Ich bin 1945 im Juli geboren, und zwar in Lorient, Frankreich, in der Bretagne. Dort bestand ein U-Boot-Stützpunkt der deutschen Wehrmacht, der zur Festung erklärt worden war. Zum Zeitpunkt meiner Geburt war der Krieg gerade vorbei, die Festung befand sich nunmehr in französischer Hand, und die deutsche Besatzung war interniert, einschließlich der Krankenschwestern des Roten Kreuzes. Mein Vater war dort Marinesoldat auf einem U-Boot gewesen und meine Mutter Schwesternhelferin beim Deutschen Roten Kreuz. Die beiden hatten sich auf dem Stützpunkt kennengelernt und dort während der Gefangenschaft geheiratet.


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Meine Mutter hatte drei Schwestern und einen Bruder. Eine der Schwestern ist später nach Argentinien ausgewandert, die zweite wohnte später in Hamburg und die dritte in Glückstadt an der Elbe. Der Bruder war nur hundert Kilometer von ihrem Standort entfernt mit seinem Panzer in Brand geraten und gestorben. Er war erst neunzehn Jahre alt, sie hat ihn sehr geliebt und eigentlich ihr ganzes Leben um ihn getrauert. Ich habe ein Foto von ihm – ein ganz normaler, fröhlicher Junge. Er hieß Hans, und nach ihm bin ich benannt. 


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Außer mir wurden noch vier weitere Kinder in dem Stützpunkt geboren; meine Mutter hatte noch längere Zeit mit den anderen Müttern Kontakt. Eine von ihnen wohnte später in Bremen, wo wir sie einmal mit ihrem Jungen besucht haben, nachdem wir auch dorthin gezogen waren. Die anderen drei Kinder waren früh verstorben, die hatten es nicht geschafft. 

Es war ein Problem, die Babys über die Runden zu bringen. Die Franzosen, unter ihnen auch marokkanische Soldaten, waren sehr rachebedürftig, wie meine Mutter erzählte, und es war schwer, etwas zu essen zu besorgen, vor allem Milch für die Babys. Mein Vater konnte sehr gut Französisch und war als Dolmetscher eingesetzt; ihm gelang es irgendwie, mehrere Liter Lebertran zu „erschachern“. Davon hatte mich meine Mutter im Wesentlichen ernährt. Bis zum vierten oder fünften Lebensjahr musste ich jeden Tag morgens und abends einen Esslöffel trinken. Pur! Irgendwann sagte ich: „Mama, ich kann das nicht mehr trinken.“ Sie bedauerte es zwar, meinte, ich würde groß und stark davon werden, aber ich weigerte mich standhaft und brauchte es dann nicht mehr zu nehmen. 

1946 wurde meine Mutter zusammen mit den anderen Frauen vorzeitig entlassen, aber natürlich erhielten sie keine Eisenbahnfahrkarten, sondern jede musste sehen, dass sie auf ihre Weise nach Hause kommt. Mein Vater hatte zusammen mit einem Freund eine Art Leiterwagen zusammengebastelt, und damit zog meine Mutter mit mir nach Schleswig-Holstein. Sie erzählte, dass ihr überall, zu ihrer Überraschung selbst in Frankreich, sehr viel Hilfsbereitschaft begegnete, weil jedes mal, wenn jemand in den Wagen sah, ihm ein kleiner Junge entgegen strahlte. Ich war wohl ein sehr freundliches Kind. „Du hast nicht geweint, nicht gemault“, berichtete meine Mutter. So bekam sie unterwegs immer wieder einmal etwas zu essen und konnte den langen Weg durchhalten. In Dithmarschen, in der Nähe von Itzehoe, an einem kleinen Nebenfluss der Elbe, der Stör, hatten meine Großeltern mütterlicherseits einen kleinen Bauernhof als Nebenerwerbsbetrieb. 


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Mein Opa war Beamter im Landwirtschaftsamt des Kreises. Er war wohl Nazi gewesen, keine große Nummer, aber immer ein pflichtbewusster Soldat. Begeistert erzählte er stets nur aus dem Ersten Weltkrieg: von Schlachten in Verdun und an der Somme. Dort war er als Reiter des Führungspferdes vor dem 6-spännigen Wagen, auf dem eine Kanone montiert war, eingesetzt. Nachher wurde mir das ein wenig zu viel, weil es immer die gleichen Geschichten waren. Allerdings hat er mir auch plattdeutsche Geschichten vorgelesen, von Fritz Reuter, und ich fand ich es schön, auf seinen Knien zu sitzen und zuzuhören. Mein Plattdeutsch verdanke ich eigentlich meinem Großvater, denn meine Mutter sprach nicht Platt. Sie konnte es zwar verstehen, war ja auf dem Lande groß geworden, aber sie hatte immer abgelehnt, es zu sprechen. „Plattdeutsch stinkt nach Misthaufen“, sagte sie immer. Sie erzählte mir von einem Bauern in der Nachbarschaft, der sie werben wollte – nein, das wollte sie nicht: neben dem Misthaufen sesshaft werden. Sie trieb es in die Stadt. 


