Foto: Marco Grundt
Justin Go, geboren 1980 in Los Angeles, studierte Geschichte und Literaturwissenschaftennin Kalifornien und London. NachnStationen in Paris, London, New York undnBerlin lebt er heute in Kalifornien. Der stete Lauf der Stunden ist sein erster Roman, der zeitgleich in 21 Ländern erscheint.
Für meine Mutter und meinen Vater
»Seltsamer Freund«, sagte ich.
»Hier gibt’s keinen Grund zur Klage.«
»Keinen«, sagte der andere, »außer die ungelebten Jahre,
die Hoffnungslosigkeit. Welche Hoffnung dich auch immer treibt,
ich habe sie gekannt; wild war die Jagd
nach der wildesten Schönheit der Welt,
die nicht in stillen Blicken oder geflochtenen Haaren liegt,
sondern dem steten Lauf der Stunden spottet,
und wenn sie trauert, so viel reicher trauert als hier.«
WILFRED OWEN
»Befremdliche Begegnung«
Der Brief kam letzte Woche per Eilboten.
Schon bei der Berührung des Umschlags wusste ich, dass es sich um edles Briefpapier handelte. Ich wusste es, als ich den Briefbogen in der Hand hielt und die porige Oberfläche des reinen Baumwollgewebes spürte; und durch das durchscheinende Wasserzeichen, als ich das Blatt gegen das Licht hielt. Der Brief befindet sich im Gepäckfach über mir, aber ich sehe die cremefarbenen Fasern und die reliefartigen Lettern des aufgedruckten Briefkopfs genau vor mir. Twyning & Hooper, Solicitors, 11 Bedford Row, London.
Der Eilbote klopfte an meine Tür, den Brief und ein Klemmbrett in der Hand. Er fragte nach meinem Namen.
»Eine Sondersendung«, erklärte er. »Der Absender verlangt, dass sich der Empfänger ausweist.«
Ich zeigte ihm meinen Führerschein und unterschrieb das Zustellformular. Er übergab mir den Brief. Auf der Küchentheke zog ich den Plastikverschluss des Expressumschlags auf. Darin steckte ein Standardkuvert aus cremefarbenem Leinen.
Ich las den Brief stehend vor der Spüle.
Sehr geehrter Mr Campbell,
ich bin Treuhänder eines Vermögens, von dem ein beachtlicher Teil noch nicht ausgehändigt werden konnte. Jüngst aufgetauchte Informationen deuten darauf hin, dass zwischen Ihnen und dem genannten Begünstigten eine Verbindung besteht. Da wir keine aktuelle Telefonnummer finden konnten, senden wir diesen Brief an Ihre Privatadresse, in der Hoffnung, bald mit Ihnen Kontakt aufnehmen zu können.
Die Klärung dieser Frage ist für uns von größter Bedeutung. Ich wäre Ihnen deshalb sehr dankbar, wenn Sie mich umgehend unter der unten angegebenen Nummer per R-Gespräch anrufen könnten.
Bitte behandeln Sie diese Angelegenheit in Ihrem eigenen Interesse streng vertraulich, bis wir Gelegenheit hatten, miteinander zu sprechen.
Hochachtungsvoll
J. F. Prichard
Rechtsanwalt – assoziierter Partner
von Twyning & Hooper, LLP
Ich lief vier Blocks die Valencia Street entlang zur nächsten Telefonzelle. Aus dem Hörer war eine Ecke herausgeschlagen, aber als ich ihn ans Ohr hielt, hörte ich ein Freizeichen. Ich wurde dreimal weiterverbunden, bis ich England erreichte.
Am Apparat war die Sekretärin der Anwaltskanzlei. Sie sagte, Mr Prichard sei augenblicklich nicht im Büro, aber ich könne mit einem Mr Geoffrey Khan sprechen. Kurz darauf war Khans atemlose Stimme zu hören.
»Sie existieren also wirklich. Mein Gott. James wird begeistert sein. Ich denke, er wird jede Sekunde zurück sein. Hören Sie. Könnten Sie mir Ihre Telefonnummer geben, falls die Leitung unterbrochen wird? Es war schwer genug, Ihre Adresse ausfindig zu machen.«
»Ich habe momentan kein Telefon.«
»Ich verstehe. Also gut, bleiben Sie am Apparat. James wird sofort mit Ihnen sprechen wollen. Sagen Sie, hat Ihre Großmutter …«
Eine andere Stimme war in der Leitung zu hören. Der zweite Mann klang älter. Er artikulierte jedes Wort mit übertriebener Genauigkeit.
»James Prichard hier. Geoffrey, kann ich bitte übernehmen?«
Khan entschuldigte sich, und ich hörte ein Klicken in der Leitung.
»Mr Campbell«, sagte Prichard, »zuerst möchte ich Ihnen danken, dass Sie angerufen haben. Entschuldigen Sie bitte, wenn wir zunächst sicherstellen müssen, ob Sie die betreffende Person sind – nur, damit uns kein Fehler unterläuft. Würden Sie mir bitte ein paar einfache Fragen beantworten?«
Ich drückte einen Metallknopf am Telefon, um die Lautstärke zu erhöhen.
»Sicher.«
»Großartig. Ich sollte hinzufügen, dass wir nicht im Auftrag einer staatlichen Behörde arbeiten und Sie zu keinerlei Auskunft verpflichtet sind, obwohl es in Ihrem persönlichen Interesse sein dürfte. Selbstverständlich wird jede Information nur zur Aufklärung des Falls verwendet und mit äußerster Vertraulichkeit behandelt werden. Würden Sie mir bitte den vollständigen Namen Ihrer Mutter nennen?«
»Elizabeth Claire Campbell.«
»Und ihr Geburtsname?«
»Martel.«
»Geboren in?«
»San Francisco.«
»Vielen Dank. Und der Name Ihrer Großmutter?«
Ich zögerte. »Sie hieß Charlotte Grafton. Der zweite Vorname ist mir entfallen.«
»Schon gut. Wissen Sie, wo sie geboren wurde?«
»Irgendwo in England.«
»Das genügt. Vielen Dank für die Beantwortung meiner Fragen. Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen kurz erklären, wozu wir so viel Aufhebens machen. Vor ungefähr achtzig Jahren wurde diese Kanzlei beauftragt, ein recht ungewöhnliches Testament aufzusetzen. Unser Mandant starb wenig später. Erstaunlicherweise wurde das Vermögen unseres Mandanten nie von dem Haupterben eingefordert. Noch ungewöhnlicher ist, dass das Vermögen ausdrücklich so lange treuhänderisch verwaltet werden sollte, bis es dem Begünstigten oder seinem direkten Erben übergeben werden kann. Aus vielerlei Gründen war dies bislang nicht möglich.«
Prichard machte eine Pause. Ich hörte eine Frauenstimme im Hintergrund. Prichard legte eine Hand über die Muschel und antwortete ihr.
»Entschuldigen Sie«, sagte Prichard. »Vor kurzem erhielt ich ein Dokument, aus dem hervorgeht, dass Sie möglicherweise mit dem Begünstigten verwandt sind. Ich will keine falschen Hoffnungen wecken, aber wir versuchen seit vielen Jahren, die Wünsche unseres Mandanten zu erfüllen, und dies ist die erste vielversprechende Spur seit Jahrzehnten. Ich muss betonen, dass dies alles streng vertraulich zu behandeln ist, in Ihrem wie in unserem eigenen Interesse. Unerwünschte Aufmerksamkeit könnte Ihre möglichen Ansprüche vereiteln.«
Ich sagte Prichard, ich hätte verstanden.
