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1/2013/LI/135

Maja Novak

Die Katzen

Aus dem Slowenischen von Peter Scherber und Tadeja Lackner-Naberžnik

Mit einem Nachwort von Tanja Petrič

DRUŠTVO SLOVENSKIH PISATELJEV
SLOVENE WRITERS’ ASSOCIATION

LJUBLJANA, 2013

 

 

 

 

Originaltitel: Mačja kuga

http://www.zalozba.org

Vertreten durch seinen Präsidenten, Veno Taufer

Tina Kozin, Tanja Petrič

Tanja Petrič

Peter Scherber

Tanja Petrič

Tadeja Lackner-Naberžnik

Tihomir Pinter

E-Book

Ljubljana, 2014

der Slowenischen Buchagentur JAK finanziert.

CIP - Kataložni zapis o publikaciji

Narodna in univerzitetna knjižnica, Ljubljana

821.163.6-311.2(0.034.2)

821.163.6.09Novak M.(0.034.2)

NOVAK, Maja, 1960-

Die Katzenpest [Elektronski vir] / Maja Novak ; Übersetzung Peter Scherber, Tadeja Lackner-Naberžnik ; Nachwort Tanja Petrič. - El. knjiga. - Ljubljana : Slowenische Schriftstellerverband, 2014

Prevod dela: Mačja kuga

978-961-6547-87-1 (ePub)

277303040

 

 

 

 

Rabbi Sera (und nach manchen, Rab Josef) trug vor:

»Du machst Finsternis dass es Nacht wird.«

Damit ist diese Welt gemeint, die mit der Nacht verglichen ist.

»Da regen sich alle wilden Tiere.«

(Gemara)

 

Se c’è Iddio, è communista.

(Dario Fo)

1

Aus den Lautsprechern am Flughafen Istanbul ertönte laute libanesische Instrumentalmusik. Bei dieser dunklen, weinroten Musik, eine Musik ohne Saft und Süße, eine Musik der Nägel und Zöpfe, dachte die Frau daran, dass sie gerne tief hinein in den Orient reisen würde und an so eine Reise dachte sie mit den Worten: ich möchte nach Hause zurück. Nur dass sie noch nie weiter im Osten gewesen war als in Van. Ihr Zuhause, das bedeutete Ljubljana und Beklemmung erfasste sie bei dem Gedanken, wie erstickend es dort sein würde, wie sie dort den lieben langen Tag an den Gehwegen warten würde, und wie es ihr dabei ständig so vorkäme, als müsste sie mit den Armen an den Leib gedrückt unbeweglich in einem großen Blechfass voller kaltem schmutzigem Regenwassers stehen.

Auf der Betonpiste hinter dem Rücken der Frau wurden Käfige in den Rumpf einer Boeing verladen.

Vor ihrem Sitz stand ein kleines Mädchen und starrte sie an. Die Anwesenheit eines so verkümmerten und vernachlässigten Kindes im Warteraum erster Klasse konnte nur mit einem einzigen Grund erklärt werden: seine Eltern waren Engländer oder Amerikaner. Sein Zeigefinger steckte im Mund, voll beschmiert mit Speichel und Schokolade und so starrte es auf die Frau, dann zog es mit einem kleinen Schmatz den Finger aus dem Mund und wischte wohl überlegt ihre Hand am Knie der weißen Laura-Biagotti-Hose der Frau ab.

»Soll ich dir ein Märchen erzählen?« fragte die Frau sie.

Das Mädchen nickte stumm.

»Also«, wandte sich die Frau ihr zu und nahm das Kind auf den Schoß. »Es lebte einmal ein Mädchen, das hatte Angst vor Aufzügen. Aber weil es oben in einem wunderschönen Hochhaus aus Glas und Würfeln wohnte, blieb ihm nichts Anderes übrig, als jeden Tag mit dem Lift in den Kindergarten und wieder nach Hause zu fahren, und das jeden Tag. Und da hatte es Angst.

Doch musst du wissen, dass das Mädchen nie daran dachte, dass der Lift mit ihr darin reißen und in den Keller stürzen könnte; es fürchtete aber, der Lift hielte einfach in ihrem Stockwerk nicht an, sondern führe immer weiter hinauf, bis er zum Dach und zum Maschinenraum käme, wo es ihn dann zwischen die Zahnräder zöge und er zu Pulver zermahlen würde. Nur davor fürchtete sie sich. Und eines Tages blieb der Aufzug tatsächlich nicht stehen und kletterte höher und höher, obwohl das Mädchen in panischer Angst mit den Fäusten auf die Knöpfe trommelte, die sie, das muss ich sagen, bei ihrer wahrlich unbedeutenden Größe überhaupt erreichen konnte, bis der Aufzug, wie durch ein Wunder ohne Schaden durch das Dach geschwebt war und sich wie ein Aal durch die Zahnräder in dem Häuschen mit der Eisentür hindurch gewunden hatte und sich dann senkrecht wie eine schöne silberne Rakete höher und höher und noch höher hob, unter die Wolken und die Vögel, bis zum Mond, den Sternen und der Sonne ...

... die das Mädchen verbrannte, so dass es schwarz wurde wie ein Stück verbrannter Pommes frites und zerbröckelte, wenn es die Hand ausstreckte um sich die versengte Haut zu kratzen.

Die Lehre aus der Geschichte ist aber«, rief sie eisig dem davonrennenden Kind hinterher, »dass man sich zwar, wie Borges behauptet, dem Unglück nicht entziehen kann, doch kommt dieses niemals in der gleichen Gestalt daher, wie man es ursprünglich vorausgesehen hatte.«

Auf der Betonpiste hinter dem Rücken der Frau begannen sie aus dem Rumpf einer Boeing Käfige auszuladen, womit sich die Prophezeiung von Borges bewahrheitet hatte.

Dies ist die Geschichte vom Ende der Welt. Um die Jahrtausendwende dezimierte eine bis dahin nicht bekannte Epidemie das Volk, wir wurden sozusagen von der Erdoberfläche ausgelöscht, so dass niemals mehr in unserer Sprache gesprochen und noch weniger über uns gesprochen wird. Vielleicht hatte die Frau schon geahnt, was sich da vorbereitete. Womöglich sah sie darin eine Strafe, schwer ist aber zu sagen, ob sie dachte, sie würde die Strafe verdienen oder lediglich daran beteiligt sein. Unter den Menschen ist es unmöglich irgendetwas mit Sicherheit zu erfahren. Dieser Text ist nur einer der möglichen Versuche, eine Erklärung für die Erzählung der Frau zu finden.

Erster Teil: Ira, waagrecht

2

Sie war ein ungewöhnliches Kind. Niemals wurde sie von etwas gestochen und nie gebissen.

