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Dr. med. Peter Niemann

Das kranke Krankenhaus

Eindrücke aus den USA und Deutschland

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© 2015, 2017 Peter Niemann

www.arztinusa.de

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback: 978-3-7439-1347-9
Hardcover: 978-3-7439-1348-6
e-Book: 978-3-7439-1349-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Einleitung

Seit mehreren Jahren arbeite und lebe ich als Arzt in den USA, und mittlerweile sind die USA so etwas wie meine zweite Heimat geworden. Als ich nach meinem Medizinstudium in Deutschland beschloß, in die USA zu gehen, dachte ich, daß ich nur für die Ausbildung bleiben und dann wieder nach Deutschland zurückkehren würde, um dort als Facharzt tätig zu werden. Mittlerweile bin ich teilseßhaft geworden, habe Gefallen am ärztlichen Wirken in den USA gefunden, und es ist klar, daß ich noch ein wenig bleiben werde.

Obwohl die USA und Deutschland so viele Gemeinsamkeiten und sich auch wechselseitig beeinflußt haben, so fiel mir schon in den ersten Monaten als in Deutschland ausgebildeter Arzt die Andersartigkeit des US-Gesundheitssystemes auf. Die Unterschiede sind deutlich und lassen sich mit Begriffen wie hoher Komfortstand, schnellste und modernste therapeutische und diagnostische Möglichkeiten und dichtes Personalnetz, hoher Fokus auf Patientensicherheit, aber auch erhöhte Zahl an Unversicherte nur grob umschreiben. Es sind oft Nuancen und eine Andersartigkeit, die das Arbeiten in den USA in gewisser Hinsicht zu einer Art Kulturschock für mich als deutschen Arzt werden ließen. Umso überraschter stelle ich mittlerweile fest, daß es fast noch fremdartiger und schwieriger für mich geworden ist, den umgekehrten Weg zu gehen, also als in den USA arbeitender Arzt wieder in Deutschland zu arbeiten. Dabei sind mir in beiden Gesundheitssystemen, dem deutschen und dem amerikanischen, Dysfunktionalitäten aufgefallen. Obgleich es manchen Leser etwas überraschen mag, weil gerade das US-Gesundheitswesen so oft medial kritisiert wird, so scheinen die Dysfunktionalitäten deutlicher ausgeprägt im deutschen Krankenhauswesen als dem amerikanischen.

Der Fokus des Buches ist zwar auf das amerikanische Gesundheitswesen und hier vor allem das Krankenhaus gerichtet, aber ein zweiter Schwerpunkt liegt auf meine mittlerweile – zum negativen – geänderte Sicht des deutschen Krankenhauses. Denn mir scheint, als sei das deutsche Krankenhauswesen zwar leistungsfähig, aber in manchen Aspekten wirkt es zweitklassig im Gegensatz zu vielen US-Krankenhäusern.

Woher kommen diese Unterschiede? Ist es die höhere Technologieaffinität des US-Gesundheitssystemes und die Tatsache, daß die USA mehr Geld pro Einwohner und im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftsleistung in ihr Gesundheitswesen investieren? Ist es der höhere juristische Druck, unter dem man als Arzt tagtäglich steht, und wodurch eine ressourcenverbrauchende und in gewisser Hinsicht interventionsfreudigere Medizin entsteht? Spielt die ausgeprägte Individualität des US-Bürgers eine Rolle? In vielen meiner Texte habe ich versucht, diesen Fragen nachzuspüren.

Trotz all der positiven Eigenschaften des Systems muß aber betont werden, daß es insgesamt bei vielen wichtigen Kennzahlen im Gegensatz zu anderen westlichen Ländern schlechter dasteht. So besitzen Amerikaner in ihrer Gesamtheit eine niedrigere durchschnittliche Lebenserwartung (wobei wohlhabende Amerikaner im Durchschnitt länger als viele Europäer leben), sind Schlußlicht der entwickelten Länder, wenn es um die gesundheitliche Versorgung aller Bevölkerungsgruppen geht, weisen deutliche Disparitäten zwischen der Gesundheit armer und reicher Menschen auf und sind bei vielen weiteren Kennzahlen wie Mütter- und Säuglingssterblichkeit einfach nicht auf dem Niveau anderer entwickelter Länder.

