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Ob Bildung, Gesundheit oder Konsum: Über so ziemlich jeden Aspekt unserer Person und unseres Verhaltens werden inzwischen Daten gesammelt. Schritt für Schritt entsteht so eine Gesellschaft der Sternchen, Scores, Likes und Listen, in der alles und jeder ständig vermessen und bewertet wird.

 Das beginnt beim alljährlichen Hochschulranking, reicht über die Quantified-Self-Bewegung fitnessbegeisterter Großstädter, die über das Internet ihre Bestzeiten miteinander vergleichen, bis hin zur Beurteilung der Effizienz politischer Maßnahmen. Steffen Mau untersucht die Techniken dieser neuen Soziometrie und zeigt ihre Folgen auf. Die Bewertungssysteme der quantifizierten Gesellschaft, so sein zentraler Gedanke, bilden nicht einfach die Ungleichheiten in der Welt ab, sondern sind letztlich mitentscheidend bei der Verteilung von Lebenschancen.

 

Steffen Mau, geboren 1968, ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. In der edition suhrkamp erschienen zuletzt: Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht? (2012) und (zusammen mit Nadine M. Schöneck als Herausgeber) (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten (es 2684).

 

 

Steffen Mau

Das metrische Wir

Über die Quantifizierung
des Sozialen

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage 2017.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-518-75172-5

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung

 

1. Die Vermessung des Sozialen

 

Was bedeutet Quantifizierung?

Die kalkulativen Praktiken des Marktes

Der Staat als Datenmanager

Zahlentreiber: Digitalisierung und Ökonomisierung

 

2. Statuswettbewerb und die Macht der Zahlen

 

Vergleichsdispositive

Kommensurabilität und Inkommensurabilität

Neue Vergleichshorizonte

Register des Vergleichs und investive Statusarbeit

 

3. Hierarchisierung: Rankings und Ratings

 

Visibilisierung und Erzeugung von Differenz

Plätze einnehmen!

Universitätsrankings

Treppauf, treppab: Die Marktmacht der Ratingagenturen

 

4. Klassifizierung: Scorings und Screenings

 

Kreditscoring

Der quantifizierte Gesundheitsstatus

Mobilitätswertigkeit

»Boost your score« – Statusmarker in der Wissenschaft

Ermittlungen sozialer Wertigkeit

 

5. Bewertungskult: Sterne und Punkte

 

Zufriedenheitsfeedbacks

Bewertungsportale als Selektoren

Peer-to-Peer-Bewertungen

Professionen im Bewertungsfokus

Gefällt-mir-Reputation in den sozialen Medien

 

6. Quantifizierung des Selbst: Balken und Kurven

 

Gesundheit, Bewegung, Stimmungen

Der kollektive Körper

Motivationstechniken

 

7. Benennungsmacht

 

Die Benennungsmacht des Staates

Leistungsmessung und die Inszenierung von Wettbewerb

Benennungsmacht der Experten

Algorithmische Autorität

Kritik der Benennungsmacht

 

8. Risiken und Nebenwirkungen

 

Reaktive Messungen

Verlust professioneller Kontrolle

Zeit- und Energieverluste

Monokultur versus Diversität

 

9. Transparenz und Disziplinierung

 

Normativer und politischer Druck

Die Macht des Feedbacks

Technologische Überwachung in der Arbeitswelt

Die neuen Tarifsysteme

Die Verquickung von Selbst- und Fremdüberwachung

Das Regime der Durchschnitte, Benchmarks und Körperschemata

 

10. Das Ungleichheitsregime der Quantifizierung

 

Herstellung von Wertigkeit

Reputationsmanagement

Kollektive der Ungleichen

Vom Konflikt der Klassen zum Wettbewerb der Individuen

Unentrinnbarkeit und Statuslabilität

Sich selbst verstärkende Effekte

 