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Ihre Verwandtschaft verteilte sich über ganz Schleswig-Holstein, aber der Großteil kam von der Insel Föhr, die Familien Lorenzen und Christiansen. Meine Oma war ein Kind der Familie Christiansen.


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Die Männer waren ausnahmslos Seeleute gewesen, Kapitäne, und einer war sogar Admiral, Kommandant der deutschen Truppen in Holland; er musste dann in den Fünfzigerjahren auch vor Gericht und wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, da man ihm die Verantwortung für die Verfolgung der niederländischen Juden unterstellte. 

Gelegentlich war ich auch mal auf Föhr, habe aber nie da gewohnt. Wir lebten in den ersten Jahren also bei meinen Großeltern, die natürlich um ihren gefallenen Sohn Hans trauerten, in dem kleinen Bauernhaus in Heiligenstedten bei Itzehoe. Das Haus stand am Deich der Stör, einem Nebenfluss der Elbe. Es war reetgedeckt, hatte am Giebel vier Fenster und darüber ein sogenanntes „Eulenloch“, wo laut Großvater eine Eule ihr Zuhause hatte. Einige Räume hatten die beiden ohnehin schon an eine Flüchtlingsfamilie mit Kindern abgeben müssen und dann kam eines Tages auch Tante Thea, Schwester meiner Mutter, deren Ehemann als Student eines nachts während der Arbeit im Hafen übermüdet in einen Getreidesilo gefallen und erstickt war. Jetzt war sie auch noch „ausgebombt“, das heißt, dass das Haus, in dem sie ihre Wohnung hatten, durch einen britischen Luftangriff auf Hamburg zerstört war. Sie traf mit ihren drei Kindern von fünf, drei und einem Jahr nun auch noch in Heiligenstedten in der Hoffnung auf Bleibe ein. 

Erinnerungssplitter aus dieser Zeit: Mit meinen Cousins und Cousinen Sauerampfer auf dem Deich suchen und essen, bei Niedrigwasser erschrocken dem Kampf eines riesigen Störs (um Sauerstoff) beobachten, über die „merkwürdigen“ Menschen nachsinnen, die drüben, auf der anderen Seite der Stör, wohl leben mochten, die abendliche Hauptmahlzeit einnehmen, indem man zu acht Personen in der großen Küche um einem ovalen Tisch sitzend mit seiner Gabel bemüht war, aus der Pfanne mit gebratenem Kartoffelpüree, einzelne Speckstückchen und einige der wenigen Karottenwürfel oder zumindest etwas von dem angebrannten Püree herauszufischen.


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Es wurde zu eng für alle Familienmitglieder und so zog meine Mutter mit mir nach Bremen. Sie war schwerkrank, hatte sich im Krieg bei einem Sterbenden mit Tuberkulose angesteckt. Meine Mutter erzählte, dass es häufig passierte, dass ein Tuberkulosekranker im Sterben noch die pflegende Kraft ansteckte. Sie hatte also Tbc, sie hörte schlecht, musste mehrfach operiert werden. Außerdem war sie stark sehbehindert, trug eine starke Brille mit dicken Gläsern, hinter denen sie ganz große Augen hatte, die mir zeitweise Angst machten. Schon als Kind war sie durch ihr schlechtes Sehen und Hören, was erst später behandelt wurde, in der Schule sehr gehandicapt. Dadurch hatte sie keine gute Schulbildung, hatte es nie geschafft, das große Krankenpflege-Examen zu machen, sondern lediglich das kleine und konnte so nur Schwesternhelferin werden, was sie ihr Leben lang bedauerte. Dennoch war sie eine intelligente Frau, die sich auch gut ausdrücken konnte. 

