Nordische Götter

 

 

 

Für Bengt und Lena,

meine Eltern, die mich zeit meines Lebens unterstützt haben. Indem ihr zu Hause immer für einen Vorrat an Papier und Stiften gesorgt habt, aber vor allen Dingen, weil ihr mich umgeben von Büchern habt aufwachsen lassen.

Vorwort

von Peter Madsen

Als Johan Egerkrans’ Buch Nordische Wesen im Jahr 2013 in Schweden erschienen ist, waren viele sehr beeindruckt von der gelungenen Kombination von Text, Layout und ausgesuchtem Buchhandwerk.

Und allem voran die Bilder! Endlich ein zeitgenössischer Illustrator, der würdig ist, das Erbe John Bauers anzutreten, der Anfang des 20. Jahrhunderts die fantastischen Illustrationen für Bland tomtar och troll schuf. Bis dahin war es höchstens noch dem Engländer Brian Froud gelungen, eine ähnlich magische Atmosphäre zu erschaffen – aber das war, bevor Johan auf der Bildfläche erschien.

Und damit nicht genug. Nach dem Erscheinen der Nordischen Wesen deutete Johan an, sich in seinem nächsten großen Projekt mit den nordischen Göttern beschäftigen zu wollen. Das Ergebnis halten Sie nun in Händen, und es übertrifft einmal mehr alle Erwartungen. Johan hat sich viel Zeit genommen und genau wie schon beim Vorgänger ausgiebig recherchiert. Er hat die nordischen Mythen und Sagen und die Sekundärliteratur dazu studiert, bietet uns aber keinen trockenen Materialzusammenschnitt aus alten Nachschlagewerken an, sondern nimmt sich kreative Freiheiten heraus, um seine persönliche Version der Geschichten zu erzählen. Das unterscheidet sein Buch von der dänischen Comicserie Walhalla und von allen mir bekannten Interpretationen. Und genau so soll es sein. Die Mythen gehören uns allen, und sie leben in der Form weiter, die jeder neue Erzähler den Geschichten gibt.

Und noch einmal zu den Illustrationen. Ich vermute, dass Johan mit den Werken der großen Märchen- und Saga-Illustratoren des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts vertraut ist, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch John Bauer beeinflusst haben: dem Norweger Theodor Kittelsen, dem Franzosen Edmund Dulac und dem Engländer Arthur Rackham, um nur die Bekanntesten zu nennen. Und natürlich Gustav Tenggren, der Bauers Nachfolger bei Bland tomtar och troll wurde.

 

In Johans Götter-Illustrationen sind neben John Bauer noch zwei bemerkenswerte Inspirationsquellen zu erkennen: der Däne Kay Nielsen, dessen stark am Jugendstil orientierter Strich den meisten wohl aus seiner Gestaltung der Episoden Ave Maria und Eine Nacht auf dem kahlen Berg im Disney-Film Fantasia bekannt ist. Und der finnische Künstler Akseli Gallen-Kallela, der mit seiner beeindruckenden Illustration des finnischen Nationalepos Kalevala Aufsehen erregt hat.

Aber Johan lässt sich von vielen Richtungen inspirieren. Man entdeckt immer wieder Referenzen zu aktuellen Comicserien-, Rollenspiel- oder Fantasy-Illustratoren wie zum Beispiel Mike Mignola, Brom und Frank Frazetta, was sicher zu der modernen Wirkung und Frische seiner Bilder beiträgt. Tatsächlich zeichnet sich Johans Stil vor allem durch eine perfekte Mischung aus neuen und alten Techniken aus. Viele Illustratoren produzieren heutzutage Bilder, denen es nach ihrer digitalen Bearbeitung an Lebendigkeit und Persönlichkeit mangelt. Johan hingegen versteht es, die technischen Möglichkeiten der Computerbearbeitung so zu nutzen, dass er seinen handgezeichneten, skizzenartigen Strichzeichnungen und groben Aquarellstrukturen Körperlichkeit und Lebendigkeit verleiht.

Auch wenn er sich gleichermaßen von Altem und Neuem inspirieren lässt, sind Johans Illustrationen aber vor allem Ausdruck seines ganz persönlichen Stils. Mit diesem Buch legt er eine erfrischend mutige und überraschende Darstellung der nordischen Götterwelt vor, die den Leser immer wieder auf Entdeckungsreise einlädt.

In meinem Atelier stehen mehrere Regalmeter Bücher über die nordische Mythologie. Dieses Buch wird einen Ehrenplatz in der Sammlung erhalten.

