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Reiner Neumann

Denkfehler!

Was Ihr Verhalten wirklich steuert

Wie Sie bessere Entscheidungen im Job treffen

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Print-ISBN:        978-3-446-45744-7
E-Book-ISBN:   978-3-446-45955-7
ePub-ISBN:       978-3-446-46162-8

Vorwort

Wir halten uns für rational, wir wägen Alternativen ab, diskutieren sachlich, und bei einer 70-prozentigen Regenwahrscheinlichkeit haben wir den Schirm dabei. Doch die Sozial- und die Neurowissenschaften zeigen uns, dass der Mensch vollkommen anders „tickt“: Emotionen bestimmen unsere Entscheidungen. Wir wägen keineswegs nach sachlichen Kriterien mehrere Alternativen ab – meist wählen wir optimistisch die uns spontan am meisten überzeugende Variante. Dass ausgerechnet unsere Ehe geschieden werden könnte, halten wir nicht für möglich, und 80 Prozent der Autofahrer und Autofahrerinnen glauben fest daran, dass sie besser fahren können als der Durchschnitt aller Verkehrsteilnehmer.

Menschen bewältigen ihren Alltag größtenteils mithilfe einer Reihe einfacher Regeln, sie bevorzugen schnelle Urteile und Entscheidungen, wir alle wollen unseren Alltag möglichst einfach gestalten. Wir machen dabei eine ganze Reihe von Denkfehlern – kognitive, soziale und kulturell bedingte. Manchmal ist es eine optische Täuschung, die uns bei der Einschätzung von Entfernungen einen Streich spielt – manchmal ist es unsere Erwartung, dass direkt aufeinanderfolgende Ereignisse Ursache und Wirkung sind. Wir denken bevorzugt linear und können uns ohne Formeln und Hilfsmittel exponentielle Entwicklungen nicht vorstellen. Bestätigende Informationen halten wir generell für glaubwürdiger als unserer Meinung widersprechende.

Nicht jeder macht solche Fehler, und wir begehen solche Fehler nicht in jeder Situation – sie unterlaufen uns aber doch häufig genug. Und dann können sie schwerwiegende Folgen haben.

Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess – wir konstruieren unsere Realität auf der Grundlage der Informationen unserer Sinne. Eigene Erlebnisse beeindrucken uns sehr stark, eine lebhafte Schilderung hinterlässt mehr Eindruck als eine wohlfundierte Statistik. Was wir wahrnehmen und wie wir wahrnehmen, wird in hohem Maße von unserer Erfahrung, unseren Werten oder unseren Vorlieben bestimmt. Wir sehen meist genau das, was wir zu sehen erwarten – und wir bewerten es im Licht unserer Einstellung. Absolute Objektivität ist undenkbar – jede Wahrnehmung ist subjektiv geprägt und jede Handlung wird von unserer Wahrnehmung geleitet. Neue Informationen und neue Erfahrungen werden in diese bestehenden Muster integriert – und damit zu einem weiteren Element unseres „Mindsets“. Je offener wir wahrnehmen und handeln, desto flexibler ist unser Mindset, desto besser können wir Denkfehler erkennen und akzeptieren oder korrigieren.

Manche Menschen nutzen die Begrenzungen unserer Wahrnehmung und unsere Denkfehler für Zaubertricks – das kann dann sehr nett sein. Andere nutzen sie, um uns hinters Licht zu führen und uns zu betrügen – das ist dann weniger nett.

Darum ist es gut, die häufigsten Fehler in den wichtigsten Handlungsfeldern zu kennen. Einige Fehler müssen wir hinnehmen, gegen andere können wir uns wappnen. Rechtzeitig gewarnt, verbrennen wir uns weniger oft die Finger am heißen Herd!

