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Rainer Kraft

Werner

2.Band aus

Jahrhundert - Vier Generationen in Deutschland

© Rainer Kraft

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: Paperback 978-3-7439-1503-9
ISBN: Hardcover 978-3-7439-1504-6
ISBN: e-Book 978-3-7439-1505-3

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Rückblick

Der erste Band der Familiengeschichte erzählt von Wilhelm, einem Bauernsohn aus Sachsen. Er schafft es, ganz sicher auch durch die Unterstützung seiner Familie, dem Kleinbauernmilieu den Rücken zuzudrehen, und in einem Industriebetrieb seine Fähigkeiten einzubringen. Sein Fleiß und die Freundschaft zur Industriellenfamilie Schreiter eröffnen ihm ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten. Die ihm anerzogene Geradlinigkeit und Ehrlichkeit, ein wesentliches Merkmal seiner Familie, setzen sich in Wilhelms Leben und der eigenen Familie fort. Mit Werner, seinem Sohn, werden nun neue Kapitel in der Familiengeschichte aufgeschlagen.

Für die Familie Starke überschlugen sich die Ereignisse im März. Inge hatte einen Sohn geboren und nun war die Taufe geplant. Aber ob es jetzt schon dieses Fest geben sollte? Ihr Schwiegervater lag schon seit dem letzten Dezember im Bett. Er hatte Fieberschübe und litt unter großer Atemnot. So oft es möglich war, ging sie der Schwiegermutter zur Hand, die ihren Mann liebevoll pflegte. Die gab ihm ein neues Kissen, wenn die Atemnot zu groß war, denn halb sitzend gelang es ihrem Ernst besser, Luft zu holen. Aber schon nach kurzer Zeit konnte er sich trotz des Kissens nicht mehr aufrecht halten. Also nahm es Anna wieder aus dem Bett. Mit einem feuchten Tuch strich sie über die schweißnasse Stirn ihres Ehemannes, um dann wieder seine Hand zu halten. Anna wusste, dass ihr Ernst bald sterben würde. Natürlich sträubte sie sich gegen diesen Gedanken, aber wenn sie ihn so schrecklich leiden sah, dann wünschte sie ganz im Innern ihrer Seele, dass er bald gehen könnte.

Abends, wenn Willi, der Sohn von Ernst und Anna, von seiner Arbeit nach Hause kam, schaute er zuerst nach dem Vater. Er umarmte seine Mutter und wandte sich dann dem Vater zu. „Papa, bekommst Du Luft? Soll ich dich etwas anheben? Möchtest Du etwas trinken?“ Aber Ernst wehrte nur kopfschüttelnd ab. Mit einem kleinen Löffel gab ihm Anna ein paar kleine Schlucke Tee in den Mund. Dann schickte sie ihren Sohn nach oben, in seine Wohnung.

Willi ging durch die Küche ins Treppenhaus. Dort begegnete er Fritz, seinem jungen Onkel, der gegenüber der Wohnung der Eltern mit seiner Lina wohnte. „Guten Abend Fritz. Wie gut, dass Du hier bist. Kommst Du mit Lina und der vielen Arbeit klar? Ich weiß, ich bin dir keine Hilfe, und auch Inge muss sich so kurz nach der Geburt unseres Werners noch schonen und für den Kleinen sorgen.“

„Lass nur, Willi, wir schaffen das gut. Es ist viel wichtiger, dass Inge beim Vater mithilft. Für deine Mutter wäre die Belastung allein nicht zu bewältigen. Unsere Arbeit auf dem Hof schaffen wir gut. Lina kann kräftig mit anpacken. Außerdem können wir die Kühe schon auf die Wiese treiben, da gibt es gute Gelegenheiten, den Stall zu entmisten, und bis zum Eintrieb alles herzurichten. Und für die Aussaat habe ich mich schon mit Heinz, unserem Nachbarn abgestimmt. Sein Sohn wird mir helfen, und ich bin im Gegenzug dann auch mit auf seinen Feldern.“

Erleichtert stieg Willi die Treppe nach oben und trat in seine Wohnung. Inge hatte den Kleinen in den Armen und stand in Türnähe. Sie hatte Willis Stimme gehört und wollte ihn nun begrüßen. Er gab ihr einen langen Kuss, und nahm dann seinen Sohn in die Arme. Vorsichtig berührten seine Lippen die Stirn des Kindes. Inge hatte inzwischen Wasser in die Waschschüssel gegossen, dann nahm sie ihren Werner wieder aus Willis Händen. Der konnte seine Hände waschen und kurz darauf saßen sie am Tisch zum Abendessen. Inge hatte ihr Kleid aufgeknöpft und gab dem Kleinen die Brust. Er trank viel, so dass ihn die junge Frau auch an der anderen Brust anlegte. Aber schon nach wenigen Schlucken schlief er ein, mit seinen kleinen Fingerchen die Brust festhaltend.

