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1989er Schicksale

Wendegeschichten

Anthologie

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Erste Auflage 2019

© Das Copyright der Geschichten liegen

bei den jeweiligen Autoren

© Coverbild: Detlef Klewer

Covergestaltung, Korrektorat

und Layout: net-Verlag

© net-Verlag, 09125 Chemnitz

printed in the EU

ISBN 978-3-95720-249-9

eISBN 978-3-95720-263-5

1989er Schicksale
Wendegeschichten

Viele Menschen erinnern sich gerade in diesem
30jährigen Jubiläums-Jahr der Wende an
Begebenheiten, die sie persönlich in diesem
Zusammenhang berührt haben.
Wie haben damalige Besucher aus dem Westen die
DDR erlebt? Welche Schicksale ereilte Menschen,
die sich in dem System nicht gefügt haben?
Viele wurden durch die Mauer getrennt, selbst eine
Liebe innerhalb der Ostblockstaaten war tabu.
Fiebern Sie mit, ob Wiedersehen nach dem Mauerfall
tatsächlich gut ausgehen, und nehmen Sie Anteil an
den Gedanken, die die Menschen noch heute bewegen,
wenn sie an diese unglaubliche Zeit zurückdenken …

Spannend, ergreifend, einfühlsam … Sie werden das
Buch nicht weglegen, wenn Sie zu lesen beginnen
.

Wir wünschen allen Lesern

einige unterhaltsame Stunden!

Ihr net-Verlag-Team

Inhaltsverzeichnis

Jutta Gornik

Eine lange Reise von Deutschland nach Deutschland

Uta Benefeld-Süß

Eine Prise DDR

Renate Handge

… und über Nacht ist alles anders

Lena Hoffmeister

Kindheit im Harz

Jo Kilian Meister

Vor der Buchhandlung

Dr. Tengis Khachapuridse

Mein Brocken der Mauer

Joachim Frank

Terra incognita

Christa Kormann

Mamas Brief

Michael Johannes B. Lange

Rosenhof

Inga Kess

Er – meine große Liebe?

Dörte Schmidt

Das Ostpaket

Christian Engelken

Epitaph für die DDR

Michael Johannes B. Lange

Langer Atem

Heidemarie Opfinger

Das Wagnis

Ramona Ina Buggenhagen

Der Umbruch begann in Leipzig

Bernd Daschek

Zirkeltag

Melissa May

Doppelter Abschied

Andrea Wübken

Sinn oder Unsinn

Josina Papenfuß

Überwacht

Susanne Sophie Schmalwieser

Nachtfalter

Dorothea Möller

»Wo geht’s denn hier zum Honecker-Haus?«

Melissa May

Verwandtschaftstreffen

Sabine Reifenstahl

Farben der Freiheit

Wolfgang Rödig

Günter

Joachim Voß

Grenzerfahrung

Autorenbiografien

Illustratorenbiografien

Buchempfehlungen

Jutta Gornik

Eine lange Reise von Deutschland nach Deutschland

Freitag, 10. November 1989, kurz vor Mittag auf der A 2 in Richtung Helmstedt. Wir sichten Trabis, Wartburgs, Škodas. Sie kommen uns hupend und blinkend entgegen. Es werden mehr, immer mehr. Ein ungewohntes Bild. Die Parkplätze an der Autobahn quellen über vor rollenden Stinkern aus der DDR. An der letzten Tankstelle vor dem Grenzübergang hören wir, dass es in der Grenzstadt Helmstedt chaotisch zugehe. Die City sei dicht. Geschäfte hätten wegen Überfüllung geschlossen. Es ist gerade mal 14 Stunden her, seit das Unfassbare geschah: Die Grenzen zwischen den beiden deutschen Staaten wurden geöffnet. Keine geplante Aktion war das, eher ein Versehen.

Wir sind auf dem Weg nach Berlin. Des geschichtsträchtigen Ereignisses wegen. An der Kontrollstelle gibt es die üblichen Formalitäten. Die Transitbestimmungen sind nicht außer Kraft. Doch die Gesichter der Diensthabenden zeigen sich nicht, wie sonst üblich, düster und reserviert, sie sind freundlich, heiter. An Uniformen entdecken wir Blumenschmuck. Nette, manchmal sogar herzliche Worte werden gewechselt. Ganz neue Töne sind das in der Nähe von bedrohlich wirkenden Wachtürmen, Betonbarrieren und Stacheldraht.