In diesem Buch erfahren Sie, welche Einflüsse auf unser aller Verhalten wirken, welche Denkfehler wir häufig machen. Sie erhalten klare Hinweise, wie Sie Ihr Verhalten daran orientieren und optimieren können – Ihr eigenes Handeln und Ihren Einfluss auf das Handeln anderer. Im Ergebnis können Sie „bessere“ Entscheidungen treffen und diese erfolgreicher umsetzen.

 

Viel Erfolg! Und viel Spaß!

Reiner Neumann

Inhalt

Titelei

Impressum

Inhalt

1 Das Leben ist eine Illusion – oder warum wir nicht alles sehen, was wir sehen

1.1 Die Welt fassbar machen

1.2 Die subjektiven Realitäten

1.3 Erinnerung: ein ziemlich kleines Stück Papier

1.4 Erinnern: kreativ, beeinflussbar und immer im Fluss

1.5 Literatur

2 Warum wir fest an unsere Vernunft glauben – und doch meist emotional entscheiden

2.1 Ein Irrtum seit Platon: Homo oeconomicus

2.2 Emotionen: gerne verleugnet, aber dennoch zentral

2.3 Die Rolle des Unbewussten

2.4 Das wertvolle Bauchgefühl

2.5 Das Für und Wider einfacher Faustregeln

2.6 In die richtige Richtung schubsen

2.7 Literatur

3 Einfach ist besser – und doch glauben wir an ein differenziertes Urteil

3.1 Die Sehnsucht nach Ordnung und Kontrolle

3.2 Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

3.3 Einfach überzeugen

3.4 Literatur

4 Der Zahlenzauber – warum wir oft richtig falschliegen, wenn wir an Zahlen, Daten, Fakten und Experten glauben

4.1 Nach Präzision und Kompetenz klingen

4.2 Zahlen lügen nicht!

4.3 Wissen ist Macht

4.4 Literatur

5 Wir selbst – meist normal, aber doch besser als der Rest

5.1 Zwischen Selbstbild und Fremdbild

5.2 Der Blick in den Spiegel

5.3 Ich bin, wie ich bin. Oder?

5.4 Meister der Selbsttäuschung

5.5 Literatur

6 Wir und die anderen – unsere Einschätzung . . . und wie wir sie bilden

6.1 Sich in Szene setzen

6.2 Mitmenschen schematisch einschätzen

6.3 Unsicherheit vermeiden durch Gruppenbildung

6.4 Gleich unter Gleichen

6.5 Illusion Menschenkenntnis?

6.6 Wenige Sekunden entscheiden

6.7 Literatur

7 Manipulation ist möglich – wie andere unsere Unvernunft ausnutzen

7.1 Mit „Kino im Kopf“ punkten

7.2 Einfaches ist besser!

7.3 Die Mehrheit hat immer recht

7.4 Der Reiz der Rarität

7.5 Der Wunsch nach Balance

7.6 Die Verpackung machts

7.7 Literatur

8 Menschen sind so – typische Fehler und Fallen und wie Sie ihnen entgehen können

8.1 Wie sind wir?

8.2 Unsere Denkfehler: eine beachtenswerte Liste!

8.3 Mit Denken Denkfehlern ein Schnippchen schlagen

8.4 Zu guter Letzt: Tipps fürs Management

8.5 Literatur

Literatur: Was schreiben andere?

Der Autor

1 Das Leben ist eine Illusion – oder warum wir nicht alles sehen, was wir sehen

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Das ist für Sie drin:

Image       Unsere Wahrnehmung ist selektiv,

Image       geprägt von situativen Faktoren,

Image       aber auch von Erfahrungen, Vorurteilen, Erwartungen.

Image       Wir sehen, was wir sehen wollen.

Image       Wir erinnern uns nur an Ausgewähltes . . .
. . . und das ist immer „bearbeitet“
. . . von uns und von anderen.