Willi erzählte noch kurz von seinem Arbeitstag im Büro der Firmenzentrale. Er liebte seine Arbeit als Prokurist der „Sächsischen Tuchfabriken Schreiter“. Sein Freund Aaron, nur drei Jahre älter als Willi, hatte die Verantwortung für die Werke übernommen. Der Seniorchef zog sich immer mehr aus dem Tagesgeschäft zurück, und war froh, dass sein Sohn alles so gut regelte. Aarons Familie sollte bald Zuwachs bekommen. Seine Frau Sarah war wieder schwanger. Ob es diesmal ein Junge würde? Eigentlich war das für die werdende Mutter ganz unwichtig, sie freute sich schon sehr auf das zweite Kind.

Der Sonntag versprach nicht nur sonnig zu werden, auch die Außentemperatur war schon morgens mehr als frühlingshaft. Es war kurz nach 9 Uhr, als Willi auf den Hof trat und aus der Scheune einen Tisch holte, den er mitten auf den gepflasterten Platz in der Nähe der Haustür aufstellte. Noch im letzten Jahr hatten sie gemeinsam auf dem Hof die Steinplatten verlegt. Dabei konnte Ernst, der Vater, auch noch mithelfen. Im Quergebäude befand sich gleich links das Waschhaus, was von allen Hausbewohnern auch als Badehaus genutzt wurde. Auch das Klo war separat in einer Ecke eingebaut. Durch die Steinplatten konnte man bei Regen einigermaßen trockenen Fußes das Waschhaus erreichen. Die Pfützen, die vorher auf dem Hof für Schlammschuhe sorgten, gab es nicht mehr.

Auf diesem festen steinernen Platz stand nun der Tisch, ergänzt von einigen alten Holzstühlen. Inge brachte ein Brot und Butter und legte alles ab, bevor sie wieder im Haus verschwand, um Werner zu holen. Gerade als sie wieder die Treppe herabkam, gingen auch Lina und die Mutter Anna nach draußen. Anna trug das Geschirr zum Tisch, und Lina hatte Wurst, Käse und einen großen Topf mit Pflaumenmus vom letzten Herbst dabei. Dann holte sie noch eine große Blechkanne mit Malzkaffee und einen Krug mit warmer Milch. Die Mutter Anna hatte ihren Mann schon versorgt. Er war eingeschlafen, und sein Atmen wurde gleichmäßig und ruhiger. Nun konnte sie sich mit zu den anderen setzten. Gemeinsam überlegten sie, wie sie dem Vater helfen könnten. Auch über Taufe wurde gesprochen. Inge wollte jetzt keine Feier im Haus haben, wenn es Papa so schlecht ging. Später wäre noch genügend Zeit... Sie sprach nicht weiter, aber alle dachten daran, was wohl später wäre. Niemand machte sich aber Hoffnung, dass Ernst noch einmal gesund werden könnte.

Der Sonntag war in früheren Zeiten immer ein Tag für den Kirchgang. Aber seit Ernsts Erkrankung ging Anna nicht mehr zum Gottesdienst. Auch Inge und Willi blieben zu Hause. Der kleine Werner forderte gerade an den Vormittagen energisch seine Milch. Für Inge war es immer eine besonders innige Zeit mit dem kleinen Jungen, wenn sie ihm die Brust gab. Das war eine Zeit der Träume, Wünsche und Hoffnungen. In Gedanken war sie immer wieder in lange zurückliegenden Zeiten eingetaucht. Ihre erste intime Begegnung mit Willi stand ihr vor Augen. Damals waren sie beide noch so jung, als sie sich mitten im Teich, oben am Park der Schreiters, gegenüber standen. Inge erinnerte sich ganz genau, wie sie sich küssten und das erste Mal berührten. Sie hatte unter der Wasseroberfläche gesehen, wie Willis Glied sich aufrichtete. Dann fasste sie einfach zu und hielt es fest. Willis Hände zitterten, als er vorsichtig über ihre Brüste strich. Inge musste wieder lächeln, als sie daran dachte, wie abrupt alles ein Ende hatte. Nahender Kinderlärm vertrieb sie aus dem Wasser, und schnell zogen sie die Kleidung wieder an. Diese ersten Berührungen hatten ein Band zwischen ihren Herzen geknüpft, was sich immer mehr festigte und nun im Sohn Werner einen sichtbaren Höhepunkt fand.

