1

Molli steht mit geschlossenen Augen im Bad. Sie beugt sich über das Waschbecken und verzieht den Mund zu einem breiten Grinsen, damit die Zahnbürste überall hinkommt. Dann öffnet sie das eine Auge einen Schlitz breit und betrachtet sich im Spiegel. Ein blasses Gesicht mit einer Lücke zwischen den vorderen Schneidezähnen und rosa Flaumhaaren, die ursprünglich blond gewesen sind. Der Rosaton ist das ungewollte Resultat eines Experimentes, das nicht ganz nach Plan verlaufen ist. Um es auf den Punkt zu bringen: Bisher ist es noch niemandem gelungen, ein Shampoo zu erfinden, das die Haare einen Monat lang sauber hält – aber Molli hat es wenigstens versucht.

 

Molli ist zehn Jahre alt und mag nicht bei geschlossener Zimmertür schlafen oder im Schwung von der Schaukel springen. Dafür kann sie einen Handmixer zu einer Zahnbürste umbauen. So einen kleinen Handmixer mit zwei Schneebesen, Kurbel und Zahnrad. Sie hat einfach die Schneebesen durch zwei Zahnbürsten ersetzt, deren Bürsten nun wie kleine Propeller rotieren und die Zähne gleichzeitig vorne und hinten putzen. Das Ergebnis beeindruckt selbst den Schulzahnarzt schwer.

Molli spuckt den Schaum ins Becken und legt den Zahnbürstenquirl beiseite. Dann geht sie aus dem Bad auf den Flur. Vorbei an Mamas Tür, an der ein kleines blaues Keramikschild hängt, auf dem Elisabeth steht. Vorbei an der Zimmertür ihres kleinen Bruders, an der drei hellgraue, gepolsterte Buchstaben kleben: I-A-N. Vorbei an ihrer eigenen Tür. Mollis Name ist so lang, dass er sich über die ganze Türbreite, weiter über den Türrahmen und bis auf die Tapete schlängelt. Er ist in bunten Büroklammern geschrieben: Mette Oda Lise Louise Inger Haalsen. Das ist ihr richtiger Name, den aber kaum jemand kennt. Alle nennen sie einfach nur Molli.

 

Als Molli die Treppe runtergeht, kommt Mama ihr entgegen. Sie hat Molli den ellenlangen Namen verpasst. Molli ist nach fünf Frauen benannt, die alle irgendeine wichtige Rolle in der norwegischen Geschichte gespielt haben.

Jetzt kommt sie Molli also mit Ian auf dem Arm und offenem rotem Bademantel auf der Treppe entgegengelaufen.

»Guten Morgen!«, sagt sie, als sie auf den Saum des flatternden Bademantels tritt, gefolgt von einem ausgedehnten »Aaaaaahhhh!«. Zum Glück kann sie sich in letzter Sekunde am Geländer festhalten.

Molli sieht ihre Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Nichts passiert«, sagt Mama und legt Molli ihren Bruder in den Arm, um den Bademantelgürtel ordentlich vor dem runden Bauch zu verknoten. »Man kann nicht alles unter Kontrolle haben.«

Ian ist gerade mal fünf Monate alt. Also ist er in gewisser Weise noch kein vollständiger Mensch, sondern eher ein Etwas. Ein kleines Dingsbums, das isst, plärrt und in die Windeln kackt. Molli liebt ihn trotzdem abgöttisch. Bestimmt wird er später mal Erfinder. Natürlich wird er nicht erfinderischer sein als Molli, aber erfinderisch genug, um zusammen mit ihr das Erfinder-Traumteam Haalsen & Haalsen zu gründen und Preise in Deutschland und China zu gewinnen. Gerne auch in allen anderen Ländern, die Erfinder-Preise vergeben. Aber bis dahin wird es wohl noch eine Weile dauern. Im Moment ist er, wie gesagt, so ein Dingsbums, das isst, plärrt und in die Windeln kackt.

»Ich kann ihn wickeln«, bietet Molli an und macht auf der Stufe kehrt, um zurück nach oben zu gehen.

