Die Festung der Einsamkeit

Roman

Jonathan Lethem

Übersetzt von Michael Zöllner

Impressum

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Tropen

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Fortress of Solitude«, im Verlag Doubleday, New York

© 2003 by Jonathan Lethem

Für die deutsche Ausgabe

© 2001, 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

Foto: © Cheryl Clegg / Arcangel

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50388-3

E-Book: ISBN 978-3-608-11079-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Mara Faye

Erster Teil

Underberg

Eins

Wie ein entzündetes Streichholz in einem dunklen Zimmer:

An einem Juliabend um sieben Uhr zogen zwei weiße Mädchen in Flanellnachthemden auf roten Kunststoffrollschuhen vorsichtig ihre Kreise auf dem geplatzten bläulichen Schiefer des Gehsteigs.

Die Mädchen murmelten Reime, waren gemurmelte Reime, ihr feines, himmelrosa Haar wehte, als wäre es niemals geschnitten worden. Unter der Bedingung, dass sie sich zuvor die Nachthemden anzögen und die Zähne putzten, hatten die Eltern den Mädchen erlaubt, nach dem Abendessen noch einmal auf die Straße zu gehen, noch einmal hinaus in die orangefarbene Dämmerung des wärmenden Sommerabends, in die Luft und das Licht, die über der Straße, über ganz Gowanus lagen wie eine Handfläche oder die Wölbung einer Muschel. Die Puerto Ricaner, die vor der Bodega an der Ecke auf Milchkästen hockten, brummten angesichts dieser Erscheinung, ein wenig unschlüssig, was sie da vor Augen hatten. Sie öffneten leicht die Münder, um einander das Weiß ihrer Zähne zu zeigen, ein Zeichen ihrer Geduld, ihrer wortlosen Ausdauer. Die Straße war übersät mit Kronkorken, die halb in den aufgeweichten Teer gedrückt waren: Yoo-Hoo, Rheingold, Manhattan Special.

Die Mädchen, Thea und Ana Solver, leuchteten wie eine neu entzündete Flamme.

Eine alte Frau, auch eine Weiße, war vor den Solvers hier im Viertel eingetroffen, um eines der verwahrlosten Häuser, ein ehemaliges Logierhaus, für sich zu beanspruchen, und sie hatte fünfzehn Mann allein durch sich selbst und ihre in Kartons verpackten Habseligkeiten ersetzt. Sie war gewissermaßen die Erste. Aber Isabel Vendle lag nur auf der Lauer wie ein Gerücht, wie eine Vorrede eingeschlossen in ihrem Brownstone, wo sie sich in diesem Moment an einem Stock vom Apartment im Untergeschoss zu ihrem Schlafzimmer im alten Salon des Erdgeschosses hinaufschleppte, zu dem Raum, in dem sie unter einer abbröckelnden, unrestaurierten Stuckdecke las und schlief. Isabel Vendle war nur noch ein Knöchel, ihr Körper wand sich um den Knorpel alter Verletzungen. Isabel Vendle erinnerte sich an einen Tag an Bord eines Postschiffs auf dem Lake George, sie kratzte Briefe mit einem in Tinte getauchten Füllfederhalter, drückte Briefmarken auf einen Schwamm in einem Schälchen. Die Schreibunterlage war aus Kork. Isabel Vendle hatte Geld, aber ihre Zimmer im Untergeschoss stanken nach Küchenabfällen, nach feuchten Zeitungen.

Die Mädchen auf Rollen waren das eigentlich Neue, vom Scheinwerferlicht angestrahlt, um die Vorstellung zu eröffnen: Die Weißen kehrten in die Dean Street zurück. Ein paar zumindest.

Mit fünf tötete Dylan Ebdus unter dem Ailanthusbaum im Hinterhof versehentlich ein Kätzchen. Die Mieter der Familie Ebdus im Untergeschoss hatten einen ganzen Wurf, fünf, sechs, sieben. Sie wanden sich dort am Boden, in dem senkrechten Käfig aus Backsteinmauern, zwischen Schotter und neu gepflanztem Efeu und den moschusartigen Ausströmungen des Ailanthus, unter dem Dylan allein spielte und forschte, während seine Mutter mit einer kleinen Harke Erde umgrub oder rauchend dasaß, derweil man das Pärchen von unten gemeinsam singen hörte, begleitet von einer mit Peacezeichen beklebten, ungestimmten Gitarre. Dylan tanzte mit den winzigen, scharfkralligen, insektenäugigen Katzen, jagte sie in den nacktschneckenbesetzten Backsteinhaufen, und am zweiten Tag zerquetschte er eine mit seinem beturnschuhten Fuß, als er armrudernd vor einer anderen zurückwich.

Die Mieter aus dem Untergeschoss nahmen das verletzte, aber noch lebende Kätzchen, während der weinende Dylan von seinen Eltern fortgedrängt wurde. Dylan begriff jedoch, dass das Kätzchen irgendwie ein gnadenvolles Ende fand, erstickt oder ertränkt wurde. Irgendwie. Er fragte nach, doch das Thema wurde ebenfalls erstickt. Die Erwachsenen zeigten nur im Augenblick der Entdeckung, was sie dachten, ließen Dylan ihren empfindlichen Ärger erahnen, bevor sie ihn unterdrückten. Dylan sei zu jung, um zu verstehen, was er getan habe; nur war er das nicht. Sie hofften, er würde vergessen; nur tat er das nicht. Später würde er vorgeben, alles vergessen zu haben, um die Erwachsenen vor dem zu schützen, was sie nicht ertragen konnten: sein vollständiges Erinnern.

Möglicherweise war das tote Kätzchen die unlösliche Pastille der Schuld, die er geschluckt hatte.

Möglicherweise war es auch dies: Seine Mutter sagte ihm, jemand wolle mit ihm spielen, auf dem Gehsteig gegenüber. Vor dem Haus. Es wäre für ihn das erste Mal, dass er rausginge, um vor dem Haus zu spielen, statt im modrigen Hinterhof.

»Wer denn?«

»Ein kleines Mädchen«, antwortete seine Mutter. »Geh schon, Dylan.«

Vielleicht waren es die weißen Mädchen, Ana und Thea, mit ihren Nachthemden und Rollschuhen. Er hatte sie vom Fenster aus gesehen, nun riefen sie nach ihm.