Ernst starb in der Folgewoche. Es war Donnerstagnachmittag, kurz nach drei Uhr. Willi und Inge standen am Fußende des Bettes, Anna saß seitlich auf dem Bettrand und hielt die Hand ihres sterbenden Mannes. Fritz und Lina standen schräg hinter der Mutter Anna. Lange lag der Todkranke schon mit geschlossenen Augen im Bett. Doch nun öffnete er sie und sah lange auf jeden einzelnen, der hier an seinem Lager stand. Dann drückte er fest Annas Hand, nickte ihr zu und starb. Sie beugte sich über ihn und legte eine Hand auf die Stirn. Sanft fuhr sie damit über das Gesicht und schloss dabei seine Augen. Dann küsste sie ihn auf den Mund und die Stirn, auf die rechte und linke Wange, und noch einmal lange auf den leicht geöffneten Mund. Anna stand auf und ging vom Bett weg zum Fenster, das sie weit öffnete. Inzwischen waren Willi und Inge links und rechts an das Bett getreten. Auch sie verabschiedeten sich mit Küssen, dann legte Willi noch die Hände des toten Vaters übereinander, bevor sie für Fritz und Lina zur Seite gingen. Als Fritz sich niederbeugte, sprach er: „Ernst, Du hast uns aufgenommen und Heimat gegeben. Du warst mir Freund und Partner. Du hattest nur viel zu wenig Zeit, und es tut uns allen weh, dass du gehen musstest. Aber ich glaube daran, dass du im Himmel einen Ehrenplatz hast. Wir werden hier in deinem Sinne weitermachen. Und wenn unsere Zeit da ist, dann kommen wir und sehen uns wieder. Mögen die Engel dich ins Paradies begleiten.“

Willi war losgegangen und hatte die Heimbürgin * geholt. Gemeinsam mit Anna wusch die nun den Toten. Dann wurde er neu angekleidet. Über dem Hemd hatten ihm die Frauen die Hosenträger über die Schultern gelegt und an der Hose fest geknöpft. Es waren die breiten, schon ziemlich abgenutzten, die Willi ihm vor Jahren geschenkt hatte. Dann legten sie den Verstorbenen in das frisch bezogene Bett. Die Heimbürgin faltete seine Hände über der Brust, und Anna steckte noch einen frischen Myrtenzweig zwischen die Finger. Sie zündete eine Kerze auf der Fensterbank an, die nun nach draußen vom Tod in diesem Haus kündete. Nun wurde die Tür des Schlafzimmers geöffnet, um allen den Abschied von Ernst zu ermöglichen. In der Küche warteten Willi und Inge. Der kleine Werner schlief in seinem Korb, der auf der Ofenbank stand.

* Die Heimbürgin oder Totenfrau war eine Frau aus dem Dorf, die die verstorbene Person wusch und danach die Festtagskleidung anzog und so die Aufbahrung vorbereitete.

Sie betraten als erste das Schlafzimmer, wo der Vater lag. Fritz und Lina standen an der Küchentür zum Treppenhaus, traten aber einen Schritt zurück, als diese von außen geöffnet wurde. Aaron kam herein, hinter ihm seine Frau Sarah, die ihre Tochter Ruth an der Hand führte. Als Anna sie sah, ging sie ihnen entgegen und umarmte die beiden herzlich. Auf Ruth zeigend fragte sie: „Soll ich mich mit ihr auf die Bank setzen, damit ihr euch von Ernst verabschieden könnt?“ Sarah schüttelte den Kopf: „Nein Anna, das Sterben ist der letzte Teil von unserem Leben. Auch wenn Ruth das noch nicht wirklich erfassen kann, wird sie die friedevollen Bilder ganz tief in sich behalten.“ Zu dritt gingen sie an das Bett, Sarah beugte sich über Ernst und küsste ihn auf die Stirn. Aaron tat es seiner Frau nach. Er hatte den Bauern als Freund von Anfang an ins Herz geschlossen. Nun verlangte auch die kleine Ruth, dass sie ebenfalls den liegenden Mann küssen wolle. Als die drei wieder das Zimmer verließen, drehte sich das kleine Mädchen noch einmal um. „Auf Wiedersehen, Onkel Ernst. Mama sagt, du bist in den Himmel gegangen.“

Am Samstag kamen die Träger mit der Leichenkutsche. Der Sarg wurde heruntergehoben und in das Sterbezimmer gebracht. Die vorgespannten Pferde standen ganz ruhig im Hof, während die vier Männer Ernsts Leichnam in den Sarg legten. Dann trugen sie ihn zur Kutsche. Der Leichenwagen war ein flacher Pritschenwagen, der als Aufbau einen schwarzen Stoffbaldachin trug. Die vordere Seite, die zur Deichsel zeigte, war mit schwarzem Stoff verhangen. Die drei andern Seiten gaben, durch die seitlich gerafften Stoffbahnen, den Blick frei auf den offenen Sarg. Inzwischen hatten sich Willi und die Mutter hinter den Leichenwagen gestellt, hinter ihnen wartete Fritz mit den beiden Frauen Inge und Lina. Nachbarn kamen dazu, auch Aaron mit seiner Frau und Herr und Frau Schreiter, mit der jüngeren Tochter Miriam in der Mitte. Links und rechts am Wagen standen jeweils zwei der Leichenträger, die Hand auf dem Sargrand liegend, und warteten nun auf das Startzeichen für den Gang zur Kirche. Der Kutscher nickte ihnen zu, setzte seinen Zylinder auf und nahm die Zügel straffer in die Hand. Er schwang seine Peitsche leicht über dem Hinterteil der Pferde, und auf sein „Hü“ gingen sie los. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Aus den Häusern links und rechts kamen noch mehr Trauerbegleiter, die sich dem Zug anschlossen.