Meine Mutter wollte aus zwei Gründen nach Bremen: Zum einen wollte sie zu ihren Schwiegereltern; mein Vater war immer noch in Frankreich in Gefangenschaft, aber sie hatte wohl Kontakt mit ihnen aufgenommen. Zum anderen brauchte man in Bremen kein Schulgeld zu zahlen. Alle Schulbücher, selbst die Hefte und Zeichenstifte wurden von der Schule gestellt. Jedes Bundesland hatte ja die Bildungshoheit, und Bremen war diesbezüglich Vorreiter unter den Bundesländern. 


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In Bremen wohnten wir zunächst im Stadtteil Grambke bei meinen Großeltern väterlicherseits. Bei uns musste jeder Pfennig umgedreht werden. Meine Mutter hatte zwischen ihren Krankheiten verschiedene, heute würde man sagen: Jobs. Manchmal war sie wochenlang weg, mal wegen der Tuberkulose, mal wegen einer Ohrenoperation, mal wegen ihrer Augen, und jedes Mal musste sie sich danach eine neue Arbeit suchen. An eine erinnere ich mich noch: Da musste sie Heringe in Fässer stopfen und mit Salz abdecken. Es war auch sehr kalt, da viel Eis zur Kühlung der Fische verwendet wurde und nach stundenlanger Arbeit wurde die Haut an ihren Händen rissig und trocken. Warum sie nicht mit Handschuhen arbeiteten, weiß ich nicht. Häufig hatte sie auch Nachtschicht. 

Meine Mutter fand für die längeren Krankenhauszeiten Pflegeeltern für mich in der Nachbarschaft. Dort wurde ich immer sehr liebevoll behandelt.

1948 kam auch mein Vater aus der Gefangenschaft nach Hause. Ganz dunkel kann ich mich erinnern, dass er Gitarre und Mandoline spielte und dazu gern auch mal sang. Er hatte drei Brüder, die alle zur See fuhren sowie eine Schwester. Mein Vater hatte ein paar Semester Schiffbau studiert, dieses jedoch nicht abgeschlossen, weil der Krieg begann. Er war kein Nazi, im Gegenteil: Er wollte sich keine Vorschriften machen lassen von Unteroffizieren, die ihm intellektuell nicht das Wasser reichen konnten. Wegen seines Widerspruchsgeistes ist er nie über den Rang eines Gefreiten hinaus gekommen.

Die Brüder meines Vaters merkten bald, dass er nicht so recht den Drang hatte, sich um eine geregelte Arbeit zu bemühen. Irgendwie hatte er, der kriegsbedingte Studienabbrecher, wohl den Faden verloren. Es war die Zeit des Schwarzhandels, und in diese Szene ist er, wahrscheinlich über Freunde, die er von früher kannte, hineingeraten. Eine kurze Zeit war er bei der Bahnpolizei. Die musste damals besonders darauf aufpassen, dass von den Güterzügen nicht zu viel geklaut wurde. Der Hafenumschlag in Bremen wurde in großem Umfang über die Bahn abgewickelt, und die Züge fuhren alle durch unseren Stadtteil. 


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Mein Großvater war Werksdirektor einer Raffinerie der Mobil-Oil in Bremen; vorher war er bereits Werksdirektor in Rumänien gewesen –eigentlich weiß ich über diese Familie nichts weiter. Er war ein sehr lieber Opa, ich saß oft auf seinen Knien, aber er war damals schon, wie auch meine Großmutter, recht hinfällig und starb 1952. Die Brüder, allesamt Seeleute, kamen häufig in der Wohnung meiner Großeltern zusammen. Der älteste Bruder war bereits verheiratet und war Offizier, die anderen noch nicht. Zunehmend gab es Streit und einmal wollten die drei anderen meinen Vater sogar verdreschen. Sie jagten ihn um den großen Esstisch herum, er war aber sehr geschickt und ihnen immer wieder entwischt. Die drei waren richtig sauer auf ihn; ich denke, es hing damit zusammen, dass er zu wenig Verantwortungsgefühl für seine Frau und sein Kind zeigte und sie ihn zur Räson bringen wollten. 

Die Güterzüge fuhren also durch unseren Stadtteil Bremen-Grambke. An einer Stelle mussten sie sehr langsam fahren, weil da eine scharfe Kurve war von der Weser weg ins Binnenland. Eines Abends wurde ich mal zum Kohlenklau mitgenommen, wahrscheinlich, weil sie mich nicht allein zu Hause lassen wollten. Ich erinnere mich, wie die Männer auf die Wagen sprangen und die Kohlen herunterwarfen. Die Frauen und Kinder sammelten sie unten in Säcken, so viel, wie sie tragen konnten. Plötzlich ertönten schrille Pfiffe, die Bahnpolizisten kamen angerannt und Männer, Frauen und Kinder liefen weg. Manchmal wurde einer geschnappt, aber man hatte wieder ein paar Kohlen. Es war sehr schwierig, in Bremen an Heizmaterial zu kommen. Was man an Wald hatte, war schon verheizt worden – das wusste ich damals natürlich noch nicht. Ähnlich war es mit Kartoffeln, auch sie wurden so ergattert. 

