Über Unni Lindell

Die Norwegerin Unni Lindell, geboren am 3. April 1957, hat zahlreiche Jugendbücher geschrieben, bevor sie ihre Krimiserie um den Osloer Kommissar Cato Isaksen begann. Unni Lindell lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Oslo.

Gabriele Haefs übersetzt aus dem Dänischen, Englischen, Niederländischen und Walisischen, u. a. Werke von Jostein Gaarder, Håkan Nesser und Anne Holt. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt 2008 den Sonderpreis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk. Sie lebt in Hamburg.

Andreas Brunstermann übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen. Er lebt in Berlin.

Informationen zum Buch

Der Bestseller aus Norwegen.

Marian Dahle war ein erfolgreiche Ermittlerin – bis ein Unglück sie aus der Bahn geworfen war. Nun soll sie einen alten Fall übernehmen. Vor fünfzehn Jahren ist die fünfjährige Thona spurlos verschwunden. Der Mann, der damals in Verdacht stand, ist immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Auf einem Zettel, den Thonas Mutter findet, steht neben anderen sein Name. Es könnte eine Todesliste sein, denn ein Mann von der Liste wird ermordet, ein anderer verschwindet. Marian weiß nicht, ob sie diesem Fall gewachsen ist. Und dann dringt auch noch jemand in ihre Wohnung ein.

Unni Lindell gehört zu den erfolgreichsten Spannungsautorinnen Norwegens. Marian Dahle ist ihre neue Heldin.

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Unni Lindell

Ich weiß, wann du stirbst

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann

Inhaltsübersicht

Über Unni Lindell

Informationen zum Buch

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Prolog

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Zweiter Teil

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

29. Oktober, vormittags

Impressum

Ich weiß, wo du wohnst: wo der Thron des Satans ist.

OFFENBARUNG, 2.13

Du.

Ich habe es gesehen. Er stand dort am Rand in seiner Uniform und gab dir einen Stoß in den Rücken, und du bist gefallen und auf den Steinboden geprallt. Ich werde dieses Geräusch und die Stille danach nie vergessen. Es war nicht zu ertragen. Und ich konnte nichts machen. Wenn ich das gewollt hätte, aber ich wollte nicht. Denn ich konnte ihn verstehen.

*

Der Kleingarten wirkt vernachlässigt und verkommen. Die Beete sehen aus wie Flickenteppiche, und das Grüne ist in einen farblosen Ton übergeglitten, der eher ins Graue geht. In der Ferne sind die Glocken der Kirche von Sagene zu hören. Hinter der Hecke rauscht der Verkehr vorüber. Die Wolkendecke ist dicht, perlgrau, nur ein schmaler weißer Sonnenstreifen schlüpft hindurch.

Die Hagebutten sind im Sommer so schnell gewachsen, sie trugen zuerst bleichrosa Blüten, die dann verwelkten und harte grüne Früchte hinterließen. Diese Früchte wurden rot, später schwarz, und endlich verfaulten sie am Strauch. Die Stängel der verwelkten Sonnenblumen werfen ein Schattengitter auf das gelbe Gras. Und hinter dem Taubenschlag: Kornblumen, Brombeeren, Georginen und Brennnesseln. Aber die Pflanzen sind jetzt braun und lassen die Köpfe hängen.

Jedes Jahr, ehe der Schnee kommt, wird der Garten für den Winter bereitgemacht. Der Pflug schiebt die Gewächse in die Erde. Dann liegen braune Lehmschollen in einem umgepflügten Acker bis zum nächsten Jahr. Auf diese Weise ändert sich die Landschaft im Laufe der Jahrhunderte, wieder und wieder. Der Frost klebt eine Decke auf die Erde. Nachts werden die Sterne in der Decke funkeln. Aber einige Stellen sind geschützt und dürfen nicht angerührt werden. Hinter der Vogelscheuche, unter anderem, wo sie in der schwarzen Erde liegt. Sie wurde nackt begraben, damit niemand sie an der Kleidung erkennen könnte. Falls sie gefunden würde. Sie wurde nicht gefunden.

Erster Teil

1

Zwei Möwen kamen über den Bunnefjord gesegelt, sie glitten über das Dach der Oper in Bjørvika und flogen weiter über die Hochhäuser, ehe sie sich über eine zerfetzte Plastiktüte auf einem Bürgersteig hermachten. Die groben Schnäbel hackten die Tüte rasch in Stücke und zerfetzten sie dann zwischen sich, es könnte sich doch etwas Essbares darin verstecken.

Glenn Haug lief durch die Smedgate. Der morgendliche Stoßverkehr hatte bereits eingesetzt. Die Stadt machte Krach. Das gefiel ihm – lärmend und schmutziggrau, die Luft schwer von Auspuffgasen. Die Häuser stützten einander, Schulter an Schulter. Für den Moment hatte er das Gefühl, über Oslo zu herrschen. Die kleinste Hauptstadt Skandinaviens war gerade groß genug. Ein Raubüberfall bedeutete nichts für diese Stadt. Ehe sie entstanden war, hatte es hier Wald und Bäume und wilde Gewächse gegeben. Genau hier. Er wusste, dass er aussah wie ein Seemann, als er nun weiterging, ein bisschen o-beinig, die blaue Mütze tief in die Stirn gezogen. Seine Beine waren zu dünn, und die Hose hing zu weit unten auf den Hüften. Früher einmal hatte er zur See gehen wollen, dann war er in den Straßen hier geendet, in der Stadt.

Es war der letzte Morgen im August. Er fuhr sich mit der Hand über die Wange. Die entzündete Schwellung beruhigte sich jetzt. Das Spinnennetz-Tattoo machte es leicht, ihn zu erkennen. Daran hätte er denken müssen, ehe es gemacht worden war. Aber daran hatte er nicht gedacht.

Mit seinem Einbruch im Pflegeheim Lille Tøyen war er zufrieden, auch wenn er von Leere träumte, davon, in irgendeiner Straße stillzustehen, sich an eine Wand zu lehnen und die Sonne zu genießen. Dort zu stehen und einen Punkt zu erreichen, an dem aller Stress verschwand. Aber so weit kam es nie.

Er war keine Zauberei gewesen, ins Pflegeheim zu gelangen. Er war einzigartig, wenn es darum ging, sich Zugang zu einem Gebäude zu verschaffen, er hatte hinter dem Abfallcontainer gewartet. Als die Nacht in den Tag überging, wurde die Hintertür vom Küchenpersonal aufgeschlossen, und er kam ins Haus, indem er einen Fuß in den Spalt schob, ehe die Tür zufallen konnte. Er war nicht zum ersten Mal dort. Er wartete einige Minuten im Treppenhaus, ließ die Fingerspitze über die raue Mauer gleiten. Als ob die kleinen Erhöhungen Blindenschrift wären. Das Glas in der Tür war gesprenkelt von grauen, vertrockneten Regentropfen. Er wartete, bis er durch den Ventilator den Kaffeeduft wahrnahm.