Stattdessen war es ein schwarzes Mädchen, Marilla, das auf dem Gehsteig wartete. Schon mit sechs erkannte Dylan ein fingiertes Szenario, wenn er eines vor sich hatte, bemerkte er die Großstadtschläue seiner Mutter, ihre Vertrautheit mit den Gesetzen der Nachbarschaft. Rachel Ebdus bearbeitete den ganzen Häuserblock, um ihn zu verkuppeln.

Marilla war älter. Marilla besaß einen Hula-Hoop-Reifen und etwas Kreide. Der Gehsteig vor Marillas Tor, ihr Abschnitt des unebenen Schieferbodens, war ihr markiertes Gebiet. Dies war Dylans erste Begegnung mit dem System, das die Aufteilung des Blocks regelte. Er würde nie Marillas Zuhause betreten, auch wenn er das zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste. Der Schiefer war ihr Wohnzimmer. Er hatte sein eigenes, auch wenn er es bisher nicht markiert hatte.

»Seid ihr gerade hergezogen?«, fragte Marilla, als sie sicher sein konnte, dass Dylans Mutter wieder hineingegangen war.

Dylan nickte.

»Wohnt ihr ganz alleine in dem Haus?«

»Unten ist vermietet.«

»Hast du ein eigenes Zimmer?«

Dylan nickte wieder, verwirrt.

»Hast du einen Bruder oder eine Schwester?«

»Nein.«

»Was ist dein Vater von Beruf?«

»Er ist Künstler«, antwortete Dylan. »Er macht einen Film.« Er sagte das mit größtmöglichem Ernst. Auf Marilla machte es jedoch keinen besonderen Eindruck.

»Hast du einen Spaldeen?«, fragte sie weiter. »Das ist ein Ball, falls du es nicht weißt.«

»Nein.«

»Hast du Geld dabei?«

»Nein.«

»Ich möchte was Süßes kaufen. Ich könnte dir einen Spaldeen mitbringen. Kannst du deine Mutter nicht nach Geld fragen?«

»Ich weiß nicht.«

»Kennst du Skully?«

Dylan schüttelte den Kopf. War Skully eine Person oder eine andere Art Ball oder Bonbon? Woher sollte er das wissen? Er hatte das Gefühl, Marilla würde gleich anfangen, ihn zu bemitleiden.

»Wir könnten Skullydeckel machen. Du könntest sie mit Kaugummi oder Wachs füllen. Habt ihr eine Kerze im Haus?«

»Ich weiß nicht.«

»Wir könnten auch eine kaufen, aber du hast ja kein Geld.«

Dylan zuckte abwehrend die Schultern.

»Deine Mutter hat mir gesagt, ich soll zusammen mit dir über die Straße gehen. Du kannst es nicht alleine.« Sie gab dem einen philosophischen Unterton.

»Ich bin sechs.«

»Du bist ein Baby. Was ist Dylan überhaupt für ein Name?«

»Wie Bob Dylan.«

»Wer?«

»Ein Sänger. Meine Eltern mögen ihn.«

»Magst du die Jackson Five? Kannst du tanzen?« Marilla streifte sich den Reifen über, winkelte Knie und Ellbogen gleichzeitig an, ballte die Fäuste, biss die Zähne zusammen und schob den Po raus. Der Reifen begann zu kreisen. Sie grinste und reckte ihr Kinn gleichzeitig mit dem Hüftschwung in Dylans Richtung, als hätte sie noch einen weiteren Reifen um ihren Hals schwingen lassen können.

Als Dylan an der Reihe war, rasselte der Reifen auf den Gehsteig. Er hatte noch immer etwas Babyspeck, einen kleinen Wanst, Zwiddeldei. Es gab keinerlei Kanten an seinem Körper, an denen der Reifen hätte aufliegen können. Er konnte ihn mit seinen kurzen Armen auch kaum umspannen. Und er konnte die Knie nicht beugen, rutschte stattdessen trippelnd seitwärts. Er konnte nicht tanzen.

So spielten sie zusammen. Dylan ließ den Plastikreifen wohl tausendmal zu Boden fallen, und Marilla sang zur Aufmunterung: Oh, baby give me one more chance, I want you back. Dazu streckte sie im Rhythmus die Arme in die Höhe. Und Dylan fragte sich schuldbewusst, warum statt ihr nicht die weißen Mädchen auf Rollschuhen nach ihm gefragt hatten. Das Wissen um diesen ketzerischen Wunsch wurde für ihn zur zweiten Wunde. Es war nicht wie bei dem toten Kätzchen: Niemanden würde es diesmal interessieren, ob Dylan überhaupt verstanden hatte, ob er es nachher vergessen hatte. Nur ihn selbst. Dylan musste es mit sich selbst ausmachen, ob er sich schon damals, vor den kommenden Jahren, vor den kommenden Stunden auf der Straße, vor Robert Woolfolk oder Mingus Rude, vor »Play That Funky Music, White Boy«, vor der Intermediate School 293 oder allem anderen, das sehnsüchtige Verlangen eingestand, den der Zukunftsvision seiner Mutter zuwiderlaufenden Wunsch, dass die Solver-Mädchen ihn in einer Ekstase aus Blondheit und aufeinander abgestimmten Kleidchen, säuberlich geschnürten Senkeln und kaum den Boden berührenden Rollen mit sich fortrissen oder ihm zumindest den Weg in eine andere Richtung wiesen, Kondensstreifen des Entrinnens.

