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Gabriele Borgmann

Venus AD

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-96258-024-7

Erste Auflage 2019

© PalmArtPress

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Hergestellt in Europa

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Lucas Cranach der Ältere, Venus mit Amor, 1509

Das Leben ist entweder ein Seil oder ein Federbett. Man gebe mir das Seil – und öffne das Fenster.

AD

Inhalt

I Auf einem Fetzen Papier
Nürnberg, 15. August 1507

II Skalpell in der Tasche
Berlin, 15. August 2019

III Der Druck des Hofmalers
Nürnberg, 15. August 1507

IV Tit for Tat
Berlin, 15. August 2019

V Wem Ruhm gebührt
Wittenberg, 16. August 1509

VI Small Talk und Wahrheit
Berlin, 16. August 2019

VII Durch die Zeit gefallen
Berlin, 16. August 2019

VIII Magie im Moment
Berlin, 16. August 2019

IX Unter dem Mantel
Berlin, 16. August 2019

X Dem Zorn entkommen
Wittenberg, 16. August 1509

XI Venusische Nacht
Berlin, 17. August 2019

XII Alles gesammelt
Berlin, 17. August 2019

XIII Wo die Kerle trinken
Berlin, 17. August 2019

XIV Kein Blei für das Monogramm
Berlin, 17. August 2019

Epilog

Dank

I

Auf einem Fetzen Papier

Nürnberg, 15. August 1507

Elegant waren sie, schmal geformt und von ätherischer Blässe. Das Adernetz schimmerte bläulich durch die Haut. Niemand würde denken, dass es die Hände eines Handwerkers waren, die mit Messern ins Holz ritzten und mit dem Stichel durch Metall. Wenn er mit seinen Händen arbeitete, fühlte er keinen Schmerz. Überhaupt blendete er aus, was störte, vor allem die Zeit.

Wie lange er in der Werkstatt saß und seine Hände betrachtete, wusste er nicht. Dreißig Minuten, zwei Stunden? Was war schon die Zeit, setzte man sie ins Verhältnis zu den Gedanken? Ein Nichts war sie, ein großes Loch. Zeit hat keine Formel, dachte er und zog das golddurchwirkte Wams enger um den Bauch. Agnes sah das anders. Sie teilte die Tage nach dem Glockenschlag, nun war es sieben und das Abendbrot stand längst auf dem Tisch. Er sollte nach oben steigen in die Stuben. Aber er hatte keinen Hunger, nur den Drang zu zeichnen, seinen Händen noch eine kleine Übung zuzumuten.

Draußen dämmerte es, zu früh für einen Abend im August. Die letzten Lichtstrahlen fanden kaum mehr durch die Fensterschächte. Er mochte den schleichenden Übergang vom Tag in die Nacht, wenn das Licht mit dem Schatten verschmolz zu einem dichten Vorhang. In diesen Stunden erfasste ihn ein leichtes Schütteln, gemischt aus Müdigkeit und Lust. Kurz zögerte Albrecht – und griff nach einem Fetzen Papier und dem Kohlestift. Er tanzte mit den Fingern in der Luft, atmete tief und setzte an, auf dem Fetzen zu stricheln. Feine Poren fügte er zur Haut, zur Silhouette, zu einer schön gerundeten Frau. Die Brust klein und stehend, apfelgleich. Die Scham ihm zugewandt, die Lippen geöffnet zu einem Versprechen. Albrecht legte seinen linken Arm im Halbrund auf den Tisch, als wollte er das Papier schützen, die gezeichnete Frau abschirmen vor Blicken oder vor Staub. Dabei saß er, wie so oft, einsam in seiner Werkstatt und keine Menschenseele sah zu, was er ersann. Dennoch raste sein Herz, stolperte fast. Schweiß perlte auf der Stirn. Alles in ihm wallte hoch, das Blut, der Ehrgeiz, die Freude. Nur seine Hände schienen unberührt von diesem Sturm der Gefühle. Sie zitterten nicht. Sie führten selbstsicher die Linien zur Kontur. Er genoss die Geburt seiner Idee, aus der Großes erwachsen würde. Für Albrecht löste sich die Zeit auf. Alles war Segen und Zukunft, alles eine Hoffnung, seine Kunst würde begeistern in der Art, wie er sie empfand. In diesem Moment gab es keine Pflicht für ihn, schon gar nicht das Schmalzbrot in der Küche, wo Agnes wahrscheinlich ungeduldig wartete.