Irgendwie hatte mein Vater wohl etwas falsch gemacht, vielleicht zu oft die Augen zugedrückt, jedenfalls wurde er nach kurzer Zeit von der Bahnpolizei entlassen. Zu Hause regte er sich darüber auf, dass die leitenden Polizeibeamten im Hafen darüber hinwegsähen, wie ganze LKW-Ladungen Bananen verschwinden würden und dass die da auch beteiligt seien. Vielleicht wollte er aber auch nur sein eigenes Tun rechtfertigen. Jedenfalls war sein Job weg, und er kam immer mehr auf die schiefe Bahn. Er hatte einen Freund, der war Schlosser, und mit ihm zusammen baute er eine Geldmaschine. Sie stellten Fünfmarkstücke her. Nach einiger Zeit fasste man die beiden, weil es ihnen nicht gelungen war, den geriffelten Rand zu prägen. Alles andere war ihnen ganz gut gelungen. Heute würde man sagen: Das ist ja mühselig. Fünf Mark. Aber damals war ein Fünf Mark-Stück nicht wenig, ungefähr zwei Tageslöhne. (Selbst zehn Jahre später verdiente mein Stiefvater erst siebzig D-Mark wöchentlich). Diese Maschine wurde dann jahrelang im Bremer Kriminalmuseum ausgestellt, vielleicht steht sie heute noch da. 

Daher kam mein Vater dann ins Gefängnis und später war er noch mal beteiligt an einem großen Raub, das stand dann auch in den Zeitungen. Da hatten sie nicht etwa einen Tresor aufgeschweißt, sondern den ganzen Tresor mitgenommen! Sie hatten sich einen LKW besorgt, den Tresor rausgeschleppt und dann in aller Ruhe draußen im Wald geöffnet. Dafür wurde er dann mit zwei Jahren Gefängnis bestraft. Später hat er sich wahrscheinlich keine kriminellen Dinge mehr erlaubt, ist aber immer ein unsteter Mensch geblieben. Er hat nie eine eigene Wohnung besessen, wohnte mal hier, mal da, immer bei Frauen, die er kennengelernt hatte. Er war als Reisender und Handelsvertreter in verschiedenen Branchen tätig, aber meine Mutter bekam von ihm nie finanzielle Unterstützung für mich. Sie wusste auch selten, wo er wohnte. 

Der Staat Bremen zahlte für mich Unterhalts-Vorschüsse an meine Mutter und ich erhielt in jedem Jahr aus der staatlichen Kleiderkammer auf Antrag neue Wäscheteile sowie zwei Mal sechswöchige Aufenthalte in Herbergen. Dort sollten Kinder aus armen Familien „aufgepäppelt“ werden. Dort fühlte ich mich mit den vielen Kindern bei Musik, Spiel und Sport sowie gutem Essen immer sehr wohl und verstand solche Kinder nicht, die an Heimweh litten. 

Ende des Jahres 1949 reichte mein Vater die Scheidung ein. Damals galt in Westdeutschland noch das Schuldprinzip. Das heißt, wer schuldig geschieden wurde, hatte die Prozesskosten zu tragen und alle möglichen anderen Nachteile. Mein Vater hatte frech behauptet, meine Mutter hätte ein Verhältnis mit seinem Freund, dem bereits erwähnten Schlosser. Dieser sagte vor Gericht auch aus, dass sich meine Mutter und er geküsst hätten. Das hat meine Mutter nie verwunden, sie war noch jahrelang betroffen über diese Schmach. Aber sein Ansinnen ist abgewiesen worden; die Eltern und Brüder meines Vaters sagten gegen ihn aus, meinten, das könne nicht sein, sie würden für meine Mutter ihre Hand ins Feuer legen. Letztlich wurde er schuldig geschieden und nicht sie. Dieses Schuldprinzip wurde erst in den siebziger Jahren aufgegeben. 