Marilla drehte sich unterdessen auf der Stelle und sang: When I had you to myself I didn’t want you around, those pretty faces always seemed to stand out in a crowd …

Isabel Vendle fand den Namen in einem abgegriffenen, ledergebundenen Band der Brooklyn Historical Society: Boerum. Wie in Boer War, Burenkrieg. Eine niederländische Familie von Farmern und Landbesitzern. Die Boerums waren mit ihrem Wohlstand in Bedford-Stuyvesant geblieben und eigentlich nie in die Nähe von Gowanus gekommen, von einem ungeratenen, wahrscheinlich trunksüchtigen Sohn der Familie namens Simon Boerum abgesehen, der sich auf der Schermerhorn Street ein Haus gebaut hatte und darin gestorben war. Vielleicht hatte man ihn hierher verbannt, den verlorenen Sohn, das schwarze Schaf, damit er einen langen Rausch ausschliefe. Wie dem auch sei, er hatte dem Gürtel aus Straßen zwischen Park Slope und Cobble Hill seinen Namen gegeben – wie hätte er auch Nein sagen können! –, da Gowanus nicht ausreichte. Gowanus war der Name eines Kanals und eines Sozialbauprojekts. Isabel wollte ihr eigenes Quartier abgrenzen von den Gowanus Houses, aber auch von den Wyckoff Gardens, dem anderen Sozialbauprojekt, das ihr neues Paradies bedrängte, wollte es abgrenzen vom Kanal, von Red Hook und Flatbush, von Downtown Brooklyn, wo das Brooklyner Untersuchungsgefängnis über der Atlantic Avenue aufragte wie ein von Stacheldraht umgebener Monolith. Sie versuchte, eine Verbindung zu Brooklyn Heights und Park Slope herzustellen, darum also Boerum Hill, obwohl es gar keinen Hügel gab. Isabel Vendle schrieb es nieder, und so sollte es sein, so würden sie an dem neuen Ort leben, der durch ihre Handschrift in die Wirklichkeit eingetragen worden war, ihre krakelige Handschrift, die aus der Vergangenheit in die Zukunft glitt, um mit den unrühmlichen Eltern Simon Boerum und Gowanus das ehrbare Kind Boerum Hill zu zeugen.

Die Gebäude hier waren heruntergekommen. Die Reihenhäuser im niederländischen Stil waren neu unterteilt und entweder als Logierhäuser für Männer mit Kochplatten, Aschenbechern und Wettscheinen oder aber als Etagenwohnungen für vielköpfige Familien missbraucht worden, sodass Höfe und Treppenaufgänge vor Kindern nur so wimmelten. Unmengen von Linoleum und Zinnblech waren dafür verwendet und später gestrichen worden, bis die Farbe ihrerseits überstrichen wurde. Es war wie ein Belag auf Zunge, Zähnen und Gaumen. Die Linienführung der Zimmer, die feinen Zierleisten, waren von hastig hochgezogenen Wänden durchbrochen worden, um Flure entstehen zu lassen, in die Badezimmer wurden Duschkabinen aus dem Versandhaus hineingezwängt, die Wandschränke zu Küchen umfunktioniert. Die Flure waren vollgepinkelt. Diese Brownstones, diese aufrechten niederländischen Sandsteinhäuser, glichen Körpern, missbrauchten Körpern, aber Isabel würde sie wieder hinbekommen, sie würde sie mit renovierungswilligen Pärchen füllen, die die Stuckdecken wieder instand setzen und die marmornen Kamineinfassungen reparieren würden. Sie hatte sogar schon ein paar an der Angel. Die ersten Renovierer waren allerdings kunterbunt zusammengewürfelt, um die Wahrheit zu sagen. Zu ihrer großen Enttäuschung waren die Kommunen der Beatniks und Hippies kaum besser als die Logiergäste. Aber irgendjemand musste den Anfang machen. Sie waren Isabels armselige erste Rekruten, nicht wirklich gut, sondern nur gut genug.

Zum Beispiel Abraham und Rachel Ebdus. Die lebendige Realität einer Ehe wirkte auf Isabel stets ermüdend. Sie, Rachel, hatte einen wilden Blick und rauchte Kette, war zu jung, eigentlich zu Brooklyn. Isabel hatte gesehen, wie sie mit den Männern auf den Kästen an der Ecke Spanisch sprach. So würde das nie etwas werden. Und er, Abraham, war Maler, hervorragend – aber musste man deswegen die Wände des Hauses vom Boden bis zur Decke mit Nacktporträts seiner Frau zupflastern? Mussten die Gemälde im vorderen Wohnzimmer unbedingt bis zur Ecke Dean und Nevins Street sichtbar sein, lasiertes Fleisch, das hinter halb zugezogenen Vorhängen aufblitzte?

Die Frau unterstützte den Ehemann mit einem Halbtagsjob in der Zulassungsstelle auf der Schermerhorn Street. Sie sprach Spanisch mit den Unterhemden, die ihre Wagen vor den Logierhäusern polierten.

Während ihr Ehemann zu Hause blieb und malte.

Sie hatten einen Jungen.

Isabel rupfte einen Streifen geräucherter Putenbrust vom Rand ihres trockenen Sandwichs und drapierte ihn auf der gleichgültigen Nase der orangefarbenen Katze, bis das tölpelhafte Ding dahinterkam, was dort angeboten wurde, und es sich mit klackenden, maschinengleichen Zähnen einverleibte.

Es existierten zwei Welten. In der einen stürmte sein Vater nach oben, scharrte mit Stühlen, malte an einem kleinen Leuchtkasten, machte seine nicht nachvollziehbaren Fortschritte; seine Mutter hörte unten Platten, ließ Wasser über den Abwasch laufen, lachte am Telefon, wobei ihre Stimme die Windung der langen Treppe hinaufflog, der Ailanthus im Hinterhof streifte seine Schlafzimmerfenster, warf die Sonnenstrahlen als tropische, fließende Lichtflecken auf die Tapete, die selbst einen Urwald voller Affen und Tiger und Giraffen abbildete, während Dylan wieder und wieder Rühreier Super-Duper und Bartholomäus und Oobleck und Wenn ich Zoodirektor wäre las oder sein Matchbox-Auto, Nr. 11, verträumt mit einem Finger die gesamte Länge der orangefarbenen Fahrbahn entlangschob oder wieder einmal die Unzulänglichkeiten des Etch-A-Sketch und des Spirographen entlarvte, die Steife der Drehknöpfe, die Widerspenstigkeit der silbernen Substanz hinter dem verschmierten Fenster des Etch-A-Sketch, die Unzuverlässigkeit der Spirographenräder, die unweigerlich in Sonnennähe liefen, wenn der Druck des Zeichenstiftes zu stark wurde, sodass jede herrlich exakte Umlaufbahn ausfranste und im entscheidenden Moment in grobe Absurdität mündete: ein Kopf mit einer Nase, eine Gewürzgurke mit einer Warze. Wenn der Etch-A-Sketch und der Spirograph wirklich funktioniert hätten, wären sie wahrscheinlich Maschinen und nicht Spielzeuge, sie wären Teil des Erwachsenenuniversums und auf die Armaturenbretter der Autos montiert oder an die Gürtel der Polizisten gehängt worden. Dylan verstand und akzeptierte das. Diese Gegenstände waren unbrauchbar, weil sie Spielzeug waren und umgekehrt. Sie bedurften seiner Fürsorge und Geduld, wie geistig zurückgebliebene Kinder, die seiner Obhut anvertraut waren.