Literatur

Einleitung

Im Frühjahr 2015 hat die chinesische Regierung ein spektakuläres, ja geradezu revolutionäres Vorhaben angekündigt: Sie plant, bis zum Jahr 2020 ein sogenanntes Social Credit System zu entwickeln. Dafür sollen aus allen gesellschaftlichen Bereichen Daten über individuelles Verhalten eingesammelt, ausgewertet und schließlich zu einem einheitlichen Score zusammengeführt werden. Aktivitäten im Internet, Konsum, Verkehrsdelikte, Arbeitsverträge, Bewertungen von Lehrern oder Vorgesetzten, Konflikte mit dem Vermieter oder das Verhalten der eigenen Kinder – all das kann in dieses System einbezogen werden und Auswirkungen auf den individuellen Social Score haben. Das System soll jeden erfassen, ob er oder sie das will oder nicht. Es geht darum, ein Gesamtbild des Wertes einer Person zu erstellen, auf dessen Grundlage ihr dann wiederum bestimmte Möglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt, im Arbeitsleben oder beim Zugang zu Krediten eingeräumt werden. Behörden sollen auf diese Informationen zurückgreifen können, wenn sie mit Bürgern interagieren; Unternehmen sollen die Möglichkeit haben, sich auf diesem Weg ein Bild ihrer Geschäftspartner zu machen. Damit möchte die chinesische Regierung die Aufrichtigkeit ihrer Bürger belohnen und Unaufrichtigkeit sanktionieren. Das Vorhaben zielt erklärtermaßen auf die Herstellung von gesellschaftlichem Vertrauen, einer »Mentalität der Ehrlichkeit« – und zwar mit dem Mittel der totalen sozialen Kontrolle.

Ein extremes und düsteres Beispiel, fürwahr. Allerdings steht es für einen allgemeinen Trend hin zu quantifizierenden Formen sozialer Rangbildung, die zunehmend ein eigenständiges System der Hierarchisierung und Klassifikation darstellen. Dieses Buch beschäftigt sich mit der Herausbildung einer Gesellschaft der Scores, Rankings, Likes, Sternchen und Noten. Es handelt von daten- und indikatorenbasierten Formen der Bewertung und Kontrolle, die einer umfassenden Quantifizierung des Sozialen Vorschub leisten. Es geht um die Gesellschaft der allgegenwärtigen Soziometrie[1] oder kurz: um das metrische Wir. Soziologisch betrachtet, haben wir es bei solchen quantifizierten Selbstbeschreibungen nicht mit der bloßen Widerspiegelung einer vorgelagerten Realität zu tun, sie können vielmehr als generativer Modus der Herstellung von Differenz angesehen werden. Quantitative Repräsentationen kreieren die soziale Welt nicht, aber sie re-kreieren sie (Espeland & Sauder 2007). Sie sind demzufolge als Realität sui generis anzusehen.

Der neue Quantifizierungskult – der »Zahlenrausch«, wie es Jürgen Kaube einmal genannt hat (nach Hornbostel et al. 2009: 65) – ist in engem Zusammenhang mit der Digitalisierung zu sehen, die sich in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen manifestiert und diese radikal restrukturiert. Die vielfältigen Daten, die wir produzieren und die fortwährend gespeichert werden, erzeugen einen immer größeren digitalen Schatten, manchmal mit unserem Einverständnis, oft auch ohne dieses. In der Welt von Big Data sind Informationen über Nutzer, Bürger oder einfach nur Menschen der Rohstoff, aus dem sich Gewinn schlagen lässt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich die Informationsökonomie zu einer Krake entwickelt hat, die nicht nur massenhaft Daten einzieht, sondern diese mithilfe von Algorithmen auswertet und für vielfältige Zwecke bereitstellt. Dabei geht es stets darum, Unterscheidungen zu treffen – zu codieren – mit einschneidenden Folgen für Prozesse der Klassifikation und der Statuszuweisung. Digitale Statusdaten werden zu »Unterscheidungszeichen« (Bourdieu 1985: 21) par excellence. Dass sich Praktiken des Messens, Bewertens und Vergleichens nicht nur schleichend, sondern rasant verbreiten, mag angesichts der exponentiell wachsenden Möglichkeiten der Datenerzeugung und -verarbeitung nicht weiter verwundern. Aber es wäre zu einfach, diese allgemeine Kultur der Quantifizierung einseitig als technologische zu interpretieren, denn es kommt zugleich auf die aktive Mitmachbereitschaft zahlreicher gesellschaftlicher Akteure an: Zum einen müssen sie solche Verfahren und Maßstäbe akzeptieren, zum anderen müssen sie ihre Daten zur Verfügung stellen und sich bewerten lassen.