Übersetzung des von Barbro Lindgren

aus dem Dänischen übersetzten Textes

von Maike Dörries

Die Schöpfung

Zu Beginn der Zeit

war ein Nichts.

Nicht Sand noch See,

noch salzige Wogen.

Nicht Erde unten

noch oben Himmel.

Nur gähnende Leere,

und Gras nirgends.

 

Aus der Völuspa (Weissagung der Seherin)

Ginnungagap

Am Anfang, vor der Erschaffung der Welt, vor den Menschen und den Göttern, gab es nur Feuer, Eis und das Nichts. Im Süden war das glühend heiße Muspelheim, das Reich der Hitze, des Lichtes und des Chaos. Im Norden, in eisige Nebel gehüllt, lag das Reich der Finsternis und ewiger Kälte, Niflheim. Zwischen den beiden Reichen klaffte der bodenlose Abgrund Ginnungagap.

In Niflheims Mitte lag die Quelle Hvergelmir, aus der elf giftdampfende Flüsse, Eliwagar genannt, entsprangen, die sich in den gähnenden Abgrund ergossen. Die kalten Nebel über den Eisströmen aus dem Norden bildeten eine dicke Eisschicht auf der Niflheim zugewandten Seite des Ginnungagap. Von der anderen Seite schwappten Hitzewellen und Funken aus Muspelheim herüber. In der Mitte der Schlucht, wo Feuer und Eis aufeinandertrafen, entstand in dem Schmelzwasser erstes Leben in Gestalt des entsetzlichen Urriesen Ymir.

Während der Riese nach und nach zum Leben erwachte, formte sich aus dem Nebel eine weitere Gestalt: die Urkuh Audhumbla. Aus ihren Euterzitzen rannen vier Milchflüsse, deren nahrhafte Milch Ymir gierig in sich aufsaugte. Nach der üppigen Mahlzeit fiel er erschöpft in einen tiefen Schlaf. Da wuchsen aus seinen schweißfeuchten Achselhöhlen ein Sohn und eine Tochter, und seine Füße zeugten miteinander einen sechsköpfigen Sohn, der der Stammvater des Riesengeschlechts wurde. Ymirs Abkömmlinge breiteten sich schnell in dem jungen Kosmos aus.

Audhumbla ihrerseits leckte an den salzigen Steinen unter der dicken Eisdecke. Als sie daran leckte, kamen am ersten Tag Haarbüschel darunter hervor, am zweiten Tag der Kopf eines Mannes und am dritten Tag ein großer, stattlicher Mann. Der Mann hieß Buri und wurde Vater von Bor. Dieser vermählte sich mit der Riesin Bestla, die drei Söhne gebar – Odin, Wile und We.

Sie waren die ersten Götter.

Bors Söhne erschaffen die Welt

Die zwei von den Urwesen abstammenden Geschlechter der Riesen und Götter hassten einander. Und als sie heranwuchsen, beschlossen Odin, Wile und We, Ymir zu töten. Sie wollten die Herrschaft der Riesen beenden und für Ordnung im Kosmos sorgen. Nach einem gewaltsamen Zusammenstoß, der die Schöpfung in ihren Grundfesten erschütterte, gelang es ihnen, den monströsen Riesen zu töten. Alle anderen Riesen ertranken in Ymirs gewaltigem Blutstrom. Alle außer einem, der hieß Bergelmir. Er und seine Familie konnten sich auf einem Floß durch die Sintflut retten. Bergelmir ist der Stammvater der sogenannten Reifriesen.

 

Bors Söhne brachten die sterblichen Überreste Ymirs in die Mitte des Ginnungagap. Unter der Anleitung Odins begannen sie den Körper zu zerteilen und bauten daraus die Welt. Aus dem Fleisch des Urriesen formten sie die Erde, aus den Knochen und Zähnen Berge und Felsen. Seine Haare wurden Bäume und sein Bart das Gras. Sein Blut wurde die Seen und der große Ozean, der die Erde umspannte. Aus seinem Schädel machten sie das Himmelsgewölbe und postierten in jeder Himmelsrichtung einen Zwerg, um den Himmel zu stützen. Diese vier Zwerge bekamen die Namen Austri, Westri, Nordri und Sudri. Das Gehirn warfen sie in die Luft – so entstanden die Wolken.