In seiner häuslichen Welt konnte sich Dylan in zwei Richtungen treiben lassen. Die eine verlief treppauf, am losen, wackeligen Geländer entlang, wobei er die kleine Hand über die polierte Oberfläche gleiten ließ und mit den Fingern über die Verbindungsstellen hüpfte, um dann an der Tür zum Atelier anzuklopfen und die Erlaubnis zu erhalten, seinem Vater über die Schulter zu schauen und zu beobachten, was nicht zu beobachten war, der unnachvollziehbare Fortschritt eines animierten Filmes, der mit einzelnen Pinselstrichen direkt auf Zelluloid gemalt wurde. Denn Abraham Ebdus hatte dem Malen auf Leinwand abgeschworen. Die Leinwände, die die Flure füllten, diese freizügigen, malerischen Akte waren sein Gesellenstück, sentimentale Spuren eines Weges, der ihn zu seinem Lebenswerk geführt hatte, einem abstrakten Gemälde, das sich in Form von gemalten Einzelbildern in der Zeit entfaltete. Abraham Ebdus hatte vielleicht zwei Minuten seines Filmes fertig. Es gab nichts zu zeigen, außer den Skizzen und Notizen, die an die Wände geheftet waren, wo zuvor die Leinwände gehangen hatten. Die langen Pinsel standen steif und eingetrocknet in Dosen herum. Sie waren durch solche ersetzt worden, wie sie Juweliere zum Entfernen von Diamantstaub benutzen, und in dem Atelier im zweiten Stock, wo Ventilatoren surrten und zum Trocknen der Farbe den gelb getünchten Augusthimmel hereinschaufelten, saß Abraham Ebdus tatsächlich gebeugt da wie ein Juwelier oder ein Mönch, der Schriftrollen kopiert, und züngelte mit den dünnen Pinseln auf seinen Zelluloidbildern, eine Arbeit, die zu etwas Ehrfurchtgebietendem und Unendlichem geworden war. Dylan stand an seiner Seite und roch die Farbe, den dünnen beißenden Geruch frisch angesetzter Pigmente. Er stand auf Augenhöhe direkt neben dem Leuchtkasten, an dem sein Vater arbeitete, und fragte sich, ob seine kleinen Hände nicht besser für diese Arbeit geeignet wären als die seines Vaters. Gelangweilt setzte er sich nach einer Weile zumeist im Schneidersitz auf den Boden und malte mit den aussortierten Ölkreidestiften seines Vaters, die er vorsichtig aus der Metallkassette mit dem französischen Etikett nahm. Oder er fuhr mit seinem Matchbox-Auto, Nr. 11, die farbbeklecksten Fußbodendielen entlang. Oder er mühte sich ab, einen der monströsen Bildbände mit eingeklebten Reproduktionen von Brueghel oder Goya oder Manet oder de Chirico zu öffnen, verlor sich darin, träumte sich für kurze Zeit in eines der Fenster im Turm zu Babel oder in einen Kreis von Hexen, die mit einer Ziege des Nachts um ein Lagerfeuer sitzen, oder in eine Gruppe von Jungen, die mit belaubten Zweigen Schweine über einen Bach jagen. Bei Brueghel und de Chirico entdeckte er Kinder, die auch mit Reifen spielten, und er fragte sich, ob Marilla ihm erlauben würde, ihren Hula-Hoop-Reifen mit einem Stock die Dean Street hinunterzutreiben. Aber das Mädchen mit dem Reifen und dem Stock auf der einsamen Straße bei de Chirico hatte wehendes Haar wie die Solver-Mädchen, also vergiss es.

»Das sieht genau gleich aus«, sagte Dylan, während er seinem Vater dabei zusah, wie er ein Bild fertigstellte und zum nächsten überging.

»Es verändert sich nur ganz wenig.«

»Ich seh aber nichts.«

»Das wirst du noch mit der Zeit.«

Die Zeit, hatte man ihm gesagt, würde immer schneller vergehen. Die Tage würden dahinfliegen. Davon war nichts zu spüren, dort, auf dem Boden des väterlichen Ateliers, aber so würde es sein. Sie würden wie im Flug vergehen, der Film würde ablaufen und sich derart beschleunigen, dass die Bilder anfingen, sich zu bewegen, der Sommer würde zu Ende gehen, er würde in die Schule kommen, er wurde so schnell erwachsen, das war die übereinstimmende Meinung, der nur er nicht zustimmen konnte, so eingeschlossen, wie er sich fühlte, völlig in der Zeit versunken, dort auf dem Atelierboden, wenn er in einen Brueghel hineinspähte und zwischen den Hunden und den Füßen der Müller und ihrer Frauen unter der Festtagstafel nach den anderen Kindern suchte. Auf dem Weg zurück vom Atelier seines Vaters zählte er immer die knarrenden Treppenstufen.