Ist das ein Paradox? Ich meine nein, denn dieses ist ein statistischer Effekt bei der die reichen und gesunden zwar sehr gesund sind aber eine größere Zahl an ärmeren Menschen statistisch für diese schlechten Durchschnittszahlen sorgen. In den USA gibt es eben deutliche Disparitäten nicht nur zwischen arm und reich, sondern eben gesund und krank, wobei meistens reiche Menschen besonders hohe und arme eine besonders niedrige Gesundheitsversorgung erhalten.

Seit Jahren schreibe ich für das deutsche Ärzteblatt zu diesem Thema und möchte viele der angesprochenen Fragen einem größeren Publikum bekannt machen. Gerade weil die USA sich im Umbruch befindet, weil aber jedes Gesundheitswesen an demographische und damit finanzielle Grenzen stößt, kann der Blick in ein anderes Land, in das führende medizinische Land schlechthin, die USA, helfen Fehlentwicklungen aber auch positive Veränderungen zu erkennen.

Dieses Buch faßt einige meiner Veröffentlichungen zusammen, zum Teil deutlich adaptiert, und soll einen ersten Eindruck des US-Gesundheitswesens, aber auch im Umkehrschluß einige Beobachtungen über das deutsche Gesundheitssystem wiedergeben. So kann jeder etwas für sich selber in diesem Buch finden, ob zum Beispiel meine Eindrücke über das deutsche Gesundheitswesen und seinem von mir oft als suboptimal angesehenen Leistungsniveau, den heterogenen Versorgungsstrukturen des US-Krankenhauswesens oder meinen persönlichen Alltagseindruck.

Ich bitte Sie als Leser dabei meine Geschichten cum grano salis, als subjektive Wahrnehmung und somit aus dem Blickwinkel eines Einzelnen zu nehmen. Daß ich dabei versuche, das Gesundheitswesen zweier Länder, das der USA und Deutschlands, zu erfassen und zu beschreiben, kann nur in Ansätzen gelingen und manches wird über-, anderes unterzeichnet sein. Aber es soll anregen über beide Systeme nachzudenken.

Viel Spaß beim Lesen wünsche ich!

Kapitel 1: Das deutsche Gesundheitssystem aus den Augen eines in den USA arbeitenden deutschen Arztes

Zu Besuch in der deutschen Heimat: Als Hospitant

Für etwas weniger als einen Monat habe ich im Jahr 2012 an einem großen deutschen Krankenhaus in Berlin hospitiert. Ohne den Namen zu nennen muß ich betonen, daß es sich um ein Krankenhaus mit international bedeutenden Ruf handelt. Ich hatte beschlossen, im Rahmen meiner internistischen Facharztausbildung in den USA, an dieses Berliner Krankenhaus zu gehen und dabei als Hospitant zu arbeiten, also einer Art Praktikum im Krankenhaus zu absolvieren. Die Erfahrungen waren einschneidender, als ich es erwartet hatte.

Schon meine Rückreise und erster Heimattag in Deutschland war spannend: Ein anderes Lebensgefühl und Umgang miteinander in Deutschland, deutliche weniger Fettleibige, mehr Fußgänger und öffentliche Verkehrsmittel. Das eher Herzliche der USA fehlte, denn während man dort von Fremden oft angelächelt wird, schienen die meisten Menschen in Deutschland nur auf sich beschränkt zu sein in ihrer Gedankenwelt. Weiterhin wurde mir bewußt wie wenig Wert darauf gelegt wurde eine einheitliche Sprache zu sprechen, denn während in den USA fast alle Englisch miteinander reden und das Nichtenglische ungern gesehen wird (sieht man einmal von Spanisch ab, daß in gewisser Hinsicht einen Sonderstatus hat), so war das in Berlin anders mit dem Gewirr vielfältiger Sprachen. Auch das unter jungen Menschen geläufige “Kiezdeutsch” war ungewohnt und schien seit meinem Wegzug an Bedeutung gewonnen zu haben.

Gespannt begann ich meinen ersten Arbeits-, bzw. Hospitationstag im Krankenhaus. Ich lief mit Ärzten mit bei der Visite und sollte dabei Einblick in den Krankenhausalltag erhalten. Da ich aber aus einem sehr fortschrittlichen Gesundheitssystem kam, fließend deutsch sprach und meine Kollegen rasch meine Aufgeschlossenheit fürs kritische Diskutieren merkten, wurden aus den Hospitationswochen eine Art medizinkultureller Austausch. Die dabei festgestellten Unterschiede waren gravierend, manchmal sogar haarsträubend, denn mir wurde schnell bewußt, wie anders das deutsche vom amerikanischen System war, etwas, daß mir in dieser Deutlichkeit vorher nie aufgefallen war.