»Mir ist bewusst«, fuhr er fort, »dass dies nicht leicht zu verdauen ist, noch dazu, wo es von der anderen Seite des Atlantiks kommt. Ich bitte Sie also, informieren Sie sich über unsere Kanzlei, ziehen Sie Erkundigungen ein. Darf ich Sie noch etwas fragen? Wissen Sie, ob Ihr Familienstammbuch und andere Unterlagen noch existieren? Und wenn ja, können Sie sie beibringen?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Ich meine damit speziell nicht nur Ihre eigene Geburtsurkunde und so weiter, sondern auch die Unterlagen Ihrer Mutter und vor allem Dokumente, die sich auf Ihre Großmutter beziehen.«
»Ich bezweifle es, aber ich kann nachschauen. Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas über meine Großmutter haben.«
»Ich wäre Ihnen für Ihre Nachforschungen dankbar. Geoffrey wird Ihnen eine Liste mit den Dokumenten schicken, die für uns von Interesse sind.«
Ein Feuerwehrwagen fuhr dröhnend und mit gellender Sirene hinter mir vorbei.
»Ein Höllenlärm«, sagte er. »Sind Sie auf der Straße?«
»Ich stehe in einer Telefonzelle.«
»Ah«, seufzte Prichard. »Kein Wunder, dass Geoffrey Ihre Nummer nicht finden konnte. Nun, eine Sache muss ich noch ansprechen. Sie müssen nicht sofort darauf antworten, aber ich frage mich, ob Sie in nächster Zukunft nicht nach London reisen könnten, auf unsere Kosten? Zeit spielt in diesem Fall eine große Rolle, und Ihre Anwesenheit hier könnte die Sache erheblich beschleunigen.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht könnte ich kommen.«
»Ich würde Sie sehr gerne hier begrüßen. Soweit ich weiß, studieren Sie?«
»Ich habe gerade meinen Abschluss gemacht.«
»Herzlichen Glückwunsch. Vielleicht können Sie Ihren Eintritt ins Berufsleben für einen kurzen Ausflug nach England zurückstellen?«
»Vielleicht.«
»Denken Sie darüber nach. Ich übergebe Sie wieder an Geoffrey, der noch einige formale Dinge mit Ihnen zu besprechen hat, darunter eine Vertraulichkeitserklärung und Konkretes zu Ihrer Reise. Er ist Ihr Mann für die Details. Selbstverständlich können Sie jederzeit einen von uns beiden anrufen, aber in der Regel ist er einfacher zu erreichen.«
Prichard holte tief Luft. Es dauerte einen Moment, bis er weiterredete.
»Mr Campbell, ich bitte Sie inständig, nicht eher mit Ihrer Familie über diese Sache zu reden, bevor Sie sich über Ihre eigenen Gefühle klar geworden sind. Ich möchte Sie nicht zur Lüge auffordern, aber sollten Sie Anspruch auf einen Teil dieser Erbschaft haben, dann durch die Familie Ihrer Mutter, und es würde ausschließlich Ihnen zufallen. Weder Ihr Vater noch Ihre Stiefmutter oder Ihre Stiefgeschwister hätten irgendeinen Anspruch. Ich bitte Sie daher um äußerste Diskretion.«
»Ich verstehe.«
»Ich reiche Sie jetzt an Geoffrey weiter und hoffe zuversichtlich, dass wir uns das nächste Mal hier in London sprechen.«
Das Telefonat war vor vier Tagen. Es waren lange Tage gewesen, und es fühlte sich gut an, als ich heute Morgen endlich ins Flugzeug stieg. Ich bin noch nie in der Businessclass geflogen. Den ganzen Flug über bieten die Stewardessen mir etwas zu essen, Champagner und Kaffee an, bis die Kabinenbeleuchtung ausgeschaltet wird und alle ihre Sitzlehnen zurückklappen. Eine Stunde lang liege ich wach unter meiner Decke. Dann schalte ich mein Leselicht ein und hole mein Notizbuch hervor.
15. August
BA Flug SF – London
Letzte Nacht kaum geschlafen, aber im Flugzeug kann ich auch nicht schlafen. So viele Pläne, und immer auf den richtigen Moment gewartet – plötzlich passiert etwas, und ich sitze in einem Flugzeug nach London. Ich hatte keine andere Wahl, entweder fahren oder bleiben. Sehr lehrreich.
Morgen treffe ich die Anwälte. Ich habe nichts gefunden, das sie interessieren könnte, aber sie wollten, dass ich trotzdem komme. Warum?
Auch egal. In vier Stunden bin ich in London. Das ist alles, was ich weiß, und es ist eine ganze Menge.
Ich klappe das Notizbuch zu und lehne meinen Kopf gegen die kalte Fensterscheibe.
Als ich aufwache, fällt das pinkfarbene Licht des Sonnenuntergangs durch das doppelte Fensterglas. Eiskristalle umrahmen die Außenscheibe, Wassertropfen aus Kalifornien, die in der dünnen Luft zu Eis gefroren sind. In einer Lücke zwischen den Kumuluswolken erscheint eine gezackte schwarze Küstenlinie und danach tiefgrünes Land. Ein riesiger, blauweißer Gletscher fällt zum Meer hin ab. Island. Ich befinde mich vor den Toren Europas.
Bevor ich mich auf den Weg machte, stellte ich Geoffrey Khan eine Frage.
»Warum sollte jemand einem Menschen Geld vermachen, der sich nicht die Mühe macht, es in Empfang zu nehmen?«
Khan seufzte. »Selbst wenn ich die Antwort wüsste, könnte ich sie Ihnen nicht sagen. Informationen über unseren Mandanten unterliegen der Geheimhaltung durch den Sachverwalter. Sie können James bei Ihrer Ankunft fragen, aber ich kann Ihnen nicht versichern, dass er es Ihnen verraten wird.«
»Ich verstehe.«
»Wie auch immer. Eines ist so offensichtlich, dass ich es Ihnen sagen kann, ohne die geforderte Vertraulichkeit zu verletzen.«
»Ich bitte Sie darum.«
»Das alles geschah 1924. Und die Leute damals waren anders als Sie und ich.«
Folgen wir, Sohn der Göttin,
dem Zug und dem Rückzug des Schicksals;
Komme, was mag!
Ein jedes Geschick wird besiegt durch Ertragen.
VERGIL
Aeneis, V. 709–10
Ein leiser Nieselregen fällt aus dem farblosen Londoner Himmel. Ich schlängle mich durch die Masse der Fußgänger auf der High Holborn und vergleiche die Straßenschilder mit dem Stadtplan in meiner Hand. Kingsway. Procter Street. Der Regen sammelt sich in dunklen Pfützen, in denen sich die weißen Lieferwagen, schwarzen Taxis und knallroten Busse spiegeln.
Ich biege links in die Sandland Street ein und folge ihr bis Bedford Row, entlang an einer Reihe von vierstöckigen georgianischen Reihenhäusern mit Backsteinfassade. Neben dem Eingang zu Nummer 11 befindet sich eine Messingtafel: TWYNING & HOOPER, RECHTSANWÄLTE. Benommen und zittrig drücke ich auf den Knopf der Gegensprechanlage. Zum Frühstück habe ich zwei Tassen Kaffee getrunken, aber sie haben nicht viel geholfen. Ich sehe hoch zur Überwachungskamera. Die weißen Säulen des Eingangs haben ionische Kapitelle.
»Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?«
»Mein Name ist Tristan Campbell. Ich habe einen Termin mit James Prichard.«
Die Rezeptionistin drückt den Summer und lässt mich ein. Sie nimmt mir die Jacke ab und führt mich in ein Wartezimmer mit einem schweren Ledersofa.
»Ich werde Geoffrey sogleich Bescheid sagen.«
Ein paar Minuten später bringt sie ein Tablett mit einem Teeservice aus Porzellan. Ich verbrenne mir die Zunge, sodass ich noch ein wenig Milch in den Tee gebe. Ich hebe den Kopf und sehe, dass die Rezeptionistin hinter ihrem Schreibtisch zu mir herüberschaut. Unsere Blicke begegnen sich, und sie lächelt. Abwesend blättere ich durch eine Ausgabe der Financial Times auf dem Beistelltisch. Ich trinke den Tee aus und drehe die Tasse um. SPODE COPELAND’S CHINA ENGLAND.
»Mr Campbell. Sehr erfreut, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Khan tritt mit raschen Schritten auf mich zu und gibt mir die Hand. Er trägt einen taillierten marineblauen Anzug. Seine Halbschuhe sind auf Hochglanz poliert.
»Lassen Sie uns zu James hinübergehen.«
Khan führt mich eine breite Holztreppe hinauf. An den Wänden und der Decke sind große Wandmalereien: ein König auf einem Pferd, dem Engel vorauseilen; die junge Britannia mit Schild und Dreizack, Ehrungen aus aller Welt empfangend.
Auf der Treppe kommen uns zwei junge Männer mit Krawatten und weinroten Ordnern unter dem Arm entgegen. Sie nicken uns beim Vorbeigehen ernst zu. Ich sehe auf meine Kleidung aus dem Secondhandladen herab, ein zerknittertes Anzughemd und eine alte braune Hose.
»Ich komme mir underdressed vor.«
Khan lächelt. »Überhaupt nicht. Sie sind unser Mandant. Wir sind die Anwälte.«
Wir gehen einen Flur entlang, an dessen Ende sich eine Glastür befindet. Khan bleibt davor stehen und senkt die Stimme.
»Ein Wort, bevor wir hineingehen. Natürlich können Sie ihn mit James ansprechen, er macht sich nichts aus Formalitäten. Aber ich möchte Sie bitten, alle Fragen …«
Khan zögert.
»… so direkt wie möglich zu beantworten. Ich kann aus persönlicher Erfahrung sagen, dass ausweichende Antworten bei James zu nichts führen. Er bemerkt es sofort. Seien Sie offen zu ihm, und er ist ehrlich zu Ihnen. Was halten Sie davon?«
»Großartig.«
Khan lächelt warmherzig. Er klopft an die Tür und schiebt mich hinein. Das Büro ist groß, aber spartanisch eingerichtet. Ein Schreibtisch mit geschnitzten Löwenpranken, der mit lauter ordentlich aufgehäuften Papierstapeln bedeckt ist. Eine Ledercouch und Klubsessel. Ein großer Perserteppich. Prichard steht hinter dem Tisch und liest aufmerksam ein Papier, das er sich dicht vor das Gesicht hält. Er hat silbernes Haar und trägt Krawatte und Weste über einem Hemd mit Manschetten. Er hebt kurz die Hand, dann läuft er zwischen dem Fenster und dem offenen Kamin hin und her, den Blick fest auf das Papier gerichtet. Prichard unterschreibt das Blatt auf seinem Schreibtisch und ruft eine Sekretärin herein, es mitzunehmen. Er wendet sich strahlend um.
»Wenn du jede unerbittliche Minute«, zitiert Prichard ein Kipling-Gedicht, »mit sechzig sinnvollen Sekunden füllst.«
Er streckt mir die Hand entgegen. »James Prichard. Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen. Ich nehme an, das Londoner Wetter erfüllt Ihre Erwartungen?«
Prichard zeigt auf einen der Stühle; er und Khan nehmen auf der Couch gegenüber Platz. Beide schlagen das gleiche Bein über das andere. An der Wand hinter ihnen hängen gerahmte Fotografien. Über Khans Schulter steht auf einem Schwarz-Weiß-Foto eine Gruppe von Männern in Dreiteilern steif um einen kahlköpfigen Mann mit weißem Schnurrbart herum. Der Kopf des kahlen Mannes ist leicht zur Seite geneigt, und er hält eine Pfeife in der Hand.
»Ist das Clement Attlee?«
Prichard sieht mich an.
»Ja«, sagt Prichard. »Er war einer unserer Mandanten.«
Ich zeige auf einen großen, blonden Mann auf der Fotografie.
»Und das sind Sie?«
Prichard nickt, dreht sich aber nicht zu dem Foto um.
»Ich hatte nur wenig mit Mr Attlees Nachlass zu tun. Er wurde von den Seniorpartnern unserer Kanzlei betreut, aber ich durfte an einigen Sitzungen teilnehmen. Für die Nachwelt.«
Prichard macht eine Pause. »Nun denn, wie war Ihre Reise? Lassen Sie sich durch Heathrow nicht abschrecken. Oder auch durch British Airways. Unsere Reize liegen woanders. In welchem Hotel sind Sie untergebracht?«
»Im Brown’s.«
»Großartig. Haben Sie schon viel von London gesehen?«
»Ich bin erst gestern Abend angekommen.«
»Nun, sehen Sie sich einiges an, bevor Sie zurückfliegen. Den Tower. Regent’s Park. Das Britische Museum.«
Prichard sieht Khan an.
»Die Vertraulichkeitserklärung«, sagt Khan unaufgefordert.
»Genau«, erwidert Prichard. »Sie haben sie aufmerksam gelesen?«
»Ja.«
»Und Geoffrey sagt, Sie hätten keinen eigenen Anwalt?«
»Nein.«
Prichard nickt. »Wie Sie sicher gesehen haben, verbietet die Vereinbarung die Weitergabe von Einzelheiten des Falls an Dritte, was Berater ohnehin obsolet macht. Würden Sie die Erklärung gleich unterschreiben? Das ist notwendig, bevor ich Ihnen die Details nennen kann.«
Khan legt ein dickes Konvolut von Blättern auf den Tisch vor uns und hält mir einen Füllfederhalter hin. Ich schlage die letzte Seite auf und kritzle eine unleserliche Unterschrift auf das Papier. Khan ruft eine Sekretärin herein, um das Dokument notariell beglaubigen zu lassen.
»Alles, was von nun an gesagt wird«, warnt Prichard mich, »ist streng vertraulich. Geoffrey, ich komme von hier an alleine zurecht.«
Khan verlässt mit der jungen Frau den Raum und schließt die Tür hinter sich. Prichard sieht mich einen Augenblick an, als wartete er darauf, dass ich zuerst spreche. Er lächelt.
»Das mag jetzt weit hergeholt klingen, aber wissen Sie etwas über die Mount-Everest-Expeditionen in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts?«
»Expeditionen?«
»Nicht weiter wichtig. Geoffrey hat mir gesagt, Sie studierten Geschichte, aber solche Dinge gehören heutzutage kaum zum Lehrplan. Sollen wir uns an den Schreibtisch setzen? Ich brauche meine Unterlagen, um Ihnen das alles erklären zu können.«
Prichard zieht vor dem Schreibtisch einen Stuhl für mich hervor und nimmt dahinter Platz. Er stöbert in verschiedenen Dokumenten, einige maschinengeschrieben, andere handschriftlich beschrieben auf unliniertem Papier.