Das Erdgeschoss stellte ein völlig anderes Problem dar. Das Revier seiner Mutter – das Wohnzimmer, vollgestopft mit ihren Büchern und Schallplatten, die Küche, in der sie die Mahlzeiten kochte und am Telefon lachte und stritt, ihr Tisch voller Zeitungen und Zigaretten und Weingläser – war für Dylan voller Unwägbarkeit und Unruhe wie seine Mutter selbst. Morgens war sie immer bei der Arbeit in der Schermerhorn Street. Dann konnte Dylan im Erdgeschoss hausen wie ein Geist, konnte sich über seine eigenen Bücher beugen oder sich für ein sonnenbeschienenes Nickerchen auf der Couch zusammenrollen, die Reste aus dem Kühlschrank vertilgen oder löffelweise trockenes Kakaopulver direkt aus der Packung verschlingen, sodass sein Mund ganz klebrig wurde von dem Brei, das halb fertige Kreuzworträtsel auf dem Tisch begutachten, sein Matchbox-Auto, Nr. 11, durch die Aschenbecher oder um den Rand des Blumentopfs fahren lassen, in dem sich die riesige Jadepflanze befand, die mit ihren dicken, gummiartigen, baumähnlichen Ästen für Dylans partikelhaftes Selbst eine weitere Welt darstellte, in der er versank und sich verlor. Doch noch ehe er sich besinnen und entscheiden konnte, was er von ihr wollte, war Rachel Ebdus schon wieder zu Hause, und Dylan musste feststellen, dass er keine Kontrolle über seine Mutter hatte. Dylans Einsamkeit, die sein Vater unangetastet ließ, wurde von seiner Mutter wie eine Weintraube zerquetscht. Es konnte sein, dass sie ihn an sich zog, mit den Fingern seine Kopfhaut knetete und Dinge sagte wie: »Du bist so wunderschön, so wunderschön, du bist so ein wunderschöner Junge«, aber es war ebenso gut möglich, dass sie ihm gegenübersaß, eine Zigarette rauchte und sagte: »Wo bist du hergekommen? Warum bist du hier? Warum bin ich hier?«, oder »Du weißt, mein Goldkind, dein Vater ist geisteskrank.« Des Öfteren zeigte sie ihm eine Zeitschrift, in der unter einem Bild KANNST DU SPARKY ZEICHNEN? stand, und behauptete: »Das wäre ein Leichtes für dich, wenn du wolltest, könntest du den Malwettbewerb gewinnen.« Wenn Rachel ein Spiegelei braten wollte, bat sie Dylan, sich neben sie zu stellen, zerschlug dann das Ei auf seinem Kopf und goss es eilig in die erhitzte Pfanne, bevor es auslaufen konnte. Er rieb sich den Kopf, halb gekränkt, halb bewundernd. Sie spielte ihm Beatles-Platten vor, Sergeant Pepper, Let it Be, und fragte ihn dann, welcher sein Lieblings-Beatle sei.

»Ringo.«

»Kinder lieben Ringo«, erklärte sie ihm. »Vor allem Jungs. Mädchen mögen eher Paul. Er ist sexy. Das wirst du noch verstehen.«

Sie konnte weinen oder lachen, zerbrochenes Geschirr spülen oder den Katzen, die im Hinterhof lebten, die Nägel schneiden – die beiden, die von dem Wurf übrig geblieben und groß geworden waren, töteten nun zwischen den Backsteinen und dem Efeu regelmäßig Vögel. »Siehst du«, sagte sie, während sie die Katzenpfote drückte, damit die Krallen zum Vorschein kamen, »du darfst sie nicht zu kurz schneiden, hier verlaufen Adern, sie würde verbluten.« Sie schäumte über vor Informationen, mit denen er noch nichts anfangen konnte: Nixon war ein Krimineller, die Dodgers zogen um nach Kalifornien, von chinesischem Essen bekommt man Kopfschmerzen, Muhammad Ali verweigerte den Kriegsdienst und musste ins Gefängnis, Hitchcocks englische Filme waren besser als seine amerikanischen, Beschneidung war keine Notwendigkeit, aber Frauen wussten es zu schätzen. Das Haus war zu eng für ihre Fülle, sie musste sich ständig übers Telefon entladen, und auch für Dylan wurde es zu viel, sodass er sich stattdessen an Rachels Ausläufern bewegte, sich ihrer Hauptkraft entzog, um sich am Rande in etwas zu vertiefen, das er verstehen konnte. Er robbte dann nach unten und streifte im Schatten der Akte um ihre Regale. Dort konnte er vorgeben, sich mit ihren Büchern zu beschäftigen, Im Wendekreis des Krebses, Kon-Tiki, Trennung aktiv bewältigen, Spiele der Erwachsenen, die vor seinen Augen verschwammen, während er ihre Gespräche belauschte: »… er ist oben … Kalifornien hat nie eine Rolle gespielt … die ganzen Rechnungen bezahlen … sagte, die Konsistenz der Pilze erinnere mich an etwas, und er wurde knallrot … habe die Clapton-Platte um vier Uhr morgens gehört … mein Französisch völlig verlernt …« Andere Male schlich er im Schutze von Rachels Monologen auf Zehenspitzen heran, weil er dachte, es wäre ein weiterer Anruf, um stattdessen festzustellen, dass jemand mit ihr am Tisch saß, Eistee trank, den Aschenbecher mit ihr teilte, lachte, zuhörte und auf Dylans Schritte aufmerksam wurde, die Rachel ignoriert hatte.

»Da ist er ja«, sagten sie stets, als wäre Dylan gerade noch das Gesprächsthema gewesen.

Dann wurde er herbeigewunken, um vorgestellt zu werden. Dylan behielt die Besucher immer nur so in Erinnerung, wie Rachel sie Abraham später beim Abendessen beschrieb: Der ungeniale Folksänger, der einmal als Anheizer für Bobby Dylan aufgetreten war und nicht müde wurde, es zu erwähnen; der notgeile Yippie, dem ein Verfahren drohte, weil er die Drehkreuze der U-Bahn mit Falschmünzen verstopft hatte; der wohlhabende Homosexuelle, der Kunst sammelte, aber keines von Abrahams Aktgemälden kaufen wollte, weil sie Frauen darstellten; der radikale schwarze Prediger von der Atlantic Avenue, der jeden Zugezogenen genau unter die Lupe nahm; der Exfreund, der zurzeit als Klavierstimmer in der Carnegie Hall arbeitete, aber mit dem Gedanken spielte, dem Friedenskorps beizutreten, um nicht nach Vietnam zu müssen; das englische Pärchen, das dauernd Gurdjieff zitierte und Mexiko mit dem Rad durchqueren wollte; die Frau von der Bewusstseinserweiterungsgruppe aus Brooklyn Heights, die einfach nicht glauben konnte, dass sie ein Haus in der Dean Street gekauft hatten. So viele Leute, die alle nach Dylans Kopf griffen, um sein Haar zu zerzausen und zu fragen, warum Rachel es ihm bis über die Augen wachsen ließ, bis hinunter auf die Schultern. Dylan sah aus wie ein Mädchen – darin waren sich so ziemlich alle einig.