An der Kirche stoppte der Leichenzug. Die Träger hoben den offenen Sarg von dem Leichenwagen und trugen ihn in die Kirche. Im Altarbereich, mit dem Kopf zum geschmückten Altar, wurde er abgesetzt. Zwei Frauen schoben die großen Kerzenleuchter neben den Sarg, je drei rechts und drei links. Der Pfarrer trat nun an den Sarg, hob die gefalteten Hände des Verstorbenen etwas an und schob ein schlichtes dunkles Holzkreuz darunter. Dann legte er die Hände zurück, die nun das Kreuz sanft umschlossen. Alle Teilnehmer des Trauermarsches traten noch einmal an den offenen Sarg. Die vielen Frauen waren sich einig: Ernst sei viel zu früh gestorben, aber er sähe ja so friedlich aus. So eine schöne Leiche hätten sie noch nie gesehen.

Als alle schon wieder nach Hause gegangen waren, verabschiedete sich auch der Pfarrer von der Familie. Zu Anna sagte er noch: „Anna, heute kommen noch die Kirchenblumenfrauen und werden am Abend alles schmücken. Morgen im Trauergottesdienst werden wir seiner gedenken und ihn auch anschließend beisetzen. Hast du schon für den Leichenschmaus gesorgt?“ Willi schaltete sich daraufhin ein und sagte: „Wir haben alles vorbereitet. Die Blechkuchen kommen morgen ganz in der Frühe, noch vor dem Gottesdienst, auf den Hof. Der Bäcker hat seine Gesellen auch beauftragt, beim Austeilen und Kaffeeausschenken zu helfen.“

„Gut Willi, dann bis morgen früh. Gottes Segen für euch alle.“

Der Sonntag begann im Trauerhaus mit dem gemeinsamen Frühstück. Dann gingen alle zur Kirche. Die Nachbarsbäuerin hatte es übernommen, die Blechkuchen entgegenzunehmen. Auch die schon bereitgestellten Tische wollte sie eindecken und für den Leichenschmaus nach dem Gottesdienst vorbereiten. Auf einem seitlich stehenden kleineren Tisch standen Flaschen mit Wein, aber auch Pflaumenschnaps und der im Dorf allgemein beliebte und oft getrunkene Kartoffelbrand waren vorhanden.

Der Gottesdienst verlief viel ruhiger, als es sonst sonntags üblich war. Der viel zu frühe Tod des Starke-Bauern hatte alle tief betroffen gemacht. Ernst war im Dorf hoch geachtet, fand er doch immer für andere ein gutes Wort. Bei ihm war man sicher, dass sein gegebenes Wort auch Bestand hatte. Der Pfarrer sprach über den Psalm, der das Bild des Hirten zum Thema hatte. Er betonte, dass Ernst nun in der himmlischen Heimat sei, und Gott selbst ihn aufgenommen hätte. Ernst sei, so betonte der Pfarrer, ein besonders gutes Beispiel für alle, weil er sich immer auf Gott verlassen, und treu für seine Familie gesorgt hatte.

Nach der Trauerpredigt wurde der Sarg mit dem Deckel verschlossen. Danach trugen ihn die sechs Leichenträger vor die Kirche. Nur wenige Meter von der Kirchentür entfernt, direkt am Hauptweg, war die Grube ausgehoben, über die man nun den Sarg hob und auf zwei starken Holzbohlen absetzte. Dann traten die Männer seitlich an den Grubenrand, ergriffen die vorher bereitgelegten dicken Seile und hoben die Last etwas an. Links und rechts stand jeweils ein Dorfjunge. Sie ergriffen je einen der Balken und zogen ihn vom Grabesrand nach hinten weg. Langsam wurde der blumengeschmückte Sarg nach unten gelassen. Der Pfarrer stand nahe dabei, und als die Träger ihre Aufgabe erfüllt hatten, nahm er eine Hand voll Erde aus einer flachen, großen Schale, die auf einem Eisengestell stand. Mit den Worten „Es wird gesät verweslich, aber auferstehen unverweslich“ ließ er die Erde auf den Sarg rieseln. Dann griff er noch einmal in die Schale und sagte.“ Es wird gesät in Unehre, aber auferstehen in Herrlichkeit.“ Wieder gab er die Erde in das Grab. Ein drittes Mal nahm er eine Hand voll Erde und sprach: Es wird gesät in Schwachheit, aber auferstehen in Kraft.“ Nachdem er seine Hand geleert hatte, wandte er sich der großen Traugemeinde zu und sprach den Segen: „Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“ Mit einem Kreuzeszeichen beendete er die Trauerfeier. Nun konnten die Angehörigen, aber danach auch die Trauergemeinde, an das offene Grab treten, und sich still verabschieden. Es dauerte recht lange, bis alle vorbei gegangen waren. Anna war sichtlich erschöpft. Willi stützte seine Mutter auf der einen Seite, und Fritz nahm ihren anderen Arm. Inge und Lina luden noch einmal persönlich zum Kaffeetrinken ein, und die meisten machten sich auch schon auf den Weg zum Hof.