Auf der Gegenfahrbahn die Einreisenden: DDR-Bürger in Heerscharen. Jenseits der Absperrung in der Fahrbahnmitte drängen sich Bundesbürger. Auch hier wird gejubelt. Eine Frau geht umher und verteilt Süßigkeiten an die Kinder, die in den Fonds der DDR-Autos artig sitzen. Eine lange Fahrt haben sie oft hinter sich! Ein Familienvater berichtet, dass er mit den Seinen um zwei Uhr in der Frühe losgefahren sei. Er könne alles, was gerade passiert, noch nicht recht glauben. Dem Mann werden bei diesen Worten die Augen feucht.

Tränen fließen reichlich beim Überrollen der Grenze, welche die beiden deutschen Staaten trennte; Tränen, angesammelt in achtundzwanzig Jahren.

Ein Trabi, der gerade seinen Geist aufgegeben hat, wird mit vereinten Kräften in den Westen geschoben, ein anderer am Abschleppseil dorthin gezogen. Junge Leute hängen aus den Autofenstern, winken, rufen, lachen. Kinderköpfe strecken sich voller Neugier aus geöffneten Schiebedächern. Verwunderte Blicke aus großen Augen.

Spontan reicht eine Frau einer anderen einen Blumenstrauß in den Wagen. Ein schmerzliches Lächeln zieht über das Gesicht der Beschenkten. Dann kommen auch ihr die Tränen.

Das Knallen von Sektkorken vermischt sich mit dem Knattern von Hubschraubern, die über dem Grenzübergang kreisen. Die Autos aus Magdeburg, Karl-Marx-Stadt, Halle, Leipzig und wo sie sonst noch herkommen tuckern Stoßstange an Stoßstange ins gelobte Land, überrollen die grenznahen BRD-Städte. Ausnahmezustand herrscht allenthalben! Nichts geht mehr, so die Tageslosung! Doch irgendwie geht da immer noch etwas.

Wie wird es in Berlin, dem Ziel unserer Reise, aussehen, zugehen? Nachfrage in der provisorisch eingerichteten Grenz-Pressestelle. Betont freundlich, aber sehr bestimmt wird uns von unserem Vorhaben abgeraten. Bei der Ausreise nach West-Berlin müsse zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit acht Stunden Wartezeit gerechnet werden. Na, wenn schon! Uns soll das nicht abhalten!

Ein DDR-Bürger strahlt uns aus seinem pöttkernden, verschrammulierten Vehikel an. Seine erhobenen Finger zeigen: Victory! Sieg! Dann kurbelt der Mann die Fensterscheibe weit runter und ruft uns zu: »War ja auch endlich Zeit!«

Kurz vor Berlin. Da ist kein Stau! Innerhalb einer halben Stunde haben wir passiert. Auf dem Tisch im Kontrollhäuschen – ein Blumenmeer. Weiß der Himmel, woher es stammt.

Über die Avus geht es zügig zum Messegelände. Am besten hier irgendwo den Wagen abstellen und in die U-Bahn umsteigen! Wir wähnen uns sehr schlau! Die Stufen hinab zur Station »Kaiserdamm«. Schon fährt eine Bahn ein. Sie hat ungewöhnlich viele Wagen. Jeder ist zum Bersten gefüllt mit Menschen. Da passt niemand mehr hinein. Ohne Halt zieht deshalb die Bahn an uns vorbei. Erst bei der dritten gelingt es uns, einen Einstieg zu erzwingen.

Die Enge im Wagen macht das Atmen schwer. Dafür aber ist das Stehen absolut sicher. Umfallen geht nicht. Eingezwängt wie Heringe in der Dose rattern wir der U-Bahn-Station »Zoologischer Garten« entgegen. Unvorstellbare Menschenmassen brechen dort wie ein Tsunami aus den Wagen, überfluten die Gänge, schieben die Treppen empor und ergießen sich oberirdisch in die Stadt. Gegenläufig drängen ähnlich massige Menschenströme die Treppen herab und versuchen, sich in die Wagen von U-Bahnen zu quetschen. Das Überwachungspersonal ist längst in einen Ausnahmezustand geraten. Jeder Versuch, ordnend einzugreifen, ist zwecklos. Ein Kollaps des Verkehrssystems droht sekündlich. »Tretet doch zurück!«, dröhnt eine weibliche Stimme bittend und verzweifelt zugleich aus dem Lautsprecher! »Wir wollen euch doch nicht die Beine abfahren!«

Ostbesucher können alle öffentlichen Verkehrsmittel an diesem Tag kostenlos benutzen. »Wir fahren nicht mehr nach Fahrplan, mehr nach der Eieruhr!«, sagt uns in reinem Berliner Dialekt die entnervt diensthabende Frau aus ihrem Glashäuschen, ehe sie zum ungezählten Mal ins Mikro donnert: »Lasst doch erst mal aussteigen, dann geht auch wieder was rein!«

Wir werden ständig angehalten und um Auskunft gebeten. Mit dem U-Bahn-Plan in der Hand irren viele Hilfe suchend umher.