1.1 Die Welt fassbar machen

Jeder Reiz stellt unsere Wahrnehmungssysteme vor Herausforderungen. Täuschungen beginnen auf der Ebene der Physiologie und Biologie – dazu gehören die bekannten optischen Täuschungen, aber auch das unterschiedliche Temperaturempfinden für leicht temperiertes Wasser, je nachdem, ob die Hand vorher in einen Kübel mit Eiswasser oder mit heißem Wasser getaucht war. Bestimmte Reize können wir auch überhaupt nicht wahrnehmen, obwohl sie objektiv vorhanden und messbar sind – ultraviolettes Licht zählt ebenso dazu wie Ultraschall. Wir wollen uns intensiver mit den Beschränkungen unserer Wahrnehmung in sozialen Situationen beschäftigen.

In einem Film spielen zwei Teams Basketball. Es ist ein kurzer Film, nur 23 Sekunden lang. Sie als Zuschauer haben die Aufgabe, die Pässe des Teams in weißen Trikots zu zählen. Genau das tun Sie auch. Wenn Sie den Test machen wollen, schauen Sie sich vielleicht den Film (http://www.theinvisiblegorilla.com/gorilla_experiment.html) an, bevor Sie weiterlesen?

Wie auch immer, am Ende werden Sie gefragt, ob Ihnen im Verlauf des Films etwas aufgefallen sei. Acht von zehn Zuschauern verneinen. Beim zweiten Ansehen des Films ohne spezielle Aufgabe fällt allen sofort auf, dass ein Mensch im Gorillagewand langsam das Spielfeld kreuzt, in der Mitte des Spielfelds sogar innehält und sich auf die Brust trommelt. Diesen Versuch führten Christopher Chabris und Daniel Simons 1999 durch (Chabris/Simons 2009). Das Experiment hat inzwischen Eingang in viele Textbücher gefunden, und die Autoren bekamen dafür 2004 den Ig-Nobelpreis der Psychologie für Phänomene, die „uns zuerst zum Lachen und dann zum Nachdenken bringen“.

Dieses Experiment zeigt (wieder einmal, auch wenn viele Menschen das immer noch nicht glauben mögen), dass unsere Wahrnehmung ihre Grenzen hat. Immer wenn wir uns auf einzelne Parameter einer Situation konzentrieren, nehmen wir andere Aspekte genau deswegen nicht wahr. Wir sehen oder hören vieles von all dem nicht, was um uns herum vorgeht.

Illusionskünstler arbeiten gezielt mit den Grenzen unserer Wahrnehmung. Schauen Sie sich beispielsweise einen anderen Film mit einer Vorführung des zu Recht sehr bekannten US-Magiers Raymond Joseph Teller an (Teller 2015): Wenn Sie Lust haben, sehen Sie sich das Video zunächst an – es ist wirklich eindrucksvoll . . .

Wie aus dem Nichts lässt Teller eine ganze Reihe Silbermünzen auftauchen – aus der Luft, oder er pflückt sie von der Kleidung einer Person aus dem Publikum. Die Münzen legt er in einen Glasbehälter, den diese Dame vor sich hält. Danach nimmt Teller die Münzen aus dem Behälter heraus und legt sie in ein mit Wasser gefülltes Aquarium. Durch einfache Bewegungen seiner Hände füllt sich dieses Aquarium dann mit vielen Goldfischen, die munter umherschwimmen. Ungeschulte Betrachter stehen staunend vor dem großartigen Stück „Magie“. Wissenschaftler hingegen müssen immer alles genauer wissen – Richard J. Wiseman und Tamami Nakano (2016) haben diesen Trick untersucht (und sich dabei mit der Rolle des Blinzelns für das Gelingen der Magie beschäftigt, das ist hier aber nicht wichtig). Im Rahmen dieser Untersuchung ließen sie den Trick von anderen professionellen Illusionskünstlern begutachten. Diese identifizierten übereinstimmend Zeitpunkte, wann, und Orte, von denen Teller die Münzen und Fische holte – insgesamt sieben „Aktionen“ und sechs „Effekte“. Die Profis sahen anderes und mehr als die gemeinen Zuschauer.