Von all dem hatte Werner natürlich nichts mitbekommen. Während der Trauerfeier in der Kirche war Miriam bei ihm geblieben. Als Inge endlich nach Hause kam und schnell nach ihm sehen wollte, hielt das Mädchen ihn liebevoll im Arm. Er patschte mit seinen kleinen Händchen immer wieder in ihr Gesicht, oder er griff unvermittelt in ihr Haar und zog kräftig daran. Miriam lachte und fragte: „Tante Inge, darf ich wieder einmal auf Werner aufpassen?“ „Natürlich, Miriam. Du kannst jederzeit kommen. Hab lieben Dank für deine Hilfe. Geh nach unten und iss ein Stück Kuchen.“

Viele Nachbarn und Freunde waren nach dem Trauergottesdienst auf den Hof gekommen, so dass die Stühle bei weitem nicht ausreichten. Kuchen und Kaffee gab es genügend, aber die Männer standen lieber in einer Hofecke und prosteten sich mit dem Schnaps zu. Auf Kuchen verzichteten sie gern, aber als auf einem großen Brett in Scheiben geschnittene Wurst und Schinken gereicht wurden, langten sie kräftig zu. Der Bäcker hatte noch mehrere Brote von seinem Lehrjungen holen lassen, und so gab es fast für jeden Geschmack etwas zu essen. Für Anna war es schmerzlich, aber auch schön zugleich, als immer wieder Trauergäste aufstanden und von ganz eigenen Erlebnissen mit Ernst erzählten. Sie zeichneten das Bild eines aufrechten Mannes, der ohne zu zögern half, wenn Hilfe nötig war. Er erwartete nie eine Gegenleistung, sondern konnte sich mit freuen, wenn es anderen gut ging. Als Herr Schreiter aufstand und eine eigene Erfahrung mit Ernst erzählte, waren alle besonders still. „Sie wissen alle, wie uns der Winter 1917 zusetzte. Der Hunger zwang uns, ungewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen. Wir hatten in der Firma beschlossen, für unsere Arbeiter Lebensmittel zu besorgen. Damals gingen mein Sohn und Willi von Hof zu Hof und von Dorf zu Dorf. Wir bekamen so viel, dass keiner unserer Leute wirklich hungern musste. Auch Ernst gab großzügig ab. Wir holten hier vom Hof eine besonders große Menge Getreide und Kartoffeln. Er verlangte damals einen Preis, der einfach nicht stimmen konnte. Er hatte deutlich viel zu wenig berechnet, und außerdem den Vorkriegspreis zu Grunde gelegt. Ich besuchte ihn einige Tage später hier auf dem Hof. Er war gerade im Kuhstall, als ich nach ihm suchte. Dort wollte ich ihm den Fehlbetrag geben, aber er wehrte energisch ab. Herr Schreiter, sagte er, ich will keinen Nutzen aus der Not anderer haben.

Der Herrgott hat alles wachsen lassen, und ich konnte im Jahr zuvor eine große Menge Getreide einlagern, weil es nicht abgekauft wurde. Jetzt können wenigsten ein paar Menschen mehr satt werden. Ich konnte nicht anders, als diesen aufrechten Mann zu umarmen Wir sahen uns an und ich sagte zu ihm: Ernst, ich bin der Jonas. Ich bin in deiner Schuld, aber ich verspreche Dir, das werde ich nie vergessen. Es wird eine Gelegenheit geben, wo ich Dir meinen Dank ausdrücken kann. Und Ernst? Er sah mich mit seinen gütigen Augen an und sagte nur: Ist schon gut Jonas. Er drehte sich einfach um und hob mit der Gabel eine neue Ladung Mist auf den Schubkarren. Ich ging, tief beeindruckt, nach Hause. Und nun erlaube ich mir, Anna, dich als unsere beste Freundin zu umarmen. Ich bin Jonas, wie ich eben sagte, und meine Frau ist Debora. Und hier, heute übergebe ich dir eine Lederbörse. Es ist ein wenig Geld darin. Du sollst nicht mehr hart arbeiten müssen, sondern mehr Zeit für die Familie haben. Von Willi gibt es ja schon einen Enkelsohn, und wer weiß, was alles noch in den nächsten Jahren sein wird.“

Kurz darauf verabschiedeten sich die Schreiters, aber vorher umarmten sie beide noch einmal die junge Witwe.