Dann – und das war letztendlich immer das entscheidende Problem dabei, sich unten herumzutreiben – sprang Rachel von ihrem Stuhl auf und schob Dylan mit einer Zigarette zwischen den Fingern zur Haustür hinaus, zeigte auf die Kinder, die auf dem Gehsteig spielten, und bestand darauf, dass er sich ihnen anschloss. Rachel hatte ein Programm, einen Plan. Sie war in den Straßen von Brooklyn aufgewachsen, und das würde Dylan auch. Und so vertrieb sie ihn aus der Ersten seiner beiden Welten, dem Haus, in die Zweite. Das Draußen, den Block. Dean Street.

Die Zweite Welt war eine Anordnung unterschiedlicher Zonen aus Schiefer. Und die abblätternden Fassaden der Reihenhäuser – Rosa, Weiß, Hellgrün, verschiedene Rot- und Blautöne, die stets die Backsteine darunter sichtbar werden ließen – waren die Flaggen der unentdeckten Reiche, die hinter dem System der Schieferzonen lagen und es wahrscheinlich bestimmten. Soweit Dylan das beurteilen konnte, besuchte nie ein Kind ein anderes zu Hause. Sie sprachen auch nicht über ihre Eltern. Dylan wusste nicht, worüber er sonst hätte reden sollen, und so ließ er sich stumm in die Gruppe der Kinder treiben, die das zu verstehen schienen und ihren Kreis unmerklich öffneten, um Platz für ihn zu schaffen. Vielleicht waren alle Kinder auf diese Weise dazugestoßen.

Nevins und Bond Street, die den Block an beiden Enden begrenzten, waren Tore ins Unbekannte, Routen zu den Sozialbauten unten an der Wyckoff Street. Die Ecke gehörte ohnehin den Puerto Ricanern vor der Bodega auf der Nevins. Eine andere Gruppe, hauptsächlich Schwarze, lungerte vor dem Eingang eines Logierhauses, das zwischen dem der Ebdus und Isabel Vendles lag, und sie verscheuchten die ballspielenden Jungen, riefen ihnen zu, sie sollten mit der Windschutzscheibe des ständig dort geparkten Wagens achtgeben, eines Stingray, den ein Puerto Ricaner mit gewachstem Schnurrbart häufig polierte und selten fuhr. Schließlich gab es noch einen gemein aussehenden Schwarzen, der zwar glotzte, aber nie ein Wort sagte und den Gehsteig vor den zwei Häusern nahe der Bond Street fegte und von Unkraut freihielt. Also fanden sich die Kinder der Dean Street instinktiv in der Mitte des Blocks zusammen.

Henry, ein schwarzer Junge mit einem jüngeren Bruder namens Earl, war Herr über einen Vorgarten, der vollständig gepflastert war, statt mit heruntergekommenem oder halbherzig gepflegtem Grün bepflanzt zu sein. Die niedrige Einfriedung, die Henrys gepflasterten Garten vom Schiefer des Gehsteigs trennte, war ebenfalls aus Stein beziehungsweise aus gegossenem Beton. Henry war drei Jahre älter als Dylan. Sein Treppenaufgang und Vorgarten waren der Treffpunkt, der Ausgangspunkt aller Unternehmungen. Ältere Jungen aus dem unteren Teil des Blocks kamen hier vorbei und wählten die Mannschaften. Hauptsächlich Davey und Alberto von der anderen Straßenseite, aus dem Haus nahe der Ecke, das vor Vettern nur so überquoll und auf dessen Treppe Teenager rauchten. Sie kamen mit schwingenden Armen an und spielten mit einem neuen Spaldeen. Sie kauften ein Erdbeer-Yoo-Hoo und teilten es mit den anderen und schenkten Henry oder Henrys Freund Lonnie den Verschluss zum Skullyspielen. Dylan saß mit Earl meist auf dem Treppenaufgang und schaute zu. Marillas Königreich der schwarzen Mädchen lag auf der anderen Seite der Straße. Nach dem ersten Mal ging Dylan nicht wieder hinüber, aber zwischen Marillas und Henrys Vorgarten wechselten Worte über die Dean Street und manchmal auch die Mädchen. Henrys Vorgarten war der Mittelpunkt und Henry der Mittelpunkt darin. Henry bestimmte, was gespielt wurde.

Zwei Häuser weiter war das leer stehende Haus. Die Fenster und den Eingang hatte man mit Hohlblocksteinen zugemauert, sodass es aussah wie eine Mumie mit ausdruckslosen Augen und einem reglos heulenden Mund, auch der Vorgarten war völlig verwahrlost und wurde von keinem Zaun oder Tor begrenzt. Selbst der Treppenaufgang war kahl, das Geländer fehlte. Möglicherweise hatte es jemand zum Schrotthändler gebracht. Das Mumienhaus hatte eine flache Fassade ohne Fenster, sodass es eine gute Wand für Wandball abgab, ein Spiel, bei dem ein Spaldeen von einem Werfer hoch gegen die Wand geschleudert wurde und von einem Fänger auf der Straße wieder aufgefangen werden musste, wobei dieser zwischen den Autos hin und her flitzte.

Ein Spaldeen passte perfekt in eine Hand und schien von ihr oft magnetisch angezogen zu werden. Besonders Henry und Davey mussten oft nur ein oder zwei Schritte laufen und den Arm heben, und schon tauchte der Ball in ihrer Handfläche auf. Ein Wurf, der vom zweiten Stockwerk des leer stehenden Hauses abprallte, flog am weitesten, und wenn er sogar eines der Tore auf der anderen Straßenseite überquerte, bedeutete das einen Homerun. Henry schien dies nach Belieben vollbringen zu können, und die Tatsache, dass er es nicht jedes Mal machte, grenzte an ein Mysterium. Doch Henry konnte auch versagen, wenn er zu hoch warf und den Spaldeen aufs Dach katapultierte. Dann ging das Murren los, und es wurde Kleingeld für einen neuen Ball gesammelt. »Wie viele da jetzt wohl oben liegen?«, überlegte Alberto eines Tages. »Wenn ich da hoch könnte, bräucht ich bestimmt einen ganzen Tag, um sie alle runterzuwerfen.«

Dylan und Earl würden zur Bodega geschickt werden, um das bedeutungsvolle Wort auszusprechen: Spaldeen, und der alte Ramirez würde dem Handel misstrauen und nur argwöhnisch einen neuen herausrücken. Dylan würde den nagelneuen rosafarbenen Spaldeen befühlen, ihn aber unverzüglich an Henry abtreten und höchstwahrscheinlich nicht mehr in die Finger bekommen, bis er abgewetzt und weich war, ausgeleiert nach Tausenden von angeschnittenen Würfen. Falls Dylan ihn überhaupt noch einmal anfassen durfte. Seine Chance kam immer zwischen den Spielen, während der fließenden Übergänge, wenn alle unerklärlicherweise die Arme hängen ließen und jemand nach einem Schluck Yoo-Hoo fragte und jemand anders sein T-Shirt unter dem Gelächter der Mädchen über die gestreckten Arme von innen nach außen drehte. Der Spaldeen rollte dann träge in den Rinnstein, und Dylan konnte ihn wieder an sich nehmen und über die Abnutzung staunen. Nun verdiente er, aufs Dach geworfen zu werden. Möglicherweise hatte Henry ja ein System, wie der Schiedsrichter beim Baseball, der die Bälle aus dem Spiel nahm.