Angetrieben wird diese Entwicklung nicht zuletzt durch die Popularisierung von Konzepten wie Transparenz, Accountability und Evidenzbasierung, bei denen Ratings, Rankings und quantifizierende Bewertungsformen eine zentrale Rolle spielen. Es geht hierbei darum, durch die Verfügung über Daten das Steuerungswissen zu erhöhen, um effektiver in das soziale Geschehen eingreifen zu können (Power 1994, Strathern 2000). Man verlässt sich oftmals auf Indikatoren, mit deren Hilfe sich komplexe soziale Phänomene anhand weniger Daten erfassen und mittels derer sich Vergleiche durchführen lassen. Kennziffern, Indikatoren und Zahlen sind daher von fundamentaler Bedeutung für oft unter dem ungenauen Stichwort »Neoliberalismus« verhandelte Governance-Ansätze, die Effizienz und Leistungsfähigkeit zu leitenden Bewertungsmaßstäben machen (Crouch 2015). Die überall etablierten Leistungs- oder Zielvereinbarungen setzen Überprüfbarkeit voraus, und um diese durchzusetzen, benötigt man entsprechende Indikatoriken: So führt das New Public Management, also die Übernahme privatwirtschaftlicher Managementtechniken in der öffentlichen Verwaltung, mehr oder weniger automatisch zu einer Ausdehnung des Monitorings und der Berichterstattungspflichten. Öffentliche Einrichtungen sowie private Unternehmen erweitern zudem beständig ihren Datenbestand über Bürger, Kunden oder Mitarbeiter, um Kontrolle auszuüben und um Zielgruppen genauer adressieren zu können. Komplementär dazu gibt es Veränderungen in der individuellen Selbststeuerung, etwa durch die Verbreitung der Rolle des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007), durch Self-Enhancement oder neue Formen der Selbstoptimierung. Auch hier wird verstärkt auf Verfahren der Vermessung und Quantifizierung zurückgegriffen, weil diese geeignet scheinen, die eigene Leistungskurve exakt abzubilden und sich mit anderen »messen« zu können. Die Gesellschaft macht sich auf den Weg zur datengestützten Dauerinventur.

Daten zeigen an, wo eine Person, ein Produkt, eine Dienstleistung oder eine Organisation steht, sie leiten Bewertungen und Vergleiche an – kurz: produzieren Status und bilden diesen ab. Permanente Vermessung und Bewertung führen dazu, dass sich sowohl die Fremd- als auch die Selbststeuerungsleistungen intensivieren. Wenn jede Aktivität und jeder Schritt im Leben aufgezeichnet, registriert und in Bewertungssysteme eingeschrieben wird, verlieren wir die Freiheit, unabhängig von den darin eingelassenen Verhaltens- und Performanzerwartungen zu handeln. Ratings und Rankings, Scorings und Screenings trainieren uns Wahrnehmungs-, Denk- und Beurteilungsschemata an, die sich zunehmend an Daten und Indikatoriken ausrichten. »Statusarbeit« (Groh-Samberg et al. 2014) wird dann zum Reputationsmanagement, bei dem es vor allem darum geht, gute Noten, Plätze und Scores zu erhalten. Das gilt umso mehr, als unter den Bedingungen von Statusunsicherheit das Interesse daran wächst, sich seines Standings zu versichern – am besten mit objektiven Daten. So gesehen lässt sich die neue Verunsicherung in wichtigen Fraktionen der Mittelschichten durchaus als treibende Kraft hinter dem auf Quantifizierung setzenden Statusdrang verstehen, wobei hier Fluch und Segen einmal mehr eng beieinander liegen. Der Halt, den objektivierte Statusinformationen geben mögen, wird mit einer Dynamisierung des Statuswettbewerbs erkauft.