Jahrzehntelang hatte ich meinen Vater nicht gesehen. Nie hatte ich von ihm ein Geburtstagsgeschenk bekommen, einen Gruß, eine Karte oder gar ein Weihnachtsgeschenk. Er war in meiner Kindheit nicht böse zu mir, aber er war auch nicht zugewandt. Das hat sich später bei meinen Kindern wiederholt. Da hatte er einmal kurz geguckt: „Ach ja, niedlich“, und das war´s. Erst zu dieser Zeit kam ich wieder in Kontakt mit ihm. Er war wieder in Bremen und hatte sich bei mir gemeldet. Aber davon später.

Meine Mutter fand, es muss so um 1949 gewesen sein, eine Wohnung als Untermieterin in Mittelsbüren, zwei Zimmerchen oben in einem Einfamilienhaus am Ende des Dorfes. Es war ein winziges Bauerndorf mit hübschen alten Häusern entlang der Straße und an einem breiten Sandweg an der Weser. 


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Wir wohnten gleich an der Weser-Schleuse und das fand ich herrlich. Ich hatte häufig an der Schleuse gespielt und zugeguckt, wenn die Schiffe geschleust wurden. Noch heute klingt mir das Tucktucktucktuck der Dieselmotoren in den Ohren nach. Wenn die Schleuse geschlossen war, konnte man hinüberlaufen und dem Schleusenwärter zusehen. Einmal fiel ich beim Spielen mit zwei anderen Jungs neben der Schleuse ins Wasser. Ich erinnere mich, dass ich es überhaupt nicht schlimm fand. Ich segelte da runter, im Wasser machte ich die Augen auf und meinte, Fische zu sehen. Es war wie in einem Traum. Der größere meiner beiden Spielkameraden sprang mir dann hinterher und holte mich raus. Von da an hatte ich keine Angst, im Wasser zu sterben.

Unsere Vermieter waren allerdings sehr unfreundlich zu meiner Mutter, aus welchem Grund, weiß ich nicht, aber ich bekam Angst und wurde nachts oft wach. Wohl aus diesem Grund zogen wir dort wieder aus und in eine städtische Wohnung im Nachbarstadtteil Bremen-Gröpelingen. Gröpelingen war ein Arbeiterstadtteil mit damals 60.000 Einwohnern. Unser ganzes Viertel bestand aus 3-geschossigen Wohnblöcken. Wir wohnten im Dachgeschoss. Für meine Mutter war das toll: Sechsundfünfzig Quadratmeter, Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche. In unserer Wohnung war immer noch (vom Luftdruck einer Fliegerbombe verursacht) ein großes Loch im Dach und die Wand zur Toilette war eingestürzt; die Toilette lag praktisch frei auf dem Flur. Aber in der Wohnung waren ja nur meine Mutter und ich, und wir konnten zunächst damit leben. Nach einigen Wochen kamen dann auch Handwerker und spannten eine Plane, damit es nicht mehr reinregnete. Und irgendwann brachten Arbeiter eine Art Schnellbauwand vor der Toilette an und das Dach wurde ausgebessert. Da meine Mutter tuberkulosekrank war, wurde ich auch zwei Mal im Jahr „durchleuchtet“ (geröntgt) Die Befunde waren aber stets negativ, nur einmal fand man eine kleine, vernarbte Stelle in der Lunge. 

Dann kam ich in die Schule. Diese war nur etwa 500 Meter entfernt. Meine Mutter war viel unterwegs und ich war ein sogenanntes Schlüsselkind, hatte tatsächlich immer einen Schlüssel um den Hals. Ich versorgte mich selbst, machte mir Brote, versuchte aber auch manchmal, etwas zu backen oder zu kochen. Jedoch gelang mir nur weniges, aber hin und wieder waren Herd und Küche verschmutzt. Einmal versuchte ich, Mehlklöße zu machen. Die mochte ich so gern. Aber sie sind mir alle zerlaufen, und es wurde so eine Art Grießsuppe daraus. Ein anderes Mal tupfte ich Eiweiß auf das Backblech in der Absicht, Bizets herzustellen. Leider war alles schwarz, festgebrannt. 

Bis auf ein Mädel war ich in der ganzen Gegend das einzige Einzelkind. Die meisten Familien hatten sechs bis zehn Kinder. In diesen kleinen Wohnungen! Ich hätte immer gern gewusst, wie man zehn Kinder dort unterbringen konnte. Die meisten Männer arbeiteten im Hafen und die Frauen waren zu Hause. Sie saßen dann auf den drei Stufen vor den Hauseingängen, schälten Kartoffeln oder strickten und unterhielten sich, auch über die Straße hinweg. Auf der Straße (es fuhr selten ein Auto durch) spielten wir Kinder Völkerball oder Fußball mit einer Blechdose. Die Frauen schimpften dann immer, weil die Blechdose so einen Krach machte, aber Bälle hatten wir damals nicht. 