»Ich habe die ganze Woche meine Kenntnisse von dem Fall aufgefrischt – ich muss Sie warnen, es schwirrt einem rasch der Kopf davon. Ich will versuchen, Sie nicht mit Details zu belästigen, aber es ist wichtig, dass Sie das Grundproblem des Walsingham-Nachlasses verstehen, und je eher Sie es verstehen, desto besser, denn unsere Zeit ist knapp. Das meiste von dem, was ich Ihnen zu sagen habe, wurde von Peter Twyning aufgezeichnet, dem ursprünglichen Nachlassverwalter. Glücklicherweise legte er sorgfältige Aufzeichnungen an. Der Fall war von Anfang an höchst verzwickt, und Twyning wusste es.«
Prichard klappt eine Lesebrille aus Schildplatt auf und setzt sie sich auf. Er studiert das vor ihm liegende Blatt.
»Unser Mandant war ein Mann namens Ashley Walsingham. Mit siebzehn Jahren erbte Walsingham eine beträchtliche Summe von seinem Großonkel George Risley, dem Gründer einer sehr einträglichen Schifffahrtsgesellschaft. Das war 1913. Risley hatte keine Kinder, und da Walsinghams Vater tot war, betrachtete Risley Ashley wie seinen eigenen Enkel. Als Risley starb, erbte Ashley den Großteil seines Vermögens. Peter Twyning verwaltete Risleys Vermögen und wurde später zu Walsinghams Nachlassverwalter benannt.
Ashley nahm zum Herbstsemester 1914 ein Studium am Magdalene College in Cambridge auf. Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, nicht wahr? Der Krieg begann im August dieses Jahres, und Ashley meldete sich pflichtschuldig für einen Offiziersposten in der Armee. Im Sommer 1916 stand er kurz vor seinem Einsatz in Frankreich. In seiner letzten Woche in England lernte er eine Frau namens Imogen Soames-Andersson kennen.«
Prichard sieht zu mir auf. »Sagt Ihnen der Name etwas?«
»Nein.«
»Schade. Ich hatte gehofft, er wäre Ihnen vertraut. Sehen Sie, Imogen war die Schwester Ihrer Urgroßmutter Eleanor.«
Ich schüttele den Kopf. »Ich habe nie von beiden gehört. Soames …«
»Soames-Andersson. Angloschwedisch – eine ungewöhnliche Familie. Twyning hat alleine über die Soames-Anderssons seitenweise Aufzeichnungen hinterlassen. Der Vater war ein schwedischer Diplomat, Stellvertreter des schwedischen Botschafters in London. Die Mutter war Engländerin, offensichtlich eine begabte Bildhauerin. Sie hatten zwei Töchter, Eleanor und Imogen. Auf der englischen Seite hatten die Soames viele Künstler in der Familie, und die beiden Töchter wurden entsprechend erzogen, ziemlich unkonventionell. Eleanor wurde später eine recht angesehene Malerin.«
»Sie war meine Urgroßmutter?«
Prichard runzelt die Stirn. »Ja, dazu kommen wir noch. Wie gesagt, Ashley begegnete Eleanors jüngerer Schwester Imogen im August 1916. Eine Woche lang hatten sie eine Art Liebesaffäre, dann zog Ashley in den Krieg nach Frankreich. Wir gehen davon aus, dass die beiden in Kontakt blieben. Im November 1916 wurde Ashley in einem der letzten Gefechte der Somme-Offensive schwer verwundet. Fälschlicherweise wurde er als gefallen gemeldet. Imogen wurde durch diese Kanzlei über Ashleys Tod informiert, um eine Woche später zu erfahren, dass er tatsächlich noch lebte. Sobald sie dies hörte, machte Imogen sich auf nach Frankreich. Sie fand Ashley in einem Krankenhaus in Albert, nahe der Frontlinie. Sie trafen nur kurz zusammen und gerieten über irgendetwas in Streit, jedenfalls erzählte Ashley dies Twyning. Dann verschwand Imogen. Soweit wir wissen, kehrte sie nie wieder nach England zurück und wurde von niemandem mehr gesehen.«
»Was passierte mit ihr?«
Prichard nimmt seine Brille ab.
»Wir wissen es nicht. Ich glaube auch nicht, dass wir es jemals erfahren werden. Ms Soames-Andersson war bekannt dafür, ziemlich … sagen wir, impulsiv zu sein. Zumindest nach Ansicht von Twyning. Seinen Aufzeichnungen entnehme ich, dass er sie für unberechenbar hielt. Zweifellos fand er, ihre und Ashleys Wege hätten sich besser niemals gekreuzt. Es gab viele Spekulationen über den Grund von Imogens Verschwinden, aber nichts ließ sich beweisen. Offenbar glaubte Ashley, sie sei noch am Leben, wie er Twyning gegenüber mehrmals wiederholte.«
Prichard sieht auf seine Armbanduhr. Er setzt die Brille wieder auf.
»Ich habe das Wichtigste vergessen. Das Bergsteigen. Einer von Ashleys Lehrern in Charterhouse war Hugh Price, der berühmte Alpinist. Price nahm ihn zum Bergsteigen mit nach Wales und im Sommer mit in die Alpen. 1915 wurde Ashley in den Alpine Club gewählt, und Anfang der Zwanzigerjahre galt er als einer der besten Bergsteiger Englands. 1924 erlangte er einen Platz bei der dritten britischen Mount-Everest-Expedition. Einige Tage bevor er sich mit dem Schiff über Indien nach Tibet aufmachte, kam Ashley in unsere Kanzlei und bat Twyning um eine Änderung seines Testaments. Zuvor war die Hauptbegünstigte seine Mutter gewesen, aber Ashley bat Twyning, das Testament dahingehend zu ändern, dass ein Großteil seines Vermögens an Imogen fiel.«
»Aber ich dachte, sie wäre verschwunden …«
»Sie war seit sieben Jahren verschollen.«
»Und man kann eine verschwundene Person als Erbe einsetzen?«
»Warum nicht? Es ist nicht verboten. Es ist bloß eine ziemlich schlechte Idee. Natürlich versuchte Twyning es ihm auszureden, aber Ashley beharrte darauf, dass das Geld so lange treuhänderisch verwaltet würde, bis Imogen oder einer ihrer direkten Nachkommen das Erbe antrat. Er legte einen Zeitraum von achtzig Jahren fest. Sollte bis dahin niemand Anspruch auf das Erbe erheben, sollte es auf verschiedene gemeinnützige Organisationen verteilt werden – das Ashmolean Museum, den Alpine Club und einige Dorfkirchen in Berkshire. Durch diese Klausel sollte verhindert werden, dass zu Imogens Lebzeiten jemand ihr diesen Anspruch streitig machte oder dass das Geld an die Krone fiel.«
Prichard dreht das Blatt auf seinem Schreibtisch um.
»Ashley Walsingham starb am 7. Juni 1924 auf dem Mount Everest, als er auf dem Weg zum Gipfel in einen Sturm geriet. Seine Mutter erhielt ihren Teil des Erbes, aber Imogen tauchte nie auf. Mehrere Jahrzehnte lang gingen wir davon aus, dass wir das Vermögen aufteilen würden, sobald die achtzig Jahre abgelaufen waren. Wir hatten bereits alle Unterlagen aufgesetzt. Aber im letzten Monat änderte sich alles.