»Was?«, sagt ein älterer Mann, der mit Einkaufstüten und Taschen reich bepackt ist, und starrt uns ungläubig an. »Ihr habt noch gar nichts eingekauft?« Er hält uns ganz offensichtlich für Ostler.

Von Menschen gleich nebenan hören wir, dass die »Friedrichstraße« dicht sei und dass es da oben Erbsensuppe zum Nulltarif gäbe.

Überirdisch wird das Menschengewimmel noch mit der Menge der Automobile multipliziert. Um dem katastrophalen Ansturm Herr zu werden, hat der Betreiber eines Cafés am Eingang zur U-Bahn-Station kurzerhand alle Ein- und Ausgänge seiner Lokalität verschlossen. Eine Verzweiflungstat.

Wir werden in Richtung »Straße des 17. Juni« und dann zum Brandenburger Tor hingetrieben. Der Strom der Fußgänger ist inzwischen nun zu einer internationalen Prozession geworden. So hören wir englisch, französisch, russisch … Einträchtig drängen wir Schulter an Schulter mit Japanern, Holländern und Amerikanern voran.

Vor dem Brandenburger Tor haben Medientechniker ihr monströses Aufnahmeequipment postiert. Hoch in den Himmel ragen Sendemasten. Es lärmen Transformatoren, Mitarbeitertrosse schwirren in Hektik. Provisorisch wurden Tribünen für Berichterstatter errichtet. Eine Unmenge von Scheinwerfern macht mit gleißendem Licht den dunklen Abend zum Tag.

Die Augen der ganzen Welt sind ungläubig und begierig zugleich nach Berlin gerichtet. Sperren sollen das unberechtigte Fußvolk zurückhalten, doch längst sind die seitlich platzierten Podeste erstürmt.

Ganz Vorwitzige überrennen alle Barrieren und bewegen sich unaufhaltsam in Richtung Mauer. Vier Meter dick ist sie hier. Davor sind Mannschaftswagen der bundesdeutschen Polizei zur Wagenburg aufgefahren. Auf der Mauer stehen unbeweglich NVA-Soldaten. Sie sehen aus wie warnende Statuen. Ein unheimliches Szenario.

»Genau vor drei Wochen habe ich hier gestanden. Und jetzt …« Die Stimme der jungen Frau neben uns klingt, als wolle sie uns ein Märchen erzählen.

Füße platschen durch den Schlamm. Vor einigen Stunden haben Wasserwerfer an dieser Stelle euphorische Besteiger und Demontierer von der Mauer vertrieben. Es riecht modrig. Es liegt eine unbeschreibliche Spannung in der Luft.

Da nähern sich Sprechchöre. Ein Gruppenaufmarsch naht. Mit ihm zieht Randale bedrohlich heran. Fußballfans sind es. Ausgerechnet jetzt und hierher kommen sie feuchtfröhlich und offensichtlich nicht frei von Aggressionen von einem Spiel. In der Atmosphäre knistert es gefährlich.

Wie ein Lauffeuer verbreitetet sich plötzlich die Nachricht: »Am Potsdamer Platz machen sie die Mauer auf!«

Sofort setzt sich an der Mauer entlang ein Strom Neugieriger in Bewegung. Inzwischen gibt es überall in dem sozialistischen Bollwerk Löcher, durch die neugierige Blicke nach drüben geworfen werden können. Ein Klopfkonzert rundum verrät, dass Menschen mit Werkzeugen dabei sind, für die weitere Durchlässigkeit der Mauer zu sorgen.

Als sich ein Brite, ausgerüstet mit Schutzhelm und schwerem Gerät, stemmend an die Arbeit macht, um die Gunst der Stunde zu nutzen, wird er von DDR-Seite mittels Megafon scharf und unmissverständlich gewarnt.

Zu dieser Zeit sind Stücke aus der Mauer bereits Souvenirs von hohem ideellem und auch materiellem Wert. Ganz fixe Profiteure haben mit dem Verkauf solcher Teile schon begonnen.