Mittlerweile war es nahezu dunkel im Raum, lediglich die Lampe warf einen trüben Schein auf das Blatt, und als er seinen Kopf zurückbog, es mit Abstand betrachtete, da schluckte er mehrmals – er hatte jenseits der sakralen Kunst die Nacktheit gemalt! Albrecht rieb sich die Augen, vor Erschöpfung und auch vor Staunen. Kein Künstler nördlich der Alpen hatte bislang diese Offenherzigkeit gewagt.

„Das muss die Venus sein!“, rief er laut und fast schämte er sich für seinen erotischen Sinn. Mit flotten Linien fuhr er über diese Haut auf Papier, wischte mit dem linken Daumen über die Kohle, um zu verdecken, was anrüchig war. Aber nichts verschwand, nicht die Brust und nicht die Scham, auf den Lippen noch immer die Verführung. Als hätte ich ein Stück Gaze über sie geworfen, dachte Albrecht und zeichnete, nun mit dem Schalk im Nacken, einen Amor hinzu. Nie hatte er sich erfüllter, nie glücklicher gefühlt als jetzt, da er diesen Papier gewordenen Traum hochnahm und an sich drückte. Albrecht schwor, diese Venus bald schon in Öl auf Holz zu malen. Lebensgroß sollte sie sein und voller Bewegung. Aber noch war die Zeit nicht reif.

„Erst den Fugger“, entschied er. Sechzig Gulden hatte dieser mächtige Mann im Voraus bezahlt. Agnes würde zufrieden sein.

Heute dachte er verträglich an sie, obwohl sie ihn gestern Schildmaler genannt hatte. Schildmaler! Dabei hatten ihre kleinen Augen ihn fixiert, als sie gefragt hatte, ob er mehr Drucke von seinen Werken fertigen könne. „Ich verkauf die auf dem Markt, die Leute sind verrückt danach“, hatte sie hinzugefügt und ihn stehen lassen, damit er kopierte.

Seit Venedig wusste er, dass er kein Schildmaler, kein Blechstecher, dass er ein Künstler war. Wieder sah er auf die Venus auf dem Fetzen. Agnes verstand das nicht. Sie wollte immer nur Kopien. Kopie von der Kopie von der Kopie. Das war keine Kunst. Überhaupt fehlte ihm die Dolce Vita Italiens. In Venedig legte sich abends ein goldener Schleier über die Hausfassaden wie ein Schutz vor unliebsamen Träumen. Und morgens gab es keine Trägheit zwischen Tag und Nacht, kein Entscheiden zwischen den Launen. Überall Trubel und Geschäftigkeit und munteres Geplauder.

Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken.

„Komm endlich essen“, rief Agnes in das Knirschen der Scharniere hinein.

Geistesgegenwärtig schob er seine Venus mit dem kleinen Amor unter das Leinen auf dem Tisch.

„Was machst du da? Träumst du wieder? Arbeiten sollst du! Wir brauchen neue Blätter.“

„Ich weiß, ich zeichne später noch“, antwortete er und fühlte wieder die Müdigkeit in den Knochen.

„Und vergiss nicht, dein AD in die untere Ecke zu setzen“, mahnte Agnes, während sie den Kopf wieder zurückzog.

„Bleib, Weib“, rief er, stand auf und zog sie am Ärmel sanft in die Werkstatt hinein. Er drückte sie an sich, wollte Frieden mit ihr.