Häufig kamen Kriegsversehrte, ein Blinder oder einer mit einem Bein oder einem Arm, zu uns in die Straße: „Ja, Kinder, wo kann ich mich denn mal hinsetzen, ich will euch eine Geschichte erzählen.“ Man zeigte ihm dann eine freie Stelle, er setzte sich hin, zehn, fünfzehn Kinder drum herum, und dann erzählte er uns ein Märchen. Von den Erwachsenen bekamen sie dann wahrscheinlich etwas zugesteckt, das habe ich aber nicht mitbekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das einfach nur aus Liebe zu uns machten. Vor allem Blinde konnten schön erzählen.

Es war eigentlich eine schöne Zeit, aber auch eine ziemlich gewalttätige. Um zur Schule zu kommen, musste man an jeder Ecke genau aufpassen, wer kommt, wo die Jungen aus der Nachbarstraße sich gerade aufhielten. Sonst kriegte man „Senge“. Glücklicherweise hatte ich einen kurzen Schulweg. Es ging immer Straße gegen Straße. Manchmal gab es richtige Feldzüge, mit Knüppeln – aber nicht mit Messern. Diese Feldzüge wurden angekündigt, und so hatte man die Chance, sich selber zu bewaffnen und zusammenzurotten. Auf irgendeinem Trümmergrundstück traf man sich und haute aufeinander ein. 

Natürlich haben wir viel in den Trümmergrundstücken gestöbert. Manchmal gelang es uns, mit den Händen Keller freizuschaufeln und in sie einzudringen. Dort sahen wir schon mal vergammelte Skelette, fanden auch mal eine Pistole oder Granaten und hantierten damit herum. Es ist nie etwas passiert! Manchmal fanden wir auch alte Gläser mit Eingemachtem, was wir natürlich aufaßen. Wir hatten auch, in kleinem Maßstab, geklaut – sowohl von Obstbäumen in Gärten wie auch aus kleinen Eckläden. Kartoffeln und Obst standen immer gegenüber vom Tresen. Hinter diesem standen die Verkäufer, davor die Kunden. Wenn man reinkam, stand man mit dem Rücken vor einem Sack Kartoffeln oder einer Kiepe Äpfeln oder anderem Obst. Wir stellten uns unschuldig vor die Apfelkiepe, ließen ein paar Äpfel in unsere Trainingshosen, die oberhalb der Knöchel Gummizüge hatten, rutschen und gingen wieder hinaus. Weil viele Leute im Laden waren, fiel das selten auf, erst recht nicht, wenn man klein war. 

Einmal hatten ein Siebzehnjähriger und drei kleinere Jungs aus einer Nachbarstraße mich allein erwischt und an einem der Steige-Haken eines Strommastes aufgehängt. Glücklicherweise kam meine Mutter zufällig hinzu; sie schrie auf und holte mich irgendwie wieder herunter. An mehr kann ich mich nicht erinnern, weder an Angst noch an Schmerzen, noch an irgendwelche Folgen. Bis dahin hatte ich eigentlich immer Glück gehabt, hatte mehr ausgeteilt und kaum etwas einstecken müssen. Ich war ja auch recht groß für mein Alter. Andererseits musste ich sehr vorsichtig sein, denn jeder hatte noch größere Brüder. Jeder, nur ich nicht! Und wenn einer seinem größeren Bruder sagte: „Du, der hat mich gehauen“, dann ging der auf einen los. Nach dem Vorfall am Strommast engagierte meine Mutter für eine Mark oder so ein älteres Mädchen, um auf mich aufzupassen. Dieses Mädchen hat mir dann beigebracht, wie man mit Mädchen umgeht. Ich war zwar schon zehn, aber es hat noch nicht so richtig geklappt. 

In Gröpelingen kam ich also in die Schule, und war dort natürlich einer der Besten. Klar, denn meine Mutter konnte fehlerfreies Deutsch sprechen und hatte auch bei mir darauf geachtet. Die anderen Eltern redeten falsches Deutsch, wie man eben im Arbeiterviertel spricht. Das gaben sie auch an ihre Kinder weiter. Es interessierte sie kaum, ob und wie sie ihre Hausaufgaben machten. Bei 6 bis 10 Kindern konnten sie sich ja auch gar nicht so um das einzelne Kind kümmern. Mir war bewusst, dass ich meiner Mutter da viel zu verdanken hatte. 