Riesige persische Katzen trug sie wie eine Pelzstola über den Arm gehängt. Die Hinterpfoten baumelten schlaff auf der einen Seite, die vorderen und der Kopf auf der anderen Seite ihres Ellbogens herab, aber sie kratzten sie niemals. Es war, als verstünden sie, dass Ira noch jung war und man ihr alles verzeihen musste und die, wie sie selbst, nichts Anderes wollten, als fressen und schlafen.

Mit zwölf erkrankte sie an einer geheimnisvollen Krankheit. Niemandem gelang es, sie aufzuwecken. In ihren langen, ununterbrochenen Träumen besuchte sie einen wunderlichen alten Mann, der Tischpanther züchtete. Dass diese nicht einfach nur schwarze Katzen mit gelben Augen und riesigen Schultern waren, merkte sie erst, als er ihr noch andere Miniaturtiere zeigte, Elefanten, Giraffen, Antilopen und Gnus, unter denen einige so klein waren, dass man sie in die Tasche stecken konnte. Bei ihm sah sie auch in Bücher gebundene lange Listen mit Namen und Karten von Gegenden, die ihr unbekannt waren. Die waren blassgrün, was auf eine geringe Meereshöhe hindeutete, vielleicht auch auf Sümpfe, und sie waren ausgefranst: breit abstehende Finger von flachem, niedrigem Festland ragten träge ins Meer und in Süßwasserseen, die sogar auf dem Papier mit Sand gesättigt und flach erschienen, sie zerrannen wie Eiweiß gleich hinter der Meeresküste. Menschliche Siedlungen waren da mit kleinstmöglichen Kreisen markiert, wonach sie schloss, dass es sich nur um Dörfer handeln konnte. Zumeist lagen sie im Hinterland, an Orten, die sich kaum empfahlen oder sich nicht von anderen unterschieden, und es gab nur wenige Straßen zwischen ihnen. Der Gedanke, dass auch in so kalt-grünen, feuchten, verlassenen und weit voneinander liegenden Gegenden rein aus Gewohnheit Menschen lebten mussten, machte sie traurig. Von da ab träumte sie manchmal, sie schliefe und träumte dann, sie bade in einem Meer ohne Strand: dunkles Gras ohne Blumen oder Ähren sprießte da, bis dicht an die Wellen heran und sogar weit darüber hinaus, bis unter die Wasseroberfläche; und doch war sie erstaunt, als sie feststellte, dass sie im Meer schwimmen konnte, obwohl es da keine anderen Schwimmer gab, keine Wasserbälle und keine Luftmatratzen und Sommerferien, keine Spiegelungen der goldgelben Sonne und keine schreienden Kinder – dass sie im Meer schwimmen konnte obwohl sich schon die Nacht herabsenkte oder aber es draußen Winter war, ohne dass sie im Wasser fror, wovor sie Mama und Oma doch immer gewarnt hatten.

Nach mehreren Wochen stand sie vom Bett auf, denn es geschehen Irrtümer.

Ihretwegen verdarb es sich Filip mit seiner Slowenischlehrerin.

Sie sprach kaum etwas; und auch das verstand niemand. Niemand konnte ihren assoziativen Gedankensprüngen folgen. Dazu kam es, weil der Alte, von dem sie so viele Wochen geträumt hatte, den verständlichen Worten, mit alltäglichen, ungefährlichen und auf den ersten Blick gefälligen Stimmen seine eigenen Bedeutungen verliehen hatte. Er taufte sie schonungslos um, weil er so einsam war. Er sagte Katze, wenn er den Tischpanther meinte und genau so sprach Ira, als sie schon wieder gesundet war, von Katzen, als seien sie Tischpanther, denn über richtige Tischpanther konnte sie sich in der Welt der Wachenden mit so allgemeinen Wörtern wie »Katze« nicht unterhalten. Es gab sie ja nicht. Oder sie sagte Sol, wenn sie ausdrücken wollte, dass sie nicht friere. Oder Sol, wenn sie wünschte, dass Mama und Oma aufhören sollten, sie zu erziehen. Doch sprach sie nur selten: sie hielt es nicht für notwendig, ihr Tun zu erklären oder anzukündigen. Sie tat auch nicht viel. Man hielt sie für einen in sich gekehrten Teenager. Manchmal glaubte man sogar, sie sei ein wenig minderbemittelt. Trotzdem kam man in dem Dorf, wo Oma wohnte und wohin ihre Eltern sie sonntags oft schickten, immer dann zu ihr, wenn es galt, einen wütenden Hund oder ein erschrecktes Pferd zu besänftigen.

In diesem Dorf war Iras Oma eine wichtige Persönlichkeit. Und dies schon lange vor Iras Geburt. Als sie im März 1935 die ersten Wehen verspürte, zog sie ihre festen Nagelschuhe an, und machte sich entschlossen auf den Weg, vorbei an den Häusern und weiter am Bach entlang bis zum Büro des Sägewerks. Auf dem Weg blieb sie einige Male stehen und atmete langsam und überlegt durch die Zähne. Vor dem Direktor des Sägewerks setzte sie sich vorsichtig auf den Stuhl nieder, bedeckte den Nordpol ihres riesigen Bauches mit den fächerig gespreizten Fingern ihrer Linken, und spreizte ihre Schenkel auf dem Biedermeierstuhl fast zu einem Spagat, und trommelte rhythmisch mit den Fingern der rechten Hand auf den Rand des direktorialen Schreibtischs, während sie wartete darauf, auf ihren vergleichsweise ruhig vorgetragenen Vorschlag, sie würde sofort wieder gehen, wenn man bereit wäre, ihren Mann wieder einzustellen, eine Antwort zu bekommen. Man hatte ihn nämlich während des letzten Streiks zusammen mit einigen kommunistischen Rädelsführern auf die Straße gesetzt. Die Sekretärin des Direktors hatte über ein mit Handkurbel betriebenes Telefon die Gendarmen gerufen, doch nicht einmal die wagten es, die Frau, die ganz offensichtlich vor der Niederkunft stand, mit Gewalt herauszuholen, während der vollkommen fassungslose Direktor natürlich auch kein Interesse daran hatte, das da ein Kind ausgerechnet in seinem Büro das Licht der Welt erblicken sollte. So haben die Parteikollegen Iras Großvater gegen Abend im Gasthaus die Neuigkeit überbracht, er habe am selben Tag eine gesunde Tochter und wieder seinen alten Arbeitsplatz beim Abmessen der Stämme bekommen. Später war Ira lange Zeit fest davon überzeugt, dass ihre Mama diejenige war, die Omas Gene geerbt hatte.

Über sich selbst glaubte sie, sie sei niemand und es gäbe sie sozusagen überhaupt nicht, doch die Pferde und die Hunde rochen ihre verzweifelte Ruhe, als gliche Iras Schicksalsergebenheit einer körperlichen Präsenz, die sich mit selbstverständlicher Existenzberechtigung vor sie gestellt und sie damit gezähmt habe.

