte inzwischen seine Ausführungen fort.
"Es gibt hier einen Bericht von Dr. Jeremy Eisenman. Er ist forensischer Psychiater und attestierte Dexter im letzten Jahr im Zusammenhang mit einer Körperverletzung eine schwere Psychose. Dexter hatte offenbar Wahnvorstellungen, glaubte verfolgt zu werden."
"Aber was hat dazu geführt, dass er gestern durchdrehte?", fragte ich.
Max Carter zuckte die Achseln. "Eine Verkettung unglücklicher Umstände vielleicht. Wahrscheinlich werden wir es nicht mehr herausfinden."
"Der Fall steht mehr oder weniger kurz vor dem Abschluss", erklärte Mister McKee. "Ich bin froh, dass wir es wenigstens mit einem gewöhnlichen Verrückten zu tun hatten - und nicht mit dem Selbstmordattentäter irgendeiner wahnsinnigen Terror-Sekte!"
Mein Instinkt meldete sich. Irgendetwas passte hier nicht zusammen. Ich wandte mich an Max Carter. "Hast du was dagegen, wenn ich mir den vorläufigen Bericht mal ansehe?"
"Bitte!"