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Neuauflage (ePub) Juni 2017

 

© 2011 by Raik Thorstad

 

Verlagsrechte © 2017 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

 

ISBN-13: 978-3-95823-646-2

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Klappentext:

 

Andreas von Winterfeld leidet unter einer schweren Form von Agoraphobie, die sich in Ermangelung einer Behandlung stetig verschlimmert. Isolation und unglückliche Familienumstände haben ihn zu einem Außenseiter gemacht, der sich kaum mit Menschen auskennt und auch seine Homosexualität niemandem anvertrauen kann – bis Sascha sein eintöniges Leben komplett auf den Kopf stellt. Doch auch Sascha hat sein eigenes Päckchen zu tragen und versucht noch, seinen Platz in der Welt zu finden. Können sich diese beiden ungleichen jungen Männer gemeinsam der Einsamkeit stellen?


 

 

 

 

 

Für Daniel und Christian


 

Kapitel 1

 

 

Durch die Sprossenfenster fiel gleißendes Sonnenlicht. Staubpartikel tanzten gemächlich in Richtung Boden und streiften das Chaos, das nicht recht zu der kostspieligen Einrichtung des Zimmers passen wollte. Helle Buchenholzmöbel, ein Ledersessel vor dem Glasschreibtisch, eine moderne Hi-Fi-Anlage über dem Bett, ein Computer, ein verstaubtes Teleskop vor dem linken Fenster.

Vom taubenblauen Teppichboden war kaum etwas zu erkennen, stapelten sich doch Bücher und Zeitschriften, zerbrochene CD-Hüllen, DVDs und Computerspiele auf jedem freien Fleck. Das Bett beherbergte ein Wirrwarr zerknitterter Kleidung und erklärte, warum ihr Eigentümer auf dem Fußboden vor dem Fenster lag, statt es sich auf der Matratze bequem zu machen.

Träge drehte Andreas den Kopf und betrachtete aus halb geschlossenen Augenlidern seine Umgebung. Sein Blick verharrte für eine Sekunde auf dem gefährlich hohen Stapel Zettel, Hefte und Schulbücher, der jeden Augenblick vom Schreibtisch zu stürzen drohte – direkt in den übervollen Mülleimer.

Es kümmerte ihn nicht. Es kümmerte ihn ebenso wenig wie die Tatsache, dass eine Staubschicht seinen erst wenige Monate alten Flachbildfernseher bedeckte oder dass ein muffiger Geruch im Raum hing.

Er wusste, dass es an der Zeit war, dem Drängen seiner Eltern nachzugeben. Seit Tagen klopften sie abends an seine Zimmertür und baten, verlangten, bestanden darauf, dass er ihrer Haushälterin Ivana die Möglichkeit gab, gründlich bei ihm sauber zu machen.

Andreas mochte Ivana. Sie war still und herzlich und dachte sich eher ihren Teil, als anderen Leuten ihre Meinung aufs Auge zu drücken. Die gebürtige Ukrainerin arbeitete schon so lange für die von Winterfelds, dass sie fast ein Teil der Familie war.

Das bedeutete aber nicht, dass er sie in seinem Zimmer haben und erleben wollte, wie sie ihm seine ganz eigene Ordnung durcheinanderbrachte und überhaupt in seinen engen Lebensraum eindrang. Wenn man als Neunzehnjähriger kaum mehr Bewegungsfreiheit als ein Hamster im Käfig hatte, schätzte man es nicht, wenn andere Leute zu einem in die Einstreu kletterten – so schmutzig und übel riechend sie auch sein mochte.

Frustration ergriff von Andreas Besitz und legte sich als bleiernes Gewicht auf seine Brust. Es prickelte unangenehm in seinen Oberschenkeln und ein milder Schwindel zwang ihn, die Augen zu schließen. Ihm war übel. Das kannte er schon. Ihm wurde immer übel, wenn er über gewisse Dinge nachdachte, sich damit beschäftigte, wer er war und was die Zukunft für ihn bereithielt.

Dabei gab es sicherlich viele Menschen, die liebend gerne mit ihm getauscht hätten. Nichts ahnende Idioten, alle miteinander.

Von außen betrachtet war er ein privilegierter, junger Mann, dem die ganze Welt offenstand. Seine Familie trug den stolzen Namen von Winterfeld, der auf ein über tausend Jahre altes Adelsgeschlecht zurückging. Sein Großvater mütterlicherseits war nie um eine Anekdote aus dem Mittelalter verlegen, in der einer ihrer Vorfahren heldenhaft einem Fürsten, König oder Grafen zu Hilfe eilte.

Andreas vermutete, dass es sich bei der Historie derer von Winterfeld lediglich um eine Sammlung hübscher Märchen und Legenden handelte, die sich gut auf der Website des Familienbetriebs machten. Mit romantischen Burganlagen oder großflächigem Landbesitz hatten sie nichts zu schaffen. Von Winterfeld war ein Markenname, der aus der deutschen Wirtschaft nicht wegzudenken war. Ein paar gute Ideen, eine gewisse Gnadenlosigkeit während der harten Jahre des Zweiten Weltkriegs sowie ein eiserner Wille hatten ein Unternehmen geschaffen, das ein paar Tausend Arbeiter unter Vertrag hatte und gewaltigen Gewinn abwarf.

Einen Gewinn, der nur wenigen zugutekam, denn die Familie von Winterfeld war klein. Sie bestand aus Andreas' Großvater – dem einstigen Firmeninhaber –, seinen Eltern und ihm selbst. Keine Geschwister, keine Tanten und Onkel, keine entfernten Verwandten; dafür ein nicht abreißender Strom Geld.

Kurz gesagt: Wenn er sich nicht in einen verantwortungslosen Verschwender verwandelte, würde er sich in seinem ganzen Leben nie Gedanken über seine Finanzen machen müssen. Er war reich. Oder viel mehr waren es seine Eltern und sein Großvater, was letztendlich auf dasselbe hinauslief.

Andreas bedeutete dieser Reichtum nicht viel. Gut, er wusste den Luxus, der ihn umgab, zu schätzen.

Von Kindesbeinen an waren ihm alle materiellen Wünsche erfüllt worden; häufig sogar solche, die er nie geäußert hatte. Spielzeug, die neuesten Videospiele und Konsolen, Fahrräder, ein Steinway-Flügel, um darauf die ersten Gehversuche in Sachen Klavierspiel zu machen. Nie hatte er Ärger bekommen, wenn er sich als Kind gleich drei Hosen pro Woche an seinem Kletterbaum im Garten aufriss. Kaputte Kleidungsstücke wurden bei ihnen nicht geflickt oder anderweitig gerettet. Sie wurden ohne mit der Wimper zu zucken ausgetauscht.

Seitdem Andreas vierzehn war, kaufte er mit den Kreditkarten seines Vaters im Internet ein. Er hatte dafür nie Rechenschaft ablegen müssen; egal, wie hoch die Kartenabrechnung am Ende des Monats ausfiel.