Es wimmelte hier nur so von dementen alten Frauen, weiß- und grauhaarigen verkrümmten Wesen. Er musste grinsen: Wenn das Frühstück serviert wurde, ähnelten sie Krähen, die sich um ein überfahrenes Tier sammeln. Die Zimmer waren leer. Er brauchte bloß zuzugreifen. Er arbeitete auf Autopilot. In einem Zimmer fand er eine goldene Uhr und einige Banknoten. Was für eine Vorstellung! – Banknoten auf einem Nachttisch! Da hatte man es nicht besser verdient, wenn das Geld gestohlen wurde. In einem Bett aber lag so eine Alte, dünn wie ein Strich, wie vergraben in der Bettwäsche. Sie schien sich geradezu über seinen Anblick zu freuen. Sie reichte ihm ihr Armband, und er bedankte sich.

Glenn Haug überquerte die Straße. Die Morgensonne flimmerte in seinen Augen und füllte sie mit Licht. Er hatte ein wenig zu scharfe Konturen, um farblos zu sein, aber bald würde es Herbst werden, und die Dunkelheit würde alles töten. Das Neon würde die Straßen mit riesigen Buchstaben an sich reißen, und der Schnee würde den schmutzigen Asphalt bedecken. Er ging durch den Åkebergvei in Richtung Grønland, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen, gab sich Feuer. Seine Mundwinkel hatten sich nach unten gezogen, und sein Kinn ragte hervor wie das eines alten Mannes. Er machte einen tiefen Zug und suchte in den Kritzeleien an den Mauern nach versteckten Botschaften. Seine Beute hatte er in den Jackentaschen. In dieser Jacke war für vieles Platz, auch für sein Jagdmesser.

Ein Mädchen sah ihn an. Ihre Augen waren groß und grün. Nicht alle Menschen waren im wohlgesinnt; so war es einfach, man musste auf der Hut sein. Er näherte sich dem Bahnhofsvorplatz, und das Gefühl, über Oslo zu herrschen, war verschwunden. Er musterte die parallelen Straßenbahnschienen in dem gepflasterten Boden und lief unmittelbar vor einem Bus über die Straße. Der Bus hinterließ eine Wolke aus Abgasen. Glenn Haug saugte das Nikotin aus dem Zigarettenstummel, warf ihn auf dem Boden und betastete seine Brusttasche, dort lag sein Mobiltelefon, das eine jedenfalls. Vor dem Osloer Zentralbahnhof wimmelte es nur so von Menschen, die zur Arbeit in die Stadt gekommen waren. Heute brauchte er Milch, das merkte er, zusätzlich zu dem »Täglichen«. Nach dem letzten Gefängnisaufenthalt war ihm ein sogenanntes »Wiedereinstiegsprogramm« aufgezwungen worden. Er galt offiziell als gefährlicher für sich selbst denn für seine Umgebung. Wenn es ihm schwarz vor Augen wurde, passierte etwas in dem Spannungsbogen, der von seinem katastrophalen chronischen Jähzorn bis zu einem friedlichen Ruhegefühl reichte. Sein Körper schien dann von einem Gift durchzogen zu werden. Und er war bereit, sich zu verteidigen.

In der Bahnhofshalle herrschte ein gewaltiges Gedränge. Die Menschen eilten in alle Richtungen, und er wurde in den Mahlstrom gesaugt. Die Geräusche durchfuhren ihn. Daran waren die Mauern schuld. Eine Frau, ein unschönes, verhärmtes Wesen mit rotem Lippenstift, stieß ihn an. Eine Bande von jungen Immigranten hatte nichts zu verkaufen. »Verpiss dich, Wachemann«, fauchte der eine. Von einem anderen konnte er kaufen, hinter einer Säule. Die Überwachungskameras konnten nicht hinter einem Kreis aufnehmen. In seiner Vorstellung waren die Säulen Kreise. Er hielt Geld und Gold vor sich hin, als ob er ein Pferd damit füttern wollte. Es war leicht, gegen Nahrung zu tauschen, gegen Amphetamin. Er brauchte außerdem Schlafmittel. Klar im Kopf zu sein war lebenswichtig.

Der somalische Wachmann vor dem Toilettenbereich war mit irgendwem beschäftigt. Glenn Haug hielt sich dicht hinter einem Mann, der einen Zehner in den Automaten warf, worauf sich die Sperren öffneten. Danach lief er in eine Klozelle.

Es stank nach Pisse, wie immer. In jeder Zelle gab es Blaulicht. Für ihn war das kein Hindernis. Sein Telefon lieferte Licht genug. Sofort verspürte er eine Wärme im Bauch. Er lief hinaus. Alles ließ ihn jetzt los. Er war wieder König. Aber dann standen sie plötzlich da, vor dem Haupteingang, bei der großen Tigerstatue. Sie waren es, die beiden Motorradfahrer in Lederkluft und Integralhelmen. Er fuhr zusammen und machte kehrt. Sein Nervensystem schaltete in einen höheren Gang. Er lief wieder in die Bahnhofshalle und spurtete weiter zum Bahnsteig 19, stieß auf dem Rollband eine junge Frau mit einer gelben Schultertasche zur Seite. Sie schrie ihm Verwünschungen hinterher. Die Handläufe des Rollbands zuckten, er stürzte von einer Dimension in eine andere; man konnte nichts wiedergutmachen, indem man im Boden grub, er war doch kein Archäologe. Es gab keine Wahrheit, nur allerlei Fiktionen und unterschiedliche Versionen von Wahrheit.

Ein Zug würde gleich losfahren, blank und braun, wie ein Atemhauch, neben dem Betonboden, die Räder jedoch waren aus Metall. Er konnte in den hintersten Wagen springen, und im selben Moment wurde die Türöffnung zusammengezurrt. Das Geräusch von Eisen hallte in seinen Ohren wider. Er legte die Hände auf jeden Sitzrücken und ging nach hinten, senkte den Kopf und schaute aus den Zugfenstern. Er atmete schwer und bewertete die Geschehnisse gemessen an der Entfernung zur Vergangenheit; weiter weg kam er nicht. Wenn sich die Linien begegneten, wäre alles zu Ende. Die Ledermänner waren auf dem Bahnsteig nicht zu sehen. Die Barcode-Häuser wogten wie Türme vor dem blauen Himmel. Er würde bei der nächsten Station aussteigen. Eine Woche zuvor hatten die Motorradmänner ihn vor dem Hospiz erwartet. Er hatte sie aus dem ersten Stock gesehen, von seinem Zimmer aus. Es regnete und war spät. Er ging hinunter ins Erdgeschoss und stieg durch ein Fenster auf der Rückseite. Dann fuhr er zu seiner Mutter. Ihr Schrebergarten war im Regen eine große bronzefarbene Welt. Er hatte es sich im Sessel gemütlich gemacht, in der Bude mit der halben Wand, und hatte den schmutzigen Schlafsack so weit wie möglich hochgezogen. Alles war nass. Das Gras draußen war von braunem Schlamm bedeckt. Aber dann zogen die Nachtwolken davon, und es war nicht nur feucht, es wurde auch noch kühl. Das Loch in der Wand gefiel ihm. Er konnte sehen, wann seine Mutter kam. Ob sie ihm Essen brachte. Der Mond ging auf. In den Pfützen sah er die Sichel in mehreren Versionen. Das Original warf ein weißes Licht auf die Vogelscheuche. Dahinter wuchsen die Disteln in teuflischem Tempo. Sie war sein Altar, diese Vogelscheuche.