Das Gelärme von Baumaschinen dringt in das Stimmengewirr. Dort, wo sich vor dem Bau der Mauer der Potsdamer Platz, das weltstädtisch pulsierende Herz Berlins, befand, und wo sich jetzt nichts außer ödem Land ausbreitet, tut sich etwas. Ein Polizist, den wir danach befragen, bestätigt, dass hier tatsächlich in den frühen Morgenstunden ein Durchbruch der Mauer erfolgen soll.

Vor einem der hölzernen Aussichtstürme nebenan drängt sich eine Menschenschlange. Jeder will einmal nach drüben schauen, wo sie die Öffnung der Mauer vorantreiben. Die Arbeiten gehen die ganze Nacht hindurch, beobachtetet von Mengen an Schaulustigen. Darunter befinden sich viele aus der Ferne Angereiste.

Da ist zum Beispiel ein älteres Ehepaar aus San Francisco, das sich spontan in einen Flieger nach Deutschland setzte, als die Nachricht vom Mauerfall in Berlin als Eilmeldung um den Erdball raste.

Da sind Beobachter aus Schottland, aus Frankreich, aus jedwedem Teil der Bundesrepublik. Sie alle vereint der Wunsch, diesen geschichtsträchtigen Augenblick hautnah in der gerade eben noch geteilten Stadt mitzuerleben. Es ist ein internationales Happening, eines mit versöhnlichen, positiven, hoffnungsvollen Vorzeichen.

Jeder spricht mit jedem. Fremde umarmen einander in Freude. Jeder vor Ort fühlt sich wie ein Statist in diesem einmaligen Schauspiel der Wende.

Ein alter Berliner, der seit Stunden in der frostigen Luft ausharrt, sagt zu seinem Nachbarn plötzlich, er müsse doch mit eigenen Augen sehen, wie sie sein zerrissenes Berlin jetzt wieder zusammenflicken. »Ja, der Potsdamer Platz war vor dem zweiten Weltkrieg der verkehrsreichste Platz Europas. Das kann er jetzt endlich wieder werden.«

Um sechs Uhr in der Frühe wird es dann tatsächlich geschehen! Die Mauer fällt am Potsdamer Platz auf breiter Front. Zwei Stunden später gehen die beiden Bürgermeister der nicht mehr geteilten Stadt, einer von Ost, der andere von West kommend, von Zuschauern umjubelt aufeinander zu. Die Teilung Deutschlands, die Teilung Berlins, ist Vergangenheit. Sie ist jetzt Geschichte! Die volle Tragweite dessen, was hier gerade passiert, zu begreifen, das vermag allerdings in diesem Augenblick kaum einer. Alles erscheint allen wie ein Wunder.

Zurück von der Mauer zum Europa-Center. Zu Fuß! Bus? Taxi? Fehlanzeige! Rund um das Center herrscht Volksfeststimmung und fröhliches Treiben. Menschen, wohin das Auge blickt. In der Menge lassen sich Einzelwesen schwer ausmachen. Wie eine Hymne tönt es immer wieder und überall: »So ein Tag, so wunderschön wie heute!«

Die Unzähligen, die aus dem Osten anreisten, tragen den Glanz der Freude in den Augen, können das, was sie erleben, was sie sehen, nicht glauben. »Das ist ja Wahnsinn!« wird zum Standardausruf.

Ein junger Mann erzählt, als er hörte, die Grenzen würden geöffnet, habe er sofort Leipzig verlassen und sich nach Berlin aufgemacht. Seither sei er fast ohne Pause in dem Trubel unterwegs. »Meine Frau wird denken, ich komme nicht mehr zurück.« Bis Sonntagabend wolle er auf alle Fälle bleiben. »Schlafen kann ich dann noch!« Er ist ganz sicher, dass »die« jetzt nicht mehr zurückkönnen. »Ein bisschen habe ich auch zur Wende beigetragen«, sagt er stolz. Er ist Neues-Forum-Mitglied.

Bananen, Tomaten, Süßigkeiten, volle Regale in allen Geschäften. »Und das viele Licht!« KaDeWe, der Ku’damm … Die Besucher von drüben kommen aus dem Staunen nicht heraus. Der goldene Westen zum Anfassen.

»Mensch, ihr habt ja wirklich alles«, sagt einer, wird nachdenklich und fügt hinzu: »Aber wir arbeiten doch auch.«

Vor den Kinos, den Discos drängen junge Leute. Einheimische lassen den Landsleuten »von drüben« Vortritt. Für sie ist Berlin heute ganz besonders weit geöffnet.