Aber die Großzügigkeit der von Winterfelds hatte eine Kehrseite. Die erfolgreiche Firma verlangte viel Aufmerksamkeit und Einsatz. Und so bitter es auch sein mochte, hatte Andreas früh begriffen, dass es für seine Eltern oft einfacher war, ihn mit teuren Geschenken zu überhäufen, statt ihm ihre ungleich kostbarere Zeit zu schenken. Inwieweit dies damit zu tun hatte, dass er als Betriebsunfall auf die Welt gekommen war und die Pläne seiner karriereorientierten Mutter durchkreuzt hatte, wollte er gar nicht erst wissen.

Er hatte alles und gleichzeitig nichts. Andreas wusste, dass er eine Enttäuschung für seinen Vater war. Er funktionierte nicht, konnte den hohen Erwartungen nicht gerecht werden, die seine Eltern, sein Großvater und der gute Name der Familie an ihn stellten.

Vom Tag seiner Geburt an war sein Weg vorgezeichnet gewesen. Denn wenn Margarete von Winterfeld schon zum ungünstigsten Zeitpunkt ein Kind bekommen musste, dann stand außer Frage, dass dieses Kind eines Tages das Unternehmen übernehmen musste.

Andreas' Meinung zu diesem Thema war nicht relevant. An manchen Tagen erwischte er sich dabei, dass er sogar froh war, dass sein Leben eine so unrühmliche Wendung genommen hatte. Und sei es nur, weil es ihm von Zeit zu Zeit ein diebisches Vergnügen bereitete, seine Eltern betretene Blicke austauschen zu sehen. Zu wissen, dass er die einzige Größe in der Gleichung ihres Lebens war, die nicht aufging.

Er unterdrückte ein bitteres Lachen. Dabei kannten sie nur die halbe Wahrheit.

Das Knarren der Stufen im Treppenhaus ließ Andreas die Augen verdrehen. Die Hamburger Villa in Sichtweite des Elbstrandes mochte standesgemäß und vor allen Dingen teuer sein, aber sie hatte auch ihre Nachteile. Hohe Decken, sodass sich die Räume im Winter nur langsam aufheizten. Allerlei Auflagen für Baumaßnahmen durch den Denkmalschutz. Teilweise widersinnige Raumaufteilungen. Und die Tatsache, dass man genau hören konnte, wer die Treppe hochging. Je nach Gewicht quietschten die Stufen ein paar Töne höher oder tiefer.

Dieses Mal war es Andreas' Mutter. Er hatte keine Lust, sich mit ihr auseinanderzusetzen, aber sie war immerhin besser zu ertragen als sein Vater. Vermutlich, weil sie ihre Enttäuschung über sein Versagen besser kaschieren konnte als ihr Mann.

»Andreas?« Ein zartes Klopfen an der Tür. »Bist du wach?«

Was für eine bescheuerte Frage. Es war fünf Uhr nachmittags. Selbst unnütze Schmarotzer wie er waren da schon wach.

»Hm-hm«, knurrte er zurück und fragte sich, ob es ihm heute gelingen würde, seine Mutter abzuwimmeln. Viel Hoffnung hatte er nicht, da er am Morgen nicht zum Unterricht in der Bibliothek erschienen war. Wie er seinen Privatlehrer Dr. Schnieder kannte, hatte er seinen Eltern Bericht erstattet und vermutlich gleich die Gelegenheit genutzt, um ihnen auf pädagogisch korrekte Weise mitzuteilen, dass ihr Sohn ein faules Aas war.

»Kann ich hereinkommen? Ich möchte gerne mit dir reden, bevor ich wieder fahre.«

»Wo musst du denn noch hin?«, umging Andreas die Frage fürs Erste. Nicht, dass es ihn interessierte, welche wichtigen Verpflichtungen seine Mutter an diesem Abend davon abhielten, daheimzubleiben.

Er hörte sie vor der Tür seufzen. »Zu einem Geschäftsessen mit einem neuen Großkunden aus Rumänien. Wenn alles gut läuft, werden wir in einen ganz neuen Markt vorstoßen. Das wäre gut für uns, denn die Absatzlage in Deutschland ist aktuell nicht so günstig, wie du weißt, und neue Statistiken belegen...«

»Ist ja schon gut, ist ja schon gut«, grollte Andreas und schalt sich selbst einen Idioten. Warum hatte er auch gefragt? »Komm schon rein.«

Das perfekt geschminkte Gesicht seiner Mutter verzog sich für einen Moment, als sie die Tür öffnete und ihren Blick durch das Zimmer huschen ließ. Andreas blinzelte von seiner Position am Fußboden zu ihr hinauf.

Margarete von Winterfeld war eine sehr kleine, zarte Person mit einem kurz geschnittenen Blondschopf und zerbrechlich wirkenden Gliedmaßen. Andreas kam nicht im Mindesten nach ihr. Genau wie sein Vater war er groß und dunkel, mit von Natur aus leicht getönter Haut, die im krassen Gegensatz zum Porzellan-Teint seiner Mutter stand. In ihrem auf den Leib geschneiderten, hellblauen Kostüm wirkte sie trotz ihrer zweiundvierzig Jahre wie eine Schülerin, die nervös dem ersten Vorstellungsgespräch ihres Lebens entgegenzitterte.

»Schatz...«, setzte sie betroffen zum Sprechen an und trat vorsichtig um die am Boden liegenden CDs herum auf ihn zu. »Hast du heute schon geduscht? Oder wenigstens die Fenster geöffnet?«

»Weder noch«, grummelte er und drehte den Kopf beiseite, um ihr nicht in die Augen schauen zu müssen. Er mochte es nicht, sie überfordert zu sehen. Bei seinem Vater war es etwas anderes, doch bei seiner Mutter überkam Andreas manchmal das schlechte Gewissen, wenn sie hilflos vor ihm stand und nicht wusste, wie sie mit ihm umgehen sollte.