»Nein, nein«, sagt Mama und übernimmt Ian wieder. »Du hast mir in letzter Zeit schon so viel geholfen.« Sie wuschelt Molli durchs Flaumhaar, das dadurch ganz elektrisch wird. »Lass du dir jetzt erst mal das Frühstück schmecken«, sagt sie und ist mit wenigen Schritten oben.

Molli bleibt mitten auf der Treppe stehen und schaut runter in den Flur. Sie hört das Klirren von Gläsern und Tassen und ein leises Summen.

 

Einar ist Ians Papa. Er ist kurz nach Silvester bei ihnen eingezogen. Molli weiß nicht sehr viel über ihn, nur, dass er dauernd rot wird, gegen alles Mögliche allergisch ist und großen Wert auf Ordnung legt. Und wenn er Ian auf dem Arm hat und ihn in die Luft hebt, sagt er jedes Mal: »Papa? Wo ist dein Papa?!«

Dann findet Molli ihn so grottenpeinlich, dass sie den Raum verlassen muss.

Einar hat Molli angeboten, dass sie ihn auch Papa nennen darf, aber das will Molli nicht. Schließlich hat sie einen eigenen Papa. Der heißt Borge, doch er hat nie mit Molli und Mama zusammengewohnt.

 

Okay, denkt Molli. Wenn Ian lacht, ehe ich bis fünf gezählt habe, muss ich nicht in die Küche runter. Eins. Zwei. Drei. Molli reckt den Hals, kann aber nur das laufende Wasser und Mamas leise Stimme hören. Vier. Viereinhalb. Vierdreiviertel. Molli schaut ins obere Stockwerk. Fünf. Kein Lachen. Sie seufzt, geht mit schweren Schritten die Treppe nach unten und durch den Flur in die Küche.

 

»Hallihallo, Molli, magst du einen Bolli?« Einar steht am Küchentisch und winkt mit dem Brötchenkorb.

Am liebsten würde Molli auf der Stelle umdrehen, aber sie muss etwas essen, also schüttelt sie kaum sichtbar den Kopf und setzt sich.

Einar lächelt.

Total übertrieben, findet Molli, sein großer Mund passt kaum zwischen Nase und Kinn. Und seine Brille ist wie üblich von Fettflecken übersät. Außerdem riecht er nach einem merkwürdigen Mix aus Mückenspray und Kaffee – aber nicht wie der leckere Duft aus der Kaffeedose, sondern wie die Kaffeereste in den Bechern, die einen Tag lang in der Spüle gestanden haben.

Einar schneidet eine Grimasse, die er wahrscheinlich für komisch hält, und streckt den Brötchenkorb so weit über den Tisch, dass Molli sich zurücklehnen muss, um ihn nicht ins Gesicht zu bekommen.

»Kein Bolli für den Mollitroll?«

Molli schüttelt wieder den Kopf und nimmt sich eine Scheibe Brot.

»Wunderbar, dann bleibt mehr für mich«, sagt Einar und lacht sein unglaublich dämliches Lachen, das aus zwei kurzen Glucksern besteht. Es ist viel zu hoch. Wie ein Frauenlachen. Jetzt könnte Mama ruhig langsam wiederkommen, denkt Molli mit einem Blick zur Küchentür.

»Endlich Wochenende! Was hast du heute vor?«, fragt Einar.

Molli zuckt mit den Schultern und zieht den Teller mit Butterkäse zu sich rüber. Sie hobelt in Windeseile ein paar Scheiben ab.

»Hm? Du bist heute eine freie Frau!« Einar spielt einen Trommelwirbel auf der Tischplatte.

Molli hasst es, wenn er sie als Frau bezeichnet. Sie ist zehn Jahre alt. Ein Mädchen. Am liebsten würde sie die Augen verdrehen, ihn anschielen oder irgendetwas anderes tun, damit er den Mund hält. Wenn sie sich doch nur trauen würde, ihre Scheibe Brot zu nehmen und einfach zu verschwinden, aber sie bleibt sitzen. Und dann hört sie endlich die Badtür aufgehen und Mama mit gewohnt festen Schritten die Treppe runter, über den Flur und mit Ian auf dem Arm in die Küche spazieren kommen. Sie umrundet den Tisch und gibt Einar einen Kuss, woraufhin wieder sein dämliches Frauenlachen ertönt.