„Ich bin so froh, dass du gesund bist, nicht beulig wie so viele um uns.“

„Tja, du wunderst dich? Das ist recht. Während du den Künstler gespielt hast, haben wir dem Tod ins Gesicht gesehen.“

Sie schrie die letzten Worte heraus und Albrecht blickte sie hilflos an. Aber sie erregte sich weiter:

„Leere quellende Augen, Röcheln vor innerem Brand, so viel Leid! Deine Leinentücher habe ich mir vors Gesicht gedrückt, wenn ich zur Burg ging, hoch zu meinen Eltern.“

Er hielt sie fest, strich noch immer über ihren Rücken. Er erinnerte sich gut daran, als er vor wenigen Monaten zurückgeritten war.

Von weitem hatte er die Höhen Nürnbergs erkannt, sein Pferd angetrieben. Er wollte seine Vaterstadt erreichen, bevor der Nachtwächter das Tor herabließ, und als er im Galopp heranritt, wurde er empfangen mit den erlösenden Worten: „Albrecht! Die Deinen hat die Pest verschont.“

Er jubelte, stürzte in die Burggasse, riss die Tür seines Hauses auf, wollte seine Agnes in die Arme nehmen, aber die kam ihm keifend entgegen: „Nun denn, ich hoffe, du hast wenigstens Aufträge in der Satteltasche.“ Überanstrengt sah sie aus. Und Albrecht bemühte sich, das Schöne in ihr wahrzunehmen, wie Giovanni Bellini es ihn in Venedig gelehrt hatte. „Die Haut ist nur Hülle“, hatte der Meister gesagt, „die Kostbarkeit entdeckst du in der Seele.“

„Ja, Agnes, ich war erfolgreich.“

Da spitzten sich ihre Lippen und sie kam näher, wollte ihn küssen, aber Albrecht drehte sich fort. Zu sehr brannten noch die Liebkosungen der Baronessa Elvira in seinem Gesicht. Unwillkürlich berührte er mit seiner Hand jene Stelle am Ohr, an der Elvira morgens geknabbert hatte, während er sich wohlig und tiefer in die Federn schmiegte. Ihre Haut eine Quelle edler Düfte, Vanille, Zimt und Jasmin, ihr Geist von gönnenden Gedanken durchwebt. Ach, Venedig, dort war er ein Meister, ein Ehrenmann, dort tanzten seine Ideen mit den Wellen um die Lagune und abends waren sie längst nicht müde.

Jetzt wich Agnes zurück. Aus der Distanz von einem Meter sah sie ihn an. Fast dachte er, sie würde riechen, was seine Haut noch immer ausströmte, würde sehen, was er seit der kurzen Liaison mit der Baronessa fühlte, nämlich Fleischeslust. Agnes drehte sich um, polterte die Stiegen hoch. Er hörte die Schritte und duckte sich leicht, der Zauber in seiner Werkstatt war verschwunden. Also sortierte er Blechschneider, Schere, Pinsel, die Leisten aus Ahorn, redete sich ein, die Sache mit Agnes, die würde sich fügen. Er wollte später zärtlich zu ihr sein, sie küssen, bis sie endlich die Falten um den Mund glättete. Albrecht dachte an Vater, an den geliebten Vater, Gott hab ihn selig. Vater verdankte er alles: Talent, Ansehen in der Stadt – und die Heirat. Diese kleine, resolute Frau sollte ihm Einfluss schenken bis in die begnadeten Nürnberger Kreise hinein, zählte doch ihre Familie zu den Patriziern. Albrecht wusste, was das bedeutete. Er hatte dem Vater nicht widersprochen. Er war kein Rebell. Was der Vater befahl, das war des Sohnes Auftrag, so einfach war das. Ob sie wirklich sein Segen war, vermochte Albrecht noch nicht zu sagen. Die Tatsachen sprachen dagegen: Kinder kamen nicht, von Kunst verstand sie nichts, Träume fand sie überflüssig wie Ornamente am Bilderrahmen.