Die Möglichkeiten der Protokollierung von Lebens- und Aktivitätsspuren wachsen gegenwärtig rasant: Konsumgewohnheiten, finanzielle Transaktionen, Mobilitätsprofile, Freundschaftsnetzwerke, Gesundheitszustände, Bildungsaktivitäten, Arbeitsergebnisse etc. – all dies wird statistisch erfassbar gemacht. Gewiss, es gibt nach wie vor Möglichkeiten, in der digitalen Welt Außen- oder zumindest Randseiter zu bleiben und Datenspuren zu vermeiden, allerdings um den Preis der Selbstexklusion aus relevanten Kontexten der Kommunikation und Vernetzung. Nach allem, was man bislang weiß, sind Menschen überaus freizügig, wenn es darum geht, persönliche Daten zu veröffentlichen oder weiterzugeben. Dieser Datenvoluntarismus speist sich aus einer Mischung aus Mitteilungsbedürfnis, Unachtsamkeit und schließlich dem Interesse an den neuen Möglichkeiten des Konsums, der Information und der Kommunikation. Es gibt zudem eine wachsende Nachfrage nach Selbstquantifizierung, welche die Individuen zu bereitwilligen Datenlieferanten werden lässt. Die Technologien der Selbstvermessung und des Self-Tracking sind eine Goldader für die Data-Miner, die unser Verhalten so umfassend wie möglich beschreiben und vorhersagen wollen. Durch die Verbindung von wachsenden Datenbeständen und immer ausgefeilteren Analyseverfahren lassen sich diese individuellen Informationen mit kollektiven Aggregaten verbinden. Wir werden mannigfaltig vergleichbar: mit Normwerten, mit anderen, mit Leistungszielen, die man erreichen sollte oder möchte.

Der als Rationalisierung maskierte Kult der Zahlen hat weitreichende Folgen: Er verändert auch die Art und Weise, wie das Wertvolle oder Erstrebenswerte konstruiert und verstanden wird. Indikatoren und metrische Vermessungsformen stehen jeweils für spezifische Konzepte sozialer Wertigkeit sowohl im Hinblick auf das, was als relevant gelten kann, als auch auf das, was gesellschaftlich als erstrebenswert und wertvoll angesehen wird bzw. werden soll. Im Regime der Quantifizierung erfahren entsprechende Daten große Anerkennung, man denke nur an die Rolle von Ratingnoten auf kommerziellen Bewertungsplattformen oder die Zitationsindizes im wissenschaftlichen Feld. Je besser diese Einprägung gelingt, desto größer ist ihr gesellschaftlicher Einfluss. Die symbolische Dimension der hierarchisierenden Soziometrie zeigt sich dann darin, dass viele der Kriterien, die der quantitativen Rangbildung zugrunde liegen, einfach hingenommen und nicht mehr hinterfragt werden. Wenn sie als angemessen, evident und selbstverständlich erlebt werden, sind wichtige Schritte in Richtung einer Naturalisierung sozialer Ungleichheit vollzogen.

Vor diesem Hintergrund gibt es neuerdings wichtige Anläufe, sich intensiver damit zu befassen, wie Wertigkeit zustande kommt und wie Grammatiken von Klassifikation, Differenzbildung und Hierarchisierung durch Quantifizierungen etabliert werden (Espeland & Stevens 1998, 2008; Fourcade & Healy 2013; Heintz 2010; Lamont 2012; Timmermans & Epstein 2010). Diese Ansätze firmieren mitunter unter dem Label »Valuation Studies«. Es gibt eine ökonomische Theorie der Valuation, die sich mit der Ermittlung des Wertes bestimmter Güter (etwa von Umwelt- und Naturgütern) beschäftigt, wobei es in der Regel um Dinge geht, die nicht permanent gehandelt werden oder für die keine ausgebildeten Nachfragemärkte und damit auch keine Preise existieren. In den gesellschaftlichen Kontexten, mit denen ich mich beschäftige, stehen allerdings nicht Preise im Mittelpunkt, sondern vor allem soziale Wertigkeiten und damit verbundene Positionen im gesellschaftlichen Gefüge. Mit Valuation im engeren Sinne ist dabei die Wertfestsetzung oder -stellung gemeint, der Begriff soll hier aber zugleich als soziokulturelle Praktik der Inwertsetzung verstanden werden: als Valorisierung, also als Aufladung mit Wert. Aus dieser Perspektive existiert kein vorgängiger, neutraler und vom Betrachter unabhängiger Wert, der nur »entdeckt« oder gemessen werden müsste, sondern wir haben es mit Vorgängen der Wertzuschreibung und Wertmanifestation zu tun. Valuation, so schreiben Doganova et al. in einem programmatischen Beitrag, bezeichnet jede soziale Praktik, »bei der Wert oder Werte von etwas etabliert, eingeordnet, verhandelt, provoziert, erhalten, konstruiert und/oder herausgefordert werden« (2014: 87). Wenn Wert nicht als gegeben, sondern als sozial hergestellt angesehen wird, lautet eine Grundprämisse der Analyse solcher gesellschaftlichen Vorgänge immer: Es hätte auch anders sein können! Mit einer derartigen Perspektive kann man so unterschiedliche Phänomene wie das Ranking von Universitäten, Performanzmessung in der Arbeitswelt, die Punktevergabe für die Freundlichkeit des Hotelpersonals, das Messen der täglichen Schrittzahl oder die Veröffentlichung von Mortalitätsraten in Krankenhäusern als Teil eines umfassenden Trends verstehen. Hier wird die Tür in Richtung einer Bewertungsgesellschaft aufgestoßen, die alles und jeden einer Bewertung mittels quantitativer Daten unterzieht und damit zugleich neue Wertigkeitsordnungen etabliert.