»Wo ist dein Papa?«, fragt er Ian breit grinsend.

Mollis Brustkorb füllt sich mit dichtem Eisnebel, der die Lungen zusammendrückt, sodass sie keine Luft mehr kriegt. »Ich geh raus«, sagt sie und flitzt auf den Flur.

»Viel Spaß!«, ruft Mama ihr hinterher.

Molli steigt in ihre Gummistiefel und schnappt sich den roten Anorak und den grauen Rucksack vom Schuhregal im Flur. Auf der Innenseite der Deckelklappe steht mit schwarzen Buchstaben Gefreiter Borge. Der Rucksack stammt aus der Zeit, als Borge-Papa seinen Militärdienst gemacht hat. Molli fährt mit dem Finger über den Namen, schnürt den Rucksack zu und läuft nach draußen.

2

Molli zieht den Anorak an und schwingt sich den Rucksack über die Schultern. Dann atmet sie so viel kühle Frühlingsluft ein, bis die Lungen fast platzen. Das hilft. Der Eisnebel in ihrem Brustkorb verzieht sich.

Auf dem Vorplatz wohnen der Mops Micro und der Bernhardiner Macro. Die beiden liegen in den Eingängen ihrer Hundehütten, ihre Köpfe ruhen schwer auf den Türschwellen. Molli krault sie hinter den Ohren, woraufhin Macro ihr mit seiner feuchten Schlabberzunge über den Arm leckt.

Sie schlendert über das Grundstück und die lang gestreckte Auffahrt bis zur asphaltierten Straße, wo sie über den Zaun klettert. Sie schaut erst ein Mal nach links und nach rechts – und dann gleich ein zweites Mal nach links und nach rechts. Anschließend schaut sie noch ein Mal nur nach links, ehe sie zu dem weißen Lattenzaun auf der anderen Straßenseite joggt und »HARABALL!« ruft.

Das Fenster im fünften Stock des hohen Blockhauses fliegt auf, und Gro kommt zum Vorschein. »HARABALL!«, ruft sie zurück.

Gro Gran ist elf Jahre alt und geht in die Klasse über Molli. Sie kann bei geschlossener Tür in stockdunklen Zimmern schlafen und von Schaukeln springen, die so hoch schwingen, dass sie kurz vorm Looping sind. Gro hasst gewöhnliche Tage und Herumgeflenne. Sie hat in ihrem ganzen Leben noch kein einziges Mal geweint. Außer bei ihrer Geburt. Aber da weinen schließlich alle. Sie hat helle Haut, blaue Augen und das breiteste Grinsen der Welt. Im Sommer trägt sie Grau, Grün und Braun und im Winter Weiß. Tarnfarben.

»Man weiß nie, wann man sich verstecken muss«, sagt Gro immer. Und sie sagt: »Man weiß nie, wann man sich als Junge ausgeben muss.«

Darum sind ihre Haare kurz. Gro Gran ist »allzeit bereit«. Sie war fünf Jahre bei den Pfadfindern, ihr halbes Leben.

 

»Haraball!« ist das Begrüßungsritual der beiden besten Freundinnen, und sie rufen es so laut, dass es von den Berghängen rund um den Ort widerhallt. Doch das stört niemanden, weil sich inzwischen alle daran gewöhnt haben.

Angefangen hat es mit irgendeinem blöden Witz, über den die beiden sich scheckig gelacht haben. Sie haben sich auf dem Boden gerollt, sich vor Lachen die Bäuche gehalten und so weit die Münder aufgerissen, dass Molli Gros Zäpfchen sehen konnte und umgekehrt. An den Witz können sie sich längst nicht mehr erinnern, aber das Begrüßungsritual ist geblieben.

»Warte!«, ruft Gro, und Molli hört sie die alte, knarrende Treppe runterlaufen, durch die Küche mit dem losen Bodenbrett poltern und die Flurtür mit der Ladenglocke öffnen. Und dann ist sie auch schon draußen bei Molli.