Von dem Tag an, als Iras ganze Klasse laut die Hausaufgabe mit dem Titel Ein Einfall der Natur vorlesen musste und Filip Iras Unfähigkeit, sich zu artikulieren verteidigte, als ginge es dabei um eine besondere Eigenart der Sprache, und er der Lehrerin frech ins Gesicht schleuderte, dass Iras Schrift vielleicht sogar besser sei als die Seine, wenn sich nur jemand mal die Mühe machen würde, die Besonderheiten ihrer Schreibweise zu ergründen (dies aber verkündete er, obwohl er mit der unmöglichen Leidenschaft seiner dreizehn Jahre schon damals, mit dreizehn Jahren, in den Augen seiner Mitschüler als angesehener Schriftsteller gelten wollte; es schmerzte ihn, gerade in den Fragen des Schreibens in den Hintergrund zu treten, in die Rolle des Zweitplatzierten, wenngleich freiwillig), bis zu dem Moment, als fast fünfzehn Jahre später die Herrin sie in ihre Dienste nahm, gab es in Iras Leben nur drei bedeutende Dinge. Erstens fiel ihre Katze vom Balkon, einfach so, weil Katzen so etwas tun, wie es scheint. Ira hatte es nicht gesehen. Die Eltern haben es ihr erzählt. Sie hielten sich an der Hand und erzählten von der Katze. Ira kam es vor, als bezeugten ihre verschlungenen Hände eine Verschwörung, von ehelicher Partnerschaft, von der Welt der Erwachsenen, zu der ein Kind keinen Zutritt hatte. Das Repertoire ihrer Träume hatte sich danach noch vergrößert. Das von Filip auch. Wenn sie die Albträume plagten, beobachteten sie darin durchs Fenster die Kinder, die auf dem Hof von Iras Wohnblock einen Terrier in einen geflochtenen runden Weidenkorb gesteckt haben und einen Jungen, der den Korb wie mit einer Seilwinde langsam auf den Balkon hob, auf dem er stand. In der nächsten Einstellung blieben nur noch der Korb und das Hündchen, die beide neben Iras Fenster kopfüber nach unten stürzten. Das Mädchen, das in den Albträumen über Ira wohnte, hatte sich aus dem Fenster gelehnt und mit einem Messer das Seil durchgeschnitten, an dem der Korb hing. Auch das hatte Ira nicht gesehen, sie hatte es mehr oder weniger erraten. Ihr war klar, dass das Mädchen das alles aus Verbitterung tat, weil es in den Bergen verunglückt war; zugleich wusste sie, dass es immer eine Maske trug, weil sein Gesicht mit Vitriol verätzt worden war und dazu kam noch, dass sie selbst diejenige war, die ihm das Vitriol ins Gesicht geschüttet hatte, weil sie sich beide um den selben Jungen gestritten hatten. Als die Jugendliche begann, mit rituellen Bewegungen die Maske abzunehmen, schrie Ira absichtlich auf, denn sie wusste ja schon aus Erfahrung, dass sie von dem Schrei aufwachen musste, noch bevor sie das Allerschlimmste erblicken würde. Der Junge aus Iras Albträumen war Filip und auch er hatte dieselben Albträume. Genau genommen ist er bei dieser unvergesslichen Gelegenheit für sie eingetreten, weil er sich als der Lieblingsschüler der Lehrerin sehr überlegen und zugleich beengt fühlte, und er wollte seine Kräfte mit der Slawistin offen messen, wie mit seinesgleichen; auf diese Art und Weise versuchte er, erwachsen zu werden. Niemals vorher und auch nicht danach zeigte er offenes Interesse für Ira. Und doch waren sie beide lange die Einzigen ihres Alters, von denen sie wenigstens in ihren Albträumen zu träumen wagten.

Iras nächste Katze wurde überfahren, davor noch haben sie ihre Eltern aufs Land weggegeben. Als Ira ihren vierzehnten Geburtstag feierte, gewannen sie nämlich in einer Tombola, zu der sie mit Ira gingen, weil sie glaubten, das würde sie aus ihrer Erstarrung wachrütteln, eine neue Couchgarnitur und Mama befürchtete, dass die Katze sich daran die Krallen wetzen würde. Kurz nachdem die Katze, die sie ihr weggenommen hatten, von einem Lastwagen platt gemacht wurde, ließen sich Iras Eltern scheiden. Ira, ihre Mama und ihre Schwester zogen in eine untervermietete Kleinwohnung um. Sie war zu eng für sie alle. Die Sitzgarnitur verblieb dem Vater.

Iras Mama gefiel es im neuen Hochhaus, wenigstens behauptete sie dies: Aus den Fenstern der Wohnung bot sich ihr ein Blick aus der Vogelperspektive über mehrere Stadtviertel. Die Frauen wohnten im obersten Stockwerk. Über ihnen befand sich nur mehr eine mit Asphalt bedeckte Terrasse, begrenzt von Säulen aus Beton, und das kleine Maschinenhaus für den Aufzug. Zwischen den Säulen waren Wäscheseile gespannt und immer war das laute Knallen der daran befestigten nassen Betttücher im Wind zu hören; ständig brachen sie sich im Wind und es klatschte wie Ohrfeigen.