Am Ende des Tages waren Anna und die ganze Familie sehr erschöpft. Aber sie waren auch dankbar für die große Anteilnahme, die ihnen von allen entgegengebracht wurde. Alle hatten sich in ihre Wohnungen zurückgezogen, als es oben an Willis Tür klopfte. Er öffnete und sah erstaunt auf seine Mutter, dann bat er sie herein. Sie setzte sich auf einen Küchenstuhl, weinte und hielt ihm die Börse entgegen, die Jonas Schreiter ihr gegeben hatte. „Willi, hier sind 1.000 Goldmark drin. Das kann ich nicht nehmen. Nimm das morgen wieder mit in die Fabrik und gib es zurück.“ Willi schüttete die Börse auf dem Tisch aus und sortierte die goldenen 20-Mark-Stücke, es waren genau 50 Stück mit dem Bildnis des Kaisers Wilhelm II, und auf der Rückseite mit dem Reichsadlers mit kleinem Brustschild und dem Nennwert 20 Mark. Sorgsam legte er die Goldstücke wieder in die Lederbörse, gab sie der Mutter zurück und sagte: „Nein Mutter, Herr Schreiter würde das nicht verstehen können. Es gehört dir. Das ist sein besonderer Dank, auch für Papa und alles, was er getan hat.“

Es war ein trüber Samstag, dieser 23. April, als das noch friedlich erscheinende Dorf Trona jäh aus der Ruhe geschreckt wurde. Die Kirchenglocken läuteten bereits eine viertel Stunde, und von überall her waren laute Rufe und das Schellen von kleinen Handglocken zu hören. Willi und Fritz traten aus dem Haus und sahen sich in der feuchten Morgenluft um. Es war nichts zu sehen, aber ein leichter Brandgeruch stieg in ihre Nasen. Irgendwo in der Nähe musste es brennen. Also stiegen die Männer schnell in ihre Stiefel, warfen sich die Jacken über die Schultern und gingen, jeweils mit einem Eimer in der rechten Hand, hinaus auf die Dorfstraße. Nach nur wenigen Schritten sahen sie ein großes Feuer auf dem Rinke-Hof. Fritz und Willi eilten zur Brandstelle und erst vor Ort sahen sie das ganze Ausmaß der Katastrophe. Der erst im letzten Jahr entstandene Scheunenneubau stand in hellen Flammen. Von allen Seiten kamen Helfer angerannt, um zu retten, was noch zu retten war. Die Flammen schlugen hoch zum Himmel und vernichteten den ganzen Heu- und Strohvorrat aus dem letzten Jahr. Die Scheune war gut gefüllt, denn trotz der Winterfütterung war noch eine große Menge Heu übrig geblieben. Das Stroh und vor allem eine große Anzahl gefüllter Kornsäcke, in den neben der Tenne liegenden Nischen, brannten laut knisternd und eine enorme Hitze verströmend. Etwas abseits des Brandherdes lagen unter Decken zwei Personen. Beim Näherkommen sah Willi, dass der Rinke-Bauer und sein Sohn zugedeckt auf dem Boden lagen. Die Bäuerin kniete weinend neben den beiden toten Männern. Willi und Fritz boten sich an, diese in das Wohnhaus zu tragen, aber die Frau schüttelte nur den Kopf und wies mit der ausgestreckten Hand auf das Haus. Die Feuerwehr war dabei, mit der Wasserspritze das Haus vor dem Übergreifen der Flammen zu schützen. Es war eine mühsame und kräftezehrende Sache, die Pumpvorrichtung auf dem Spritzenwagen zu betätigen. Nach nur wenigen Minuten wurden die erschöpften Feuerwehrmänner von anderen abgelöst, die nun ihrerseits wieder in schnellem Rhythmus für den nötigen Wasserdruck sorgten. Es war später Vormittag, als endlich der Brand unter Kontrolle und das ganze Ausmaß der Katastrophe im trüben Licht des Tages zu sehen war. Von der neu erbauten Scheune gab es nur noch wenige Mauerreste. Auch der nebenan liegende Kuhstall war schwer betroffen. Das Dach hatte, als es nach innen einstürzte, drei Kühe unter sich begraben. Im Innenhof lagen weitere vier verendete Tiere. Etwas abseits standen die restlichen dreizehn Kühe, darunter das erst neun Tage alte Kalb. Die Hühner konnten sich in die Umgebung flüchten, alle acht Schafe waren den Flammen dadurch entkommen, dass sie die Nacht im Freien verbracht hatten. Das Wohnhaus blieb weitestgehend verschont. Nur der Giebel, der zur Scheune zeigte, war von Rauch und Hitze schwarz geworden. Das Löschwasser allerdings hatte im Hausinneren Schäden hinterlassen, auch zwei Fenster waren infolge der großen Hitze geborsten. Schockierend für alle war aber der Tod des Bauern und seines Sohnes. Was war nur an diesem frühen Samstagmorgen geschehen?