»TSCHÜHÜS!«, ruft Gro über die Schulter in den Flur, ehe sie die Haustür zuknallt und sich schielend und mit aus dem Mund hängender Zunge zu ihrer Freundin umdreht.

Molli muss lachen.

»Heute ist ein ganz gewöhnlicher Tag«, sagt Gro und schüttelt ihre Grimasse ab.

»Echt?«, fragt Molli.

Gro nickt, spuckt über den Lattenzaun ins Blumenbeet und kämmt sich mit den Fingern durch das kurze Haar.

Ein paar Kinder aus der Schule nennen Gro Bro, wie die englische Abkürzung für Bruder, weil sie finden, dass sie wie ein Junge aussieht. Aber dafür hat Gro nur einen müden Blick übrig. Sie zieht die Augenbraue hoch, schaut ihre Mitschüler an und sagt keinen Ton. Gro starrt die Kinder so lange an, bis sie keinen Mucks mehr sagen und sie in Ruhe lassen.

Molli kann es gar nicht leiden, dass die anderen Gro Bro nennen, doch sie liebt es, Gro in Aktion zu erleben. Ihre Freundin ist furchtlos, und Molli würde alles dafür geben, ein bisschen mehr zu sein wie Gro.

»Ich habe heute Nacht mit dem Kabel im Mund geschlafen«, sagt Gro.

Molli kann es kaum glauben und legt beide Hände an Gros Wangen. Sie drückt die Hände so zusammen, dass Gro wie ein Fisch aussieht, mit gespitzten Lippen und runden Augen. »Hast du echt mit dem Kabel im Mund geschlafen?«, fragt sie ehrfurchtsvoll.

Gro träumt die verrücktesten Sachen, und Molli würde zu gerne Gros Träume sehen. Darum hat sie einen Traumfänger erfunden. Dazu haben sie einen ausrangierten DVD-Rekorder vom Dachboden in Gros Zimmer getragen. Vor dem Einschlafen stellt Gro das Gerät auf Aufnahme und steckt den Stecker des Kabels in den Mund.

»Und? Hat es diesmal geklappt? Hast du was aufgenommen? Hast du es dir schon angeschaut? Was hast du gesehen?« Mollis Hände kleben an Gros Wangen.

»Önnön ön«, sagt Gro.

»Hä?«

»Önnön ön!?«

»Sprich deutlich, ich versteh kein Wort, Gro.«

»ÖNNÖN ÖN …« Gro schlägt Mollis Hände beiseite und zeigt verzweifelt auf ihren Mund.

»Ach so.« Molli kichert. »Aber jetzt sag schon, wie ist es gelaufen?«

»Nichts … Ich habe es mir gleich nach dem Aufwachen angeschaut, aber es gibt weder Bilder noch Ton, nur so ein Rauschen.«

»Mist«, sagt Molli mit einem unzufriedenen Seufzer.

»So ist das Leben, Molli.« Gro klopft ihrer Freundin auf die Schulter. »Komm, wir müssen uns jetzt dringend was ausdenken, sonst krieg ich auf der Stelle die Gewöhnliche-Tage-Superkrise.« Sie hüpft auf und ab und sieht sich im Garten suchend nach einer Beschäftigung um, die sie vorm Tod durch Langeweile bewahren kann. Plötzlich hält sie inne, und ihr Mund verzieht sich zu einem Lächeln. »Papa hat gestern unsere Räder rausgeholt!«

 

Zu Hause bei Gro hat es schon immer zwei Fahrräder gegeben. Eins für Gro und eins für Molli. Wahrscheinlich ist Gro das einzige Mädchen auf der Welt, das eine beste Freundin ohne eigenes Rad hat.

Sie laufen zu dem Schuppen hinterm Haus, und da liegen sie: ein grünes und ein oranges Rad. Frisch geputzt und geölt, endlich aus dem Winterschlaf erwacht. Gro nimmt wie gewöhnlich das grüne, Molli das orange Fahrrad.