Sehen Sie, Mr Campbell, in den letzten Jahren ist das Interesse an Eleanors Malerei neu erwacht, obwohl es dem Vernehmen nach weniger mit ihrer Arbeit als mit ihren Verbindungen zu tun hat. Offenbar stand Eleanor der Camden Town Group nahe und auch einigen bekannten französischen Malern. Letzten Monat las eine Doktorandin in ihren Briefen in der British Library. Sie entdeckte darin etwas Ungewöhnliches, und auf Umwegen wurde der Brief an uns weitergeleitet. Wir glauben, er betrifft Imogen.«
Prichard nimmt eine Fotokopie von der Schreibtischplatte.
»Dieser Brief erklärt vielleicht, warum Mr Walsingham sein Vermögen entweder Imogen selbst oder einem ihrer unmittelbaren Nachkommen vermacht hat. Nicht ihren Geschwistern oder Eltern, wohlgemerkt, sondern nur ihrem direkten Nachkommen.«
Er schiebt das Blatt über den Schreibtisch.
»Der Brief wurde 1925 von Eleanor an ihren Gatten geschrieben. Die darin als ›C.‹ erwähnte Person ist natürlich Ihre Großmutter. Sie war damals acht und hatte offenbar Probleme in der Schule.«
Die Fotokopie ist die letzte Seite des Briefs. Die Handschrift ist verschnörkelt, aber gut lesbar.
Francis glaubt, ich könnte für Smythes Porträt mindestens 8000 Francs bekommen. Vorausgesetzt, es ist durch den Transport nicht beschädigt, wie ich angesichts des ungewöhnlichen Formats & der stümperhaften Verpackung befürchte. Er ist sicher, Broginart will es haben, sobald er es sieht. Ich bin davon nicht überzeugt.
Natürlich war ich nicht erfreut zu hören, dass C. erneut ihren eigenen Interessen im Weg steht. Ich bin auch der Meinung, dass Miss Evans sich gegenüber C. wenig einfühlsam oder verständnisvoll benimmt, doch es lässt sich nicht leugnen, dass das Mädchen impulsiv & sprunghaft ist. Wir haben gewiss versucht, sie so zu erziehen, wie wir es für das Beste hielten, aber es trifft vermutlich ebenso zu, dass wir oft Ausnahmen gemacht haben & dies auch weiterhin tun werden. Mit jedem Tag gleicht sie mehr ihrer Mutter, sowohl dem Aussehen wie dem Charakter nach.
Es bringt mich zum Lachen, wenn ich daran denke, dass I. es für ein weiteres Zeichen von Schicksal oder göttlicher Eingebung halten würde, dass C. nicht so ist, wie wir sie erzogen haben, sondern wie sie geboren wurde. Außerdem muss ich zugeben, dass ich C.s Sturheit schätze, nachdem I. so viele Jahre fort ist. Aber vor allem mache ich mir Sorgen, sie könnte das gleiche Schicksal wie ihre Mutter ereilen.
Ich muss aufhören – die Concierge hat gerade die unerschrockene Mme Boudin angekündigt. Wieder einmal.
Verbrenn diese Zeilen.
Grüße an alle,
Eleanor
Ich gebe Prichard den Brief zurück. Er nimmt seine Brille ab und lehnt sich in seinem Stuhl zurück.
»Sie verstehen, was daraus hervorgeht?«
»Meine Großmutter war Imogens, nicht Eleanors Tochter.«
Prichard nickt. »Und Sie sind der einzige lebende Nachkomme. Ich vermute, der Brief ist nur durch puren Zufall erhalten geblieben. Rechtlich ist er weitgehend wertlos. Imogen wird nicht einmal namentlich genannt.«
»Mir scheint es vollkommen klar …«
»Wenn es die Wahrheit ist. Was aber aus verschiedensten Gründen nicht der Fall sein muss. Deshalb wird ein solcher Brief auch nicht vor Gericht anerkannt. Wir bräuchten dazu stichhaltigere Beweise.«
»Welcher Art?«
»Offizielle Dokumente, die Ihre Großmutter als Imogens Tochter ausweisen. Angesichts der Tatsache, dass die Herkunft Ihrer Großmutter bewusst vertuscht wurde, erscheint es fraglich, ob ein solches Dokument überhaupt existiert. Wenn nicht, könnten mehrere Belege wie dieser zusammengenommen zu einem überzeugenden Beweis taugen. Aber dazu bräuchten wir noch viel mehr.«
Ich denke einen Moment nach.
»Heißt das, dieser Walsingham wäre der Vater?«
»Möglicherweise. Das würde so einiges erklären.«
»Ich verstehe nicht. Sie glauben, ich könnte darüber etwas herausfinden?«
Prichard steht auf und beginnt durch den Raum zu laufen.
»Wir befinden uns in einer Sackgasse. Der Walsingham-Treuhandfonds wurde mit Blick auf strikte Wahrung der Privatsphäre aufgesetzt. Die Möglichkeiten des Sachverwalters, eigene Nachforschungen anzustellen, sind äußerst begrenzt. Mr Walsingham ging davon aus, Imogen würde persönlich erscheinen und ihr Erbe einfordern, und er wollte nicht, dass irgendein Fremder in ihrem Privatleben herumschnüffelte. Der Brief erklärt eindeutig, warum. Jedenfalls verbot uns die Vereinbarung ausdrücklich jedwede Art von Unterstützung durch einen Dritten. Seit achtzig Jahren waren keine Privatdetektive, keine Erbenermittler oder sonst jemand aktiv.«
Prichard bleibt vor dem Fenster stehen und schüttelt den Kopf.
»Es ist gelinde gesagt zum Verzweifeln. Und es verfolgt mich durch meine gesamte Berufslaufbahn. Mr Twyning sagte immer, früher oder später würde sich die Sache klären, denn bei so viel Geld werde schon ein Erbe auftauchen. Aber das ist nie geschehen. Sie sind die erste außenstehende Person, die berechtigt ist, Informationen über diesen Treuhandfonds zu erhalten, und ich kann Ihnen versichern, es war nicht leicht. Selbst als potenzieller Erbe unterliegen Sie der vorgeschriebenen Verschwiegenheitspflicht, was bedeutet, dass Sie genauso wenig wie wir fremde Hilfe in Anspruch nehmen dürfen. Das ist wenig ermutigend, aber unter Umständen ist der Beweis nicht besonders schwer zu erbringen. Wir wissen es einfach nicht, weil uns immer die Hände gebunden waren. Wir wissen, dass die Wahrheit irgendwo da draußen existiert, aber es ist uns untersagt, danach zu suchen.«
Prichard sieht mich an.
»Sie haben die Chance, Ihren Einfallsreichtum spielen zu lassen.«
Er dreht sich wieder zum Fenster um. Der Regen draußen hat zugenommen, und dichte Wasserströme rinnen die Scheiben hinab. Ein Mann auf der Straße stellt sich eilig unter.