Zu dem dritten Ereignis, das Iras Leben auf den Kopf stellte, kam es zufällig, und zwar zu der Zeit, als sie schon achtundzwanzig Jahre zählte. Nach der Schule tat sie nichts mehr. Während ihre Altersgenossen, die sich emsig um ihre Zukunft bemühten, und sich in der Erwartung ungeheurer Errungenschaften schon mit den unbedeutendsten zufrieden gaben, beinahe vor Angeberei platzten oder sich daran gewöhnt hatten, dauernd mit nicht mehr zu kittenden Enttäuschungen zu leben, vervollständigte sie Stück für Stück ihre Schlaftechnik und vertilgte alles bis auf den letzten Bissen, was man ihr auf den Teller legte, ob sie es nun gefunden oder geklaut hatte. So wurde sie dick, doch so wie bei gesundem Vieh war ihre Pummeligkeit anziehend und störte nicht. Manchmal beunruhigte sie auf obskure Weise der Mond. So klaute sie bei Vollmond irgendwo Geld und kaufte der Schwester zum Geburtstag sechs Aquarienfische. Koi-Karpfen. Einer von ihnen wurde sofort krank, er bekam Flecken, und als ihm die schwarzen Flecken den Mund verklebten, so dass er nicht mehr kauen konnte, da überbrühte ihn Iras Mama mit heißem Wasser und entsorgte den kleinen Kadaver im Klo: sie meinte dann, es sei eine Tat der Barmherzigkeit gewesen. Ira versenkte daraufhin dort einen kleinen, aus Veilchen gewundenen Kranz: so wurde es eine Seebestattung. Dann setzte sie sich aufs Klo und löste ein Kreuzworträtsel. Sie machte das gut. Diese für alltägliche Gespräche ganz unnützen Regeln, nach denen man sich im Kreuzworträtsel zu richten hatte, in diesen speziellen und in sich geschlossenen Welten voller unwahrscheinlicher Wörter (wie zum Beispiel Heimtücke oder Allesfürglaubenheimundreich), diese glichen sehr ihren eigenen Methoden sich in der Welt zu orientieren. Und erst unter siebzehn waagrecht wurde ihr klar, dass die Eltern ihr den Namen nach der römischen Göttin des Zorns gegeben hatten. Darüber geriet sie erst richtig in Zorn. Ihr schien, es wäre richtig gewesen, wenn sie ihr so etwas Schönes selbst gesagt hätten. Um sich zu beruhigen, schaute sie durch das Badezimmerfenster und sah, dass draußen die Sonne schien. Sie überlegte, dass es wahrscheinlich so sein musste, denn sonst würden sich die Leute nicht jedes Mal beim Regen so ereifern und (weil vom nahegelegenen Gelände des Rangierbahnhofs das kehlige Löwenbrummen der Diesellokomotiven widerhallte, die rauen Seufzer der an den Schienen sich reibenden Räder und das stumpfe Aufeinanderklacken der Puffer zu hören war, wenn die Eisenbahner die Waggons zu einer neuen Zugkomposition zusammenstellten) dass von den Tausenden, vielleicht Millionen Zügen, Schiffen, Autobussen und Flugzeugen, die sich Tag für Tag über die Erdkugel bewegten, nur wenige nicht an ihrem Ziel ankämen, und dass es relativ gesehen nur Wenigen passierte, unter dem Trümmerschutt eines Erdbebens verschüttet zu werden: und deshalb, sagte sie sich, wäre es ungerecht, dass in ihrem eigenen Leben bis jetzt nur immer die Tode als Wegmarken dienten. Sie schwor sich, dass in ihrer Gegenwart kein Goldfisch mehr zugrunde gehen würde. Aber schon am nächsten Tage wies der kleinste der übrig gebliebenen Kois Zeichen einer Krankheit auf, die Schleiern gleichenden Flossen und der Schwanz verklebten sich zu Strähnen, und auf seiner Brust zeigten sich Flecken, als hätte man Pfeffer darüber gestreut. Ira versetzte ihn aus dem Aquarium in ein anderes Gefäß, damit die Krankheit sich nicht ausbreiten konnte, dann brach sie mit dem Schweizermesser bei der Witwe ein, die in ihrem hohen Glasschrank in der Zimmerecke zwei aufrecht stehende Jagdgewehre aufbewahrte, eine Erinnerung an ihren Mann. Von dort schmuggelte sie die geladene Doppelflinte hin zur Porzellanterrine, in welcher der kranke Fisch schwamm. Sie setzte sich bequem in den rustikalen Schaukelstuhl, wickelte sich bis zur Taille in eine karierte Wolldecke, bedeckte ihre Schultern mit einem gehäkelten Plaid und legte die zum Schuss bereite Schrotflinte quer über ihre Knie, so dass Mama und die Schwester in ihrem Faible für Euthanasie dem Fisch nicht zu nahe kommen konnten. »Nur über meine Leiche«, sagte sie und das waren die ersten unzweideutigen Worte, die sie je aus ihrem Munde vernahmen. Ohne die Augen zu schließen oder aufzustehen, um aufs Klo zu gehen, schaukelte sie gemütlich und lauerte da mehrere Tage lang. Am schwersten war es, nicht einzuschlafen. Sie hatte das Gefühl, Glas anstatt des Meeres unter den Lidern zu haben. Weil sie die ganze Zeit nichts zu sich nahm, begann ihr Bauchspeck abzuschmelzen und so glich sie von Tag zu Tag mehr den anderen Leuten. Der Schock, den ihr Stoffwechsel dabei zu überwinden hatte, führte dazu, dass unterdessen ihre Haare erbleichten. Sie wurden sandfarben und ihre Haut duftete nach herbem Johannisbrot. Mama und die Schwester zögerten noch, ob sie die Polizei (das hieße einen Skandal zu provozieren), einen Psychiater (was öffentliche Schande bedeutet hätte), einen Arzt (was Kosten verursacht hätte) oder Niemanden rufen sollten (und das haben sie dann auch wirklich getan). Wie eine Kavallerieabteilung stürmte Iras Oma aus ihrem Dorf herbei, mit Lederkoffern, mit denen ein Flüchtling mehrere Jahre in der Verbannung ausgekommen wäre, und so wie es allgemein üblich ist, wenn es in Familien zu furchtbaren Verstrickungen kam, haben sich dann drei Generationen von Frauen mit überdurchschnittlicher Akribie und scheinbar emotionslos von morgens bis abends den Dingen des Haushalts gewidmet. Mitten im Mai wurde Obst eingemacht und die Decke der Dachkammer weiß gestrichen. Sie unterhielten sich mit einer gekünstelt heiteren Stimme. Nach einer Woche aber erschien in der Tür zu dem Zimmer, wo Ira über dem Fisch wachte, eine mannshohe, breitschultrige Frau in den Fünfzigern mit geröteten Maurerhänden, in eine Tweedjacke mit Lederflicken an den Ellenbogen gekleidet und in ausgelatschten Mokassins. Jedes Mal, wenn sie einen Schritt machte, platzten an diesen Schuhen unter dem Gewicht ihrer Füße eine oder mehrere Nähte. Sie atmete schwer auf Grund ihrer dem Klimakterium zuzuschreibenden fliegenden Hitze, die durch ihren massigen Körper flutete, und mit den Schultern kam sie kaum durch die Tür. Sie war gekommen um ihre Flinte zurückzufordern. Ira aber sah nicht danach aus, als sei sie geneigt, ihr diese zurückzugeben. Dann rückte die Riesin ihr hässliches Gesicht näher an den Koi heran, der mit seinem Maul mühevoll kleine Steine vom Boden der Terrine aufsammelte, damit ihm das Maul nicht zuwachse, und sie meinte verwundert: »Dieser Fisch wird am Leben bleiben.« »Glauben sie mir, in solchen Sachen kenne ich mich aus«, nickte sie über die Schulter hinweg Iras Mama, der Schwester und der Oma zu. Dann richtete sie nicht unfreundlich, aber ein wenig ungläubig ihren Blick auf Ira.

Solche wie Ira hätte man früher in ihrer Jugend verbrannt, dachte sie.

Trotzdem rief sie, überzeugt davon, dass ihre Augen sie nicht trogen: »Hexe.«

Sie konnte nicht einsehen, dass Ira eine Göttin war, älter als sie.

Einige Minuten hörte man nur den Koi, der da im Wasser herumruderte.