Molli greift nach dem Helm, der am Lenker baumelt, und setzt ihn auf, dabei zieht sie die Riemen so fest wie möglich. Um zu testen, ob der Helm auch wirklich bombensicher sitzt, schüttelt sie wild den Kopf.

»Ich finde es echt super, dass du einen Helm benutzt, Molli, aber du weißt schon, dass man an Sauerstoffmangel sterben kann?«, sagt Gro und lacht. Sie schiebt ihr Fahrrad auf die Straße.

Molli kriegt einen roten Kopf, lockert den Riemen unter dem Kinn und folgt Gro.

»Wo fahren wir hin?«, fragt Gro.

»Auf den Berg?«, schlägt Molli vor.

»Der Berg ist langweilig.«

»Zum Schrottplatz?« Molli schwingt das rechte Bein über den Rahmen und stellt den Fuß auf die Pedale.

»Da sind wir jeden zweiten Tag«, sagt Gro. »Warum fahren wir nicht bei dir vorbei?«

»Bei mir vorbei?«, fragt Molli. »Und dann?«

Gros Augen werden schmal. »In den Birkenwald.«

Molli schaut den Weg hinauf, der sich an ihrem Haus vorbeischlängelt und in einer Kurve hinter dem Grundstück verschwindet. Sie kickt ein paar Steinchen beiseite. Gro als beste Freundin zu haben ist meistens genial, aber manchmal auch ganz schön nervenaufreibend. Molli findet den Birkenwald unheimlich, außerdem hat ihre Mutter gesagt, dass sie sich nicht weiter als drei Kilometer von zu Hause entfernen darf. Sie hat Molli sogar extra einen Kilometerzähler geschenkt, der jeden Meter berechnet, den Molli zurücklegt. Wenn sie überhaupt daran denkt, ihn anzuschalten.

»Sei kein Frosch, wird schon klappen.« Gro nickt und grinst breit.

»Okay, aber nicht weiter als drei Kilometer«, sagt Molli.

Gro schüttelt den Kopf und grinst noch breiter.

Molli gräbt den Kilometerzähler aus dem Rucksack, drückt auf Start und befestigt ihn am Lenker. Dann sausen sie los, dass die Steinchen nur so unter den Hinterreifen wegspritzen.

3

Je weiter sie fahren, desto feuchter werden Mollis Hände. Der Weg, der sich an Mollis Haus vorbei den Berg hochschlängelt, führt nämlich nicht nur zum Birkenwald. Vorher führt er noch am Hof von Ziegen-Theo vorbei, das ist der Bauer mit den zwanzig weißen Ziegen. Sie sind nicht allzu oft im Birkenwald, denn Ziegen-Theo gehört das ganze Land rund um seinen Hof, und er hält nichts von ungebetenen Gästen. Er hat Gro und Molli schon oft verjagt. Mit einer Heugabel.

Das letzte Mal hat er sie mitten auf der Wiese entdeckt und den Weihnachtsbock auf sie gehetzt. Der Bock heißt so, weil Ziegen-Theo ihn von seiner Mutter zu Weihnachten bekommen hat. Das steinalte, störrische Viech hätte schon längst geschlachtet werden sollen, aber leider ist das nie passiert. Nach einer wilden Verfolgungsjagd konnten Gro und Molli sich in letzter Sekunde auf einen Baum retten, doch Molli hatte solche Todesangst, dass sie dachte, ihr Herz würde aus ihrem Brustkorb springen. Und trotzdem will Gro wieder in den Birkenwald. Dummerweise liegt Theos Hof zwischen einem steilen Felshang und einem breiten Fluss, und der einzige Weg in den Birkenwald führt über Ziegen-Theos Grundstück.

Molli wäre natürlich gerne genauso furchtlos wie Gro, aber als sie auf die Anhöhe fahren und Molli die grüne Scheune sieht, krümmen sich ihre Zehen in den Turnschuhen von ganz alleine.

»Halt!« Molli bremst so scharf, dass der Hinterreifen abhebt.