Vor diesem Hintergrund argumentiere ich in diesem Buch, dass die Quantifizierung des Sozialen nicht einfach nur eine spezifische Beschreibungsform der Gesellschaft darstellt, sondern in drei soziologisch relevanten (und bislang wenig berücksichtigten) Hinsichten Wirkung entfaltet: Erstens verändert die Sprache der Zahlen unsere alltagsweltlichen Vorstellungen von Wert und gesellschaftlichem Status. Im Gleichschritt mit der Ausbreitung von Zahlenhaftigkeit wird auch die »Kolonialisierung der Lebenswelt« (Habermas 1981) durch instrumentell geprägte Vorstellungen von Berechenbarkeit, Messbarkeit und Effizienz vorangetrieben. Zweitens befördert die quantifizierende Vermessung des Sozialen eine Ausbreitung, wenn nicht gar eine Universalisierung von Wettbewerb, da durch das Bereitstellen quantitativer Informationen der Hang zum Sozialvergleich und damit auch zum Wettbewerb gestärkt wird. Wir können nun in vielen Sphären unserer sozialen Existenz, die solchen Verfahren zuvor nicht explizit zugänglich waren, anhand von Mehr-oder-weniger- oder Besser-oder-schlechter-Vergleichen anderen gegenübergestellt werden. Sich ausweitende Konkurrenz- und Wettbewerbsordnungen sind geradezu auf die Durchsetzung und subjektive Aneignung von Indikatoren angewiesen, da der Wettbewerb aus spezifischen raumzeitlichen Kontexten herausgelöst werden muss. In vielen Bereichen sind es letztlich erst die Praktiken der Quantifizierung, die eine Inszenierung von Wettbewerb ermöglichen, und zwar eines Wettbewerbs, der mithilfe von Zahlen ausgetragen wird. Drittens ergibt sich ein Trend hin zu einer verstärkten gesellschaftlichen Hierarchisierung, weil Darstellungen wie Tabellen, Grafiken, Listen oder Noten letztlich qualitative Unterschiede in quantitative Ungleichheiten transformieren. Die Folgen für die Strukturierung und Legitimation sozialer Ungleichheit sind bislang noch kaum in den Blick genommen worden. Quantifizierende Zuweisungen von Statusrängen, so die zentrale These dieses Buches, verändern unsere Ungleichheitsordnung, weil bislang Unvergleichbares miteinander vergleichbar gemacht und in ein hierarchisches Verhältnis gebracht wird.