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Nachdem die erste Familie in unserem Aufgang sich ein Fernsehgerät angeschafft hatte wurden einige Nachbarn häufig abends zum Fernsehen eingeladen oder luden sich selber ein. Dann wurde es sehr eng in dem Wohnzimmer. Man konnte kaum zur Toilette gehen, da Kinder und jüngere Männer auf dem Teppich saßen. 

Meine Mutter schickte mich oft einkaufen, besonders, wenn sie kein Geld hatte, weil es ihr peinlich war, „anschreiben“ zu lassen. Die Händler kannten das kaum anders. Die Männer bekamen Wochenlöhne, bar ausgezahlt, und bei den meisten war nach einigen Tagen nichts mehr davon da. Manche versoffen schon am ersten Tag die Hälfte. Bei meiner Mutter war es anders, sie kriegte ja Rente: Kriegsversehrtenrente, weil sie sich im Krieg die Tbc zugezogen hatte und Schwerbeschädigtenrente. Mit etwas Sozialhilfe und dem Unterhaltsgeld für mich, das eigentlich mein Vater hätte zahlen müssen, kam sie wohl einigermaßen über die Runden. Außerdem muss sie noch irgendetwas gearbeitet haben, denn sie war oft weg. Und dann schickte sie mich los: „Geh mal einkaufen, hier ist der Zettel, nimm eine Tasche mit und sag der Frau Müller, sie möchte es bitte anschreiben.“ Der Einkaufsauftrag meiner Mutter endete jedes Mal mit der Bitte: „Und dann bring mir noch drei Zigaretten mit.“ Die gab es damals tatsächlich noch einzeln, später gab es sie auch in Dreierpackungen. – Meine Mutter rauchte gelegentlich, obwohl sie es eigentlich gesundheitlich nicht durfte. – Ja, dieses Einkaufen war auch für mich peinlich: „Können Sie es bitte anschreiben?“, obwohl es alle in unserer Gegend damals so machten. In der nächsten Woche hatte man wieder Geld und bezahlte einen Teil der Schulden, so dass man immer beim Lebensmittelhändler „in der Kreide“ stand. Der hatte ein Buch, in dem alle Namen standen und in das jeder Einkauf registriert wurde. Eigentlich ist das bei meiner Mutter fast das ganze Leben so geblieben: immer Schulden, anfangs für Lebensmittel, später dann für Bankkredite für ein neues Sofa oder Ersatz für den abgewetzten Teppich. Ich habe immer gedacht: So willst du nicht leben!

Manchmal fuhr meine Mutter mit mir mit der Straßenbahn in die Innenstadt. Besonders der Stadtteil Utbremen, in dem Europahafen und Überseehafen lagen, lag völlig zerstört von Bomben darnieder. In der Innenstadt erschienen mir als Kleinkind die verbogenen Stahlskelette einzelner Hochhäuser unheimlich. Ich lernte Angst vor Krieg. 

Eigentlich war ich immer ein lieber Junge, und meine Mutter konnte sich auf mich verlassen, was sie auch anderen gegenüber so äußerte. Trotzdem ärgerte sie sich auch mal über etwas, und dann sagte sie manches Mal: „Du wirst wie dein Vater.“ Und das traf mich jedes Mal sehr. Ich wusste nicht recht, was sie damit eigentlich meinte. Später verstand ich: Ich sollte nicht so verantwortungslos werden wie mein Vater. Als ich dann eigene Kinder bekam, dachte ich: Für die musst du immer sorgen. Ich wollte ja nie so sein wie mein Vater. 

Dabei habe ich an das Kriminelle gar nicht gedacht. Ich glaube auch jetzt noch, dass mein Vater da so reingerutscht war, bedingt durch die Zeiten – wer hat denn damals in den Nachkriegswirren, wo es an allem, insbesondere Lebensmitteln und Heizmaterial, mangelte, nicht „schwarz“ gehandelt oder Schnaps „schwarz gebrannt“? Damals standen an vielen Straßenecken Leute in Mänteln herum, unter denen sie etwas zum Tauschen verbargen, auch Frauen, nicht nur Männer! Nur musste man irgendwann wieder ins normale Leben finden. Und das hatte mein Vater nicht geschafft. Aber das hab ich ihm nicht übel genommen. Eigentlich war er kein so schlechter Kerl. Auch sympathisch, wie ich später erleben konnte. Ich konnte dann auch mit ihm lachen. Und eins hatte er mir beigebracht: „Du, Hans, werde niemals Soldat! Diesen Mist habe ich mitgemacht. Das ist entwürdigend, entmenschlichend – geh' da nicht hin, lass das sein!“ Das war für mich prägend, und später habe ich dann auch den Wehrdienst verweigert. Das habe ich zum Teil ihm zu verdanken.