»Und was war mit dem Unterricht? Dr. Schnieder sagt, du wärst nicht erschienen.«

»Kopfschmerzen.«

»Schon wieder? Schatz, du weißt, dass wir uns wirklich bemühen, es dir leicht zu machen. Und ich weiß, dass es dir schwerfällt, dich mit deinem Lehrer auseinanderzusetzen, aber du musst doch deine Schulausbildung beenden.«

»Was soll ich machen, wenn ich Kopfschmerzen habe?«, brauste Andreas auf. Ungehalten sprang er auf und verschränkte die Arme vor der Brust, während er unbewusst in Richtung Fenster zurückwich. »Ich bin krank. Ich bin seit neun Jahren krank und wir beide wissen, dass sich daran nichts mehr ändern wird. Wozu also die ganze Mühe? Glaubst du wirklich, dass es eines Tages vorbei ist und ich wieder normal werde?« Grausamkeit mischte sich in seine Stimme, als er etwas leiser hinzufügte: »Tut mir leid, euch enttäuschen zu müssen. Aber ich werde nie so funktionieren, wie ihr euch das vorstellt.«

»Andreas, sei nicht ungerecht«, entgegnete seine Mutter in einem Tonfall, der ahnen ließ, dass sie dieses Gespräch nicht zum ersten Mal führten. »Ich weiß, dass du krank bist.«

»Aber mein Herr Vater nicht. Der glaubt immer noch, dass ich euch etwas vorspiele. Vermutlich denkt er sogar, es macht mir Spaß, im Haus festzusitzen.«

Margarete spitzte den Mund, wie sie es oft tat, wenn sie angestrengt nachdachte, bevor sie betont ruhig sagte: »Wir haben dir anfangs unrecht getan. Das weiß ich. Aber mittlerweile ist auch deinem Vater klar, dass du wirklich krank bist. Wir haben es schwarz auf weiß. Wir tun alles, um es dir so leicht wie möglich zu machen. Du hast uns versprochen, dass du dein Abitur machst. Dein Vater und ich wissen, dass es länger dauern wird und dass wir ein paar ungewöhnliche Wege beschreiten müssen, aber...«

»Ich werde die Prüfungen nicht ablegen können!«, polterte Andreas dazwischen. »Warum macht ihr euch etwas vor? Ja, den Unterricht kann ich zu Hause durchziehen. Aber für die Abschlussprüfungen muss ich vor einem Gremium meine Klausuren schreiben, und das kann ich nicht!«

Er schrie mittlerweile fast, spürte es in sich kochen, hasste diese Diskussion, hasste die Sackgassen, aus denen sein Leben bestand.

»Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es so weit ist«, lenkte seine Mutter ein, doch der sanfte Zug um ihren Mund war verschwunden und hatte Resignation Platz gemacht. »Aber bis dahin... gib dir ein bisschen Mühe, ja? Versuch dich auf den Unterricht einzulassen. Abbrechen kannst du ihn immer noch, wenn es dir zu schlecht geht. Und bitte lasse Ivana morgen in dein Zimmer zum Aufräumen, ja? Du kannst dich hier doch nicht wohlfühlen.«

Um ein Haar hätte Andreas die Grenzen der guten Erziehung überschritten und seine Mutter nachgeäfft.

Du kannst ja immer noch abbrechen, wenn es dir zu schlecht geht, echote es hinter seiner Stirn. Sie hatte gut reden. Sie wusste ja nicht, wie es sich anfühlte, sich wie eine Schildkröte ohne Panzer vorzukommen, sobald er sein kleines Reich verließ. Sie wusste nicht, wie anstrengend zwei Stunden Unterricht bei dem unsympathischen Dr. Schnieder für ihn waren. Abrupt wandte er sich ab und starrte aus dem Fenster in den weitläufigen Garten.

Kühl und verlockend blinzelte ihm das türkisfarbene Wasser des Swimmingpools entgegen. Trotz des nahenden Abends war es immer noch heiß, und daran würde sich bis in die frühen Morgenstunden auch nichts ändern.

Er schwamm für sein Leben gern. Er hätte alles gegeben, um unbeschwert in ein paar Shorts zu schlüpfen und nach draußen zu rennen, sich kopfüber ins Wasser zu werfen. Aber er konnte nicht.

Schlanke Finger strichen über seinen Nacken und durch seine zotteligen, langen Haare; eine tröstende Geste, die jedoch kaum Wirkung erzielte.

»Versuch es mal wieder, Liebling«, flüsterte seine Mutter behutsam. »Du warst den ganzen Sommer über noch nicht unten, und du bist als Kind so gerne geschwommen. Danach geht es dir bestimmt besser.«

Als er mit keinem Wort zu verstehen gab, dass er ihren Vorschlag registriert hatte, zog Margarete von Winterfeld sich schweigend zurück. Sie wusste, wann es keinen Sinn mehr hatte, weiter in ihren Sohn einzudringen. Als sie ein paar Minuten später das Haus verließ, schob sie wie so oft ihr schlechtes Gewissen beiseite, um sich voll und ganz auf den nahenden Geschäftstermin konzentrieren zu können.

 

***

 

»Es ist noch ein bisschen spartanisch, fürchte ich. Aber wir fahren am Wochenende einkaufen und besorgen noch ein paar Sachen für dich.«

Mit einem Ruck stellte Sascha die letzte Umzugskiste ab. Er streckte sich ausgiebig, während er sich prüfend im Gästezimmer umsah. Der Raum war ohne jeden Zweifel freundlich eingerichtet – farbenfrohe Vorhänge, Bettwäsche mit riesigen Sonnenblumen, ein abstraktes Gemälde über dem Schreibtisch –, entsprach aber nicht unbedingt dem Geschmack eines achtzehnjährigen Schülers. Zu steril, zu wenige Poster an den Wänden und schlicht zu wenig Durcheinander. Aber er hatte es nicht schlecht getroffen. Das Zimmer war groß und stand ihm allein zur Verfügung, was mehr war, als er zu hoffen gewagt hatte.

»Das passt schon, Tante Tanja«, erklärte er dankbar. »Was dagegen, wenn ich ein paar Poster aufhänge?«

Die hochgewachsene Mittdreißigerin, die mit kritischem Blick die Zimmereinrichtung musternd im Türrahmen lehnte, verdrehte entsetzt die Augen und hob abwehrend die Hände. »Um Himmels willen, lass bloß die Tante stecken. Ich fühle mich dann steinalt. Und natürlich kannst du Poster aufhängen. Das hier ist jetzt dein Zimmer und du kannst damit machen, was immer du willst.«

»Was immer ich will? Wirklich?«. Sascha grinste wölfisch. Er sah einem Freifahrtschein in Sachen aufregender Fotos entgegen.

»Gut, fast alles. Du tätest mir einen Gefallen, wenn du keine halb leeren Joghurtbecher auf der Fensterbank stapelst, bis daraus ein Biotop entsteht. Und ach ja, Pornohefte oder Ähnliches darfst du gerne an Orten verstauen, wo meine kleinen Kröten sie nicht finden.«

Halb belustigt, halb besorgt angesichts der Ankündigung, dass sein Cousin und seine Cousine in naher Zukunft über ihn und sein neues Domizil herfallen könnten, zog Sascha eine Augenbraue hoch. »Versprochen.« Er stockte kurz, bevor er ein wenig kleinlaut hinzufügte: »Und bevor ich es vergesse: Danke. Für alles.«

»Gern geschehen. Für meinen Lieblingsneffen tue ich doch alles.« Tanja lächelte warm.