Ein Halbwüchsiger kramt im Laternenschein verstohlen in seiner Geldbörse. Seine Lippen bewegen sich zählend. Ob es reicht für die Batman-Vorstellung? 100 D-Mark Begrüßungsgeld. Das ist viel Geld. Mehr als mancher drüben für die Arbeit eines Monats bekommt. Doch es reicht nicht aus, wenn man sich alle Wünsche, die sich in langer Zeit angesammelt haben, im plötzlich geöffneten Schlaraffenland der westlichen Brüder erfüllen möchte!

Einer im Hintergrund hat ihn beobachtet, den Jungen, der sein Geld zählt. Nun schiebt er sich sehr dicht an ihm vorbei. Als er vorüber ist, liegt in dem geöffneten Portemonnaie des jungen Mannes ein Geldschein, der dort zuvor nicht war.

Riesengedränge herrscht rund um die Gedächtnis-Kirche. Das Europa-Center gleicht einem Notaufnahmelager. Auf Decken, über den blanken Boden ausgebreitet, sitzen Frauen, schlafende Kinder im Arm. Männer stehen in Trauben zusammen und diskutieren heiß. Hunderte, Tausende brachen Hals über Kopf mit der ganzen Familie nach Berlin auf, als sie die Meldung von der Grenzöffnung hörten. Nun sind sie hier. Manche haben nicht einmal eine Stulle im Gepäck.

Alle Euphorie konnte nicht verhindern, dass es Nacht geworden ist, eine kalte Nacht. Die spontan Aufgebrochenen sind gelandet und nun gestrandet. Sie haben kein Essen, kein Bett, sind mittlerweile erschöpft. Viele kennen keinen Menschen in der großen, hellen, lauten Stadt. Ihr Glück: Berliner Herzen schlafen nicht! Die Rundfunksender überschlagen sich mit Aufrufen zu Hilfe und Beistand für die Besucher aus dem Osten. Und die Berliner lassen sich nicht lange bitten. Sie schwärmen aus und holen die Hilfsbedürftigen in ihre Heime. Es wird die Nacht der Nächstenliebe!

Die Rundfunksprecher kommen kaum nach, die angebotenen Schlafplätze und Mahlzeiten anzubieten. Jede Laube, jeder Wohnwagen wird an die Leute gebracht. Ganz Berlin ist auf den Beinen und aus dem Häuschen. Es wird für viele die Nacht der neuen Freunde.

An allen Ecken und Enden wachsen provisorische Stände mit Heißgetränken wie Pilze aus dem Boden. Nulltarif lautet die Devise. Auch Essen umsonst gehört straßauf, straßab ins quirlige Stadtbild.

Banken zahlen die ganze Nacht hindurch das Begrüßungsgeld aus. Die Angestellten arbeiten freiwillig und ohne Bezahlung. Wer noch kein warmes Plätzchen finden konnte, dem wird in wohltemperierten Schalterhallen sicherer Unterschlupf gewährt.

Wo anders als in Berlin, wo man geübt ist im Umgang mit Ausnahmezuständen und Krisen, könnte schneller, unbürokratischer und herzlicher das Chaos aus Freude bewältigt werden?

Ein Polizist sagt, den Überblick über seine Mehrstunden habe er längst verloren. »Wir wissen zwar alle nicht mehr, wo uns der Kopf steht, aber wir machen die nicht enden wollende Arbeit gern für dieses wunderbare Ereignis.« Auf die Frage, wie viele Besucher seiner Schätzung nach heute nach Berlin gekommen seien, meint er: 250000.

Er irrte. Es waren doppelt so viele.

Kurz nach Mitternacht auf der Transitstrecke von Berlin Richtung Helmstedt. Hell steht der fast volle Mond über dem Land. Seltsam! Nur wenige Autos sind unterwegs. Das ändert sich schlagartig, als wir uns Magdeburg nähern. Bald bewegen wir uns in einer auflaufenden Wagenkolonne. Nur noch dreißig Kilometer bis zur Grenze, aber jetzt läuft gar nichts mehr. Scheinwerfer verlöschen nach und nach. Kollektives Warten hebt an. Eine Tugend, in der es die DDR-Bürger zur Meisterschaft gebracht haben. Wir erhalten eine Lektion in Sachen »Geduld«. Selbst die Kinder ertragen lautlos das endlose Warten. Beschämung bescheren uns hingegen unsere ungeduldigen Landsleute, die auf dem begrünten Mittelstreifen der Schnellstraße verbotswidrig an den Wartenden vorbeirauschen.

Rundum ist stille Nacht. Kein Kind weint oder nervt, kein Autofahrer schimpft. Von allen ergeben ertragen werden die fünf (!!!) Stunden entnervendes Vorrücken zur Grenze.