 

Die Erde war rund und umgeben vom tiefen Weltenmeer. Als Odin und seine Brüder am Meeresstrand entlangwanderten, fanden sie zwei an Land geschwemmte Baumstämme, aus denen sie die zwei ersten Menschen formten. Odin hauchte ihnen Seele und Leben ein, Wile schenkte ihnen Verstand und We die sieben Sinne, darunter die Fähigkeit zu sprechen, zu sehen und zu hören. Sie gaben ihnen Kleidung und ihre Namen – den Mann nannten sie Ask (Esche) und die Frau Embla (Ulme). Von ihnen stammt das Menschengeschlecht ab.

 

Die Götter überlegten, dass ihre Geschöpfe einen Ort zum Leben brauchten, und bauten im Landesinnern eine Mauer aus den Augenbrauen Ymirs. Die Festung und das Land innerhalb der Mauern nannten sie Midgard. Das war von nun an der Wohnort der Menschen. Das Land entlang der östlichen Meeresstrände auf der anderen Seite der Mauer überließen sie den überlebenden Riesen. Es wurde Jötunheim genannt.

Als die Götter Ymirs Fleisch zerteilten, wimmelte es darin vor lauter Leichenmaden. Und sie gaben ihnen eine neue Gestalt. Die eine Hälfte wurde zu den handwerklich geschickten, eher hässlichen Zwergen, Schwarzalben genannt. Sie ließen sich in dem Teil der Unterwelt mit dem Namen Svartalfheim nieder. Die andere Hälfte wurde zu den weisen und schönen Lichtalben, die in unmittelbarer Nachbarschaft mit den Göttern im himmlischen Alfheim lebten. Schwarzalben und Lichtalben bilden eine ganz eigene Wesensform – weder Gott noch Mensch, sondern etwas dazwischen.

 

Die Götter fingen glühende Funken und Flammen aus Muspelheim ein und warfen sie an den Himmel, damit sie die Welt erleuchteten. So entstanden die Sterne, die Sonne und der Mond.

Manche Himmelskörper schickten sie auf festen Bahnen über den Himmel, um den Gang der Zeit sichtbar zu machen. So fuhr beispielsweise die schöne Nachtgöttin Nott (Nacht), eine Riesin mit rabenschwarzem Haar, in der dunklen Zeit des Tages in ihrem Wagen über den Himmel, der von dem Hengst Hrimfaxi gezogen wurde. Der Schaum aus dem Maul des Hengstes fiel als Tau auf die Erde. Notts Sohn Dagr (Tag) erleuchtete in der anderen Tageshälfte Himmel und Erde mit der glänzenden Mähne seines Pferdes Skinfaxi.

 

Am Rand des Himmelsgewölbes lenkte der Riesenadler Hräsvelg durch das Schlagen seiner riesigen Flügel die Winde in den verschiedenen Welten. Der Wechsel der Jahreszeiten war zu gleichen Teilen zwischen Winter und Sommer verteilt. Winter war ein grimmiger und bösartiger Nachkomme der grausamen Frostriesen, Sommer eine sanfte und freundliche Gottheit.

 

Die Menschen, Asks und Emblas Nachkommen, begannen, die Welt zu bevölkern. Der Riese Mundilfari zeugte eine Tochter und einen Sohn, die er so schön fand, dass er sie Sol und Mani nach den Gestirnen Sonne und Mond taufte. Aus Zorn über diese Anmaßung nahmen die Götter ihm seine Kinder weg und machten sie zu Wächtern über die Gestirne, nach denen sie benannt waren. Sol lenkte von nun an den Wagen, der die glühende Sonne über den Himmel zog, und Mani den Mondwagen.

Sol und Mani fahren schnell, weil sie ohne Unterlass von zwei Riesen in Wolfsgestalt verfolgt werden, Skalli und Hati, die sie verschlingen wollen. Zwischendurch holen die Wölfe ihre Beute fast ein, und dann kann man sehen, wie der Mond oder die Sonne langsam in ihren aufgerissenen Mäulern verschwinden, um am Ende doch immer wieder zu entkommen. Wir nennen das heute Sonnen- oder Mondfinsternis. Am Ende der Zeiten werden Sol und Mani von ihren Verfolgern verschlungen werden.

Yggdrasil und die neun Welten

Der Kosmos ist in neun Reiche oder Welten aufgeteilt:

 

Asgard, auch Godheim genannt, ist der Wohnort der Asen – das kriegerische Göttergeschlecht, dessen König Odin ist. Hier liegen die Paläste und Hallen der Götter und der heilige Urdbrunnen.

 

Wanenheim ist die Heimat des zweiten Göttergeschlechts, der Wanen. Ihr Häuptling ist Njörd. Den Wanen werden das Wasser, die Fruchtbarkeit und Zauberkräfte zugeordnet.