Wieder ein Klopfen, nun am Fenster. Ein Schatten auf seinem Arbeitstisch. Wie eine Drohung knallte die raue Stimme von draußen herein.

„Meister, wie lange soll ich hier noch stehen und mir den Arsch verkühlen?“

Albrecht verengte die Augen zu Schlitzen und erkannte die Umrisse. Der lange Bart wuchs bis über den Hals, der breite Kragen war hochgeschlagen. Ein wuchtiger Mann mit gerader Haltung. Lucas Cranach.

„Ich wollte dein Techtelmechtel nicht stören“, donnerte der weiter. „Mach auf! Ich muss mit dir reden, sofort.“

Albrecht hielt inne. Er mochte Cranach nicht mehr. Reich war er geworden, gierig – und selten freundlich. Die Geschichten, die er über ihn hörte, handelten eher vom Tempo seiner Arbeit als von der Leidenschaft zum Werk. Cranach bestimmte jeden Handgriff der Gesellen, wie am Schnürchen verrichteten sie ihre Aufgaben. Ernst sei die Sache und kein Vergnügen, munkelten die Malerfreunde. Könnte Albrecht ihm die Gastfreundschaft verweigern? Er zögerte, die Werkstatttür zu öffnen. Er ahnte, Ungutes würde geschehen. Später sollte er sagen, er hätte nie, niemals gedacht, dass Cranach zu dieser scheußlichen Tat fähig wäre.

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II

Skalpell in der Tasche

Berlin, 15. August 2019

Der Verkehr auf dem Potsdamer Platz schwappte voran. Ein Strom aus Blech, in dem sich die Sonnenstrahlen brachen. Noch hing der Tag in der Luft, gleich würde das Dämmern ihn vertreiben. Anfahren. Stoppen. Weiter. Gegen Abend verlangsamte sich die Zeit. Auch in Berlin. Nele kannte diesen Rhythmus seit sechs Jahren, unzählige Male hatte sie sich hineinbegeben, abends, wenn die Humboldt-Universität schloss. Anfangs war es ihre Neugierde auf Kunst, später jagte der Ehrgeiz sie über den Platz. Der Ehrgeiz gehörte zu ihr, solange sie denken konnte, war einfach in ihr, an ihr, wie der Leberfleck an der Oberlippe. Zunächst hatte sie versucht, beides zu überdecken – den Ehrgeiz mit lustigen Worten, den Leberfleck mit Make-up, aber es schimmerte nach wenigen Stunden wieder durch, und da hatte sie beschlossen, beides anziehend zu finden. Nele schüttelte den Kopf bei diesem Gedanken und lenkte geschickt das Fahrrad durch den Verkehr, heute würde sie diese Strecke zum letzten Mal fahren.

Vor ihr lag ein außergewöhnlicher Abend, eine wohl schlaflose Nacht. Ihr Bauch grummelte bei dem Gedanken daran, doch ihr Verstand, scharf und eigensinnig, trieb sie voran, immer weiter der Wahrheit entgegen. Sie wusste, wie mutig es war, was sie gleich tun würde. Es könnte ihre Karriere kosten, die gerade erst so vielversprechend begann. Valentin hatte nichts zu befürchten. Der ging übermorgen in Rente. Egal, wenn sie das jetzt nicht durchzog, dann würde sie nicht mehr in den Spiegel sehen können. Sie trat kraftvoll in die Pedale, nur nicht aufhalten lassen, dachte sie, schon gar nicht vom eigenen Zweifel. So schoss sie entlang der Autoschlange auf den roten schmalen Streifen neben der Busspur, mitten auf den Radweg, den sie sonst mied, weil sie die Straße mochte, das Rasen zwischen Motoren. Sie kannte den Takt der Ampeln an jeder Ecke, schlüpfte zwischen den Phasen hindurch, querte die Fahrbahnen just vor jenem Moment, an dem alle Signale auf Rot standen. Nicht verlangsamen, nicht absteigen, in einem Rutsch den Verkehr hinter sich lassen. Drei Minuten bis zur Philharmonie, am Kulturforum entlang. Das war machbar. Mit einem Blick, der keinen Punkt fixierte, sondern die gesamte Peripherie bedachte, raste Nele weiter. Den Oberkörper weit über den Lenker gebeugt, keinen Widerstand aufbauen, Energie in den Beinen halten.