2

Marian Dahle, Kommissarin bei der Osloer Polizei, warf ihre Jacke über den Stuhl, nahm den schwarzgesprenkelten Boxer von der Leine und blieb für einen Moment vor dem schwarzen Kommodenspiegel in der trübe beleuchteten Diele stehen. Die Holzwände schluckten das Licht. Sie sammelte ihre schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz. Ihr Gesicht war so ausdruckslos und so wenig entgegenkommend, dass sie ihrem eigenen Blick am liebsten ausgewichen wäre. Sie war eine Woche zuvor dreiunddreißig geworden, hatte aber keinen exakten Geburtstag, da sie ursprünglich aus Korea kam und mit drei Jahren in Norwegen adoptiert worden war. Aufgrund ihrer Verletzung schien ihr eines Auge noch schräger zu sitzen.

Sie wohnten jetzt hier, sie und der Hund, im Drachenhaus in der Sophus Lies gate in Frogner. Immer wieder blieb jemand auf der Straße stehen und sah das alte Haus an, das zwischen den klassischen Mietshäusern mit fünf und sechs Etagen lag. Das Haus war beeindruckend, mit seiner durchgehenden asymmetrischen Fassade und ineinander übergehenden Bauteilen. Es wurde von zwei Seitenachsen dominiert, die eine hatte einen Turm, die andere eine Veranda mit Schwebegiebelkonstruktion. Marian wohnte im Turmteil.

Der dreizehn Jahre alte Hund lag keuchend auf dem Boden und leckte sich das Fell. Boxer waren liebevolle Hunde. Birka wollte nicht vor das Tor. Das Haus lag in einem überwucherten Garten von anderthalb Dekar zwischen den Mietshäusern, vorne standen nur zwei halbtote Obstbäume und einige alte Johannisbeersträucher, dazu große Eichen und Gartenmauern auf der Seite des Eingangs, wo die verrosteten Wäschestangen standen. Niedrige Mauern teilten den Rasen in mehrere Plateaus. Unter dem größten Baum war ein Steintisch von roten und gelben Blättern bedeckt. Der Hund trottete gern durch den Garten, unter den übergroßen Fliederbüschen, deren Blüten jetzt verwelkt waren. Birka näherte sich dem Ende ihres Lebens, das ganze Hundegesicht war grau, an manchen Stellen weiß. Zu wissen, dass der Hund sie bald verlassen würde, war unerträglich. Birka wurde immer weniger Hund. Sie selbst wurde immer weniger Mensch.

Der Spiegel war vor Alter braungefleckt, deshalb sah Marian sich nur undeutlich: den schmalen Mund, die kleine Nase und die breiten Wangenknochen. Sie trug eine Trainingshose und einen dunkelgrünen Pullover. Nach dem Unfall war sie menschenscheu geworden. Die Lachfältchen um die Augen würden von nun an von der Narbe bedeckt sein, die Brandwunde auf der Seite ihres Gesichts ähnelte einem ausgerollten Teig mit Flechtmuster. Sie zog sich über Wange und Hals, ging unter der Kleidung weiter, unter dem linken Arm, am Schlüsselbein entlang und endete auf der kleinen Brust.

Cato Isaksen hatte sie in aller Herrgottsfrühe angerufen und ihr einen Cold-Case-Job angeboten, wie er das nannte. Er hatte sie geweckt. Es ging um einen alten Fall, den Fall Thona, einen der bekanntesten ungeklärten Fälle überhaupt. Für einen Moment hatte ihr Herz losgehämmert. Es war wirklich ein Vertrauensbeweis, dass er sie gefragt hatte, aber sie hatte abgelehnt. Fünfzehn Jahre zuvor war in einem Schrebergarten mitten in der Stadt ein kleines Mädchen verschwunden. Die Kripo hatte eine neue Einheit für solche Fälle eingerichtet, und der Gewaltabschnitt sollte einige Ermittler stellen. Cato wollte natürlich keine aktiven Mitarbeiter hergeben, deshalb hatte er sie angerufen. Marian hatte seit einem halben Jahr nicht mehr mit Cato gesprochen. Er tat das hier nicht aus purer Herzensgüte, und das wäre ihr auch nicht recht gewesen. Sie hätte am liebsten wieder voll gearbeitet, aber sie wussten beide, dass das nicht möglich wäre.

Vor einem Jahr war sie von einem Verrückten, den sie festnehmen wollte, in einen Krematoriumsofen in einem stillgelegten Sanatorium gezwungen worden. Es war wie eine Actionszene in einem schlechten Kriminalfilm gewesen. Cato hatte sie in letzter Sekunde gerettet. Sie war seither krankgeschrieben, geschützt vor Morden, Selbstmorden, verstümmelten Leichen und endloser Lektüre von Dokumenten.

Marian hatte gehofft, hier im Drachenhaus Ruhe zu finden. Die Wände waren hoch, die Räume hatten Balken, stehende und liegende. Es roch nach dem hundert Jahre alten Holz. Der Geruch wurde durch Kälte hervorgepresst. Und an diesem Abend war es kühl. In der Nachbarwohnung wohnte ein Künstler, ein Mann mit halblangen Struwwelhaaren und kräftigem Bizeps unter dem T-Shirt. Sie hatte ihn durch das Fenster gesehen. Und im Erdgeschoss wohnte eine alte Dame. Marian selbst war seit vier Monaten hier, hatte mit den beiden aber noch nicht gesprochen. Zweimal hatte jemand geklopft, sie glaubte, der Künstler, aber sie hatte nicht aufgemacht.