Mittendrin erleben auch wir erst hoffnungsvolles Anfahren, gleich wieder Anhalten und Stillstand. Zwischen den tuckernden, qualmenden, stinkenden Zweitaktern quälen wir uns voran. Der Verkehrsfunk meldet, dass die Autoschlange in Richtung Helmstedt mittlerweile auf siebzig Kilometer angewachsen ist. An der »Grenze« erfahren wir, die Fahrzeit von Berlin bis hierhin betrage gegenwärtig fünfzehn Stunden.

Als wir uns endlich mit gewohnter Geschwindigkeit auf der A2 bewegen, sind seit unserer Hinfahrt etwa achtzehn Stunden vergangen.

Gerade meldet der Wetterbericht für den Tag ein Hoch aus Osten! Als ob wir das nicht schon längst wüssten!

Uta Benefeld-Süß

Eine Prise DDR

Erinnerungen an die Besuche bei den Großeltern zwischen 1965 und 1989

»Aus grauer Städte Mauern zieh’n wir durch Wald und Feld …«

Im Auto herrscht fröhliche Aufbruchs- und Urlaubslaune, sobald die Sonne aufgeht und wir richtig wach sind. Helle Stimmen singen Wanderlieder mit zweistimmigem Refrain, sogar mein Vater brummelt mit. Ich bin erstaunt, denn ich habe ihn noch nie singen gehört.

Die ersten »Hasenbrote« sind verzehrt, der pelzige Geschmack auf der Zunge und die schweren Augenlider sind verschwunden, bald sind wir schon an der Grenze.

Raststätte Helmstedt, letzter Halt auf westdeutschem Boden. Traditionsgemäß mit Kaffee und Pfefferminztee.

Dann wird es ernst. Wachtürme, Betonmauern, graue Baracken und Stacheldraht, eine endlose Schlange bis zum Kontrollpunkt. Meine Mutter gibt letzte Anweisungen, der Wagen hält.

Mein kleiner Bruder kann in solchen Momenten nie die Klappe halten. Während die Eltern in größter Anspannung die Personalausweise umklammert halten, kräht er von hinten Sätze wie: »Ist das ein Russe, Mami?«, »Guck mal, der Russe hat ein Gewehr!«

Schwerste Drohungen sind nötig, um ihn zum Schweigen zu bringen. Wir kapieren schnell, dass es hier nichts Lustiges gibt. Höchste Vorsicht ist geboten, ungefragt reden nicht erlaubt.

Was macht aber ein kleiner Junge, wenn er gerade jetzt, unbedingt und ganz dringend aufs Klo muss?

Die Grenzkontrollen dauern. Wir müssen alle aussteigen und das Gepäck ausladen, dann wird das Auto auseinandergenommen. Mein Vater weist höflich darauf hin, dass sich bei diesem Modell die Rückbank nicht umklappen lässt. Der Grenzsoldat glaubt ihm nicht und holt Verstärkung. Ein Gefühl von Ausgeliefertsein erfasst mich.

Müssen wir jetzt zusehen, wie sie unser neues Auto demolieren? Sie mühen sich vergeblich ab und geben irgendwann auf. Meine Mutter und mein Bruder haben keine Toilette gefunden, hinter die Baracke durften sie nicht gehen, also pinkelt Burki an die Panzersperre neben der Straße.

»Schönes Auto!« Diese, mit Nachdruck ausgesprochene Feststellung von Opa beendet stets die ausführliche Westfahrzeugbesichtigungsrunde, die gleich nach der ersten Begrüßung auf dem Hof stattfindet.

Meine Brüder zappeln um ihn herum, sie können den nächsten Programmpunkt kaum abwarten, freuen sich seit mindestens 400 Kilometern schon darauf.

Doch erst gibt es Bohnenkaffee, Brause und Blechkuchen. Bienenstich mit Kokosflocken, Mandeln gibt es meist nicht. Die Eltern berichten von der Einreise.

»Die Schweine!«, lautet Opas abschließender Kommentar, allumfassende Bezeichnung für Menschen, die in der DDR etwas zu sagen haben.

Für die Jungs das Stichwort, sich in Erinnerung zu bringen: »Opa, fährst du jetzt mit uns Motorrad?«

Die Maschine steht natürlich bereit, längst ist ausdiskutiert worden, in welcher Reihenfolge wir Sozius sein werden, die Strecke ist für alle exakt dieselbe.

Die Allee hinunter, Gühlen-Glienicke, Neu-Glienicke, Rheinsberg-Glienicke; Ortsnamen, die einen magischen Klang besitzen, so geheim, dass fast niemand auf der Welt sie kennt.