„Punkt sieben an der Hintertür“, hatte Valentin ihr gestern versprochen. Würde sie sich verspäten, wäre die Chance verpasst. Wie theatralisch das klingt, dachte sie und versuchte, gegen den Fahrtwind zu lächeln, und damit gewann die Freude wieder die Oberhand. Sie durchschnitt die lahmen Sonnenstrahlen, vorbei am gläsernen Sony-Dach. Es schien sich ihr zuzuneigen, sie zu verfolgen mit seinem Radius, als sie das Tempo nochmals anhob. Neles Waden schmerzten, sie biss die Zähne aufeinander. Jetzt nicht schwächeln, nur das nicht. Ein wenig Kühle, danach sehnte sie sich, eine Cola aus dem Eisfach des Kiosks, der neben ihr auftauchte.

An anderen Abenden pausierte sie hier, um mit der Besitzerin zu plaudern und manchmal mit den Stammgästen, die Wohnungslose waren oder gescheitert am vermeintlich guten Leben. Und die doch ihre besondere Art von Glück hochhielten wie einen einst gewonnenen Pokal, wenn sie die Bierflaschen in der Luft schwenkten. Dann erzählten sie von Tagen, als sie noch dazugehörten – als sie Job und Geld und ein Dach über dem Kopf hatten und eine Frau an der Seite. Sie erzählten davon, wie diese Tage zu lang wurden und die Nächte noch länger, wie sie Löcher in der Seele spürten, die zu Gräben wurden, und irgendwann gab es kein Halten mehr, keinen Handlauf im Leben. Sie fielen in diese Seelenlöcher hinein. Aber nun, so beteuerten sie, stünden sie wieder auf dem Boden. Keine Leistung mehr, kein Druck mehr. Sie seien glücklich und seien Freunde. Sie prosteten Nele zu – wenn die Zeit abhandenkomme, sei das ein Geschenk. Nele lauschte, unterbrach sie nicht, was hätte sie auch sagen sollen? Diese Art von Glück lag ihr nicht, sie wollte anderes, wollte Großes erreichen – und doch zog es sie hin zu diesem Kiosk, als müsste sie sich daran erinnern, wie Armut roch und wie es war, wenn Worte keine Zukunft mehr malten.

Jetzt stierte sie nach vorne, ohne die Seiteneindrücke auszublenden, eine Routine des Überlebens. Drei Sekunden, zwei, sie sprang vom Rad, hievte es über die Schulter, lief die Stufen hinauf. Dort winkte Valentin ihr entgegen, kurz vor sieben. Nele ließ das Rad fallen, schlüpfte durch den Spalt der Hintertür der Neuen Nationalgalerie, und kaum war sie im Inneren, klackten die Schlösser.

Nele lehnte sich gegen die weiß getünchte Steinquaderwand, rutschte zu Boden. Dr. Valentin Schwarzkopf berührte sanft ihre Schulter.

„Hey, alles gut. Du hast knapp zwei Stunden. Um neun kommt die Nachtwache. Dann musst du raus, okay?“

Nele wusste, was der Restaurator für sie riskierte. Sie hob den Kopf und nickte.

„Mein Raum ist offen, die Kamera ausgeschaltet. Wie sonst auch. Der Pförtner wird denken, ich arbeite konzentriert, der wird dich nicht stören.“

„Du bist ein Schatz.“

„Guck mich nicht so an, das macht was mit mir“, brummte er.

Sie kannte auch den Preis, den er erwartete und den sie nicht zahlen würde.