»Ich bin dein einziger Neffe.«

»Ich weiß.« Sie lachte und klopfte kurz gegen den Türrahmen. »Ich lasse dich jetzt allein. Du willst sicher auspacken. Und ich muss mich wohl oder übel mit meinem Schweinestall von Küche beschäftigen.«

Kaum dass sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, setzte Sascha sich auf sein neues Bett und fuhr sich mit dem Unterarm über die feuchte Stirn. Die lange Autofahrt bei glühender Hitze und das Tragen der Umzugskisten forderten ihren Tribut. Sein T-Shirt war nass und klebte klamm an seinem Rücken. Er sehnte sich nach einer Dusche, aber vermutlich war es besser, zuerst auszupacken. Bis er seine Bücher und Kleidung in den Regalen und Schränken verstaut hatte, würde ihm angesichts der tropischen Temperaturen draußen sicher noch ein paar Mal der Schweiß ausbrechen. Und da hieß es immer, im hohen Norden wäre es kühler als im Rest der Republik.

Ein unangenehmes Ziehen manifestierte sich in seiner Brust, als er an das Zuhause dachte, das er hinter sich gelassen hatte. Nicht, dass er sich nicht auf Hamburg freute. Welcher Jugendliche würde sich nicht freuen, von einem Kuhdorf in Nordhessisch-Sibirien nach Hamburg zu ziehen, wo es Platz für jeden noch so schrillen Trend und jede sexuelle Orientierung gab? Er konnte es kaum erwarten, die In-Viertel der Metropole zu erkunden.

Vor der neuen Schule hatte er keine Angst, obwohl es kein Spaß war, ausgerechnet zum 13. Schuljahr und Abitur das Gymnasium zu wechseln. Neue Leute, neue Erfahrungen, der Duft der großen, weiten Welt. Nichts sprach dagegen.

Dazu kam, dass seine Tante, pardon, Tanja nicht mit ihrer biederen älteren Schwester zu vergleichen war, die Sascha in der Vergangenheit mit ihrem Scheuklappen-Denken oft zur Weißglut getrieben hatte. Er wusste, dass es nicht selbstverständlich war, dass seine Tante ihn aufnahm. Sie hatte selbst zwei Kinder und genug Schwierigkeiten, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Wo Sascha ohne sie jetzt wäre, wollte er sich nicht vorstellen.

Okay, vermutlich wäre er zu Hause. Es war ja nicht so, dass seine Eltern ihn vor die Tür gesetzt hatten. Vielleicht hätte er ohne das großzügige Angebot von Tanja in ein paar Wochen oder Monaten freiwillig seinen Hut genommen.

Die letzten Jahre waren nicht leicht für ihn gewesen. Ständig hatte es bei ihnen daheim Ärger gegeben – immer war er zu wild, zu launisch, zu chaotisch, zu verantwortungslos, zu auffällig, schlicht zu extrem für die heile Welt seiner Eltern.

Dass sein Vater eines Tages unerwartet früher nach Hause gekommen war und Sascha wild knutschend mit einem Schulkameraden auf dem Sofa vorgefunden hatte, war nur der berühmte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Dabei wusste Sascha nicht einmal, womit seine Eltern ein Problem hatten. Hatten sie wirklich nicht gewusst, dass er schwul war? Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen; auch wenn er es ihnen nie ins Gesicht gesagt hatte. Man sollte meinen, dass die Poster von halbnackten Kerlen anstelle von vollbusigen Models an seinen Schranktüren Hinweis genug gewesen wären.

Jeder hatte es gewusst. Seine jüngere Schwester Katja, seine Freunde, die Leute in der Schule. Nur seine Eltern angeblich nicht. Und sie schämten sich für ihn. Das war wohl das Schlimmste an der Sache. In ihrem Universum war er ein Aussätziger; jemand, über den das ganze Dorf lachte und über den man redete. Das hassten seine Eltern am meisten: wenn man über sie redete.

Damit musste er sich von jetzt an nicht mehr auseinandersetzen. Ihm hatte sich eine bessere Alternative geboten. Wenn seine Mutter meinte, sich für ihn schämen und beim Gedanken an das, was er mit anderen Jungen machte, rot werden zu müssen, war das ihr Problem – nicht seines.

Grimmig stand Sascha auf und machte sich daran, seine Sachen auszupacken. Aus dem halb verwilderten Garten unter seinem Fenster drang das Kreischen spielender Kinder zu ihm herauf. Seine Cousine hatte gleich ein ganzes Rudel ihrer Freundinnen zu Besuch. Aus dem Wohnzimmer im Erdgeschoss tönte schwungvoller Latin Jazz. Er hörte Tanja lauthals mitsingen.

Sascha ließ sich im Schneidersitz auf dem abgewetzten Parkett nieder und nahm den ersten Stoß CDs aus der Umzugskiste. Während er sie alphabetisch sortierte, dachte er, dass es keinen Grund gab, sein neues Leben nicht mit offenen Armen zu empfangen und das Beste daraus zu machen. Hamburg erwartete ihn.


 

Kapitel 2

 

 

Es sollte ihm leichtfallen. Schließlich war er nicht auf dem Weg zu seiner Hinrichtung, auch wenn es sich so anfühlte. Alles, was Andreas wollte, war in den Garten gehen. Es sollte ihm nicht solche Angst machen. Es war nicht logisch, nicht erklärbar und schon gar nicht sinnvoll, doch er konnte sich nicht gegen das nagende Gefühl in seinem Magen, die Schwäche in seinen Beinen zur Wehr setzen.

Andreas konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wie alt er gewesen war, als er begann, sich in speziellen Situationen nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Anfangs war es nur ein unbestimmtes Gefühl von Nervosität gewesen, das von seinem Körper Besitz ergriff und ihn dazu brachte, gewisse Orte zu meiden. Er wollte nicht zu seinen Klassenkameraden nach Hause eingeladen werden, mochte den Schwimmunterricht im Hallenbad nicht und gruselte sich vor den engen Sitzreihen im Kino.

Als er zehn Jahre alt war – es war sein letztes Jahr auf der Grundschule, daran erinnerte er sich genau –, waren sein unterdrücktes Zittern und seine blasse Nase zum ersten Mal seiner Lehrerin aufgefallen. Er hatte alles abgestritten, obwohl er nicht wusste, warum. Nach der Unterrichtsstunde hatte er sich im Schutz der Toiletten übergeben und war anschließend wie von Höllenhunden getrieben nach Hause gerannt. Sein Fahrrad, seine Jacke und sein Ranzen blieben in der Schule zurück.

Ein paar Wochen später besuchte er die Schule nur noch sporadisch. Er klagte morgens am Frühstückstisch über allerlei Krankheitssymptome, um daheimbleiben zu dürfen. Und wenn alles nichts half, machte er sich zum Schein auf den Weg, nur um auf halber Strecke wieder umzudrehen und zurück in die Villa zu schlüpfen, sobald seine Eltern aus dem Haus waren.