3

Andreas Lindeberg dachte an den Ausdruck »samtweich«, als er aus dem Eingang trat. So war es jetzt. Und der weiche Stoff senkte sich über die Steinfassaden der Mietshäuser. Alles wurde gedämpft, Risse und Schmutz waren nicht mehr zu sehen. Die Haustür fiel mit einem Knall hinter ihm ins Schloss. Herbstabende hatten ein eigenes Echo. Er mochte den Herbst lieber als den Sommer, und am nächsten Tag wäre der 1. September. Der Sommer war zu hell, zu warm, zu durchsichtig, hatte keine Schatten und dünne Luft und farblosen Himmel. Er las auf seinem iPhone Nachrichten; aber er registrierte doch den Motorradfahrer, der auf der Straße stand. Der Mann in Lederanzug und Integralhelm parkte gerade zwischen zwei Autos. Er warf einen besonders langen Blick auf den Mann, der ein wenig übergewichtig war. Solche engen Anzüge schmeichelten nicht unbedingt jedem Leib. Eine Gürteltasche war um seine Hüften geschnallt, und das Motorrad war eine schwarze BMW R soundso. Der Kampf um die Gratisparkplätze hier in Ruseløkka war heftig, die Menschen kamen aus der ganzen Umgebung, um in der Gustav Bloms gate zu parken. Ein leiser Knall war zu hören, als der Mann den Ständer herunterklappte. Andreas hatte plötzlich das Gefühl, er habe den Motorradfahrer schon einmal gesehen, aber wo?

Andreas schaute auf die Uhr und schaltete sein Telefon aus. Sechs vor zehn. Der Laden um die Ecke schloss in wenigen Minuten. Nun sah er sein Spiegelbild in dem blanken Bürofenster der Bank auf der anderen Straßenseite. Dafür sorgten die Straßenlaternen. Er musterte seinen schmalen Körper in der dünnen Daunenjacke. Die enge Jeans betonte seine Hüften. An den Füßen trug er neue Joggingschuhe. Er hatte beschlossen, seine blonden Haare wachsen zu lassen. Er sah gut aus und konnte so ungefähr alles anziehen. So war es immer schon gewesen. In seiner Jugend war er mager gewesen und hatte nie mit Fremden gesprochen. Es war schwer zu erklären, was passiert war, alles war nur eine Reihe von zusammenhanglosen Bildern. Er war nach allem zu einem anderen geworden. Er trug ein Geheimnis mit sich herum, hatte aber jetzt eine neue Chance bekommen, eine neue Arbeit, in einem Sportgeschäft in der Straße Grensen. Er war fertig mit dem ewigen Gerede seiner Mutter, er solle sich in der Schule anstrengen.

*

Der Motorradfahrer hatte den Ständer wieder hochgeklappt, hatte seine Maschine aus dem kurzen Straßenstück gerollt und stand jetzt mit den Füßen auf dem löchrigen Asphalt mit den Feldern aus Pflastersteinen. Der junge Mann war unterwegs in den Laden, wie jeden Tag um diese Zeit. Seine Finger umklammerten den Lenker. Am Vortag war er mit Kumpeln unterwegs gewesen. Adrenalin hatte einen ziemlich scharfen Geruch. Jedenfalls, wenn er sich mit dem von Leder mischte. Sie beobachteten Andreas Lindeberg und Glenn Haug jetzt seit zwei Wochen, es gehörte zum Plan, und der Bruder hatte gesagt, an diesem Abend müsse etwas passieren. Sie konnten mit diesen Beobachtungen nicht weitermachen. Der Bruder ging jetzt häufiger auf seine wütenden Gassitouren mit dem Hund.

*

Im Geschäft war das Licht weiß und scharf, wie in einem Operationssaal. Andreas nahm einen Einkaufskorb, obwohl er nicht viel brauchte. Die Reklamevideos gaben ein intensiv grünes, fast psychedelisches Gefühl. Andreas hasste Werbung, wie die Stimme des Reklamesprechers in TV3, der herumschrie, Weißwaren von Lefdal seien unerlässlich für alle, die keine Volltrottel waren. Er nahm eine Pepsi light aus dem Glasschrank, holte sich in der Obstabteilung einen Apfel und stellte sich an der Kasse an. Er hatte Hunger, aber beim Einkauf von Lebensmitteln war er hilflos. Er hatte Angst, zuzunehmen, denn das Aussehen war ihm sehr wichtig. Und er war pedantisch, seine kleine Wohnung war peinlich ordentlich. Es roch dort frischgestrichen.

Die Frau vor ihm in der Schlange hatte einen quengelnden kleinen Jungen bei sich, der sich an ihren Mantel anklammerte. Der Kleine hätte schon längst ins Bett gehört. Andreas konnte lärmende Kinder nicht leiden. Durch das Fenster sah er draußen einen dunklen Kastenwagen langsam vorfahren und dann anhalten. Der Motorradmann von vorhin glitt neben dieses Auto. Die Autotür würde geöffnet, und die Männer redeten miteinander.

Die Zeitungen standen im Gestell. Dagens Næringsliv titelte, dass Norwegens Ölreichtum gewaltig zur Neige gehe. Aftenposten teilte mit, »Munchmuseum vielleicht am Ende«, außerdem gab es einen Artikel über den IS und die Flüchtlingswelle, die über Europa hereinschwappte. VG hatte wichtigere Mitteilungen zu machen: »Deshalb wollte ich Silikon« und »Ihr Weg zum besseren Sex«.

Die Kassiererin schaute zu ihm hoch. Sie lächelte rasch. Er bat um Zigaretten und erhielt eine Karte für den Automaten.

Sein Vater war nachmittags bei ihm gewesen. Dem Vater gefiel es, dass die Wohnung ordentlich war, Eltern legten eben Wert auf diese Dinge. Es war eine heruntergekommene kleine Wohnung, aber doch schön, ganz weiß, viele Gläser auf einem Regalbrett über dem Spülbecken. Dass er die Schule geschmissen hatte, war für seine Eltern ein ärgerlicher Prestigeverlust. Er konnte die Mutter und ihre Enttäuschung verstehen. Sie war nun wirklich kein Snob. Ihn überkam ein Übelkeit erregendes Gefühl von Scham. Seine Eltern waren misstrauisch geworden, als er seine zweite Stelle aufgegeben hatte, aber sie wussten nichts über den Grund. Er war achtzehn, volljährig. Warum hatte er noch immer solche Angst vor seinen Eltern? Er war kein Roboter, den man programmieren konnte.

Er holte sich die Zigaretten aus dem Automaten bei der Tür. Dann ging er hinaus. Blieb einen Moment im Viereck aus Licht vor dem Ladenfenster stehen. Der Kastenwagen war verschwunden.