Im folgenden Kapitel wird zunächst gezeigt, wie Zahlenhaftigkeit, Kalkulation und metrische Standardisierung die Institutionalisierung von Politik und Märkten maßgeblich beeinflusst haben. Ausgehend von diesem Rückspiegelblick widmet sich das Kapitel der Digitalisierung und der Ökonomisierung der Gesellschaft und benennt sie als zwei wesentliche Antriebskräfte der Quantifizierung des Sozialen. Darauf aufbauend erkundet Kapitel 2 den Zusammenhang zwischen Zahlenhaftigkeit und Sozialvergleich. Es wird gezeigt, wie durch die Verfügung über Zahlen ein gesellschaftliches Vergleichsdispositiv ausgebildet wird, das uns unmittelbar in Wettbewerbssituationen hineinstellt. Verkürzt könnte man sagen: ohne Daten kein Wettbewerb. Die darauf folgenden vier Kapitel besichtigen dann einige konkrete Felder der Quantifizierung. Zunächst geht es in Kapitel 3 um Ratings und Rankings sowie ihre gesellschaftliche Wirkung; illustriert wird dies anhand globaler Universitätsrankings und am Beispiel von Ratingagenturen, welche die Kreditwürdigkeit von Staaten, Unternehmen sowie Anlagemöglichkeiten bewerten. Kapitel 4 widmet sich Scorings und Screenings als Formen der Ermittlung sozialer Wertigkeit auf der individuellen Ebene. Dies wird exemplarisch an Bonitätsbewertungen, Gesundheitsscorings, der Mobilitätswertigkeit und der wissenschaftlichen Leistungsmessung ausgeführt. Kapitel 5 greift den neuen Bewertungskult auf, im Rahmen dessen wir alle fortwährend ermuntert werden, Noten für Produkte, Dienstleistungen oder Personen zu vergeben, Webseiten oder Posts zu liken oder Zufriedenheiten zurückzumelden. Schließlich führe ich in Kapitel 6 aus, inwieweit durch Praktiken der Selbstvermessung neue Formen des Wettbewerbs und der Optimierung an Boden gewinnen. Vor diesem Hintergrund wird in Kapitel 7 erörtert, wer in diesem Zahlenspiel eigentlich die Benennungsmacht besitzt. Zunächst wird argumentiert, dass ökonomisch geprägte Kennziffern und Leistungsparameter an Boden gewinnen und mit ihnen das ökonomisch geschulte Personal und damit verbundene Interessen. Zudem wird gezeigt, dass Expertensysteme und Algorithmen zunehmend darüber entscheiden, welche Wertigkeiten sich durchsetzen und wie neuartige Konkurrenzverhältnisse aussehen. Insbesondere die Ausübung algorithmischer Macht scheint dabei in der Lage, sich von der Legitimitätsfrage abzuschirmen und kommerzielle Interessen zu verstärken. Kapitel 8 greift einige Nebenfolgen der Quantifizierung auf, die insbesondere dann auftreten, wenn professionelle Standards verdrängt werden, Zielindikatoren falsche Anreize setzen oder es durch intensivierten Wettbewerb zu Verlusten an Zeit oder anderen Ressourcen kommt. Kapitel 9 analysiert den Zusammenhang von Quantifizierung und Kontrolle, da die durch Zahlen in Aussicht gestellte Transparenz immer auch zu einem Mehr an Überwachung führt. Angesichts des Befunds, dass es bei der Quantifizierung des Sozialen eine große Mitmachbereitschaft gibt, lohnt es sich festzuhalten, dass Kontrolle eben nicht allein von außen kommt, sondern dass wir entsprechende Entwicklungen auch selbst vorantreiben. Kapitel 10 greift abschließend die Frage der Neukonstitution sozialer Ungleichheit durch Quantifizierung auf. Welches Ungleichheitsregime bildet sich mit der wachsenden Macht der Zahlen und dem Aufstieg des metrischen Wir heraus? Statusdaten zeigen Reputation an und wirken deshalb wie symbolisches Kapital, das zum eigenen Vorteil eingesetzt und in andere soziale Währungen konvertiert werden kann. Die quantifizierte Gesellschaft beobachtet und etabliert fortwährend Differenzen zwischen Individuen, die sich als Ungleichheiten darstellen und sich mit ganz konkreten Vor- und Nachteilen verbinden. Die Logik der gesellschaftlichen Ungleichheit schaltet sozusagen um: weg vom Konflikt der Klassen, hin zum Wettbewerb der Individuen.