Auch ich genieße die Fahrt, da kann keine Kirmesattraktion mithalten.

Die nächste Aktion ist ebenfalls von großer Wichtigkeit, dokumentiert sie doch den Beginn der Aufpäppelung viel zu dünner Stadtkinder unter Omas Regiment.

Die riesige Waage steht in einer Kammer zwischen Scheune und Waschküche. Es gruselt uns immer ein bisschen, denn hier lagern die wunderschönen Eichensärge, die mein Opa für seine Frau und sich angefertigt hat. Im Moment sind sie allerdings noch mit Korn gefüllt.

Gewicht für Gewicht wird aufgelegt, das jeweilige Ergebnis sorgfältig notiert.

Am Ende unseres Aufenthaltes werden wir alle an Gewicht und Umfang zugelegt haben, zur Freude unserer Oma, die stolz sein wird, dass sich der Aufwand gelohnt hat.

Nun folgt die Gartenrunde. Hier passt der Ausdruck »Besichtigung«, denn es gibt wahrhaftig viel zu sehen und zu bewundern. Unzählige Sorten von Gemüse und Obst wachsen in den verschiedenen Stockwerken, großzügige Stauden und Büsche, aber auch akkurate Reihen von kleineren Gewächsen, die ich gar nicht alle kenne.

Die Anlage ist gepflegt, kein Unkräutchen verwirrt den Blick des Betrachters, meine Großeltern sind zu recht stolz auf diese Pracht. »Hier verhungert so schnell keiner«, lacht Oma.

Wir Kinder sind eigentlich nicht so begeistert von Gemüse, doch bin ich kein Rohkostverächter. Ich mag alles, was sich einfach so in den Mund stecken lässt, besonders die knackig saftigen Möhren.

Während die Familie, eifrig nach links und rechts deutend, langsam in Richtung Erdbeerfeld wandert, ziehe ich rasch eine große Rübe heraus. Doch, wie ungeschickt, ich habe auch zwei ganz kleine Möhrchen erwischt, was mache ich denn jetzt mit denen?

Vorsichtig bohre ich mit dem Zeigefinger ein Loch in den sandigen Boden, vergewissere mich, dass keiner schaut, und stecke die Mini-Möhren hinein. Vielleicht wachsen sie ja wieder an.

Auf dem Rückweg zum Haus bleiben wir bei dem verkrüppelten Baum stehen, dem man es nicht ansieht, dass er jedes Jahr so wundervoll dunkle und süße Kirschen hervorbringt. Eingeweckt schmecken sie nach Marzipan, die besten Kirschen der Welt.

Doch der Baum ist krank, Opa zuckt resignierend mit den Schultern, auch Oma schüttelt ratlos den Kopf.

Wir kommen beim Hasenstall vorbei, und ich finde dankbare Abnehmer für die Reste meines Möhrenabenteuers; alle Spuren sind damit beseitigt.

Die alte Standuhr schlägt sechs Mal, Abendbrotzeit. Es wird aufgetischt, was der Kühlschrank hergibt, dazu werden gekochte Eier gereicht, auch die Hühner haben sich in den letzten Wochen mächtig anstrengen müssen.

Eine Prise Salz dazu lasse ich genüsslich zwischen Daumen und Zeigefinger rieseln. Sie wird dem kleinen, orange geriffelten Porzellantöpfchen entnommen, das stets in der Schublade des Tisches bereitsteht und die Regel »mit Lebensmitteln spielt man nicht« auf so wunderbar unauffällige Weise außer Kraft setzt.

Oma hat jetzt Pause, sitzt strahlend am Esstisch in der »guten Stube« und freut sich während des gesamten Essens immer wieder darüber, dass wir gesund und munter bei ihr gelandet sind. Sie nickt meinem kleinen Bruder zu: »Iss, Sohni!«

»Ich bin schon satt, Oma«, lautet die übliche Antwort.

Das ist für sie kein Argument: »Schmeckt es dir nicht?«

»Doch, Oma, schmeckt gut!«

»Dann iss, Sohni!«

Die weibliche Variante für meine Cousinen und mich lautet: »Iss, Dochter!«

Nach dem Abwasch, dazu sind auch wir immer eingeteilt, wechseln wir in die »kleine Stube«.

Dort liegt unter dem Fernseher das gesetzlich vorgeschriebene Hausbuch, in das, peinlich genau, alle Besuche eingetragen werden müssen. Wer (Name, Geburtsdatum, Beruf, Staatsbürgerschaft) hält sich wann, mit wie vielen Personen im Haus auf, wann hat die polizeiliche An-, bzw. Abmeldung stattgefunden.