Eine Straßenbahn fuhr vorüber, und er überquerte die Straße, verzehrte den Apfel mit einigen großen Bissen und warf das Kerngehäuse vor einer Galerie in einen Topf mit einer Plastikblume. Dann drehte er den Verschluss der Pepsi light auf und trank einige große Schlucke. Er war an diesem Tag bei der Arbeit müde gewesen und hatte Übelkeit verspürt. Denn am Vorabend war er mit Freunden losgezogen. Sie hatten aus Scheiß die Schwulenkneipe London Pub besucht, waren am Ende aber hinausgeworfen worden, durchschaut, als sie kichernd und lärmend zum fünften Mal Geld in die Jukebox geworfen hatten. Sie hörten Abbas Gimme! Gimme! Gimme! A Man After Midnight. Und sie waren nicht schwul.

Eine SMS traf ein. Er zog das Telefon aus der Tasche. Einer der Kumpels vom Vorabend, der wieder mit ihm losziehen wollte. Er sagte nein, er müsse am nächsten Morgen arbeiten.

4

Andreas näherte sich der Haustür mit dem verschnörkelten schmiedeeisernen Gitter vor den Glasfenstern. Er registrierte, dass der Motorradfahrer wieder hinter einem parkenden Auto stand. Vielleicht wartete er auf jemanden? Der Mann hatte das Visier noch immer heruntergelassen. Andreas zog den Schlüssel aus der Hosentasche, schloss die Tür auf und betrat den Eingang, als ob nichts passieren würde, aber das Gefühl von vorhin war wieder da, dass es etwas gab, woran er sich nicht erinnerte. Andreas rauchte natürlich im Haus nicht, aber er brauchte eine Zigarette, ehe er hinauf in seine kleine Wohnung ging. Die Haustür war schon fast zugefallen, als der Motorradfahrer sie mit beiden Händen aufschob. Später würde Andreas sich an diesen Augenblick erinnern, die Tür, die fast geschlossen war, ehe der Mann sie aufstieß wie ein Cowboy die Tür zu einem Saloon. Der Motorradfahrer füllte die Türöffnung einen Moment lang, dann war er im Haus. Die Tür schlug mit einem Knall zu, warf ein Echo im Eingang, im Hinterhof und weiter, wie ein Gummiball, der von den Fassaden abprallte. Die hohen Mietshäuser bildeten einen Schacht um den Hinterhof mit der löchrigen Asphaltdecke. Hinter einigen Fenstern brannte Licht.

Der Mann blieb vor Andreas stehen. Andreas lächelte automatisch, aber die Atmosphäre stimmte nicht. Er stellte die Flasche auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die graublaue Täfelung und schob sich rasch die Zigarette zwischen die Lippen. Es war fünf nach zehn.

Der Mann öffnete sein Visier einen Spaltbreit. Er wollte keine Zigarette rauchen.

»Können Sie mir im Keller kurz helfen? Wir hatten einen Einbruch.« Seine Stimme war kalt und gedämpft.

»Reden Sie mit mir?«, fragte Andreas.

»Ich brauche Hilfe.« Die Stimme des Mannes klang brüchig, als wäre er gerade erst in den Stimmbruch gekommen. Damit verriet er, dass er nervös war. Die Wellblechplatte, die hinter dem Fahrradständer angebracht war, klapperte. Die Sonne hatte sie während des Tages angewärmt und ausgedehnt. Aber jetzt war nur noch das Licht der Lampe an der Wand wichtig, und das war kühler. Offenbar stand ein Fenster offen, denn auf dem Hinterhof war das hysterische Lachen eines jungen Mädchens zu hören.

»Ich bin gerade erst eingezogen. Wohne oben in einer Einzimmerwohnung. Ich habe keinen Kellerraum.« Andreas war nur einmal unten im Keller gewesen, um sich umzusehen. Deshalb wusste er, dass man von dort aus ins Nachbarhaus gelangen konnte. Im Kellergang standen blanke Dosen voller Rattengift. Die Tür zum Keller befand sich auf dem Hinterhof. Er trat seine Kippe aus und drehte sich um, um das Haus zu betreten. Er wohnte schließlich dort. Dann wurde er von einem Fausthieb im Rücken getroffen.

*

Sein Wangenknochen knallt gegen die Mauer, und die Knie geben unter ihm nach. Er sinkt in sich zusammen und stützt sich ab, so gut das geht. Sein Herzrhythmus ändert sich. Die Zigarettenpackung fällt hin, und die Flasche kippt um. Der Motorradfahrer packt ihn am Oberarm und zieht ihn hoch. Dann öffnet er mit der anderen Hand die Gürteltasche und zieht ein kleines Messer hervor. Andreas sieht es einen Moment lang, es hat eine krumme, scharfe Klinge. Ein Arm presst sich auf seinen Hals, er wird brutal rückwärts gerissen. Der hölzerne Messergriff ist kalt an der dünnen Haut seines Halses. In seiner Brust hat sich vor Angst alles verkrampft. Er nimmt den Geruch der Lederweste wahr, den von Leder und Öl. Der Mann zischt, er solle die Fresse halten, und verbiegt ihm den Ellbogen auf dem Rücken. Andreas steht vor Schmerzen auf Zehenspitzen. Der Mann lässt die Messerspitze zu seinem Nacken wandern und schiebt ihn in den Hinterhof, vorbei an Blumenkästen und Hofbaum.

Andreas schaut zu dem offenen Fenster hoch, aber kein Mädchen ist zu sehen. Er hört das Echo seines Rufes zwischen den Mauern des Hinterhofes. Aber sein Ruf ist schwach, ohne Kraft. »Fresse halten!«, sagt der Mann mit Fistelstimme. Andreas wird auf die Kellertür zugestoßen und kann nicht denken. An der Mauer gibt es Graffiti, orange, lila und schwarze Schrift. Der Mann zieht die Tür auf und schiebt Andreas die steile Treppe hinunter. Andreas wäre fast gestolpert. Ein Maniac. Ein Masshole. Panik schießt durch seinen Leib wie Stromstöße. Unten riecht es nach Erde, Schimmel und Kalkstaub. Die Neonröhren unter der abgeblätterten Decke springen mit einem Klicken an, eine nach der anderen, als sie durch den verdreckten Kellergang weitergehen. Ausgetretenes Salz hat weiße Steifen über die Mauern gezogen. Eine Rattenfalle steht hier neben der anderen. In Oslos Kloakensystem gibt es Hunderttausende von Ratten. Andreas schafft es, das Telefon aus seiner Tasche zu ziehen. Er presst es an seinen Leib, versucht, irgendeine Nummer einzugeben, egal welche, die erste auf seiner Liste. Oder 112. An einigen Stellen ist die Decke so niedrig, dass er sich ducken muss. Runde Ventilationsrohre ziehen sich an der Wand entlang. Überall gibt es Drahtverschläge, voller Pappkartons, Stehlampen, Fahrräder und Skier.