Gro schreit erschrocken auf, als sie vom Weg abkommt und mitsamt ihrem Rad einen Salto macht. Das hintere Rad dreht sich noch, als sie sich wieder aufrappelt. Sie wirft Molli einen empörten Blick zu.

Molli zeigt auf ihr oranges Rad, den roten Anorak und das rosa Haar, das unter dem orangen Helm rausragt. »Ich bin die leichteste Beute, die man sich denken kann. So entdeckt Ziegen-Theo mich doch aus meilenweiter Entfernung.«

»Wie spät ist es?«, fragt Gro, als hätte sie gar nicht zugehört.

Molli legt die Stirn in Falten und sieht Gro fragend an, während sie den Arm mit ihrer Armbanduhr hebt. »Es ist halb zw…«

»Halb zwölf. Perfekt! Dann ist Ziegen-Theo gerade mit der Herde unterwegs.«

Für ungebetene Gäste auf seinem Grund und Boden hat Ziegen-Theo nichts übrig, für seine Tiere dafür umso mehr. Er geht jeden Tag fast vier Stunden mit seinen zwanzig Ziegen spazieren. Jede Ziege hat eine eigene Leine, und sie marschieren von Montag bis Sonntag immer wieder die gleiche Strecke den Berg hoch.

Gro befiehlt Molli, ihren Anorak, den Helm und das Rad unter einem Busch am Waldrand zu verstecken, während sie selber zwischen den Bäumen verschwindet und dort einen Armvoll Tannenzweige abbricht.

»Tarnung war noch nie deine Stärke«, sagt Gro und steckt Molli Tannenzweige unter den Hosenbund. Als sie fertig ist, macht sie zwei Schritte nach hinten und betrachtet ihr Werk.

»Und? Wie sehe ich aus?«

»Ein bisschen wie ein auf dem Kopf stehender Weihnachtsbaum.« Gro grinst.

Molli mustert die in alle Himmelsrichtungen abstehenden Zweige skeptisch.

»Das ist super!«, betont Gro. »Du sollst wie ein Weihnachtsbaum aussehen. Außerdem haben wir für mehr Tarnung keine Zeit, sonst kommt Ziegen-Theo wieder nach Hause.«

Molli schnappt sich ihren Kilometerzähler und steckt ihn in die Tasche, ehe sie hinter Gro herstolpert.

Sie ducken sich hinter Gros Fahrrad, dessen Rahmen sie ebenfalls mit ein paar Tannenzweigen getarnt haben, und laufen vornübergebeugt am Feldrand entlang. Sie halten das Tempo, bis sie die Ecke der grün gestrichenen Scheune erreichen. Dort schleichen sie langsam an der Wand entlang bis zur nächsten Ecke. Es ist der letzte Haltepunkt vor dem Hofplatz, wo sie von allen Seiten aus gesehen werden können.

»Aber«, sagt Gro beruhigend, »es ist halb zwölf, und da sind Ziegen-Theo und seine Herde normalerweise unterwegs.« Gro reckt den Hals und lugt um die Scheunenecke zum Wohnhaus. Sie spitzt die Ohren und schnuppert in der Luft, bevor sie sich mit einem Lächeln umdreht. »Die Luft ist rein.«

Sie rennen über den Hofplatz auf den schmalen Trampelpfad zu, der im Birkenwald verschwindet. Gro nickt Molli zufrieden zu, aber als sie an der Treppe vorbeilaufen, die zum Heuboden hochführt, hören sie plötzlich ein Schnaufen. Der Weihnachtsbock!

Molli stößt einen Schrei aus. Das Monster ist viel größer, als sie es in Erinnerung hatte, und es sieht auch noch irrer aus, wenn das überhaupt möglich ist. Es gibt kein Versteck weit und breit, und Molli kriegt Panik.

Gro hingegen ist die Ruhe selbst. »Schau auf den Boden«, flüstert sie.

Molli schüttelt verständnislos den Kopf.

»Siehst du, was da hinter dem Weihnachtsbock ist?«, zischt Gro.