»Der Walsingham-Fall lag bereits bei meinem Eintritt in dieser Kanzlei. Das war letzten März einundvierzig Jahre her. Ich hätte die Sache gerne abgeschlossen, bevor ich in den Ruhestand gehe, und zwar im Sinne unseres Mandanten. Das Geld war eigentlich nicht für eine Kirche oder ein Museum vorgesehen. Sie können sich also vorstellen, wie froh ich über das Auftauchen dieses Briefs war und als ich erfuhr, dass Sie tatsächlich existierten. Sagen wir, es handelt sich um einen meiner bedeutendsten Fälle, und ich würde ihn nur ungern verlieren.«
»Ich wüsste nicht, wo ich anfangen soll.«
Prichard nickt. »Lassen Sie mich Ihnen einen Rat geben. Wenn es einen Beweis für Ihr verwandtschaftliches Verhältnis zu Imogen gibt, wird er vermutlich nicht in staatlichen Archiven oder ähnlichen Stellen zu finden sein. Sie können es natürlich versuchen, aber Sie und Geoffrey haben das bereits mit den Unterlagen Ihrer Mutter gemacht, und das Einzige, was dem Sachverwalter erlaubt ist, ist das Nachforschen in offiziellen Dokumenten. Es gibt keinerlei offizielle Einträge über Imogen nach 1916. Wir haben sämtliche der üblichen Register durchforscht. Nicht der leiseste Hinweis.«
Prichard tippt mit dem Finger auf die Fotokopie.
»Dieser Brief ist der Durchbruch. Es ist die Spur, der Sie folgen sollten. Neue Hinweise öffnen oft neue Türen. Achtzig Jahre lang verfügte weder jemand über dieses Wissen noch die Freiheiten, die Sie haben. Können Sie mir folgen?«
»Das ist unglaublich.«
»Zweifellos. Aber es ist auch ein einziges Durcheinander, und ich beauftrage Sie damit, es zu entwirren. Sie werden mir dafür nicht dankbar sein, denn das Schlimmste habe ich Ihnen noch nicht gesagt. Heute haben wir den 16. August, richtig?«
Prichard nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz und greift nach einem anderen Blatt.
»Ashley Walsingham starb am 17. Juni 1924. Die Nachricht erschien in der englischen Presse am einundzwanzigsten. Sobald er davon hörte, versuchte Twyning mit Imogen in Kontakt zu treten, aber natürlich vergeblich. Folglich trat die Treuhandvereinbarung über das Vermögen am 17. Oktober 1924 in Kraft. Wie Sie sich erinnern, für genau achtzig Jahre.«
»Das ist in zwei Monaten.«
Prichard sieht mich an.
»Mehr oder weniger. Wenn das Erbe bis dahin nicht angetreten wird, geht das Geld am 17. Oktober an die verschiedenen gemeinnützigen Organisationen. Es bleiben Ihnen also etwa sieben Wochen. Sie verstehen jetzt, warum ich Sie so dringend nach London gebeten habe. Ich gebe zu, es muss Ihnen wie ein Riesenpech vorkommen, dass der Brief erst jetzt aufgetaucht ist, aber stellen Sie sich vor, wir hätten ihn in zwei Monaten entdeckt. Es ist alles eine Frage der Perspektive. Ein Pessimist würde sagen, Sie hätten sieben Wochen Zeit, etwas zu finden, das achtzig Jahre lang nicht gefunden werden konnte.«
Prichard beugt sich vor. Er lächelt verschmitzt.
»Mr Campbell, eine Frage. Sie sind kein Pessimist, oder?«
Ich zögere. »Ich weiß nicht.«
»Die typische Antwort eines Briten. Ich für meinen Teil bin zuversichtlich, dass Sie bis Oktober eine Menge erreichen können. Ich sage nicht, dass Sie den Beweis finden, weil ich nicht weiß, ob er existiert. Aber Sie sollten das herausfinden können, was herauszufinden ist.«
Prichard drückt einen Knopf an seinem Telefon. Er bittet darum, Khan zurück in sein Büro zu schicken.
»Wie gehabt wird Geoffrey Sie mit den Einzelheiten vertraut machen. Er ist Ihr Mann für die Details. Viel Glück.«
Prichard steht auf, und ich springe ungeschickt auf und folge ihm zur Tür. Er gibt mir noch einmal die Hand.
»Wenn ich Ihnen behilflich sein kann«, sagt er, »zögern Sie nicht, mich anzurufen.«
Gorphwysfa Hotel – Snowdonia, Northwest Wales
Es ist vier Uhr früh, und alle bis auf Price schlafen. Er ist gleich nach seinem Bad ins Bett gegangen, bei offenem Vorhang, damit er alle paar Stunden von seinem Kopfkissen aus den Lauf des wächsernen Mondes über dem Berghang verfolgen konnte. Die Führer von Chamonix benutzten nie Wecker, wenn sie früh rauswollten. Und er würde es auch nicht tun.
Bis weit nach Mitternacht wurde unten auf dem Klavier gespielt, und selbst danach konnte er die Stimmen noch hören. Er wusste, wer gerade redete, und konnte der Unterhaltung halbwegs folgen, die gelegentlich von heftigen Schlägen auf den Tisch und lautem Gelächter unterbrochen wurde, bis sie zuletzt zu einem Flüstern versiegte und Price einschlief. Beinahe sofort begann er zu träumen. Er ging in sein Elternhaus in Cheshire, aber er hatte seine Wanderstiefel an, und die Nägel kratzten über die Bodendielen. Im Esszimmer fand er die ganze Familie am Tisch versammelt, seine Eltern, den Bruder und sogar seine Schwester Beryl, die seit sechs Jahren tot war. Seine Mutter trug ein Abendkleid und sein Vater eine weiße Krawatte, nur Price trug seine schwere Bergsteigerkleidung, seine Jacke und den Filzhut, mit Schnee überzogen. Sie baten ihn, am Tisch Platz zu nehmen, aber Price sah Beryl an, und sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Dann wachte er auf.
Price zieht sich an, ohne Licht zu machen, und wickelt Gamaschen um seine Waden. Er will seine Pupillen für den Bergkamm geweitet halten. Er fühlt nach dem zwischen die unteren Bettpfosten gespannten Seil. Der Flachs ist noch feucht. Price rollt es auf und wirft es sich über die Schulter. Dann geht er leise auf Socken über den Flur ins Nachbarzimmer.
Ashley liegt schlafend auf der Seite. Sein Mund steht offen, und ein Büschel Haare fällt ihm über die Stirn. Price rüttelt ihn sanft an der Schulter, aber Ashley dreht nur seinen Kopf auf dem Kissen. Price zieht die Decke weg. Ashley rollt sich zusammen, zur Wand hin, komplett angekleidet in Knickerbockern und einem dicken Shetland-Pullover.
»Hast du dich vor dem Schlafengehen angezogen?«
Ashley greift nach der Decke, die Augen immer noch geschlossen.
»Du kommst immer viel zu früh.«
»Genau wie die Sonne.«
Price nimmt seinen Rucksack, und die beiden Männer treffen sich unten im Foyer. Der im Schachbrettmuster geflieste Boden ist mit Stiefeln übersät, und Ashley hebt sie einzeln auf und betrachtet die Ledersohlen. Bis auf das Muster der Nägel sehen sie alle gleich aus.
»Verdammt. Zwei linke Schuhe. Und ich weiß nicht einmal, welcher davon mir gehört.«
»Vermutlich keiner von beiden.«
Price zündet eine Kerze an, und sie suchen gemeinsam zwischen den Schatten, bis sie das richtige Paar Schuhe gefunden haben. Ashley zieht sich eine Norfolk-Jacke über, und Price setzt sich einen verbeulten Hut auf. Als sie die Eingangstür öffnen, schlägt ihnen ein eisiger Windstoß entgegen.
»Der kälteste Teil der Nacht«, bemerkt Price.