Ihm bricht der kalte Schweiß aus, seine Hände sind feucht, das Telefon entgleitet ihm und fällt zu Boden. Der Motorradfahrer rammt ihm das Knie ins Kreuz, stößt ihn vor sich her und befördert das Telefon mit einem Tritt unter der Drahttür hindurch in einen Verschlag. Es gibt keine überflüssigen Apps auf diesem Telefon, kein Twitter, kein Shopping, kein GPS. Andreas musste alle Apps löschen. Sie kommen zu einer grau angestrichenen Eisentür mit einem Hebel als Türgriff. Der Mann presst den Hebel nach unten, und die Tür öffnet sich langsam, die Angeln kreischen. Dann stößt er Andreas in die Finsternis. Ein kurzer Hauch von fauliger Kellerluft strömt heraus, ehe sich die Tür mit einem dumpfen Dröhnen schließt.

*

Andreas suchte fieberhaft nach einem Lichtschalter. Er scheuerte sich die Fingerknöchel an der rauen Wand auf. In seinem Kopf war ein Summen wie von einem Kraftwerk. Er wäre fast über irgendetwas gestolpert, konnte sich aber auf den Beinen halten. Dann fand er den Schalter und legte ihn um. Es war ein Luftschutzraum. Er war leer, abgesehen von zwei leeren Kästen gleich neben der Tür. Der Raum war ungefähr fünfzehn Quadratmeter groß. Das Haus war 1887 errichtet worden, wie er wusste; der Luftschutzraum aber wirkte frisch renoviert. Er hörte sein Telefon draußen im Kellergang klingeln, ein fernes Geräusch, das durch die Eisentür drang. Sein Blick hing für einen Moment an den Digitalziffern seiner Uhr. Es war 22:30:09.

Für einen Moment wusste er es wieder; in der Nacht war ein Auto gekommen, durch die Rosenkrantz gate, als er vom London Pub nach Hause gegangen war. Die Scheinwerfer hatten ihn geblendet, und im Auto hatten zwei Männer mit Vollhelmen gesessen. Er hatte sich mehrmals umgesehen, hatte so ein Frauengefühl gehabt, dass jemand hinter ihm war und es auf ihn abgesehen hatte, das Gedächtnis war mit dem Hippocampus verbunden, einem Organ im Schläfenlappen; das war das Letzte, was er im Biologieunterricht gelernt hatte, ehe er von der Schule abgegangen war.

Die Erinnerung lag in seinem Bewusstsein wie etwas Schwarzes. Derselbe Kastenwagen hatte vorhin vor dem Laden gestanden. Andreas versuchte zu schreien. Alles in ihm war ein Schrei, aber das war nicht zu hören. Die Naturwissenschaften hatten ihm gefallen. Als kleiner Junge hatte er Astronaut werden wollen. Weit weg von der Erde schweben, Landschaften und Meere als weißblaue Streifen sehen. Im Vakuum sein, weit weg. Jetzt war er hier.

Es rauschte in einem Rohr, das von der Decke durch den Boden nach unten führte. Das war das einzige Geräusch, das er hörte. Über der Tür hingen einige sandfarbene tote Spinnen in einem Spinngewebe. Solche Türen hatten kein Schloss. Das war wohl der Sinn der Sache. Ob der Mann draußen stand? Andreas legte die Hand auf den schweren Eisenhebel und drückte ihn langsam nach unten.

5

Marian legte Holz in den Ofen und zündete es an. Das Gespräch mit Cato hatte sie verwirrt. Das Feuer in dem runden Ofen hinter der Stahlleiter, die zum Schlafzimmer oben im Turm hinaufführte, breitete sich schnell aus. Der Ofen war hoch und hatte oben Zacken, als wäre er hier der König. Nach dem Brandunfall waren Marians Empfindsamkeit und ihr Geruchssinn aufs Äußerste geschärft. Sie konnte offenes Feuer nicht ertragen. Sie zündete nicht einmal mehr eine Kerze an. So gesehen hätte sie in einem Haus aus Stein wohnen müssen und nicht in einem von Oslos ältesten Holzhäusern, aber sie hatte die Wohnung im Drachenhaus gekauft, um sich von ihrer Vergangenheit zu trennen. Sie hatte einen neuen Anfang gemacht, hier.

Von der 2001 verschwundenen Sechsjährigen hatten natürlich alle gehört. Marian sah die Kleine vor sich, weißblonde Haare, blaue Augen. Dieses Bild war in all den Jahren seit ihrem Verschwinden immer wieder durch die Medien verbreitet worden. Marian hatte fast das Gefühl, dieses Kind zu kennen. Wenn ihre Erinnerung sie nicht trog, hatte die Kleine mit einem Mädchen in ihrem eigenen Alter gespielt, in dem großen Garten.

Die Hitze der Flamme stach ihr in die Hand. Für einen Moment war der gesamte Unfall wieder da, das summende Geräusch des Ofens, die Hitze, die wie eine dichte, erstickende Decke über ihrem Gesicht lag. Grauschwarzer Rauch, der sich über sie hinwegwälzte. Ihr Gehör, das versagte, ihre Lunge, die von dem sengenden Rauch gefüllt wurde, ehe alles in einem weißen Licht verschwand.

Sie klappte die Ofentür zu und schaute zur Decke hoch, das Schlafzimmer lag weit oben, fast wie in einem Kirchturm. Eine steile stählerne Leiter führte nach oben.

Die Wohnung hatte kaum Trennwände, sie bestand aus einem großen Raum mit einer eleganten Küchenecke aus Eiche, einem frischrenovierten Badezimmer und der Diele. Der große abgebeizte Küchentisch war im Preis inbegriffen gewesen, aber das Sofa war neu, beige und weich. An den Wänden hingen zwei helle Plakate.

Marian nahm einen Eierkarton aus dem Kühlschrank. Der Kühlschrank war nicht gerade gut gefüllt. Sie müsste sich weniger eintönig ernähren. Und Eier sollten wohl gar nicht im Kühlschrank aufbewahrt werden.

Sie schaute aus dem Fenster hinter der Anrichte hinunter in den dunklen Garten. Die Bodenbretter waren kalt unter ihren Füßen. Aus der Nachbarwohnung waren Musik und Stimmen zu hören. Der Künstler hatte wieder Besuch. Er war gesellig, stand manchmal auf seinem Balkon und pfiff. Sie wollte ihn nicht kennen lernen und auch nicht die alte Dame im Erdgeschoss.