Der Treppenaufgang des leer stehenden Hauses war zugleich eine Bühne für Geheimnisse, die sich offen sichtbar inmitten des Blocks verbargen. Der zersprungene Schiefer vor dem Grundstück entsprach dreißig Fuß Niemandsland. Die Bäume in der Dean Street hatten sich wie die Kinder im Zentrum des Blocks zusammengefunden. Ihnen schien besonders daran gelegen zu sein, das leer stehende Haus mit Licht und Schatten zu sprenkeln, wie es auch der Ailanthus in Dylans Hinterhof tat, und die Stimmen der Eltern, die die Kinder bei ihren Namen zum Abendessen riefen, zu fernen Erscheinungen abzudämpfen, wie Vogelgezwitscher. Dylan ging seine Seite der Dean Street mit gesenktem Kopf auf und ab und prägte sich die Schieferoberfläche ein. Ohne hochzuschauen konnte er allein anhand des Musters, das sich zu seinen Füßen abzeichnete, sagen, wann er sich vor Henrys oder dem leer stehenden Haus befand: Die langen schräg liegenden Platten oder die eine hervorstechende mondartige Form oder die mit Beton ausgebesserte Stelle oder das eingebrochene Schlagloch, das sich immer mit Regenwasser füllte, wenn die Sommergewitter kamen und die schwülen Nachmittage von einem Augenblick zum anderen in dunkle, elektrisierte Stücke schlugen.

Wandball, Schlagball, Stufenball, Football. Henry und Lonnie spielten die meiste Zeit gegen Alberto und Davey, Football auf der Straße, Puerto Ricaner gegen Schwarze, Vier-Mann-Football, Schreie nach einem langen Ball in der gestohlenen Zeit zwischen vorbeifahrenden Autos und dem Dean-Street-Bus. Der Bus hielt das Spiel am längsten auf, während die Spieler sich ungeduldig gegen die Türen der parkenden Wagen drückten, um Platz zu machen, und ihn weiterwinkten, schneller, schneller, los. Habt keine Angst davor, uns zu überfahren, signalisierten sie den Fahrern. Fahrt einfach, verdammt, achtet nicht auf uns, das tun wir schon selber.

Einmal schlug Henry mit der flachen Hand fest gegen die Längsseite des Busses und legte sich dann ausgestreckt auf die Straße, als wäre er angefahren worden. Der große Bus kam zum Halten und stand vibrierend in der Mitte des Blocks, die Fahrgäste verdrehten die Köpfe und starrten mit offenen Mündern durchs Fenster, während der Fahrer ausstieg, um nachzusehen. Da richtete Henry sich auf, lachte und rannte davon, außergewöhnlich schnell, die Beine zurückschleudernd wie in einem Zeichentrickfilm, und verschwand um die Straßenecke. Lonnie und Alberto lachten den Fahrer aus und zeigten dann den Block hinunter. »Ich war es nicht, Mann«, sagte Lonnie, immer noch lachend, die Arme zum Zeichen seiner Unschuld ausgebreitet. »Scheiße, was soll ich machen? Ich kenn den Typen ja nicht mal, irgend so ein Spinner aus den Projects.« Die Lüge wurde direkt vor Henrys Vorgarten erzählt, vor seinem Zuhause. Aber die Projects erklärten so ziemlich alles, also schüttelte der Fahrer nur den Kopf und stieg wieder in den Bus. Dylan schaute zu.

Die Mädchen spielten des Öfteren Fangen. Es lag etwas leicht Bemitleidenswertes und Unmännliches darin, aber wenn die Mädchen spielten, machten Henry und Lonnie mit, und dann wurden auch Dylan und Earl in den Kreis zum Abzählen aufgenommen – Ene, Mene, Muh und-raus-bist-du. Es konnte dich treffen. Dylan stellte sich als Es immer wahnsinnig an, und manchmal hörte er sich selbst schreien. Es machte ihn ein wenig schreihälsig, er konnte nicht sagen, warum. Niemandem machte das etwas aus, jeder schreit mal, schien die Devise zu lauten. Spiele gingen auf mysteriöse Weise ineinander über, Gruppen fanden zusammen, aus einem Es wurden zwei, ein Junge jagte ein Mädchen bis zur Straßenecke und aus dem Spiel. Der Brennpunkt des Interesses verlagerte sich wie der Einfallswinkel des Lichtes. Ein Kind konnte an einem Tag Baseballkarten dabeihaben, ohne dass es dafür eine Erklärung gab. Brauchbare Skullydeckel wurden gesammelt, das Fehlen von Wachs diskutiert, aber nie wurde Skully gespielt. Vielleicht wusste ja keiner, wie. Isabel Vendle schaute aus ihrem Fenster. Die Männer an der Ecke legten klappernd Dominosteine, der Fischladen auf der Nevins Street war voll mit Sägemehl, ein Kind kam aus einem der Sozialbauten hoch und drang in die Abgeschiedenheit der Dean-Street-Kinder ein, woraufhin alle auf mysteriöse Weise zankhaft wurden. Ganze Tage verliefen mysteriös, und dann ging die Sonne unter.