In der Hauswand ist ein Bolzen mit einer Kette befestigt, deren anderes Ende mit einem Lederband verbunden ist – und das trägt der Weihnachtsbock um den Hals. Wie ein Wachhund. Molli kann nicht erkennen, wie lang die Kette ist. Wer garantiert ihr, dass der Bock sie nicht doch erwischt?

Molli würde am liebsten umdrehen, aber ehe sie den Vorschlag machen kann, geht Gro schon weiter. Sie schiebt das Rad wie einen Schutzschild vor sich. Alleine will Molli auf keinen Fall zurückbleiben, also läuft sie hinter Gro her.

Der Weihnachtsbock schnauft und legt die Ohren nach hinten. Jetzt sind nur noch wenige Meter zwischen ihnen.

»Mä-ä-äh«, sagt Gro so ziegenhaft wie möglich.

Da brennt bei dem Bock eine Sicherung durch. Er stößt ein heiseres Blöken aus und wirft sich nach vorne.

Gro springt auf ihr Rad und schreit laut: »Rette sich, wer kann!«

Molli springt ihr blindlings hinterher und landet mit dem Po hart auf dem Gepäckträger.

Der Bock rast direkt auf sie zu.

»Hilfe!«, schreit Molli.

Aber als sie schon mit dem Aufprall rechnet, ist nur ein lautes Klirren der Kette und das jäh abgewürgte Blöken des Weihnachtsbockes zu hören.

Molli dreht sich um und sieht den Bock verwirrt mit straffer Kette auf dem Hofplatz stehen.

Gro stößt einen Jubelschrei aus, gemischt mit schadenfrohem Gelächter. Sie tritt so fest in die Pedalen, wie es nur geht.

Vor ihnen liegt der Birkenwald. Molli ist zu nichts anderem mehr fähig, als die Arme um Gros Taille zu schlingen.

4

Mit Molli auf dem Gepäckträger und Gro auf den Pedalen eiert das Rad über den kurvigen Schotterweg. Es ist Ende Mai, und seit einigen Wochen wechseln sich Sonne und Regen dauernd ab. Die Birken haben ganz kleine, saftig grüne Mäuseohren an den Zweigen bekommen. Und ein paar vorwitzige Sonnenstrahlen, die sich durch das Ästegewirr bohren, kitzeln Molli im Gesicht und verscheuchen den letzten Rest ihrer Angst vorm Weihnachtsbock.

Molli und Gro waren schon oft im Birkenwald, aber weil er so riesig ist, ist er trotzdem noch zu großen Teilen unerforscht.

Einmal haben sie einen alten Traktor gefunden, in dem eine Hasenmutter mit vier Jungen ihr Nest gebaut hatte. Und am Ende des Waldweges liegt der kreisrunde, bodenlos tiefe Waldsee, in dem zu baden Mollis Mutter ihnen streng verboten hat.

Molli glaubt nicht wirklich, dass der See bodenlos tief ist, weil das ja hieße, dass er bis zum Mittelpunkt der Erde reicht – ach was, durch die ganze Erde hindurch und bis auf die andere Seite. Und das geht nicht, denn dann gäbe es keinen Waldsee, und das Wasser würde frei ins Universum fließen.

Molli und Gro haben natürlich versucht herauszufinden, wie tief genau der See ist. Dafür haben sie eine Zwirnspindel über einen Stock geschoben und einen Stein an das Fadenende geknotet, den sie ins Wasser geworfen haben. Die Spindel ist um den Stock geschnurrt, bis der Zwirnsfaden ganz aufgerollt war, ohne dass der Stein den Boden erreicht hat. Ganz schön spannend.

Molli lächelt und denkt, dass Gro recht hat – der Birkenwald ist ein guter Ort für einen Samstagsausflug.

»Hast du gestern was mit deinem Vater unternommen?«, fragt Gro plötzlich.

»Einar ist nicht mein Vater, Gro!«, sagt Molli gereizt und schlägt Gro mit der flachen Hand auf den Rücken.

»Aua! Ich meine doch gar nicht Einar, sondern Borge-Papa. Ich hab mehrmals versucht, dich anzurufen, aber du bist nicht ans Telefon gegangen.«

Molli und Borge-Papa sind verrückt!