Sie machte sich ein Omelett. Cato begriff nicht, wie wenig sie zu sich nahm. Sie hatte sich viel ausgeruht und gelesen. Alles lief gut, so lange sie nicht mit Menschen zu tun hatte. Denn, wie Janet Frame geschrieben hatte: »An allen Türen, die aus der Welt und in die Welt führen, haben sie Warnungen angebracht und Listen mit Sicherheitsmaßnahmen, die im äußersten Notfall zu ergreifen sind.« So kam es ihr vor, und das tat weh. Cato hatte gefragt, ob sie noch immer trank. Er war so direkt. Sie hatte nein gesagt, aber natürlich trank sie. Und sie nahm Vicodin, gegen die körperlichen Schmerzen, doch es war gefährlich, sich der Schmerzlosigkeit hinzugeben. Sie kannte die Namen der meisten schmerzstillenden Medikamente. Der Alkohol war weiterhin ein zu guter Freund. Jetzt hatte sich diese Freundschaft noch vertieft, als Entschuldigung für alles, was passiert war, durch das sie hindurchmusste. Es hätte besser in einen schlechten Kriminalfilm gepasst, eine alkoholisierte, erfolglose Ermittlerin eben. In der Kriminalliteratur hatten Ermittler oder Ermittlerinnen nie oder fast nie Familie und jedenfalls keine Kinder. Kinder waren armselige, gebrechliche Wesen, die viel zu viel Schutz brauchten. Aber vielleicht war es dumm gewesen, dieses Cold-Case-Angebot abzulehnen? Was, wenn sie ihre Zulassung als Ermittlerin verlor?

*

Draußen im Kellergang stand ein Mann. Das konnte ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sein. Er war klein und schmächtig. Er trug auch so einen Lederdress, aber keinen Helm. Er war um die fünfzig, dunkel, mit schütteren Haaren, er hatte hohe Geheimratsecken und ein spitzes Gesicht mit engsitzenden Augen und dunklen Wimpern.

»Was wollt ihr von mir?« Andreas erkannte seine eigene Stimme nicht. »Wo ist der andere?«

Der Mann gab keine Antwort, sondern hob nur die Hand und zielte mit einer Pistole auf ihn. War die echt? Sie sah echt aus. Der Mann erinnerte ihn an Hannibal Lecter aus Das Schweigen der Lämmer. Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Die Haut um seine Nase wirkte starr. Wütend, dachte Andreas.

Der Mann trat einen Schritt vor und hielt plötzlich eine Spraydose in der anderen Hand. Er verzog den Mund zu einer Art Grimasse, und Andreas sah eine Reihe kleiner Zähne. Er drückte auf die Spraydose. Andreas schlug sich automatisch die Hände vor den Mund. Das Mittel roch chemisch. Ein trockenes Schluchzen kam aus seinem Mund, dann wurde ihm schlecht und schwindlig. Er wusste sofort, was es war. Er hatte das Gefühl zu fallen; es war Gas, wie es in Spanien benutzt wurde, es wurde in Ferienhäuser und Wohnmobile am Straßenrand gesprüht. Ein schriller Pfeifton füllte sein Gehirn, und für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Aber er konnte sich aufrecht halten.

Der Motorradfahrer schob die Dose wieder in die Tasche seines Lederanzugs. Seine Waffe legte er auf den Boden. Dann zog er aus der anderen Tasche eine Rolle Klebeband. Andreas war willenlos. Er schwankte. Der Mann zog ihm die Hände auf den Rücken und fesselte sie mit Klebeband. Danach wickelte er ihm Klebeband um den Mund und um die untere Hälfte des Gesichts, es riss an den Haarwurzeln. Er hob die Pistole auf. »Los!«, sagte er und zeigte ins Innere des Kellergangs.

Dort stand eine Tür offen. Frische Luft fegte durch den Keller. Eine steile Treppe führte in den Hinterhof auf der anderen Seite des Zaunes. Andreas stolperte und knallte gegen eine Treppenstufe. Sein Hals traf die Kante, sein Adamsapfel. Für einen Moment sah er nichts mehr, und er spürte das Blut, das durch seinen Rachen lief.

*

Das Badezimmer war frisch renoviert, die Mosaikfliesen waren braun und beige. Durch das kleine Fenster schaute sie auf den dicken Dachbalken mit dem Schnitzwerk, das an Spitzen erinnerte. Das Licht aus dem Haus betonte die Maserungen im Holz.

Marian putzte sich die Zähne, spülte mit einem Schluck Gin aus der Flasche im Badezimmerschrank zwei schmerzstillende Tabletten hinunter, dann zog sie sich aus. Die Arme zu heben und sich den Pullover über den Kopf zu streifen, das tat noch immer weh. Die Brandwunde spannte und schmerzte. Offenbar würde das von Dauer sein. Marian wurde langsam zu einem bedauernswerten Wesen, das in die Frührente glitt. Sie warf mit wütenden Handbewegungen zwei Kleidungsstücke in die Waschmaschine, schaltete die Maschine aber nicht ein. Wenn die Rettung darin lag, an irgendeinem verdammten ungeklärten Fall herumzupusseln, dann sollte sie das vielleicht tun. Wenn Kopfschmerzen und die anderen Plagen zu stark würden, müsste sie eben Tabletten einwerfen.

Marian klopfte sich auf den Oberschenkel und trug Birka die Leiter ins Turmzimmer hoch. Dort gab es einen niedrigen, länglichen Schrank, sozusagen eingebaut in den Zwischenraum zwischen dem Boden und dem Schrägdach, wo der Turm begann. Marian bewahrte in diesem Schrank Kleider und einige Kartons mit gemustertem Deckel auf. Und den alten Kopierer, den sie von einer Sekretärin beim Gewaltabschnitt bekommen hatte. Der Schrank war ursprünglich wohl eine Luke gewesen, die auf den Dachboden führte, aber jetzt war die Platte dahinter festgenagelt. Marian war die Vorstellung eigentlich unangenehm, dass es einen Zugang zu ihrem Schlafzimmer gab. Von außen.

Ihr Bett war anderthalb Meter breit. Sie half dem Boxer hinauf; viele fanden Tiere im Bett unappetitlich. Es kam natürlich vor, dass Birka etwas mitschleppte, Kieselsteine, Dreck und Sand oder Insekten, aber Marian nahm das nicht so genau. Birka wirkte beruhigend auf sie. Nachts wimmerte die Hündin oft, als habe sie Schmerzen. Sie träumte, und Marian musste das Tier mit einem Tritt wecken. Sie ertappte sich dabei, dass sie in Gedanken immer häufiger »es« und »das Tier« sagte. Time to say goodbye. Vorhin war dieses Stück auf P 4 gespielt worden, und Marian war das so unangenehm gewesen, dass ihr im Nacken der Schweiß ausgebrochen war.

6

Der erste Mann wartete hinter einem Abfallcontainer. Über seinem Kopf war das trübe Licht einer Hoflampe zu sehen. Der Kastenwagen stand mit geöffneten Hecktüren da, der Wagen, der vorhin vor dem Supermarkt gewartet hatte. Am Himmel funkelten Sterne. Und der Mond schien. Andreas drehte sich rasch um und schaute über den Zaun zu seinem eigenen Hof hinüber. Das Fenster, das eben noch offen gestanden hatte, war jetzt geschlossen. Die Männer stießen ihn an, und er kippte ins Auto. Er war hilflos, knallte mit der Nase auf den Boden. Schmerz jagte durch seine Stirn und in den Schädel. Sie packten seine Beine, bogen sie und schoben ihn vollständig ins Auto. Dann knallten sie die Türen zu. In Sekundenschnelle war alles vorbei. Er würde sterben.