„Valentin, keine falsche Hoffnung. Alles ist wie immer.“ „Nicht ganz“, wippte Valentin mit dem Kopf. „Was heute passiert, ist verboten. Das Bild steht quasi unter Staatsschutz. Und gerade vor dir müsste ich es schützen. Mein Gott, ich sollte längst zu Hause sein, einen guten Wein trinken und mich auf den Empfang mit dem Regierenden morgen freuen.“

„Lass mich nicht im Stich. Carpe noctem! Wenn wir uns das nächste Mal sehen, dann wahrscheinlich auf einen Eiskaffee im Einstein.“

„Das heute kostet dich mehr als einen Eiskaffee. Der Preis ist: Carpe noctem – eine Nacht mit mir!“

Das konnte er nicht ernst meinen! Sie waren doch Freunde, auch wenn er seit Jahren mit ihr flirtete und sie darüber hinweglachte. Aber Valentin Schwarzkopf streckte theatralisch die Hände zum Himmel:

„Nun habe ich ein ganzes Arbeitsleben hinter mir, aber die Frauen verstehe ich immer noch nicht.“

Da stand sie auf, drückte ihm ein Küsschen auf die Wange, alles würde gut, sie wusste es.

„Professor Seltig wird dich köpfen, vierteilen, er wird die Folter des sechzehnten Jahrhunderts an dir ausprobieren. Und ich werde dich nicht retten können, weil er mich zuvor in den Bunker dieses Museums stößt, wo niemand meine Schreie hört.“

„Ach, Valentin, lass den Prof aus dem Spiel. Wir legen los.“

Ihre Erschöpfung war verschwunden. Er und sie vor den Gemälden, Schulter an Schulter, so wie hunderte Male zuvor. Dann schwiegen sie, waren regungslos, ließen die Zeit von ihren Körpern gleiten wie zarte, fließende Seide – und sie fühlten sich frei. Frei, zu ahnen, was der Künstler beabsichtigt hatte, als er mit Stift und Pinsel komponierte.

Aber Valentin trat von einem Bein aufs andere. Eine Stille entstand, die Nele irritierte. Mit hochgezogenen Brauen flüsterte sie:

„Du traust dich nicht.“

Valentins Stimme klang plötzlich unnachgiebig:

„Du gehst alleine da rein. Ich habe dich nicht gesehen, nicht gehört, ich habe damit nichts zu tun.“

Ihre Lippen ein O. Die Knie wie Pudding. Kurz sah sie diese Nacht sich auflösen in ein Nichts und ihre Zukunft lief vor ihren Augen ab wie ein von fremder Hand geschriebenes Drehbuch. Forschen nach Lehre. Methodenwahl wie immer. Und im Bauch hörte die Wahrheit niemals auf zu rufen. Aber Valentin klopfte ihr auf die Schulter:

„Mach mal. Du schaffst das, wenn einer, dann du.“

Sie konnte es nicht fassen, dass ihr Freund sie im entscheidenden Moment im Stich ließ.

„Morgen ist es zu spät. Dann wird Berlin, ach was, Deutschland und die Welt das Bild feiern. Ich brauche dich. Deinen Rat, deine Einschätzung. Nur dieses eine Mal noch.“

„Ach Nele, lass gut sein. Dieses Finale heute will ich nicht mehr.“

Nele sah auf seine Falten zwischen Nase und Mund, auf die quergestreifte Denkerstirn, auf das graue, schüttere Haar und war gerührt von den wachen Augen. Er konnte nicht anders, das war ihr klar. Wo Ehrgeiz die Regeln verletzte, da stieg er aus. Aber sie war anders, war jung, sie durfte an den Schrauben der Kunst drehen, auch wenn die rostig waren. Sie legte ihre Hand auf seinen Oberarm, nahm die Wärme in sich auf und einen Hauch von Tabak und Minzbonbons. In ihr meldete sich das schlechte Gewissen, sein Verliebtsein für ihren Forscherdrang auszunutzen. Unerheblich, das konnte sie jetzt nicht ändern.