»Wollen sie vielleicht für mich arbeiten?« ließ sich schließlich wieder die Hünin vernehmen. »Mit Tieren?«

Angesichts ihrer Bassstimme ließen die frisch geschnittenen Rosen in der Vase ihre Blätter fallen. Sie verhielt sich so, als befände sie sich mit Ira allein im Zimmer. Und dann sprach die Herrin die damals noch vollends magischen Worte aus: »Ich gründe ein privates Unternehmen.«

»Es wird Imperium heißen und wird ein mächtiges Reich werden.«

»Häusliche Lieblinge«, pflegte die Herrin in der Regel zu sagen (das war nach dem Zehntagekrieg, als sie und Ira noch dabei waren, in einem verlassenen Gewächshaus in der Vorstadt die ersten Zwergkaninchen für den Verkauf vorzubereiten), »haben keinen Nutzwert, mal abgesehen von Katzen, die Mäuse fangen. Aber weil wir vorhaben, in Kürze auch mit Labormäusen zu handeln, gilt in diesem Ausnahmefall diese Aussage nicht: Katzen haben keinen Nutzwert. Sie haben aber ihren Preis. Wenn es uns gelingt, den Preis einer Sache, die keinen Wert hat, beständig in die Höhe zu treiben, halten wir den Allmächtigen an seinem Barte fest.« Die Herrin prahlte gerne damit, eine Zynikerin zu sein. Über sich selbst sprach sie häufig im Plural. »Das Geheimnis liegt in der Nachfrage, in der Marktnische«, unterwies sie ihre neue Angestellte, während sie die Tiere am Schlafittchen packte, die Hasen und Häsinnen hochhob und von einer Kiste in die andere Kiste setzte. »Hunde, Katzen, Hasen, Ponys, Schildkröten, Wellensittiche, Jagdfalken, sogar Ameisenbären und Riesenschlangen können dir Trost spenden, wenn du stupide genug bist. Einigen Leuten, sagt man, würde ein Stein vom Herzen fallen, allein wenn sie diese manchmal berührten.« In ihren Berührungen lag nichts Zärtliches. »In der anbrechenden neuen Zeit werden die meisten Menschen mehr Trost benötigen, als man damals ahnen konnte, als man überstürzt und unüberlegt in sie drang,« meinte sie. »Sie brauchen einfach jemanden, an dessen Schultern sie sich ausweinen können, auch wenn dieser Jemand vier Füße hat. Oder zwei oder gar keine. Dieses Bedürfnis werden sie schon selbst entdecken; andere können wir ihnen anerziehen. Die Neureichen von Morgen wird es nach noch unbesetzten Statussymbolen dürsten: Haustiere können auch als Schmuck dienen.« Ein findiger unternehmerischer Schachzug gelang der Herrin, als sie öffentlich auf die Bedeutung gut gewachsener Exoten für staatliche Verwaltungsgebäude aufmerksam gemacht hatte. Weil sie sich bemühte, konsequent zu sein, wurden Anfang 1999, als das Imperium den Gipfel seiner Macht und seines Ansehens erreicht hatte, auch bei den von ihr veranstalteten Pressekonferenzen keine Blumen sondern sich aufplusternde rote Aras zwischen die Mikrofone und vor ihren Mund platziert. Und doch brandete ihr Zynismus, ohne Schaden anzurichten, über Iras Kopf hinweg und prallte ab wie Wasser vom Entengefieder. Hätte Ira ihre Befehle, die sich auf die Tierpflege bezogen, nicht immer rechtzeitig und ordentlich ausgeführt, dann wäre der Herrin sicher schon früh aufgefallen, dass Ira zumeist gar nicht hinhörte.

Mit der Zeit erkannte sie, dass man sie mehrere Tage lang im Treibhaus allein lassen konnte, und es den Kaninchen dabei nicht schlechter ging (Ira hatte im Stroh, das man zur Einstreu verwendete, ihren Schlafsack ausgebreitet und kehrte gar nicht mehr nach Hause zu ihrer Mama zurück), sie erkannte aber auch, dass sie völlig unbrauchbar für die Verhandlungen mit den Handwerkern war, die das kleine Ladenlokal am halbkreisförmigen Platz im alten Stadtzentrum renovierten, wo das erste Geschäftslokal des im Entstehen begriffenen, breit vernetzten Imperiums entstand. Arche taufte es die Herrin mit einer Flasche Champagner. Es handelte sich um ein gedrungenes, in sich gekehrtes Haus. Sein Portal schmückten aus Sandstein gehauene Frauenstatuen in Nationaltracht, die zu der Zeit, als man sie aufgestellt hatte, so lebensecht aussahen, dass die habgierigen Stadttauben sie vom ersten Tag an in dichten Scharen umflogen und versuchten ihnen mit den Schnäbeln aus den ausgebreiteten Händen und Nasen Fleischstücke herauszupicken, sie wollten ihnen die Augen auszukratzen, deshalb war der Eingang in den Laden zwei Jahrhunderte später eine mit Kratern übersäte Mondlandschaft, die rotwangigen Bäuerinnen aber verwandelten sich so in Nebelgespenster ergeben leidender Christinnen, in Märtyrerinnen des wahren Glaubens. Drinnen vollzog sich zwischen massiven tragenden Säulen und Ziegelgewölben die Renovierungsarbeit, oder sie sollte sich wenigstens vollziehen, aber zumeist verwiesen nur ein verzinkter Eimer mit abgestandenem Wasser und ein paar einsame Zementsäcke darauf, dass in diesem Raum schon in Kürze Tiere leben sollten. Jemand hätte den Handwerkern ordentlich den Marsch blasen und sie zur Arbeit antreiben müssen und diese Aufgabe hätte nolens volens Ira übernehmen sollen, war doch die Herrin vollauf damit beschäftigt, sich um die Bankkredite zu kümmern. Aber weder für den Bau noch überhaupt für die anderen Menschen interessierte sich Ira, es sei denn sie traten so auf, wie in ihren Träumen und Albträumen und in den Hunde- und Katzengeschichten. Als sie das erste Mal in den Laden der Herrin trat, erlebte sie weder irgendein déjà vu (sie sagte sich nicht, das Haus kenne ich schon seit ewiger Zeit und weiß, dass ich darin glücklich sein werde) noch, wenn wir es nun so ausdrücken wollen, ein jamais vu (sie sagte sich nicht, niemals habe ich irgend etwas Ähnliches gesehen, noch hätte ich geglaubt, das so etwas Ähnliches in der Welt der Schlaflosen besteht, aber ich weiß, dass es eigens für mich geschaffen wurde und dass es mir von jeher gehört), sondern einfach ein rien vu, die teilnahmslose Sorglosigkeit, so wie schon immer. Aus ihrem Blickwinkel hatte sich damit, dass sie zur rechten Hand der Herrin wurde, nichts verändert. Alle früher aufgezählten Gefühle (nur dass es schließlich nicht bei Gefühlen blieb, weil sie zu einer unerschütterlichen Gewissheit heranwuchsen) begannen in Ira erst viel später und sehr langsam zu erwachen, als sie sich aber vollends entwickelt hatten, wurde sie selbst und auch andere von deren Macht überrascht. Doch fürs erste war es nur notwendig, sie ein wenig zu bestechen, damit sie die Tätigkeiten der Maler und Installateure überwachte. Die Herrin fand sehr schnell eine Lösung. Sie wählte einen abgekürzten Weg zu Iras Gehirn. Sie schenkte ihr einen Goldhamster im Käfig mit einem Hamsterrad, Hamster und Käfig aber deponierte sie in die Arche mitten unter die Arbeiter. So hielt sich Ira dort lange Zeit auf, ohne dass sie sich beschwerte oder in Langweile verfiel, sie fütterte das golden-weiße Tierchen, das ihr aus der Hand fraß und brachte ihm gymnastische Trickfiguren bei, die Handwerker aber, die glaubten, Ira hielte sich wegen der vereinbarten Arbeitsnormen bei ihnen auf, bewegten sich deshalb sogar ein wenig schneller, als sie das sonst getan hätten. Dann begann sich Ira aufzuregen, dass es in der Nähe von Marinos Käfig so schlimm aussah und sie zwang die Arbeiter ein oder zwei Quadratmeter Boden dort sauber zu machen. Bald war sie aber auch damit nicht mehr zufrieden, sie forderte nun immer mehr und wurde immer unnachsichtiger und so geriet die Ordnung im Zentrum des Lokals, wo Marino Tag und Nacht in seinem Hamsterrad rotierte, ohne bei diesem Tun irgendwo anzukommen, immer mehr in die Ecken, an die Wände, an Türrahmen und an die Decke. Der Laden erstrahlte in frischer Weiße und die Frau des Poliers putzte das tadellos neu verkittete Schaufenster, so dass es wie ein Diamant die Sonnenstrahlen verhundertfachte. Je schneller der Hamster sein Rad antrieb, umso schneller arbeiteten die Handwerker, und der Laden war schon etwa eine Woche vor der Zeit zur Eröffnung bereit. Die Herrin rieb sich die Hände und war stolz auf ihren listigen Einfall.