Dylan konnte sich nicht daran erinnern, je seinen Namen genannt zu haben, aber alle kannten ihn, und niemanden kümmerte es, was er bedeutete. Manchmal erwähnte vielleicht jemand, dass er wie ein Mädchen aussah, aber das war ja eindeutig nicht seine Schuld. Er konnte weder werfen noch fangen, aber so war es nun mal. Nicht jeder konnte das, war man der Ansicht. Also führte Dylan in Momenten der Unterbrechung Zwiegespräche mit dem Spaldeen, wenn dieser in den Rinnstein gehüpft oder von der Stoßstange eines vorbeifahrenden Wagens abgeprallt und die Straße hinuntergerollt war. Dylan holte ihn dann gerne für die älteren Jungen, die betrübt und kopfschüttelnd dastanden. Den Ball konnte es fast bis zur Nevins Street verschlagen, bis zur Bodega, wo er von einem der grauhaarigen Dominospieler auf den Kästen gestoppt und nach kurzer Begutachtung wieder zurückgegeben wurde. Etwas blieb jedoch von solchen Begegnungen an dem Spaldeen haften. »Wirf ihn aufs Dach, Henry«, flüsterte Dylan, während er ihn zurückbrachte, flüsterte es sich selbst zu, aber auch dem Ball, eine Beschwörung. Manchmal war es tatsächlich das Nächste, was Henry tat. Anstatt nach einem neuen Ball zu verlangen, stahlen sich die älteren Jungs daraufhin fort, um am anderen Ende des Blocks an Albertos Gartentor zu lehnen und in den Sticheleien und Zigarettenkippen der Teenager auf den Stufen zu baden. Die Teenager warteten, dass es Abend wurde. Dylan blieb bei Henrys Betonumzäunung, das weiße Kind. Von dort aus konnte er Rachel rufen hören, weiter weg war er sich dessen nicht so sicher. Von Henrys und vom leer stehenden Haus aus kannte Dylan den Gehsteig bis nach Hause ganz genau.

Der Junge hielt sich im Arbeitszimmer auf und blätterte in Isabels Fotoalben, derweil die Mutter auf der Terrasse saß und rauchte. Isabel beobachtete ein Eichhörnchen dabei, wie es den Telefonmast umkreiste und über die Spitzen des Gartenzauns davonhuschte. Das Eichhörnchen setzte seinen Weg in einer schwingenden Abfolge buckelnder Bewegungen fort, Schwanz und Rückgrat krümmten sich im Widerspiel. Einige buckelige Dinge sehen durchaus elegant aus, sinnierte Isabel und musste an sich selbst denken.

Drinnen restaurierte ein italienischer Stuckateur ein Blumenband an der Salondecke, schwitzend stand er ganz oben auf einer Leiter in der Ecke neben dem hohen Vorderfenster. Der Junge an Isabels Schreibtisch klappte die beladenen Seiten um, absorbierte sie, als würde er lesen.

Der Junge hatte ebenfalls einen Buckel, wie er so über dem Buch saß. Allerdings eher den eines Igels als den eines Eichhörnchens, entschied Isabel.

»Schmecken Sie da irgendwas heraus?«, fragte Isabel die junge Mutter stirnrunzelnd.

»Klar«, antwortete Rachel. Sie hatte ihre Zigarette nicht ausgemacht, um das beschlagene Glas mit Limonade und Eis entgegenzunehmen. Der Rauch stieg unbeirrt in die Augustluft.

»Von allem, was in mir stirbt, stirbt meine Zunge zuerst.«

»Vielleicht versuchen Sie es mal mit Zitrone«, schlug Rachel vor.

»Ich tue schon Zitrone in meine Suppe. Ich kann das nicht auch noch mit meiner Limonade machen. Nehmen Sie die Flasche mit, wenn Sie gehen. Ich sollte besser Formaldehyd trinken.«

Rachel ignorierte die Bemerkung. Sie war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen, ein schlechtes Zeichen, wenn es nach Isabel ging. Die junge Mutter lehnte sich in ihrem Stuhl gefährlich weit zurück, die Zigarette zwischen den Fingern einer über die Schulter gelegten Hand. Ihr schwarzes ungebürstetes Haar war Wahnsinn. Isabel stellte sich vor, wie es in dem gedämpften Nachmittag auf ihrer Veranda in Flammen stand.

Der Mann auf der Leiter kratzte mit seinem Spachtel den Überstand weg und ließ den Gips schwer auf die Abdeckplane des Salonbodens tropfen, die bei jedem Aufprall leise knisterte.

So, wie sich der Junge in ihre alten Fotografien vertiefte, bei diesem Blick, könnten sie durchaus den Glanz verlieren. Er hatte seit über einer Minute nicht mehr umgeblättert. Er blieb über das Album gebeugt, wie Isabel unfreiwillig über ihr ganzes Selbst gebeugt war.

Isabel bemerkte, dass Rachel den Stuckateur beobachtete. »Die alte Handwerkskunst lebt in ihm weiter«, eröffnete sie der jüngeren Frau. »Er trinkt in seinen Pausen Bier und redet wie John Garfield, aber sehen Sie sich nur die Decke an.«

»Sie ist wunderschön.«

»Er sagt, sein Vater hätte es ihn gelehrt. Er bringt nur die Schönheit zum Vorschein, die verborgen lag. Er ist ein Werkzeug der Decke. Er braucht es nicht zu verstehen.«

Isabel war etwas irritiert, ob über sich selbst oder über Rachel Ebdus, wusste sie nicht. Sie hatte das Bild nicht ganz zu Ende gebracht: Obwohl das Haus stumm war, entfaltete es eine eigene Sprache, je weiter der Stuckateur das Handwerk seines Vaters vorantrieb.

»Er hat einen tollen Arsch«, sagte Rachel.

Draußen stieß das Eichhörnchen einen schrillen Schrei aus.

Isabel seufzte. Ihr gelüstete sogar nach einer der Zigaretten der Frau. War es möglich, mit dreiundsiebzig noch das Rauchen anzufangen? Isabel dachte, sie würde es gerne einmal versuchen. Oder vielleicht war sie nur ungeduldig mit sich selbst, weil sie an Rachel nichts weiter ausmachen konnte als die Unersättlichkeit dieser Frau. Und die Zigaretten lagen auf dem gusseisernen Verandatisch in Reichweite, wohingegen der Arsch des Stuckateurs in jeder Hinsicht schwerer zugänglich war.

»Wenn es in irgendeiner Weise eine Frage des Geldes ist …«, setzte Isabel an und kam zu ihrer eigenen Überraschung direkt auf den Punkt.

»Nein, das ist es nicht«, erwiderte Rachel lächelnd.