 

Alfheim ist der Wohnsitz der Lichtalben, elfenhafte Wesen, die den Göttern nahestehen. Der Wane Frey herrscht über die Alben.

 

Midgard oder Mannheim ist die Menschenwelt. Sie liegt, wie der Name andeutet, in der Mitte der Schöpfung. Midgard heißt auch die Festung, die die Sterblichen vor den Angriffen der Riesen schützt. In den Tiefen des großen Weltenmeers schlängelt sich die Furcht einflößende Midgardschlange um die Welt der Menschen.

 

Muspelheim ist das Reich des Feuers und des Chaos und eine der zwei ursprünglichen Welten. Kein Wesen, das nicht dort geboren ist, überlebt in den Flammen. Hier herrschen seit Urzeiten der dämonische Surt und seine Feuerriesen.

 

Jötunheim ist die Heimat von Ymirs Nachkommen – den gefürchteten Eis- oder Frostriesen. Sie sind groß, stark und zauberkundig und die Todfeinde der Götter und Menschen. Hier liegen unter einer der Wurzeln des Weltenbaums Yggdrasil der Mimirsbrunnen, der finstere Eisenwald und die mystische Festung Utgard.

 

Svartalfheim gehört zur Unterwelt. Hier leben die Zwerge – die vormaligen Maden aus Ymirs Kadaver. Jetzt fressen sie sich mit ihren Werkzeugen durch Erde und Gestein wie Leichenmaden durch totes Fleisch. Sie sind geschickte Schmiede und Handwerker.

 

Helheim oder kurz Hel ist die Heimstatt der Toten. Es ist ein dunkler und totenstiller Ort. Die Herrscherin Hel ist genauso finster wie ihr Reich.

 

Niflheim ist der tiefste Ort der Unterwelt. Hier herrscht ewige Kälte und Dunkelheit, und die schlimmsten Sünder werden vom Drachen Nidhögg und unzähligen Lindwürmern gepeinigt und bestraft.

 

Durch all diese Welten erstrecken sich die Äste und Wurzeln der Weltenesche –Yggdrasil. Ihren Ursprung kennt niemand, außer möglicherweise Mimir und die Nornen – aber sie sagen nichts. Yggdrasil umfasst den gesamten Kosmos. Ihre grüne Krone breitet sich über die Welt und streckt sich bis in den Himmel. Das weitverzweigte Wurzelsystem ist dreigeteilt. Eine Wurzel zieht sich durch Asgard, eine streckt sich an Jötunheim vorbei in den Ginnungagap, und die dritte reicht bis hinunter nach Niflheim. Unter jeder Wurzel ist eine Quelle – im Reich der Kälte die giftige Hvergelmir, im Land der Riesen der Mimirsbrunnen und in Asgard der heilige Urdbrunnen.

 

Am Urdbrunnen leben die drei Nornen, die die Schicksale der Götter und Menschen spinnen. Dort haben die Götter ihren Thingplatz und treffen sich täglich an der Quelle, um ihren Rat abzuhalten. Die Götter reiten über die Brücke Bifröst dorthin, außer Thor, der es vorzieht, zu Fuß zu gehen.

 

Yggdrasil wird von vielen Wesen bedrängt. Vier Hirsche laufen in der Baumkrone der Esche herum und fressen ihre Blätter. Auf dem Dach Walhalls steht die Ziege Heidrun und frisst sich ebenfalls an den Blättern satt. Aber am übelsten spielen ihr die Schlangen mit, die an der Wurzel nagen, die nach Hvergelmir in die Unterwelt hinabreicht. Die größte und gefährlichste von ihnen ist der leichenfressende Todesdrache Nidhögg. Trotz all dieser Kräfte, die an ihr zehren, ist die Weltesche immer grün.

 

In Yggdrasils Krone sitzt ein gigantischer Adler. Von seiner erhöhten Position kann er alles sehen, was in den neun Welten vor sich geht. Der Adler und Nidhögg hassen sich wie die Pest, und zwischen ihnen wieselt ein Eichhörnchen namens Ratatosk am Eschenstamm auf und ab, um die gegenseitigen Beleidigungen der beiden Erzfeinde zu überbringen.

Die Esche Yggdrasil duldet Unbill,

mehr als Menschen wissen.

Der Hirsch weidet oben, hohl wird die Seite,

unten nagt Nidhögg.

 

Aus Grimnismal (Das Lied von Grimnir)

Asen und Wanen

Frigg, Thor und Odin

Illustration aus Olaus Magnus’

Geschichte der nordischen Völker