„Gut. Ich gehe da jetzt rein, ohne Handschuhe zu tragen. Und auf eine Körperkontrolle verzichten wir, auch übersiehst du meine Nagelfeile in der linken Potasche.“ „Damit macht man keine Scherze.“

Valentin drehte sich um, über die Schulter sagte er noch:

„Keine Eile, du hast Zeit. Genieß es einfach, im Raum einsam zu sein, nur das Bild und du und die Stille. Glaub mir, dann tauchen wunderbare Szenen im Kopf auf. Ich habe das erlebt, das ist mein innerer Schatz.“

Langsam wischte Nele ihre feuchten Hände an der Jeans, zupfte die ungebügelte weiße Rüschenbluse zurecht. Noch zögerte sie, die Restauration zu betreten. Sie horchte den Schritten Valentins nach, sah in den Spiegel neben der Hintertür, rubbelte mit den Fingern durch ihre Haare, die wie eine Brachdistel wirkten, wirr und dornig. Dann straffte sie die Schultern und schritt selbstbewusst in den Raum, fünf Meter hoch, zwanzig Meter lang. Sie zog die Tür leise hinter sich zu, atmete die feuchte, schwere Luft.

„Ich werde jetzt die Farben riechen. Die Bitternis von reinem Ultramarin, das Gift von leuchtendem Purpur, die Essenzen aus Stein, Pflanzen und Tieren. Ich werde daran fühlen und lecken, werde tun, was ich tun muss, damit der Traum endlich aufhört, damit ich wieder schlafen kann ohne klatschnassen Schweiß.“

Vor ihr stand eine große Staffelei und darauf das Epochenwerk der Renaissance. Venus mit Amor. Sie trat nah heran, sehr nah, berührte mit der Nasenspitze den Bauchnabel der schönen Venus. Daneben erschien ein L. und ein C. und ein Wappen mit geflügelter Schlange. Dann schüttelte sie den Kopf. Da war was faul!

Dass sie heute hier stand, vor diesem Bild in der Restauration, das hatte nicht nur einen Forschergrund. Zwar hatte sie das Valentin erzählt und er hatte verstanden. Aber wäre sie ehrlich gewesen, dann hätte sie ihm von dieser Hand erzählt, die sie nachts packte und die langsam zum Wahn wurde. Nur schämte sie sich dafür, konnte mit niemandem reden. Sie trug es wie ein Geheimnis in sich, ein Geheimnis, unter dem sie zunehmend litt. Denn diese Hand streichelte Nele, wurde begierig, tastete an ihrem Körper entlang. Nele wand sich, überzogen von Gänsehaut. Und auch jetzt, vor der Venus von Cranach, sah sie diese Hand, wenn sie die Augen schloss. Ein leichtes Schaudern zog sich über Neles Rücken. Jede Ader dieser Hand kannte sie, den Verlauf einer jeden Sehne. Die geraden, tief eingebetteten Fingernägel, vornehm poliert, hätte sie blind malen können. Der Ballen breit, die Finger lang und schmal und innen die Schwielen. Sie hatte alles mit der Akribie einer Zellforscherin in ihrer Doktorarbeit dargestellt, war versessen auf das kleinste Detail, arbeitete seit Monaten an der Entschlüsselung dieser Hand, an den Quellen, die Bilder waren. Und seit Tagen wurde diese Hand drängender, lastete immer schwerer auf ihr, als würde sie darum flehen, Nele solle dranbleiben an ihren Studien, sich nicht einschüchtern lassen vom Reden der anderen, weil am Ende nur die eigene Überzeugung zähle. Diese Hände machten den Maler zum Künstler. Den Künstler zum Genie. Albrecht Dürer.

Nele flüsterte:

„Okay, Albrecht, jetzt oder nie. Aber danach lässt du mich los. Das ist unser Deal!“