Als sie aber am achtundzwanzigsten August 1991 morgens plötzlich ihren staubbedeckten Opel Caravan mit seinen eingedellten Kotflügeln auf dem Pflaster vor dem abgefressenen Portal abbremste, der hinten vollgestopft mit fluchtbereiten Kaninchen war, und in die Arche stapfte, die am selben Nachmittag für die Kunden geöffnet werden sollte, da war sie von einer Flut vollkommener Dunkelheit umgeben. Die eisernen Rollos vor der Auslage waren schon heruntergelassen: es war dunkel wie im tiefen Wald und aus der nahen Pizzeria roch es nach Olivenöl und Knoblauch. Es zeigte sich, dass die Handwerker, die gegen Schluss nicht mehr mit dem unermüdlichen Hamster mithalten konnten, im Bemühen, sich gegenseitig zu überholen, vergessen hatten, an der Wand auch nur einen Lichtschalter anzubringen.

»Ja muss ich denn alles alleine entscheiden?« schimpfte sie mit strenger Stimme auf Ira ein. Auch sonst pflegte sie mit Lob zu geizen.

Ira zuckte mit den Schultern, weil sie nicht einsehen konnte, wo da ein Problem war. In der Dunkelheit hatte sie sich immer sehr wohl gefühlt.

»Na ja«, winkte die Herrin genervt ab, »aber dieses Mal ist es wirklich das letzte Mal.«

Mit widerhallenden Schritten tappte sie noch tiefer in die Dunkelheit.

Und die Herrin befahl, es werde Licht; und es ward Licht.

3

Währenddessen entwickelte sich Iras einstiger Mitschüler zu einem glühenden Teilnehmer der Autorenwettbewerbe für Kurzprosa in der Tageszeitung Treffpunkt.

»Mitglied der Jury ist der begabte junge Schriftsteller Filip K.«, trommelte der Treffpunkt in den frühen Tagen, als er gerade begonnen hatte zu erscheinen. Es war ja leichter, ihn zu einem Mitglied der Jury zu machen, als sich jedes Mal von neuem mit einer Flut seiner Beiträge auseinander zu setzen. Später nannte er sich bei den Ausschreibungen »Publizist Filip K.«, im siebten Erscheinungsjahr der Zeitung erwähnten sie nur mehr seinen Namen. Man verschwieg, dass er sein letztes Buch mit einundzwanzig veröffentlicht hatte. Filip wusste mit masochistischer Gewissheit, dass man damit nicht ihn, sondern die Verfasser von Kurzprosa schonen wollte, die nach ein wenig Ansporn dürsteten. Er entwickelte sich zu einem Meister von hohlen Sprüchen und Phrasen.

Er pflegte wie erschlagen aufzuwachen. Zuvor hatte er immer dasselbe geträumt. Er träumte, er sei wach, und in seinen Träumen war sein Schlafzimmer so, wie es am Tage war, nur die Farben gingen am Rande in ein bräunliches Sepia über und das Verhältnis zwischen Wänden, Fußboden und Decke stand nicht mehr im Einklang mit der euklidischen Geometrie. Im Traum war er also zu Hause und wach, nur dass er weder aufstehen, noch seine Muskeln bewegen noch seine Lider heben konnte. Etwas presste ihn unerbittlich nieder, und auch wenn es nicht schmerzte, empfand er Bedrängnis; weil er aber schon vor Zeiten immer dann Angst empfand, wenn er etwas Neues in Angriff nahm, (und damals liebte er Neuigkeiten noch), war für ihn dieses Gefühl von Angst zugleich bekannt und bedrohlich... aber auch ein wenig verlockend. Körperliche Starre und Kraftlosigkeit versprachen einfach deswegen, weil er sie zuvor niemals erfahren hatte, die so erwünschten Veränderungen, die unweigerlich von Außerhalb kommen mussten.