Wieder wusste er nicht, warum er so handelte. Er wusste nur, dass es richtig war und sich gut anfühlte – besser als der Aufenthalt in einem Klassenraum mit fünfundzwanzig anderen Kindern und dem Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Natürlich blieb sein Fehlen nicht unbemerkt. Eine Reihe unangenehmer Gespräche und Untersuchungen folgten. Lehrer nahmen ihn beiseite und fragten ihn, ob bei ihm zu Hause alles in Ordnung sei. Die Eltern der anderen Kinder redeten über ihn. Er konnte sie miteinander tuscheln sehen, wenn er ausnahmsweise einen Tag in der Schule durchgestanden hatte und den Pausenhof verließ.

Und egal, wer ihn fragte, nie ließ er etwas auf seine Familie kommen. Bei ihnen stand alles zum Besten, abgesehen von der Kleinigkeit, dass seine Eltern selten daheim waren und nicht viel Zeit für ihn hatten. Dass es ihm panische Angst machte, sich außerhalb der Villa und gerade in Menschenmengen aufzuhalten, erwähnte er nie. Er war zu jung, um seine Ängste artikulieren zu können, aber alt genug, um zu spüren, dass er merkwürdig war. Anders als der Rest.

Über die Jahre hatte sich die Schlinge um seinen Hals enger gezogen. Natürlich hatte es Versuche gegeben, ihm zu helfen. Es war nicht so, dass seine Eltern sich keine Sorgen um ihn machten. Nur waren sie mit der Diagnose, die gestellt wurde, nicht einverstanden.

Kurz nach seinem zwölften Geburtstag fiel zum ersten Mal das Wort exzentrisch. Sein Vater hatte es in den Mund genommen. Er hatte mit seinem Schwiegervater telefoniert und war dabei gegen Ende laut geworden. Andreas, der im Wohnzimmer vor dem Fernseher hockte, hörte Richard von Winterfeld brüllen: »Mein Sohn ist nicht krank und braucht mit Sicherheit auch keinen verdammten Seelenklempner. Er ist halt etwas Besonderes und etwas exzentrisch. Das wächst sich aus!«

Aber es hatte sich nicht ausgewachsen. Zumindest nicht bis zum jetzigen Zeitpunkt. Stattdessen war es schlimmer geworden. In den ersten Jahren verschaffte der angeheuerte Privatlehrer Andreas etwas Erleichterung.

Er wusste bis heute nicht, wie sein Vater es geschafft hatte, auf lange Sicht Hausunterricht für ihn durchzusetzen. In der heimischen Bibliothek unterrichtet zu werden, löste Andreas' Problem jedoch nicht. Mit jedem Tag schien sein Lebensraum ein bisschen enger zu werden. Jahr für Jahr fühlte er sich unwohler an fremden Orten, erwischte sich dabei, dass er permanent nach einem Fluchtweg suchte.

Die schlechten Erfahrungen häuften sich und machten ihm immer mehr Angst. Irgendwann fragte er sich auch, was seine Mitmenschen dachten, wenn er plötzlich wie von der Tarantel gestochen ein Restaurant oder einen Supermarkt verließ. Schwitzend, zitternd, bleich, als hätte er ein Gespenst gesehen.

Nach und nach entstand eine undefinierbare Todesangst, die ihn zu einem Tier auf der Flucht reduzierte. Sicher fühlte er sich nur in der Villa und auf dem umliegenden Gelände, bis er auch dieses Refugium aufgeben musste. Zuerst verlor er den Garten an die irrationalen Ängste. Er könnte ohne Hoffnung auf Hilfe zusammenbrechen, ein Flugzeug könnte auf das Grundstück fallen oder eine plötzliche Windhose ihn gegen den nächsten Baum schleudern.

Schwachsinn, das wusste er. Dennoch hatte er seinen Horrorvisionen nichts entgegenzusetzen.

Im Verlauf des letzten Jahres war hinzugekommen, dass er sich auch in den meisten Räumen des Hauses nicht mehr wohlfühlte. Ständig hatte er das Gefühl, seine Anwesenheit im Wohnzimmer oder in der Küche rechtfertigen zu müssen. Wann immer er sein Zimmer verließ, spürte er den Druck fremder Erwartungen auf seinen Schultern lasten.

Noch wehrte Andreas sich gegen den Sog, doch in der letzten Zeit fürchtete er vermehrt den Tag, an dem ihm selbst seine eigenen vier Wände keine Sicherheit mehr bieten würden. Was dann aus ihm werden sollte, war ihm schleierhaft. Ernsthaft Gedanken darüber machen wollte er sich jedoch auch nicht. Da steckte er lieber den Kopf in den Sand und gab den Vogel Strauß.

Nun macht schon, ermahnte Andreas seine unwilligen Füße, die sich weigerten, den letzten Absatz der Treppe zu nehmen und in den Flur zu treten.

Warum sollten wir?, wisperte sein innerer Schweinehund in seinem Hinterkopf. Draußen ist es nicht sicher. Du musst nicht schwimmen gehen. Es ist nicht nötig, dass du dich in Gefahr bringst. Es ist dumm, für nichts und wieder nichts Risiken einzugehen.

Nein, nötig war es nicht. Aber Andreas wollte gerne. Allein beim Gedanken an das kühle Wasser lief ihm ein angenehmer Schauer über den Rücken. Er liebte es, sich zu bewegen. Die Einzelhaft in seinem Kopf und seinem Zimmer führte dazu, dass er nur zwei Gefühlszustände kannte. Entweder war er rastlos und suchte verzweifelt nach einem Weg, seine überschüssige Energie loszuwerden oder er hing stundenlang bewegungslos auf seinem Bett oder vor seinem Computer. Zu faul, um auch nur auf die Toilette zu gehen oder sich etwas zu trinken holen. Dazwischen gab es nichts.

In diesem Moment brannte der Hunger nach körperlicher Bewegung in seinen Adern. Tief atmete Andreas durch, stellte sich den Geruch des Grases draußen vor, das Gefühl von Sonne und Wind auf seinem Gesicht. Diese Vorstellung gab ihm etwas Kraft.

Entschlossen zerrte er an dem Band seiner schwarzen Badeshorts und strich sich die störenden Haare aus dem Gesicht. Dann übersprang er die letzten Stufen und durchquerte den Flur.

Im steril eingerichteten Wohnzimmer angekommen, schob er seine Zweifel in den hintersten Winkel seines Bewusstseins und machte sich an der Terrassentür zu schaffen, bevor die Angst die Chance hatte, von ihm Besitz zu ergreifen.

Der Temperaturunterschied war enorm. Kaum dass Andreas die ersten Schritte auf den rauen Sandstein der Terrasse tat, spürte er die Hitze über seine nackten Fußsohlen züngeln. Ein schwerer Duft stieg ihm in die Nase, halb heißer Asphalt, halb der süßliche Duft der Zierrosen, die in ihren Beeten dursteten.