Man muss sich bei diesem Thema davor hüten, in die Falle platter und allzu einseitiger Kulturkritik zu geraten, da sich letztlich jeder Quantifizierungsschritt wegen der damit verbundenen Reduktion von Komplexität und der Steigerung von Kontrolle wohlfeil anprangern lässt. Diese Versuchung liegt stets nahe, und um ihr wenigstens halbwegs zu entgehen, sei hier noch einmal betont, dass Zahlen und Daten selbstverständlich eine wichtige und unabdingbare Funktion für moderne Gesellschaften haben, sei es auf Märkten, in der Wissenschaft, in der Politik oder im privaten Bereich. Quantifizierungen sind für Fortschritt, Erkenntnis und Rationalisierung ein wichtiger Schlüssel, sie helfen uns, Zusammenhänge zu entdecken und die Welt zu verstehen. Außerdem haben sie für viele Gruppen, die um Anerkennung und Rechte kämpfen, fundamentale Bedeutung. Es gibt durchaus auch ein emanzipatorisches Potenzial der Zahlenhaftigkeit, weil sie Diskriminierungen oder Benachteiligungen aufzeigen und weil sie Ungleichheiten, die auf einem guten Namen oder der richtigen Herkunft beruhen, in Zweifel ziehen kann. Was das Buch sichtbar machen soll, sind die vielfältigen sozialen Folgen, die sich aus der Quantifizierung des Sozialen ergeben. Bei dieser handelt es sich immerhin um einen Megatrend, der in seiner Reichweite bislang nur in Ansätzen erkundet worden ist und der unsere soziale Umgebung bis in die letzten Verästelungen hinein neu strukturiert. Als auch quantitativ arbeitender Sozialforscher bin ich – hoffentlich – unverdächtig, einer allgemeinen Zahlenaversion anheimzufallen und quantitative Vermessungsinstrumente ganz generell zurückzuweisen. Doch vielleicht schärft ja gerade die Beschäftigung mit quantitativen Daten den Blick für die vielfältigen Probleme, die mit der Nutzung scheinbar einfacher und unvoreingenommener Instrumente der Vermessung des Sozialen verbunden sind. Neben die enormen Gewinne, die man aus Daten ziehen kann, treten erhebliche Risiken und handfeste gesellschaftliche Probleme. Das gilt vor allem dann, wenn wir der Herausbildung der »Omnimetrie« (Dueck 2013: 37), dem Kult des Allesmessens, allzu leichtfertig nachgeben, ohne ihn kritisch zu hinterfragen.

 

Auch wenn nur ein Name auf dem Cover steht, ist die Arbeit an einem Buch doch meistens ein kollektives Unterfangen. Ein erster Dank gilt Susanne Balthasar, die mich während des Schreibens fortwährend ermahnt hat, den soziologischen Jargon zu dosieren, und die viele Ideen und Lektürefunde eingebracht hat. Fabian Gülzau und Thomas Lux waren engagierte Testleser des Manuskripts und haben wichtige Rückmeldungen gegeben. Oscar Stuhler hat sich durch eine erste Rohversion gearbeitet und mir bei vielen Einsichten und Formulierungen geholfen. Milan Zibula hat für mich recherchiert, und Katja Kerstiens hat kritisch Korrektur gelesen. Mein Freund Thomas A. Schmidt hat das Buch durch seine anhaltende Neugier inspiriert. Hagen Schulz-Forberg hat beim gemeinsamen Joggen (mit Schrittzähler selbstredend) immer wieder Beobachtungen zum Quantifizierungstrend mit mir geteilt. Philipp Staab hat mich mit freundlich-kritischen Kommentaren versorgt. Martina Franzen hat mich im Herbst 2016 zum Big Data Brown-Bag Seminar am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) eingeladen, wo ich meine Ideen vor einem größeren und fachlich einschlägigen Publikum ausprobieren konnte. Und schließlich hat Heinrich Geiselberger mir die Tür zur edition suhrkamp geöffnet und den Text mit unermüdlichem Einsatz auf Vordermann gebracht. Das Buchprojekt ist durch das »Freiräumeprogramm« der Humboldt-Universität zu Berlin unterstützt worden. Allen Genannten gilt mein herzlicher Dank!



[1] Ursprünglich ist dieser Begriff im Zuge der Erfassung von Gruppenstrukturen eingeführt worden (Moreno 1934), er ist aber sehr treffend für alle Formen der Sozialvermessung mittels metrischer Daten.