Er beginnt in seinem üblichen Tempo die weißen Steine des Bergarbeiterpfads entlangzulaufen, der sich zwischen braunen und grünen Hügeln windet und ansteigt. Ashley folgt ein paar Schritte hinter ihm, seinen Schal um den Hals wickelnd. Sie laufen am Ufer eines kleinen Sees entlang, dessen Oberfläche unter dem trüben Himmel silbern glänzt. Price dreht sich zu Ashley um.
»Wer war als Letzter im Bett?«
»Fraser und Cousin David, glaube ich. Fraser saß noch auf den Dachsparren, als ich ging.«
»Trotzdem fit für den Felsgürtel?«
»Natürlich.«
Sie passieren einen weiteren See und steigen über einen steilen Weg die breite Flanke des Berges hinauf. Die Sonne kommt über dem Kamm im Osten hervor, aber die große Nordklippe vor ihnen bleibt im Schatten. Price verlässt den Pfad, und der Anstieg wird steiler, bis sie am östlichen Rand einer dreihundert Meter hohen Felswand stehen, deren zwei Gipfel und aufsteigenden Strebepfeiler hoch über ihnen emporragen. Sie beabsichtigen, die gesamte Flanke zu traversieren.
»Es liegt immer noch ein bisschen Schnee«, bemerkt Price.
Er nimmt das Seil von der Schulter. Die Feuchtigkeit ist inzwischen zu Eis gefroren, und er zieht seine Handschuhe aus, um die Knickstellen zu glätten, bevor er sich das Seil um die Taille bindet. Ashley befestigt das Ende des Seils an einem verkeilten Felsen. Dann gibt er Hand um Hand Seil nach, während Price sich über eine Felsspalte zieht und sich in eine glatte Rinne hinablässt, den Halt unter sich jeweils mit der Stiefelspitze von Schnee und Steinen befreiend, bevor er mit seinem ganzen Gewicht darauf tritt.
Sie arbeiten schweigend, während Price sich mit fließenden, rhythmischen Bewegungen über einen Streifen milchigen Quarzgesteins bewegt und nur hin und wieder etwas über die Schulter ruft.
»Ziemlich guter Halt hier. Aber ganz schön feucht.«
»Verdammt eisig. Halt dich von der unteren Felsplatte fern.«
»Um Gottes willen, mehr Seil, Ashley!«
Ashley geht bei der nächsten Stufe vor, und so sichert immer abwechselnd ein Mann das Seil und der andere schiebt sich weiter westwärts entlang der Felswand. Der Fels ist eiskalt, und an den vereisten Stellen sickert kaltes Wasser im Sonnenlicht hervor. Beide Männer klettern mit bloßen Händen und müssen immer wieder eine Pause einlegen, um Blut in ihre fahlen Finger zu reiben.
Auf einer Felszunge, durchzogen mit einem Quarzband, machen sie Rast, und Price zündet seine Pfeife an. Der Wind heult und weht dünne Nebelschleier über die Berge und Täler unter ihnen. Plötzlich blitzt die Sonne über dem Snowdon auf und schickt einen schmalen Lichtstrahl über den Gipfel. Beide Männer schnappen leise nach Luft.
»Da ist sie«, murmelt Price. »Manchmal frage ich mich, ob wir nicht Dummköpfe sind, da wir ständig Gipfel im Ausland besteigen, wo wir doch Berge wie diese haben. Bist du hungrig?«
Price öffnet seinen Rucksack. Er nimmt ein Taschenmesser heraus und bestreicht zwei Cracker mit Anchovispaste.
»Wie würdest du diesen Ausblick beschreiben, Ashley? Als schön oder schmerzlich?«
»Als unheilvoll.«
Price gibt Ashley den Cracker. »Das sollte man auf einer Bergtour niemals sagen.«
»Dann schmerzlich. Britische Berge sind immer schmerzlich.«
»Wieso das?«
Ashley blickt auf seine Stiefel.
»Ich weiß nicht. All die vielen Moore und dunklen Felsen und Wolken. Ich denke, sie wurden für uns erschaffen.«
»Oder sie haben uns erschaffen.«
Price steht auf und schnallt seinen Rucksack zu.
»Ich schlage vor, du führst.«
Ashley tastet sich an splittrigem Fels entlang, mit dem Gesicht verschneite Pflanzenbüschel streifend. Die Felszunge wird schmaler, bis nur noch eine Stiefelspitze darauf Platz findet und zuletzt bloß ein einziger Nagel gegen das schuppige Gestein kratzt. Er sieht nach unten auf das scharfkantige Geröll hundertfünfzig Meter unter ihm und auf die glatte, milchgraue Oberfläche des Sees. Ashley legt das Seil über einen vorspringenden Felsknauf und krabbelt wie eine Spinne ostwärts, während Price ihn mit der Pfeife im Mund sichert.
Eine halbe Stunde später stehen sie unter einem glatten Felsschacht, gut einen Meter breit und beinahe senkrecht in die Höhe verlaufend. Ein dünner Wasserfilm läuft die Wände hinunter.
»Sieht glitschig aus«, sagt Ashley.
»Wird schon gehen.«
Price steigt in den schmalen Schacht, drückt seinen Rücken gegen die eine Wand und seine Stiefel gegen die andere. Dann schiebt er sich mit seinen Beinen und dem Rücken aufwärts, die Hände lediglich zur Sicherung gegen die Wand pressend. Zehn Minuten später ist er oben und bindet das Sicherungsseil an einem Felsvorsprung fest.
»Jetzt du.«
Ashley geht tief in den Schacht hinein und beginnt hinaufzuklettern, wobei er sein Gewicht allein mit den Beinen zu halten versucht. Aber die Haltegriffe sind winzig, glitschige Vorsprünge, die nicht einmal so groß wie ein Fingernagel sind.
»Du bist zu tief drinnen«, ruft Price. »Geh weiter zum Rand.«
Ashley hört nicht auf ihn. Er drückt sich weiter aufwärts. Seine Arme werden müde, und die Nägel seiner Stiefel rutschen über den nassen Fels. Der Schacht wird noch steiler, bis ein vorspringender Fels ihm den Weg versperrt. Price steht viereinhalb Meter über ihm und hält das Seil stramm, während er zu Ashley herabsieht.
»Rechts ist ein Fußtritt.«
»Da komm ich nicht hin.«
»Folge dem Riss! Links ist es zu glitschig.«
Ashleys linker Fuß tastet nach der Felskante, aber er hat keine Kraft mehr in der rechten Hand und lässt sein Gewicht auf den Fuß sinken, bevor er den Kiesel auf der Kante bemerkt. Sein Stiefel rutscht ab, und er gleitet über den Fels in den Schacht hinab. Price greift geistesgegenwärtig nach dem Seil, aber bevor es sich strafft, hat Ashley Arme und Beine gegen den Fels gerammt und sein Abrutschen gestoppt.
»Alles in Ordnung?«
Ashleys Ellbogen brennen vor Schmerzen. Er verlagert sein Gewicht auf den Rücken und hält einen Moment inne. Dann klettert er den Schacht auf der rechten Seite hinauf, wie Price es ihm gesagt hat. Nachdem er oben angekommen ist, sieht er auf seine blutigen Knöchel. Ein Fingernagel ist eingerissen. Sein linker Ellbogen ist abgeschürft, und seine Knie sind nass und verschmiert.
»Technisch war deine Route vermutlich die bessere.«
Price schüttelt den Kopf.