Er fühlte sich wie mit siebzehn Jahren, als ihn eines nachmittags – er lief gerade um Bonbons zu besorgen in den kleinen Laden gegenüber seiner Wohnung, es regnete leicht, Platinsträhnen von frisch gewobener Seide – mitten auf der Straße mit den Fußsohlen auf dem unterbrochenen weißen Streifen die Erkenntnis überkam, dass er in Kürze seine Unschuld verlieren würde. Für diese feste Überzeugung gab es keinen anderen Anlass als seine Adoleszenz, noch nicht einmal in seinen allerintimsten Phantasien schmiedete er Pläne, mit welcher Frau dies geschehen sollte und wann; weil er aber schon damals zu neurotisch war, um sich zu belügen, wurde ihm gleich nach diesem Einfall oder sogar zugleich mit ihm (oder ihm kam, das ist noch am wahrscheinlichsten, der plötzliche Einfall nur deswegen, um dadurch einen weiteren, weniger angenehmen auszulösen), schlagartig bewusst, wie wenig gewinnend und ungeschickt er sich beim ersten Mal mit einer Frau anstellen würde; deshalb beruhigte er sich, als ginge es um einen Zahnarztbesuch: »Natürlich muss man da hingehen, aber heute glücklicherweise noch nicht.« Es war ihm klar, dass er sich mit dieser Verzögerungshaltung trösten konnte, ohne Angst, damit etwas zu vermasseln, weil nicht einmal die Verzögerung irgendetwas verhindern könnte. Kleine bohrende Tropfen stachen ihn in seine nackten Unterarme und die Straße zwischen dem Laden und der heimischen Wohnung war in einem Moment viel bedeutungsvoller geworden als bisher. Mehr als ein Jahrzehnt später zwang sich Filip jedes Mal von Neuem zur Konzentration, mit Willenskraft besiegte er die verheißungsvolle Gelähmtheit aus den Träumen und schwang seine barfüßigen Sohlen auf das Parkett, um sich Erleichterung zu verschaffen. Dabei fiel ihm jedes Mal auf, wie seine Sohlen von Tag zu Tag wuchsen und Hornhaut bildeten; er tastete sich in der dichten Dunkelheit seiner Wohnung vorwärts, in der niemand Anderer wohnte; es schien ihm, als würde er mit seinen Schenkeln und der Brust das schwere gelatineartige Wasser eines Schwimmbeckens vor sich herschieben, klebrig und duftend, so beschrieb er, der Fachmann für das Wort in Gedanken, geflissentlich und mühevoll die Dunkelheit, seine Wangen aber glühten; und schließlich kam ihm, als er vor dem Becken die Beine spreizte, bei eingeschaltetem Licht die Erkenntnis, dass Zeit seines Lebens alle Ereignisse ausschließlich von ihm selbst abhingen, dass er nichts mehr aufschieben durfte und dass es trotzdem nie mehr möglich sein würde, etwas Wesentliches in Ordnung zu bringen, und um sich herum konnte er beinahe das Atmen der unter den Federbetten liegenden Stadt hören, wo in diesem Moment niemand über ihn nachdachte. Es erging ihm nicht anders als einem Schiffbrüchigen auf einem fruchtbaren aber vergessenen Eiland. Und er dachte, dass ein solches Leben, wenn man es genauer betrachtete, nichts als eine Reihung durchschlafener Nächte war, die manchmal unterbrochen werden, um den Harndrang zu stillen und manchmal, um sich um Essen, Brennholz und Wasser zu kümmern und dass ein solches Leben sinnlos war. Filips nächtliche Albträume haben demnach von da an ihren Anfang genommen, als er schon zu schlafen aufgehört hatte.

Täglich vervollständigte er auf dem Computer, der noch mit festem Brennstoff betrieben wurde, laufend seine Biografie und seine Bibliografie. Er musste das tun, weil er ein begabter junger Schriftsteller war: so wurde in den Zeitungen über ihn geschrieben. Unwiderruflich und auf ewige Zeit zählten sie ihn zu den ihren. Man fragte ihn nach seiner Meinung zu diesem und jenem. Man gab ihm ein Etikett. Trotz späterer Einwände. Trotz der sieben mageren Jahre. Wie ein für alle Mal. Sie hatten nicht einmal soviel Erbarmen mit ihm, ihn öffentlich abzuschreiben und ihm somit die Möglichkeit zu geben, von vorne, bei Null anzufangen. Darauf hatte er sich eingelassen. Niemand anderen durfte er dafür verantwortlich machen. Er wusste es nicht anders. Die Zeitungen forderten Daten aus seinem Intimleben. Wo er lebe. Ob er sich nicht auf seinen ererbten einhundertsechzig Quadratmetern manchmal einsam fühle? Ob er Bier trinke? Ob er deswegen so aufgedunsen wirke? Ob er mexikanische Seifenopern verfolge? Er sah sie, doch stritt er dies beleidigt ab. Übersetzer in die litauische Umgangssprache belästigten ihn am Telefon, sie riefen aus Niedermoldawien an und fragten ihn nach der vertragsmäßigen Übertragung der Urheberrechte. Sein Lebenslauf und sein Schriftenverzeichnis waren imposant. Ein zweizeiliges Haiku, in Word bei zweckrationaler Verwendung der Entertaste eingegeben, nahm auch nicht mehr Platz ein wie die Daten über einen Roman. Von vier bis ein Uhr verfolgten ihn die Sorgen, als hätte er Nägel in den Augen. Es war das Geradeklopfen von Nägeln, es war eine Art überzogener Zitatomanie. Sie wuchs an zur Paranoia. Ob ich Selbstmord begehen soll oder verrückt werde (grübelte er, obwohl er wusste, dass er sich damit sein Grab schaufelte), wenn ich eine Erzählung oder das Buch der Bücher oder das Gedicht aller Gedichte schriebe, das Gedicht der Herrin, ich nach sieben Jahren des Schweigens The Text schriebe, endlich etwas Neues, etwas Eigenes, das heißt, nicht eine Biografie oder Bibliografie, und dann würde sich herausstellen, dass genau dieselbe Idee schon ein anderer bearbeitet hatte, sagen wir in kyrillisch, das ich niemals vollständig gelernt habe? – dass mir also jemand zuvorgekommen war, ohne dass ich rechtzeitig davon informiert worden wäre, worauf sie mich des Plagiats beschuldigen würden. Gegen eine solche Besessenheit half es rein gar nichts, Borges (Pierre Menard, Autor des Quijote, Filips liebste Lektüre) zu lesen. Vor Jahren, es fehlte nicht viel, da wäre es fast so gewesen. Vielleicht konnte er auf Grund der Angst, die ihn damals fast zugrunde gerichtet hätte, jetzt nichts schaffen. Sicher ist, dass er nicht vergessen konnte, wie er sich beinahe lächerlich gemacht hätte. Er trank mit den Berufskollegen und wenn ihm nicht einer zufällig ins Wort gefallen wäre, hätte er ihnen die Idee zu der Geschichte anvertraut, die er in jenen Tagen mit sich herumtrug. Sie spielte in Mittelamerika. Genau genommen handelte es sich um eine Männerfreundschaft. Einer der Männer war natürlich ein Oberst. Seine Truppen waren gerade dabei, die Hauptstadt eines fiktiven Inselstaates einzunehmen. Mit den Reitstiefeln auf dem polierten Tisch mit vergoldeten Löwenfüßen rekelte er sich hinter zugezogenen Vorhängen aus weißem Tüll vor den französischen Fenstern seines Büros im Präsidentenpalast, der draußen mit Sandsäcken und spanischen Reitern gesichert war, wie ein Gockel spielte er sich auf unter den vergoldeten Stukkaturen und dem Propeller des Deckenventilators, der mit leisem Surren die äquatoriale Hitze in dünne Scheiben schnitt und unterhielt sich mit dem anderen Mann. Dieser war ein junger Diplomat und Mitglied der Beobachterdelegation der Vereinten Nationen. Sein Name war Llewelyn-Jones. Die beiden Männer fanden schon vom ersten Moment an großen Gefallen aneinander. Über den Empire-Tisch wanderte eine aus New Orleans geschmuggelte flache, vernickelte Flasche Bourbon, und auch Llewelyn-Jones legte nun seine Füße auf den Tisch.