Deutschlandeindruck I: Deutsche Ärzte und die US-Medizin

An meinem ersten Hospitationstag im Berliner Krankenhaus im Frühjahr 2012 wurde mir bewußt wie weit verbreitet und wie stark der Einfluß der englischsprachigen und vor allem US-amerikanischen Medizin in Deutschland ist. Nicht nur meine Person und Schilderungen aus den USA erregten sehr viel Interesse, sondern auch an anderen Dingen merkte ich das starke Interesse der deutschen Kollegen.

Zunächst fiel mir auf, wie allgegenwärtig englische Fachbegriffe in Deutschland sind. In beinahe jedem Arztbrief, jeder Patientenvorstellung, jeder ärztlichen Interaktion kamen englischsprachige Begriffe vor: So wurde bei einem CT-Bericht statt von Schleimpfropfen von „mucous plugging” gesprochen, ein Krebsleiden statt als progredient eben als „progressive disease” dargestellt oder ein „Staging” durchgeführt statt eine Stadieneinteilung oder Stadierung. Ich habe fünf Minuten lang bei der ärztlichen Frühbesprechung mitgeschrieben und kam auf 23 englische Medizinbegriffe; wenn ich die Anglizismen mitgerechnet hätte, wäre sicherlich das Doppelte oder Dreifache herausgekommen.

Weiterhin fiel mir auf wie ubiquitär die US-Fachliteratur war. Das New England Journal of Medicine (NEJM), Journal of the American Medical Association (JAMA) und Annals of Internal Medicine wurden oft genannt und lagen auf Station, das deutsche Magazin Der Internist und selbst die britischen Fachjournale Lancet und British Medical Journal (BMJ) fand man nur ausnahmsweise. Am Rande und aus eigener Erfahrung übrigens: In Frankreich hätte man das französischsprachige Revue de Médecine Interne allenthalben gefunden, und es gehörte dort zum Standardrepertoire, aber in Deutschland verschmäht man scheinbar das Deutsche.

Darüber hinaus wurde das US-System, sieht man von den oft von Deutschen angeprangerten Mißständen der hohen Kosten und Unterschiede in der Gesundheitsversorgung zwischen Armen und Reichen ab, weitestgehend glorifiziert. Jeder der dort gearbeitet hatte oder gelebt hatte, kehrte diese Erfahrung als eines der positivsten hervor und jedes Mal, wenn das Thema auf das US-Gesundheitswesen kam, schienen die Augen der Ärzte förmlich zu leuchten. Es freute mich naturgemäß, denn das US-System ist auch ein exzellentes, aber auch dort wird nur mit Wasser gekocht.

Am Ende meiner Hospitationszeit blieb bei mir der Eindruck bestehen, der seither mich nicht verlassen hat: Deutsche Ärzte sind verliebt in die USA und denken an und lesen oft über sie.

Deutschlandeindruck II: Wer hat das Sagen auf der Krankenhausstation?

Während meiner Hospitanzzeit im Berliner Krankenhaus fiel mir ein ungewöhnlicher Umgangston zwischen Stationsarzt und Krankenschwester auf: Man duzte sich und war zwar sehr umgänglich miteinander, aber wehe der Arzt ordnete zu viel an oder bürdete dem Krankenpflegepersonal zu viel Arbeit auf. Dann wurde seitens der Pflege gezetert und protestiert, als stünde auf Station nicht das Wohl des Patienten an erster Stelle, sondern das des Pflegepersonals. Wenn die Anordnung trotz Protestes bestehen blieb, wurde sie manchmal erst ein Tag später ausgeführt („Wir hatten einfach keine Zeit”) oder durch Rücksprache mit dem Oberarzt („Ist es wirklich nötig den Harnwegsdauerkatheter zu ziehen?”) versucht zu umgehen.

Dieser Umgangston und –form schockierten mich. Denn auch wenn die USA recht flache Hierarchien kennen und das Verhältnis Pflege-Arzt ein scheinbar inniges ist, so ist eindeutig festgelegt, daß es einen Weisungsbefugten (Arzt) und einen Weisungsempfänger (Krankenpfleger) im Krankenhaus gibt. Das Medizinstudium steht jedem Fleißigen offen und kann durchlaufen werden, so daß jeder der will Weisungsbefugter werden kann.