Dann schaltet Opa den Fernseher ein. Damit der funktioniert, muss auch der Spannungsregler, ein kleiner, schwarz glänzender Kasten unter dem Gerät, in Betrieb genommen werden.

Die »Aktuelle Kamera« beginnt, und er schimpft oder wundert sich über die Berichte. »Wat nich all jeft!«

Wir ignorieren die Nachrichten, aber dann folgt zur Entschädigung »Unser Sandmännchen« mit »Pittiplatsch, der Liebe«.

Wir sind müde. Die Eltern rauchen. »F6«, mit Kartoffelkraut, wie Opa behauptet.

Wir sind eine geteilte Familie. Unser Teil lebt nach Ansicht meiner Eltern auf der sonnigen Seite; wir haben ein schönes Auto, Bananen und die große Freiheit.

Meine Sicht auf die DDR ist eine ganz eigene, natürlich lokal begrenzt und emotional. Ich finde, hier scheint die Sonne viel öfter als im verregneten Sauerland, darum brauche ich kein Auto, sondern fahre mit dem Fahrrad zum nahegelegenen See. Der Garten ist voller Obst, und ich bin frei wie nie, denn es sind Ferien. Birgt die Schule nicht die höchste Form von Freiheitsberaubung überhaupt?

In dieser Umgebung befindet sich mein kleines, persönliches Paradies. Klar gibt es Spannungen in der Familie, doch was geht mich das an?

Den einen oder anderen Knacks im Paradies kann ich trotzdem nicht ignorieren.

Am nächsten Tag müssen wir in die Stadt fahren, um uns polizeilich anzumelden. Dies muss innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden nach der Ankunft geschehen.

Schon im Auto maule ich: »Muss ich da unbedingt dabei sein?« Mit Grauen denke ich an den langen Flur, die Wände mit amtsgrüner, abblätternder Farbe bedeckt, unbequeme Holzstühle, falls man einen Platz bekommt und der Mann mit dem Spitzbart an der Stirnseite, der nicht lächelt, ewig lange Wartezeit, nur um einen Stempel in den Ausweis zu bekommen.

Und dabei ginge ich jetzt so gern die lange Straße mit den kleinen Läden entlang, mit wachem Blick für all die ungewöhnlichen Kostbarkeiten, die ich dort entdecke. Dinge wie Emaillegeschirr oder mechanische Handrührgeräte, die bei uns längst ausgestorben sind oder nie erfunden wurden.

Das Allerbeste daran ist: Ich habe Geld!

In der DDR-Verwandtschaft hat es sich längst herumgesprochen, dass Uta es problemlos schafft, ihr Geld für nützliche Dinge auszugeben.

Im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern, die behaupten, es gäbe hier nichts Brauchbares zu kaufen.

Das Geld fliegt mir also zu; auch von dem täglichen Zwangsumtausch von 25,- DM pro Person profitiere ich.

Doch zunächst muss ich mich in Geduld üben. Wir haben Pech, viele Menschen warten in dem Flur. Wir ergattern zwei Sitzplätze und wechseln uns mit dem Sitzen ab, anderthalb Stunden lang.

Wir Kinder dürfen nicht laut sein, und so tauschen wir gedämpft Albernheiten aus und verbotene Witze.

Familiengeheimsprache, es genügen oft schon Blicke und eindeutige Handbewegungen. Die Stimmung kann jederzeit kippen und, bestenfalls, in haltlosen Lachanfällen münden. Die Anspannung der Erwachsenen verstärkt die Unnatürlichkeit dieser Situation.

Endlich dürfen wir eintreten. In dem großen, hohen Raum, grüne Wände auch hier, befinden sich vier oder fünf Schreibtische, auf Podesten stehend, und dadurch riesig und furchteinflößend.

Ich trete nach Aufforderung auf einen zu und reiche der Volkspolizistin meinen Reisepass hinauf. Meine Stimmung ist gereizt, ich bin das Warten leid.

Sie nimmt das Dokument entgegen, schaut abwechselnd auf das Foto und auf mich, immer hin und her, um anschließend, quälend lange, darin zu blättern.

Du meine Güte, was gibt es denn an so einem Ausweis zu studieren? Dann die Frage: »Wie heißen Sie?«

Ja, kann die dumme Kuh nicht lesen?

»Das steht doch da!«

Eine Sekunde lang Schockstille, dann legt sie los und schreit mich in Grund und Boden.