(»Schuld an allem war der Eindruck«, wollte Filip durch den Mund von Llewelyn-Jones weiterspinnen, »dass wir in einem Kaffeehaus mit Vollverspiegelung sitzen. In einem Café mit Vollverspiegelung redet man mit jemand Anderem, doch an der Wand hinter seinem Rücken trifft man jedes Mal, wenn man die Augen hebt, auf sein eigenes Spiegelbild. Man beachtet seinen Gesprächspartner nicht. Man hört ihm zu, und schreibt ihm zugleich alle eigenen Eigenschaften zu. Weil man im Dialog nur sich selbst beobachtet, setzt man vor seine Worte das eigene Vorzeichen, den eigenen chiffrierten Code, und wenn einem das eigene Gesicht im Wandspiegel halbwegs anständig und dem Augenblick angemessen erscheint, dann ist man mit dem Menschen, den man nicht angesehen hat, völlig zufrieden.«) Das erklärt, warum der idealistische Llewelyn-Jones den dem Oberst eigenen rücksichtslosen Verstand und dessen triebhaft verkommene Lebensgier eines Ebers als selten anzutreffende Reife interpretierte. Weil sich der Offizier nicht um allgemein gültige Grenzen des Gewissens scherte, schrieb ihm der Diplomat die Weisheit der Samurai zu, nach der er sich selbst sehnte. »Sagen sie, was sie wollen, aber ein richtiges Vollblutweib muss auch ein wenig abstoßend sein«, meinte in einem entscheidenden Augenblick der Oberst lächelnd und streckte Llewelyn-Jones zur Bekräftigung seiner Behauptung die Fotografie seiner gefährlichsten Gegnerin, der Guerilla-Generalin entgegen, deren Amazonen in Hosen und aufgelösten Zöpfen in amerikanischen Jeeps vermittels eines geübten Umgangs mit der Artillerie und einer genialen Logistik den Norden der Insel beherrschten. Wenn der Oberst und die Anführerin der Aufständischen einen Waffenstillstand unterschreiben würden, könnte sich die Lage in diesem geopolitisch neuralgischen Teil der Welt sofort stabilisieren; wenn nicht, würde sich der Bürgerkrieg noch Jahre hinziehen. Natürlich müsste die Generalin vor Beginn der Verhandlungen erst aus ihrem geheimen Versteck in den Bergen hervorgeholt werden. Llewelyn-Jones starrte verzaubert auf ihr Bild. Er erblickte eine vernarbte Durchschusswunde unter dem aufgekrempelten linken Ärmel ihrer Militärbluse. Lange blickte er auf die Tätowierung, mit der sie die Narbe zu verbergen suchte. Auf dem braungebrannten Oberarm der Generalin ritt eine künstlich herausgerissene Fratze, ein Geschöpf von einer gotischen Kathedrale, ein Drachen mit einem Ziegenkopf und widerlich aufgeblähtem Bauch, der eine in höllischem Umfeld erworbene Trächtigkeit anzudeuten schien. Es war eine genaue und sorgfältig schattierte Zeichnung, er sah ein dichtes Netz haarfeiner Linien, gefüllt mit blauer Tinte. Das Ungeheuer hatte einen boshaften Blick und Llewelyn-Jones erkannte, dass er aufmerksam jeder ihrer Bewegungen folgte. Aber er bemerkte auch die Augen der Kriegerin. Sie waren gelb wie trockenes Gold; und sie hatte rote Haare.

el santo

Wenn auch ungeheuer sentimental, nicht besonders originell und bei der Zuordnung von Tieren, Pflanzen und heidnischen Göttern zu falschen geografischen Längengraden großzügig die Entdeckungen der postkolumbianischen Geografie vernachlässigend, war die Erzählung doch immerhin vorbildlich durchgeknallt; doch während Filip zögerte, weil er es nicht erwarten konnte, mit ihr an die Öffentlichkeit kommen zu dürfen, wurde ihm mit Schrecken bewusst, dass sie im selben Moment gerade von demjenigen lebhaft wiedergegeben wurde, der einige Gläser zuvor sein Selbstgespräch unterbrochen hatte. Dieser war aber ein glühender Jugoslawe: die Geschichte, die als erster irgend ein Serbe geschrieben hatte, führte er zum Beweis an, dass unsere damaligen Landsleute schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg in literarischen Zeitschriften heute wenig bekannte Texte veröffentlicht hatten, die zu den Vorläufern und also deshalb zu den einzig authentischen Beispielen des Magischen Realismus gezählt werden müssen. Und Filips Herz hörte für eine Sekunde auf zu schlagen. Es schien ihm, als könne er das Aufschlagen der erstickenden Wolkendecke auf die Dachfirste hören, die ihn für immer in einer hermetischen Falle einschlossen. Er konnte es sich nicht verzeihen, dass er ein halbes Jahrhundert zu spät geboren worden war, um sein bestes Werk zum Abschluss bringen zu können. Schon vor seinem Dreißigsten begann er deshalb zu glauben, dass er hier an jene entsetzliche Freiheit rührte, die man in der tiefsten Verarmung findet (Albert Camus, Die Pest, Filips zweitliebste Lektüre – denn die Literatur kennt offensichtlich Gravitationspunkte, die unaufhaltsam schwache Charaktere anziehen, damit diese danach noch unglücklicher und noch ratloser sind), und dass ihm zum Trost nur noch der zeitweilige Rückzug in heimliches Träumen und in Selbstbemitleidung verblieb.

Weil er versuchte, sich in Parallelwelten aufzumuntern und in einer eingebildeten Welt Kräfte zum Überleben zu sammeln, wurde seine Aufmerksamkeit Anfang der Neunziger durch Zeitungsartikel über die weißen Katzen der Rasse Van gefesselt: über sozusagen märchenhafte Katzen, die schwimmen konnten. Wie die Alten riss er Artikel über sie und Fotografien von ihnen aus Zeitschriften aus, verwies in Leserbriefen auf Unrichtigkeiten in den Artikeln und klebte diese dann mit Datum versehen in Mappen ein und beschaffte sich Handbücher über die Rassen und Eigenschaften von Katzen und deren Pflege. Ohne dass im Jahre 1991 jemand davon wusste, hatte er damit in Slowenien den Weg für die Katzenpest gebahnt.