Das Pflegepersonal wird zwar seine Stimme – zu Recht – erheben, wenn es das Wohl des Patienten aufgrund einer ärztlichen Anweisung gefährdet sieht, aber alle anderen Anweisungen werden ohne Murren ausgeführt. Wird die Zeit knapp, dann verzichtet das Pflegepersonal lieber auf einige Minuten ihrer Pause, als das Patientenwohl zu gefährden. So erlebte ich es in den USA aber nicht in Deutschland.

Die Arbeitsatmosphäre zwischen Pflege und ärztlichem Personal scheint in Deutschland eine andere zu sein, beinahe schon familiär: Jeder darf mitreden und -entscheiden. Das empfinde ich zwar als nett für das Pflegepersonal, aber nicht sehr professionell. Außerdem gibt man vor dem Patienten kein gutes Bild mit solch einer Kakophonie ab. Liegt das am Pflegepersonalmangel, fehlender Autorität beim Arztpersonal oder ist der Arzt einfach gewohnt herumgeschubst zu werden, ob von der Politik, seinen Vorgesetzten oder eben dem Pflegepersonal?

Deutschlandeindruck III: Der demotivierte Arzt

Einer der Eindrücke, der bei mir haftenblieb nach meiner Hospitationszeit, war daß viele Ärzte und besonders Assistenzärzte demotiviert in deutschen Krankenhäusern scheinen. Meine US-Kollegen wirken zwar manchmal überarbeitet aber fast nie demotiviert. An der recht langen Arbeitszeit in Deutschland könnte das liegen, mag man meinen, aber dann wiederum ist sie deutlich kürzer als die Arbeitszeit in den USA: Man hat weniger Wochenenddienste, mehr Urlaubs- und Feiertage, eine kürzere Wochenarbeitszeit und ein großzügigeres Dienstsystem in Deutschland.

Weiterhin haben deutsche Assistenzärzte deutlich mehr Autonomie in ihren Entscheidungen – das müßte sich ebenfalls positiv auf die Arbeitsmoral auswirken. Darüber hinaus scheinen Patienten weniger fordernd zu sein und der juristische Druck ist geringer in Deutschland, was auch verminderte Dokumentationspflichten bedeutet – alles doch eigentlich motivierende Aspekte. Dennoch wirken viele Ärzte im deutschen Krankenhaus etwas lustlos. Wieso?

Vier deutliche Nachteile des deutschen Stationsalltages könnten dieses vielleicht erklären: suboptimale Kommunikationsstruktur Arzt-Pfleger, hoher ärztlicher Arbeitsanteil an Bürokratie auf Station, nur bedingt strukturierte Fortbildung und ein nur leicht überdurchschnittliches, für den Aufwand nicht unbedingt angemessenes Einkommen.

So sind die täglichen Reibungsverluste in Form von z.B. Widerständen seitens des Pflegepersonals beim Umsetzen bestimmter Therapiemaßnahmen ärgerlich. Das habe ich weiter oben thematisiert. Weiterhin sind die deutschen Assistentenkollegen eine Art Mädchen für alles, d. h. sie müssen Rehaanträge stellen, radiologische Untersuchungen und Konsile auf oft umständliche Art und Weise anmelden, bestimmte Sonderanträge für Therapien formulieren und viele andere bürokratische Maßnahmen, die in den USA von Sozialarbeitern, Pflegepersonal und Stationssekretären den Ärzten abgenommen werden, umsetzen. Bekanntermaßen wirkt die Bürokratie wenig belebend auf die Motivation von Menschen.

Weiterhin frustrierend wirkt auf deutsche Assistenzärzte, daß sie keine klare strukturierte Weiter- und Fortbildung haben, anders als in den USA. Dort wird den Assistenzärzten knapp zehn Stunden pro Woche an Weiterbildung geboten und den Fachund Oberärzten oft eine Woche Bildungsurlaub pro Jahr gewährt und jährliche Unkosten bis zu 5000 US-Dollar hierfür rückerstattet. Das ist großzügig und motivierend in den USA, beim umgekehrten Fehlen in Deutschland demotivierend.

Der letzte oben aufgezählte Punkt ist weitestgehend selbsterklärend: Höheres Bruttoeinkommen in den USA bei deutlich niedrigeren Steuer- und Abgabenlasten bedingen ein Nettoeinkommen, das einem Arzt in USA viel größere Konsumund Freizeitfreiheit gestattet als es die deutschen Kollegen sich erlauben können. In einer auf Ökonomie getrimmten Gesellschaft ist dieser zufriedenheitsgenerierende Aspekt nicht zu ver-nachlässigen und gerade die hohen Anforderungen des Arztberufes sollten honoriert werden.