Beim Aufräumen und Beseitigen der Trümmer packten fast alle alteingesessenen Dorfbewohner mit an. Auch aus den Arbeitersiedlungen kamen freiwillige Helfer, die nach ihren Kräften und Möglichkeiten der Rinke-Bäuerin halfen. Die Beerdigung, nur wenige Tage nach der Tragödie, vereinte das ganze Dorf. Während des Leichenschmauses, den richteten alle umliegenden Bauernfrauen aus, wurde gemeinsam beraten, wie es denn nun mit dem Rinke-Hof weitergehen sollte. Die Bäuerin erklärte, den Hof nicht mehr aufbauen und bewirtschaften zu wollen. Sie hatte ihren Mann und den Sohn verloren, und allein könne sie die viele Arbeit nie schaffen. Sie war mit einem ihrer Brüder übereingekommen, zu ihm auf seinen Bergbauernhof zu ziehen. Schon in absehbarer Zeit, wenn alles mit dem Verkauf geregelt sei, wollte sie von Trona weggehen. Die Kühe verkaufte sie noch am Tag der Beerdigung an Bauern im Dorf. Keiner nutzte ihre schlimme Lage aus, und so erhielt sie für die dreizehn Kühe einen mehr als fairen Preis.

Wenige Tage nach der Beisetzung der beiden Rinke-Männer berieten Aaron und Willi, ob sie einen Teil des Landes und vor allem das Wohnhaus des Rinke-Anwesens kaufen sollten. Aaron wollte die Firma vergrößern und brauchte dafür Bauland für größere Fabrikgebäude. Auch für neue Mitarbeiter sollte eine neue Wohnhaussiedlung mit kleinen Gärten entstehen. Der Anwalt der Schreiters klärte alle offenen Fragen mit dem Vertreter der Rinke-Bäuerin, und auch die Hausbank hatte einem Großkredit zugestimmt. Nur vier Monate später waren alle Verträge unterzeichnet.

Willi und Inge hatten in den letzten Wochen ausführlich mit der Mutter Anna gesprochen. Sie planten, das ehemalige Rinke-Wohnhaus oben auf dem kleinen Hügel zu kaufen. Aaron unterbreitete Willi ein entsprechendes Angebot. Er war der neue Eigentümer fast des gesamten Rinke-Grundbesitzes. Nur weiter entfernte Felder fanden andere Käufer. Der Neubau eines Fabrikgebäudes sollte noch in diesem Jahr beginnen, und für das Bauernhaus war ein Umbau zum modernen Wohnhaus geplant. Dort, so wünschte es sich Aaron, könnten Willi und seine Familie wohnen. Anna freute sich mit ihren Kindern über die neuen Möglichkeiten, ein eigenes Zuhause zu haben. Für Fritz und seine Lina wäre dann auch mehr Platz im Wohnhaus, denn Lina war wieder schwanger.

Karl, ein Neffe von Fritz lebte inzwischen mit auf dem Hof. Er hatte bei seinem Onkel nach Arbeit gefragt, und war als Knecht nach Trona gekommen.

Der Dezember begann kalt und nebelig. Die Felder waren für die Winterruhe gut vorbereitet, das Wintergetreide, Gerste und Roggen, wurden rechtzeitig ausgesät. Die Drescharbeiten des Herbstes waren längst abgeschlossen und so gab es hauptsächlich nur noch Arbeit mit dem Vieh in den Ställen. Nötige Reparaturen an Geräten und Werkzeugen waren fertiggestellt, und so blieb etwas mehr Zeit für Verbesserungen im Haus. Fritz hatte begonnen, seine Wohnung neu zu malern. Die Wände im Wohnzimmer bekamen einen hellblauen Anstrich, und darauf wurden mit dunkelblauer Farbe Muster mit einer Gummiwalze aufgerollt.

Inge war im siebten Monat schwanger. Auch diesmal bereitete ihr die letzte Zeit ihrer Schwangerschaft einige Mühe. Manchmal hätte sie sich am liebsten auf das Stubensofa gelegt und die Beine ausgestreckt. Aber es gab noch so viel zu tun, so kurz vor Weihnachten. Mutter Anna half überall im Haus mit, wenn sich alles zu überstürzen schien. Oft nahm sie Werner mit in ihre Küche, erzählte ihm Märchen und Geschichten und sang ihm all die Lieder vor, die sie von ihrer Großmutter gelernt hatte. Der Junge hörte dann besonders aufmerksam zu, dabei den Teddy fest umklammert im Arm haltend, den der Vater Willi vor vielen Jahren in Leipzig nach einem Messeauftritt gekauft hatte.