Automatisch sah er zu den fast mannshohen Hecken hinüber, die das Anwesen in Richtung der benachbarten Grundstücke abgrenzten. Mit dem Haus in seinem Rücken konnte er durch den mageren Baumbestand in einiger Entfernung den Elbstrand erkennen. Mit Sicherheit tummelten sich dort bei diesem Wetter viele Sonnenanbeter, aber mit denen musste er sich glücklicherweise nicht abgeben. Sein Ziel war der nierenförmige Pool in der Mitte des Gartens.

Mit den besten Absichten betrat Andreas die gepflegte Rasenfläche. Die ersten Meter bewältigte er problemlos, doch kaum dass er den Schatten der Villa verließ, spürte er die Schwäche in seinen Beinen. Seine Knie wurden weich, fühlten sich an, als würden sie ihm jeden Moment den Dienst versagen.

Was habe ich erwartet, murrte Andreas innerlich. Die allgegenwärtige Frustration, die ihm mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen war, drohte ihn zu verschlingen.

Warum tat er sich das hier an? Um eine Runde im Pool zu planschen? Er war doch kein Kind mehr, verflucht. Außerdem würde es ihm keinen Spaß machen. Das wusste er jetzt schon. Er würde sich die ganze Zeit über schlecht fühlen und am Ende im Wasser einen Krampf bekommen. Er könnte jetzt oben sein und sich mit dem neuen Computerspiel beschäftigen, das am Morgen geliefert worden war.

Aber nein, er musste sich ja etwas beweisen, bei dem Versuch scheitern und sich hinterher fragen, warum er lebensunfähig war. Sein Dasein im Gefängnis war doch angenehm, solange er nicht wie ein Idiot gegen die Mauern rannte und sich eine blutige Nase holte. Warum also? Wofür? Für wen?

Bis Andreas die weiß geflieste Umrandung des Pools erreichte, hatte die Angst sein Denken übernommen. Über Jahre erlernte Mechanismen griffen nach ihm und ließen es nicht zu, dass er etwas anderes empfand als das, was die Angst ihm vorgab. Der Wunsch zu schwimmen, sich zu bewegen, frische Luft zu schnappen, schmolz ersatzlos dahin und ließ nichts zurück außer der vagen Frage, warum er überhaupt nach draußen gegangen war.

Die Antwort fand er in dem Gespräch mit seiner Mutter vor einer Stunde. Sie hatte ihn motiviert und alte Sehnsüchte geweckt – die Sehnsucht nach einem normalen Leben, nach Freiheit und Bewegung an der frischen Luft. Früher war er oft draußen gewesen. Es war nie etwas passiert und er hatte sich gut gefühlt, wenn er auf den Grund des Pools tauchte und dort wie ein Delfin entlangglitt. Es hatte ihm ein Gefühl von Freiheit vermittelt und er liebte die Stille unter Wasser.

Spring, befahl er sich selbst. Tu es. Und sei es nur, damit sie sich freut und ein besseres Gewissen hat. Denk nicht... denk nicht.

Das Wasser kam ihm entgegen und fing seinen Körper auf. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand er so etwas wie Glück. Nach Tagen, in denen die Temperaturen stetig nach oben geklettert waren und Hamburg in eine Wüste verwandelten, ächzte seine Haut erleichtert auf. Kurz glaubte er, klarer denken zu können als noch vor wenigen Minuten.

Andreas spuckte etwas Flüssigkeit aus und schüttelte wild den Kopf, sodass ihm die Haare um die Ohren flogen und als Schleier auf die Wasseroberfläche niedergingen. Er warf sich nach vorne, kraulte mit langen Bewegungen auf das Ende des Beckens zu und drehte unter Wasser um, als er es erreichte. Die ganze Zeit über gab es nur einen Satz in seinem Kopf: »Du darfst nicht denken.«

Er war auf halbem Weg zur anderen Seite des Pools, als eine Fehlzündung in der Ferne seine Aufmerksamkeit erzwang. Der Knall jagte wie eine Druckwelle über ihn hinweg. Prompt erfolgte die Reaktion. Angst jagte ihm ungefragt Gift in das Gehirn. Er war nicht in der Lage, das Geräusch als Nebensächlichkeit abzutun. Es war bedrohlich, seine Lage lebensgefährlich, der fremde Einfluss potenziell tödlich. Einen anderen Schluss ließ sein Kopf nicht zu.

Hastig tauchte Andreas zum Rand des Beckens, wusste er doch, dass die körperliche Reaktion auf dem Fuß folgen würde. Ihm wurde schwach zumute und seine Arme schienen ihn nicht mehr tragen zu wollen.

Zu der Angst, dass er den Beckenrand nicht erreichen würde, mischte sich die Sorge, dass ihn jemand beobachten könnte. Ihn und seine peinliche Vorstellung.

Ein knapper Meter wurde für Andreas zu einer schier unüberwindlichen Entfernung und entsprechend überrascht war er, als seine Fingerspitzen gegen die Fliesen stießen. Zitternd lehnte er die Stirn gegen die gekachelte Wand, sammelte Kraft und verfluchte die Tatsache, dass der Pool so weit vom Haus entfernt war. Etwas in ihm war sich sicher, dass er diese Strecke nicht überwinden konnte. Gleichzeitig wusste er, dass er nur in seinem Zimmer zur Ruhe kommen würde. Wie immer, wenn die Panik nach ihm griff, hatte sein Verstand nicht die geringste Chance gegen seinen Fluchtinstinkt. Als er sich mit bebenden Oberarmen aus dem Pool kämpfte, schlug er sich ungestüm das Schienbein am Beckenrand auf. Er sah weder das Blut, das ins Wasser lief, noch spürte er den brennenden Schmerz.

Die rettende Terrassentür schien meilenweit entfernt, kam nicht näher, so sehr Andreas auch rannte. Die Luft wurde ihm knapp, sein Magen wollte ihm durch den Hals entgegenspringen und die Schwäche in seinen Beinen nahm gefährliche Ausmaße an.

Er stolperte, stürzte um ein Haar und hinterließ feuchte Fingerabdrücke auf dem Glas der Schiebetür, bevor er ins Innere der Villa taumelte. Er musste sein Zimmer erreichen, sich hinlegen, schlafen. Wenn er aufwachte, würde es ihm besser gehen – viel besser. Aber das war es nicht, was er wollte. Er wollte nicht schlafen, nicht krank sein, nicht auf dem Bett liegen und darüber nachdenken, was für ein Versager er war.

Er hatte jedoch keine Wahl. Nach einer Panikattacke war er stets erschöpft und brauchte wenigstens für eine Stunde Ruhe, damit er sich regenerieren konnte. Wie ein geschlagener Hund kroch Andreas die Treppe hoch und verbarrikadierte sich in seinem unordentlichen Zimmer. Nur am Rande fiel ihm auf, dass seine Mutter recht hatte: Es roch muffig und unangenehm. Das war sein letzter Gedanke, bevor er sich krachend auf sein Bett warf und sich ein Kissen über das Gesicht zog.