Meine Mutter meinte – ich bekam das mit, weil sie es immer anderen Frauen erzählte, die zu Besuch kamen –, sie müsse für den Jungen, der ohne Vater ist, eine männliche Bezugsperson finden. Dabei hatte ich nie einen Vater vermisst. Ich sah ja, dass die anderen Kinder oft von ihren Vätern „Senge kriegten“. Einmal kam ein Vater hinter mir hergelaufen und wollte mir „welche donnern“, weil ich einen seiner Söhne verhauen hatte. Er hat mich allerdings nicht erwischt, weil er über einen Zaun gestolpert war. Hatte sich in den Dreck eines Vorgartens langgelegt. Wie sie es machte, weiß ich nicht, vielleicht hatte sie eine Anzeige aufgegeben – jedenfalls lernte meine Mutter Männer kennen. „Hansilein“, sagte sie dann zu mir – Hansilein!“, ich konnte das nicht leiden –, „Hansilein, da kommt heute Abend ein Herr, der bemüht sich um Freundschaft zu mir, und ich möchte mal wissen, wie der dir gefällt.“ Ja, dann kam er und nach ihm noch drei oder vier in Abständen. Hinterher fragte sie mich immer: „Wie hat der Mann dir denn gefallen?“ Und ich: „Ooch, weiß ich nicht.“ Und meine Mutter: „Du, das ist ein reicher Kaufmann. Der würde dir Spielzeug besorgen und vielleicht auch mal ein Fahrrad oder sowas.“ Aber das interessierte mich nicht so. Obwohl: Fahrrad, das war natürlich schon was! Es gab bei uns kaum Familien, die sich ein eigenes Kinderfahrrad leisten konnten, was nach zwei Jahren schon wieder zu klein ist. Es gab aber einen Laden, der Fahrräder verlieh, was allerdings auch gar nicht so billig war – zwei Mark fünfzig am Tag, das war zu viel Geld. Fahrradfahren lernte ich auf einem Herrenrad. Da war ich schon sieben Jahre alt. Ich musste mich unter der Stange durchbücken und ganz verrenkt fahren. 

Auch schwimmen lernte ich recht spät. Mein Cousin Horst aus Glückstadt an der Elbe hatte mir das beigebracht, als er einmal ein paar Tage Bremen war. Er war Funkoffizier und Zahlmeister und mit seinem Schiff hin und wieder ein paar Tage in Bremen. Ich durfte ihn dann immer auf dem Schiff besuchen, das ganze Schiff rauf und runter laufen und er zeigte mir alles. Aber zurück zu den Herren! Nach jedem dieser Besuche antwortete ich auf die Frage meiner Mutter: „Ach nöh…“ Sie guckten immer nur meine Mutter an, schien mir. Aber schließlich kam einer, der war auch nett zu mir. Der brachte einen ganzen Korb voll Obst mit. Ich machte mich über die Zwetschgen her, die sehr, sehr lecker schmeckten! Der Mann hatte das Gesicht voller Pickel, war eigentlich ein Unansehnlicher. Aber er gefiel mir trotzdem zumal er erzählte, dass seine Eltern einen Garten hätten. Er zog dann zu uns und Mitte der fünfziger Jahre heirateten die beiden. Am Wochenende waren wir häufig bei seinen Eltern, die im Nachbarstadtteil Walle in einem Haus mit Garten wohnten. Ursprünglich handelte es sich um ein Schrebergarten-Gebiet, aber in der Nachkriegszeit herrschte in Bremen Wohnungsnot und daher hatten sie, wie viele andere Familien auch, ausnahmsweise die Genehmigung bekommen, auf ihrer Parzelle ein festes Haus zu bauen. Es war ein kleines Häuschen, fest gebaut, mit Stromanschluss. Wenn wir sie besuchten, arbeiteten wir im Garten mit und kamen immer mit einem Arm voll Blumen nach Haus oder mit Kartoffeln, Gemüse oder Obst.