Die politische Lage in Deutschland war sehr angespannt. Ständig versuchten rechts- und linksextremistische Gruppen die junge Demokratie zu zerstören. Die Aufstände mündeten in bürgerkriegsähnliche Zustände. Dazu kam die ständig steigende Kostenflut, die den Finanzhaushalt immer stärker belastete. Der Staat reagierte darauf mit einer kontinuierlichen Erhöhung der Geldmenge. Durch den Versailler Vertrag verlor Deutschland ein Siebtel seines Staatsgebietes und dadurch ein Zehntel seiner Bevölkerung. Dadurch kam es zu einem Verlust von einem Drittel der Kohlevorkommen und drei Viertel der Erzvorkommen, die in der Wirtschaft nicht ausgeglichen werden konnten. Ein Großteil der Bevölkerung arbeitete bereits bis zur Erschöpfung, aber Millionen Andere lebten am Existenzminimum. Die galoppierende Inflation fraß die Ersparnisse immer schneller auf. Produkte und Lebensmittel erreichten Preise, die kaum noch zu bezahlen waren. Auch die Kapitalflucht aus Deutschland führte zu einer weiteren Abwertung der deutschen Währung. Im Januar kostete ein US-Dollar knapp 192 Mark. Es wurde immer mehr ungedecktes Papiergeld gedruckt, und so gab es Anfang 1922 die ersten 5.000 und 10.000 Markscheine. Ein Ende dieser Entwicklungsspirale war nicht in Sicht.

Im Januar, nur wenige Tage nach Willis Geburtstag, kam dieser an einem Dienstag aus der Firma nach Hause. Es gab Neuigkeiten im Hause Schreiter. Aaron und seine Frau Sarah waren am Vorabend, am 9. Januar, wieder Eltern geworden, und die Tochter Ruth bekam einen Bruder. Ein gesunder Junge war nun Mittelpunkt in der großen Villa der Schreiters. Die glücklichen Eltern gaben ihm den Namen Michael. Der Großvater Jonas und seine Frau Deborah planten schon die große Feier Brit Mila, und nur wenige Tage später wurde das Familienfest der Beschneidung gefeiert. Auch Willi und Inge kamen der Einladung gerne nach, und feierten das ausgelassene Fest mit all den anderen Gästen. Um Werner kümmerte sich zu Hause die Großmutter. Inge fühlte sich zu schwach, und so blieben sie nur bis zum Kaffeetrinken am Nachmittag. Am Abend musste Willi den Arzt holen, denn seiner Frau ging es zunehmend schlechter. Der alte Dorfarzt war schon viele Jahre in Trona, und so kannte er die Familien sehr genau. Als er Inge untersucht hatte, schickte er Willi los, um die Hebamme zu holen. Das Kind wollte wohl nicht mehr bis zum eigentlichen Ende der Schwangerschaft warten, sondern schon jetzt, knapp vier Wochen früher, auf die Welt kommen. Fritz hatte im Waschhaus den großen Wasserkessel angefeuert, gleich nachdem der Arzt auf den Hof gekommen war. Kaum war die Hebamme im Haus angekommen, ging alles ziemlich schnell. Nur wenige Minuten später hielt sie das Neugeborene in den Händen. Es war ein Mädchen, das nun nach einem kräftigen Klaps auf den kleinen Po kräftig zu schreien begann. „Inge, es ist alles in Ordnung“, sagte die Hebamme, „deine Tochter ist gesund und munter. Sie ist noch etwas klein, aber sie hatte es ja auch zu eilig, zu dir zu kommen. Das wird sich aber alles noch geben. Wie soll sie den heißen, euer Mädchen?“ „Ich muss noch mit Willi reden, denn das ging ja jetzt alles viel schneller, als wir gedacht hatten.“ Am Abend dieses Freitags, es war der 13. Januar 1922, waren sich Willi und Inge einig. Ihr zweites Kind sollte Renate heißen.

Den ersten Geburtstag von Werner feierten alle in der großen Küche von Großmutter Anna. Sie hatte einen großen Napfkuchen gebacken. Auch Lina saß mit am Tisch. Sie hatte erst vor sechs Tagen Zwillinge geboren, zwei gesunde Mädchen. Für Lina und ihren Fritz waren diese Geburten eine besonders große Freude und Erleichterung, nachdem die erste Schwangerschaft jäh durch eine Fehlgeburt beendet wurde. Die Zwillingsgeburt dauerte fast achtzehn Stunden, an diesem Samstag, den 11. März. Gemeinsam überlegten sie alle, wann denn Taufe sein könnte. Einig waren sich aber die beiden Väter Willi und Fritz, dass für alle drei Mädchen gemeinsam das Tauffest sein sollte, für Renate, aber auch für die Zwillinge Hilde und Gerti. Willi übernahm es, den Pfarrer aufzusuchen und um den 26. März als Tauftermin zu bitten.