Als er eine Weile später erwachte, fühlte er sich wie der Schwächling, der er war. Ungebetene Überlegungen forderten seine Aufmerksamkeit ein; allen voran die Frage, wie es mit ihm weitergehen sollte. Um die Stimmen zum Schweigen zu bringen, ging er in den Keller, um sich seinen kleinen Sieg für den Tag zu holen. Lächerlich, wenn man sich vor Augen hielt, dass der Aufenthalt in einem anderen Raum als seinem Zimmer anstrengend für ihn war.

Aber auch darüber wollte er nicht genauer nachdenken. Das Laufband wartete auf ihn, schnurrte fast unhörbar unter seinen Schritten. Er kam nicht umhin, sich zu fühlen wie ein Hamster in seinem Laufrad. Und weil er dieses Gefühl nicht ertragen konnte, erhöhte er das Tempo des Bandes bis zu dem Punkt, an dem die Anstrengung jede weitere Überlegung verbot.

 

***

 

Gegend Abend wurde Sascha von einem verheißungsvollen Geruch aus seiner neuen Behausung gelockt. Der Duft von Bratwürstchen und Steaks schwebte durch das offene Fenster und erinnerte ihn daran, dass er seit dem kargen, unangenehmen Frühstück nichts Anständiges mehr gegessen hatte. Die drei belegten Brötchen, die Packung Fruchtbonbons, das Eis und die beiden Schokoladenriegel von der Tankstelle unterwegs zählten nicht. Das reichte kaum für den hohlen Zahn.

Zufrieden sah Sascha sich um. Seine Sachen waren ausgepackt, er hatte geduscht und seinen Computer angeschlossen. Zu seiner Erleichterung gab es in seinem neuen Zimmer einen Telefonanschluss, sodass er problemlos ins Internet kam. Abgesehen von einem Schwarz-Weiß-Foto eines namenlosen männlichen Models an der Innenseite der Tür hatte er noch nichts aufgehängt. Er musste die Verschönerung des Raums nicht über das Knie brechen. Manche Dinge mussten wachsen.

Sascha warf einen letzten Blick in den ovalen Spiegel an seinem Kleiderschrank und grinste sich selbst verwegen zu. Die neue Haarfarbe gefiel ihm. Seine mausbraunen Fransen waren ihm seit der siebten Klasse ein Dorn im Auge gewesen. Sich die zu wilden Stacheln geschnittenen Haare schwarz zu färben, war die letzte Trotzreaktion gewesen, die er sich zu Hause geleistet hatte.

Was hatte sein Dad noch gesagt, als er ihn mit seinem neuen Kopfputz sah? »So weit ist es also gekommen. Seit wann färben sich richtige Männer die Haare?«

Sascha schnaubte. Er fand, dass sein Gesicht jetzt viel markanter wirkte. Nicht weich, nicht feminin, schön kantig und scharf geschnitten. Männlich eben. Dazu noch der Hauch eines Bartwuchses am Kinn und auf den Wangen, und er ging locker als einundzwanzig durch. Groß war er außerdem, auch wenn er das Schlaksige der Jugend noch nicht verloren hatte. Irgendwann würde er sich breite Schultern antrainieren, aber nicht in diesem Sommer. Für anstrengenden Sport war im Winter Zeit.

Apropos Zeit. Sein Magen knurrte und trieb ihn nach unten. Tanja stand in abgeschnittenen Jeans in einer geschützten Ecke der Terrasse und betrachtete das Grillgut. Als sie ihn kommen hörte, drehte sie sich um. »Du hast nicht zufällig ein Händchen fürs Grillen? Normalerweise lässt Aiden mich nicht an sein heiliges Barbecue.« Sie sprach das letzte Wort mit überzogen starkem amerikanischen Akzent aus. »Aber da er ja nun einmal nicht hier ist...«

Aiden Holmes war Tanjas Mann. Er war ein gebürtiger Amerikaner, den es dank eines Engagements im Hamburger Symphonieorchester nach Deutschland gezogen hatte. Dort hatten Tanja und er – sie war Bratschistin, er Hornist – sich kennengelernt. Aber wie so oft in der Musikbranche war sein Engagement im letzten Jahr nicht verlängert worden, während Tanja bleiben konnte. Seitdem führten sie eine Fernbeziehung, was angesichts der beiden gemeinsamen Kinder nicht leicht war.

Grinsend nahm Sascha ihr die Grillzange aus der Hand und nahm ihre Position vor der Kohle ein. »Kein Problem.«

»Fein, dann hole ich noch den Salat und das restliche Besteck.« Sie deutete zu einem liebevoll gedeckten Tisch, auf dem bereits Getränke, Teller, verschiedene Soßen und ein Brotkorb warteten. »Bin gleich wieder da.«

Das Essen wurde eine lustige Angelegenheit und dauerte lange genug, dass Sascha sich nicht mehr fremd oder fehl am Platze fühlte. Seine Tante redete wie ein Wasserfall und hatte die angenehme Eigenart, nicht zu essen wie ein Spatz, wie viele Frauen es ihrer Linie zuliebe taten.

Ihre achtjährige Tochter Sina war anfangs schüchtern, doch ihr zwei Jahre älterer Bruder Fabian suchte sofort den Kontakt zu Sascha. In der neunmalklugen Art eines vorpubertären Jungen verkündete er, dass er ja so froh sei, dass endlich noch ein Mann im Haus wäre, und schwor seinen Cousin ein, gegen die Frauen zusammenzuhalten. Fabian war ein bisschen anstrengend und sein Wortschatz schien größtenteils aus cool, krass und cremig zu bestehen, aber Sascha mochte ihn trotzdem. Alle waren nett zu ihm und gut gelaunt. Es war schön, nicht über den Teller hinweg komisch beäugt zu werden.

Das letzte Stück Steak war gerade verzehrt, als Sina nervös auf ihrem Stuhl zu rutschen begann. In einer Geste kindlicher Schüchternheit zog sie sich den Saum ihres T-Shirts über die Nase und kicherte. Dann fragte sie Sascha mit großen Augen: »Hattest du eine Freundin, da, wo du vorher gewohnt hast?« Sie wurde rot und ließ ahnen, dass sie ihren großen Cousin auf eine unschuldige Weise sehr interessant fand.

Bevor er etwas erwidern konnte, zog Tanja ihrer Tochter das Oberteil wieder an den richtigen Platz und sagte zum ersten Mal an diesem Abend streng: »Wir haben darüber gesprochen, Sina. Weißt du noch? Stell nicht solche Fragen. Ich weiß genau, auf was das hinausläuft.«

»Oh, warum? Sie kann ruhig fragen«, schaltete Sascha sich ein und erklärte nicht ahnend, worauf das Mädchen anspielte: »Nein, ich hatte keine Freundin.«

»Aber vielleicht einen Freund?«, quietschte Fabian aufgeregt, riss sich aber sofort zusammen, als seine Schwester gackernd unter dem Tisch verschwand. So albern wie die Kleine wollte er sich nicht geben.