»Verdammter Idiot.«
Eine Stunde später erreichen sie den Gipfel des Westsattels und steigen rasch über den Kamm ab, sodass sie gegen drei Uhr zurück am Hotel sind. Auf einer Bank hinter dem Gebäude, dessen weiße Giebel von Nebel eingehüllt sind, sitzen einige Bergsteiger und rauchen Pfeife.
»Wart ihr zwei das auf dem Felsgürtel? He, Walsy, bist du wie eine Forelle über die Kante geflutscht?«
Die anderen Bergsteiger lachen.
»Wir kamen über den Westsattel hinauf und sahen jemanden hinter uns über den Rand rutschen und sich flach auf dem Fels ausstrecken. Wie eine Forelle an Land. Er hat sich kaum bewegt, einfach nur in den Himmel gestarrt. Ich sagte, das kann nur Walsy sein …«
»Ich betrachte mich eher als Lachs denn als Forelle«, unterbricht Ashley ihn.
Price deutet auf ein neues Ford Cabriolet, das vor dem Hotel parkt, der schwarze Lack voller Schlammspritzer.
»Neue Gäste?«
»Nur auf der Durchreise«, sagt der Bergsteiger. »Ein Mann vom Climbers’ Club und seine zwei Schwestern. Wie war noch gleich der Name?«
»Grafton.«
Price und Ashley betreten das Hotel. Im Foyer ist es ungewöhnlich still. Die sonst wild durcheinanderliegenden Stiefel stehen alle ordentlich in Reih und Glied, nachdem der Nebel die Bergsteiger zurück ins Haus getrieben hat. Als sie sich dem Rauchersalon nähern, hören sie jemanden Klavier spielen, ein langsames Stück.
»Merkwürdig«, sagt Price. »Das ist ganz bestimmt nicht aus dem Liederbuch.«
Price drückt die Tür auf, bleibt aber auf der Schwelle stehen und hebt die rechte Hand zum Zeichen der Stille. Ashley reckt seinen Hals und linst über Price’ Schulter.
Eine große Gruppe hat sich um das Klavier versammelt. Bergsteiger hocken im Schneidersitz auf dem Boden, einige lehnen sich stehend an die Wand, andere ziehen an ihren glühenden Pfeifen. Das Aroma billigen Tabaks hängt in der Luft. Im hinteren Teil des Raums sitzen Zuschauer in einer Reihe auf Stühlen, darunter einige Frauen. Ashley sieht nur den Rücken der Frau am Klavier. Eine cremefarbene Bluse, ein langer dunkler Rock. Ihre Hände sind blass. Ein silberner Armreif am Handgelenk.
Ashley und Price verharren wartend in der Tür. Das Stück kehrt zu seinem Thema zurück, eine wirbelnde Kaskade von Tönen. Dann wird die Musik langsamer und verebbt. Die junge Frau hebt ihre Hände von den Tasten. Laute Bravorufe und Applaus sind zu hören.
»Zugabe! Zugabe!«
Die junge Frau dreht sich auf dem Klavierhocker, erstaunt über so viel Begeisterung. Sie ist schlank, und ihr schwarzes Haar ist zusammengebunden. Unter ihren blauen Augen sind blasse Sommersprossen zu sehen.
»Nicht doch«, sagt sie.
»Das war großartig«, ruft Price. »Zugabe!«
Das Mädchen lächelt und verbeugt sich leicht. Sie blättert im Liederbuch, aber ihre beiden Begleiter, eine ebenfalls dunkelhaarige Frau und ein Mann im Staubmantel, stehen auf. Während der Saal noch applaudiert, erhebt sich das Mädchen und macht eine schüchterne Verbeugung. Klatschend wendet Price sich an Ashley.
»Sie wird das Hotel nicht so schnell vergessen.«
Das Mädchen und seine Begleiter verlassen unter Beifall den Salon. Ein junger Mann mit einer Pfeife im Mund zieht die Klavierbank vor und beginnt ein flottes Lied zu spielen, dessen Strophen am Vorabend entstanden sind. Beim Refrain fällt der ganze Saal mit ein. Price packt Ashley an der Schulter.
»Hör zu, Ashley, ich will dich nur auf den rechten Weg bringen. Viele Bergsteiger fangen als Feuerschlucker an und beißen in Dinge, die sie nicht schlucken können. Ich gestehe, dass es bei mir nicht anders war. Aber du musst lernen, von der Erfahrung anderer zu profitieren, sonst forderst du das Schicksal heraus. Es ist ganz egal, wie talentiert du bist. Ich habe dir gezeigt, wie du sicher hinaufkommst, aber du musstest einen aberwitzigen Weg nehmen und bist abgerutscht.«
»Ich habe mich gefangen.«
»In letzter Sekunde. Ein echter Alpinist vertraut nicht auf Zufälle.«
Price nimmt die Hand von Ashleys Schulter.
»Ich will dir eine Frage stellen, Ashley. Was, glaubst du, bringt einen Mann im Leben am weitesten – Begabung, Urteilsvermögen oder Ausdauer?«
Ashley überlegt.
»Ich würde sagen, der Lachs besitzt alle drei Eigenschaften. Und nach unendlichen Mühen kehrt er zum Sterben an den Ort zurück, an dem er geboren wurde.«
»Nein, ernsthaft.«
»Dann weiß ich es nicht. Welche ist es?«
Price nimmt Ashley das Seil ab und legt sich die Rolle über die Schulter. Kopfschüttelnd geht er zur Treppe.
»Das musst du schon selbst wissen.«
Ich trete aus dem Gebäude und laufe in Richtung High Holborn, in der Hand eine Aktenmappe mit dem Aufdruck Twyning & Hooper. Darin sind die Unterlagen, die sie mir gegeben haben, der Beweis für das, was ich gesehen und gehört habe: Die Anwälte existieren. Die Erbschaft existiert.
High Holborn ist keine schöne Straße. Gebäude aus Glas und Stein; Scharen blasser Geschäftsleute in dunklen Anzügen, die grellen Krawatten mit breiten Windsorknoten gebunden. Sie wissen nichts von meiner Offenbarung. Eine Frau, die auf ihr Handy starrt, rempelt mich mit der Schulter an.
»Entschuldigung«, sage ich.
Die Frau läuft weiter und verschwindet im Eingang zur U-Bahn-Station Holborn, offenbar, ohne mich zu hören. Ich stütze mich mit der Hand an der polierten Fassade eines Gebäudes ab.
Von dem Moment an, als Prichard den Vorschlag machte, wollte ich nach London reisen. Allerdings sagte ich das am Telefon nicht. Nach dem ersten Anruf verbrachte ich den Nachmittag auf einer Bank im Dolores Park und beobachtete die sich zuziehenden Wolken über den Wolkenkratzern Downtown. Ich dachte an London und Rom und Paris, Städte, die ich alle nur dem Namen nach kannte, über die ich gelesen hatte, aber die dunkle Flecken auf einer Landkarte waren. Es war schwerer, sich die Erbschaft vorzustellen, und noch schwieriger, es mit meiner Großmutter in Verbindung zu bringen. Als ein Wind aufzog, ging ich zurück in meine Wohnung. An der Ecke 24th und Capp Street kam ich an einer Telefonzelle vorbei. Lange Zeit stand ich unschlüssig davor. Dann hob ich den Hörer ab und rief Khan an.
»Ich komme nach London. Ich muss nur zuerst nach den Unterlagen suchen.«