*

Vielleicht lag ihr Dienstausweis in einem der Kartons auf dem Dachboden? Marian stand wieder auf, ging nach unten und zog sich an. Sie musste hinaus ins Treppenhaus gehen, dann eine Treppe zu der Tür mit dem Hängeschloss hochsteigen, um auf den Dachboden zu gelangen.

Sie brauchte einige Zeit, um das Hängeschloss zu öffnen, und die Angeln kreischten, als sie die Tür aufzog. Es roch nach Schimmel und Fäule, der Dunst schlug ihr entgegen, als sie den Dachboden betreten hatte. Sie schaltete die einsame Glühbirne ein, die ein trübes Licht über das graue Holz warf, ließ die Tür hinter sich offen stehen und kroch weiter. Sie musste kriechen, so niedrig war das Dach an den Seiten. Nur mitten auf dem verstaubten Dachboden konnte sie aufrecht stehen, aber die Kartons standen ganz am Rand, dort, wo sich Dach und Boden begegneten.

Am Giebelrand klafften große Risse in der Dachkonstruktion, und von dort kam ein kalter Luftzug. Der grobe Boden rieb ihre Handflächen auf und war so schmutzig, dass man hier eigentlich gar nichts lagern konnte. Ganz hinten gab es ein altes Nest, das Schwalben aus Lehm und Stroh gebaut hatten. Das Nest war jetzt leer.

Der Künstler hatte auf seiner Seite einige Kisten voll Mörtel und Kitt stehen. Sie hatte ihn gegoogelt. Er machte Skulpturen. Einige ziemlich große und viele kleine. Die meisten von Menschen. Marian hatte hier oben drei Pappkartons mit alten Kleidern und einen mit Papieren. Sie schob eine Rolle Isoliermaterial zur Seite und konnte den Deckel von dem Karton mit den Papieren nehmen, dann setzte sie sich und suchte, fand aber ihren Ausweis nicht. Er hatte eine Schnur und wäre deshalb leicht zu sehen. Er war nicht hier. Aber er war zudem ungültig und musste erneuert werden.

Sie legte den Deckel wieder auf den Karton und kroch zurück. Mitten auf dem Boden lagen einige Häufchen von abgenagten Spänen. Überall lagen durchsichtige Flügel toter Ameisen. Sie wurden in Kreisen hin und her geweht, wenn der Wind durch die Spalten drang.

*

Wenn er den Kopf hob, sah er lange Lichtstreifen von Autos und Schaufenstern vorübergleiten. Plötzlich fegte ein Lichtstrahl von Scheinwerfern durch die Rückfenster. Andreas konnte jetzt ahnen, was hinter dem Wagen war, ein verzerrtes, vergrößertes Bild: der Vollhelm des dicklichen Mannes, der sich mit seinem Motorrad dicht an das Auto hielt.

Im Auto roch es nach etwas, wie nach fauligem Fleisch. Ihm wurde noch schlechter, aber wenn er sich erbrach, würde er daran ersticken. Das Blut lief noch immer durch seinen Rachen. Ehe er in den Laden gegangen war, hatte er auf Facebook ein selbstgemaltes Fischbild im Comicstil von sich selbst ausgelegt, mit offenem Mund, und er hatte ein großes Micky-Maus-Bild geliked, das von zwei Straßentaggern stammte. Andreas versuchte zu begreifen, durch welche Straße sie fuhren. Es war ein Lieferwagen mit nur zwei Sitzen und einer Drahtabsperrung zwischen Sitzen und Ladefläche. Bei jeder Kurve schmerzte sein Kopf. Seine Eltern – was würden sie denken? Wann würden sie ihn vermisst melden? Er musste am nächsten Morgen um acht im Sportgeschäft sein. Dort würden sie ihn an den ersten Tagen nicht vermissen, sie würden ihn einfach für einen unzuverlässigen Penner halten, der die Arbeit nicht ernst nahm.

Der Wagen hielt an. Eine Straßenbahn schepperte vorüber. Der Mann drehte sich um. »Jetzt lege ich ein bisschen Musik für uns ein.« Die Stimme hatte einen unnatürlichen metallischen Klang, wie bei einer Puppe. Er machte sich an einer CD zu schaffen, schob sie in den Player. Dramatische Musik war zu hören. »Vivaldi. Von diesem Komponisten hast du wohl noch nie gehört«, sagte er herablassend.

Die Musik war unendlich widerlich. Mit Hilfe der Zunge konnte Andreas das Klebeband teilweise von seinem Mund schieben, jetzt hing es an seiner Unterlippe. Ein heftiges Schluchzen kam aus seinem Mund, wie bei einem Säugling, der sich ausgeweint hat.

»Weißt du, was ich an dieser Musik wirklich liebe?« Der Mann erwartete natürlich keine Antwort. »Dass sie in der Zeit zurückreicht, aber nicht in alte Tage. Sie begleitet nur alles, was es in der Gegenwart gegeben hat.«

*

Sie hatte sich nach dem Besuch auf dem Dachboden die Hände geschrubbt. Ihre Hose hatte sie in den Korb für die schmutzige Wäsche gelegt, und jetzt saß sie im Nachthemd im Bett und schaute zum Turmdach mit den kleinen Fenstern hoch. Die Dachkonstruktion war wirklich raffiniert. Das Holz konnte achthundert Jahre halten, es war ein ökologisches und nachwachsendes Material. Hygroskopisch, wie bei den Stabkirchen. Von hier aus konnte sie in alle Himmelsrichtungen blicken, als sei ihr Bett ein Boot auf dem Ozean. Wenn das Mondlicht hereinfiel, so wie jetzt, zeichneten die Fenstersprossen ein Gittermuster über die Bettdecke und weiter auf den Boden. Die Sterne waren darüber verstreut, wie Fingerabdrücke. Sie dachte an das seltsame Phänomen, dass die Sterne am Himmel eigentlich tot waren. Dass sie schon vor langer Zeit erloschen waren. Und sie bekam ein Gefühl von Déjà-vu, fragmentarisch und kalt. Ein Kind war mitten in der Stadt aus einem Schrebergarten verschwunden, vor fünfzehn Jahren. Was, wenn dieses Kind noch am Leben war? Auf dem Nachttisch lag ein Stapel Bücher. Marian schaute auf die Uhr. Es war kurz nach halb zwölf. Sie schickte Cato eine SMS. Ich bin bereit für den Job.

*