»Was habe ich dir gesagt?«, stöhnte Tanja und warf ihrem Nachwuchs einen strafenden Blick zu, bevor sie Sascha entschuldigend ansah. »Ich hoffe, du bist nicht böse. Ich habe mit den beiden darüber gesprochen. Dann gibt es keine Zusammenstöße, und ich möchte nicht, dass sie das dumme Schulhofgequatsche über Schwule aufschnappen. Mir ist ein reiner Tisch lieber. Schließlich möchtest du vielleicht bald mal jemanden hierher mitbringen.«

»Das ist...«, begann Sascha überrascht, »... ehm... ja, klar. Das ist okay. Ich schäme mich nicht dafür.«

»Das ist auch gut so. Aber wenn ich mir dein Gesicht so anschaue, hast du mit etwas anderem gerechnet, stimmt's?« Sascha wand sich ein wenig und sie fügte hinzu: »Schon gut. Ich kenne meine Schwester. Der Himmel weiß, dass ich sie lieb habe, aber in manchen Dingen lebt sie wirklich hinter dem Mond.«

Dankbar nickte er und grinste Sina schief an, als sie wieder auf ihren Stuhl glitt. Sie lächelte zurück und entblößte die Lücken, an denen ihre Schneidezähne fehlten. Eine Sache interessierte Sascha an Tanjas kleiner Rede besonders und so fragte er: »Habe ich das richtig verstanden? Ich kann jemanden mitbringen? Du hast nichts dagegen?«

Die Musikerin zuckte die Achseln. »Sicher. Wenn du der ältere Bruder der beiden wärst, wäre es doch auch nicht anders. Ich appelliere einfach an deinen gesunden Menschenverstand, dass du keine Orgien feierst.«

»Was ist eine Orgie?«, wollte Fabian sofort wissen. »Ist das cool? Können wir zu meinem nächsten Geburtstag so was machen?«

Die Erwachsenen lachten. Sascha lehnte sich feixend zurück und wartete darauf, dass seine Tante ihrem Sprössling erklärte, warum es auf seiner nächsten Party sicher keine Orgie geben würde.

Über das gute Essen und die lockere Unterhaltung wurde es spät und später. Durch den langen Sommerabend raste die Zeit nur so dahin. Erst als Sina mühsam versuchte, ihr Gähnen zu verbergen, sah Tanja erschrocken auf die Uhr und stellte fest, dass ihre Jüngste ins Bett gehörte. Natürlich gab es trotz aller Müdigkeit großen Protest.

»Spielst du mit mir?«, wollte Fabian wissen, als die beiden Frauen verschwunden waren. Vermutlich wusste er genau, dass er der Nächste war, der in die Falle zu wandern hatte, und wollte die Zeit mit seinem neuen Kumpel ausnutzen.

Wirklich Lust hatte Sascha nicht. Er wurde allmählich müde und brauchte ein bisschen Zeit für sich selbst zum Runterkommen. Aber er wollte seinem Cousin nicht gleich am ersten Abend etwas abschlagen. Es schadete sicher nichts, sich gut mit den Kindern zu stellen. Immerhin würden sie mindestens ein Jahr lang zusammen unter einem Dach leben.

»Okay«, gab er sich geschlagen. »Was möchtest du denn spielen?«

»Baseball«, erwiderte Fabian wie aus der Pistole geschossen. »Ich hole meinen Schläger und den Handschuh.«

Sascha nickte und schlenderte von der Terrasse auf das Gras. Die Grünfläche glich eher einer Waldwiese als einem gepflegten englischen Rasen. Überall schossen Gänseblümchen, Butterblumen und Unkraut aus dem Erdboden. Ineinander verwachsene Johannisbeersträucher bogen sich unter dem Gewicht ihrer Früchte. Akribisch angelegte Beete gab es nicht, dafür aber eine Menge Spielzeug, das als Stolperfalle verborgen im knöchelhohen Gras lauerte. Ein Sandkasten und eine Schaukel rundeten den Eindruck ab, dass der Garten eher für die Kinder geschaffen war als für den Schöngeist der Eltern.

Mit hängender Zunge kam Fabian angerannt und drückte Sascha ohne Umschweife den Fanghandschuh und den harten Ball in die Hand. »Ich schlage zuerst. Daddy hat früher in der Mannschaft in seiner Schule gespielt und mir alle Tricks gezeigt.«

»Dann legen wir mal los.«

Sascha drehte sich auf dem Absatz um und trabte ein Stück in Richtung Buchsbaumhecke. Rasch suchte er sich einen Platz und warf den Ball locker zu Fabian. Der Junge schlug danach, traf aber nicht richtig. Sofort beschwerte er sich: »Das war zu leicht. Wenn du so lasch wirfst, geht das nicht.«

Sascha war nicht sicher, ob es eine gute Idee war, hart zu werfen, aber nachdem ein paar Bälle sang- und klanglos zu Boden gingen, tat er Fabian den Gefallen und machte Ernst. Er fixierte den Jungen für einen Moment, zielte und schleuderte ihm den Ball entgegen. Dieses Mal traf Fabian richtig. Leider ein wenig zu gut. Der weiße Ball schoss hoch über Saschas Kopf hinaus, flog in schnurgerader Linie über den Buchsbaum und ward nicht mehr gesehen. Erst das Klirren und Scheppern auf der anderen Seite der Hecke verriet, dass der Ball ein Ziel gefunden hatte.

Dreißig Sekunden später stürzte Tanja in den Garten. »Was war das?« Mit dem untrüglichen Gespür einer Mutter für das schlechte Gewissen ihrer Kinder erfasste sie die Lage und funkelte ihren Sohn wütend an. »Fabian, du weißt genau, dass du nur auf dem Sportplatz Baseball spielen darfst.«

»Aber ich wollte Sascha zeigen... und er ist ja schon erwachsen...«, versuchte der Junge sich aus der Affäre ziehen.

»Oh nein, Freundchen, versuch nicht, Sascha in die Sache reinzuziehen. Ich kenne dich Kröte doch. Du hast ihm mit Sicherheit nicht gesagt, dass Baseball hier tabu ist.« Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete sie auf das Haus. »Abmarsch. Der Spaß ist vorbei. Oder halt, wo ist der Ball eigentlich dieses Mal gelandet?« Dem betretenen Blick der beiden Jungen folgend murmelte sie schicksalsergeben: »Nein, Fabian. Sag mir bitte nicht, dass du schon wieder die Winterfeld-Villa abgeschossen hast.«