Ähnliche Phänomene kennt jeder aus seinem Alltag: Wenn wir uns bekannte Menschen nicht „sehen“, die uns in der Fußgängerzone begegnen, oder – schlimmer – wenn wir bei einer Fahrt mit dem Auto eine rote Ampel einfach nicht wahrnehmen und weiterfahren. Privatpiloten machen häufig Fehler, wenn sie auf Verkehrsflughäfen landen – die Dimensionen sind vollkommen anders als bei kleinen Flughäfen in der Provinz. Dinge, die wir nicht erwarten, nehmen wir nicht wahr oder nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit. Und Dinge, die wir erwarten, nehmen wir für bare Münze, auch wenn sie gar nicht oder anders vorhanden sind als eben erwartet.

Es handelt sich bei diesen „Fehlern“ um ein evolutionär angelegtes Problem. Wir können nur Dinge wahrnehmen, die die Schwelle zu unserer Aufmerksamkeit durchbrechen, und von diesen können wir gleichzeitig nur fünf plus minus zwei „Items“ wahrnehmen und bearbeiten. Dazu kommt das Tempo: Wir sind als „Fußgänger“ geboren, und an dieses Tempo haben sich unsere Wahrnehmungssysteme angepasst. Zudem nehmen wir ja auch all das nicht wahr, was wir nicht wahrnehmen – logisch! Insofern sind wir uns all der Ereignisse, die wir um uns herum nicht wahrnehmen, auch nicht bewusst.

1.2 Die subjektiven Realitäten

Die Ereignisse, die wir wahrnehmen, werden von uns dann auch noch gerne mit unseren Erwartungen vermischt – ob wir uns nun sicher sind, dass Klaus oder Claudia zu der Party kommen wollten und wir Stein und Bein schwören, sie gesehen zu haben, oder ob wir eine tatsächlich veränderte Frisur oder ein neues Kleid nicht bemerken, eben weil wir nicht damit gerechnet haben. Trotzdem glauben wir meist recht unbeirrt daran, dass wir unsere Umwelt gut wahrnehmen. Zeugen eines Verkehrsunfalls haben vielleicht unterschiedliche Standorte und müssen deswegen das Unfallgeschehen auch anders wahrgenommen haben, trotzdem gehen sie meist unbeirrt davon aus, dass ihre Sicht der Dinge korrekt, wenn nicht sogar die einzig mögliche ist. „Ich bin doch selbst dabei gewesen!“

Auch ohne emotionale Einflüsse ist unsere Wahrnehmung nicht wirklich objektiv, wie es vielleicht ein Bild von einer Kamera sein könnte. Wahrnehmung unterliegt einigen Regeln, die zu möglichen Verzerrungen führen: nahe beieinander befindliche Objekte nehmen wir als Gruppe wahr (drei Bäume in einem Wald), auch einander ähnliche Elemente (Gnus inmitten von Zebras). Linien sehen wir als durchgehend, selbst wenn sie unterbrochen werden (der bekannte Pfeil, der durch das gezeichnete Herz zu führen scheint), kleine Lücken füllen wir auf, und Objekte oder Lebewesen, die sich in dieselbe Richtung bewegen, nehmen wir ebenfalls als Gruppe wahr. Die räumliche Tiefe nehmen wir je nach Geschwindigkeit und umgebenden Objekten sehr unterschiedlich wahr, dazu gibt es Phänomene wie die Objekt- oder die Helligkeitskonstanz. Wir suchen nach Mustern – in einfachen Konfigurationen wie Wolken erkennen wir scheinbar Gesichter, in unverbundenen Aktionen erkennen wir konspiratives Handeln. Wir versuchen, unserer scheinbar konfusen Welt durch Verbindungen zwischen einzelnen Stimuli Sinn zu verleihen (Proojien/Douglas/De Inocencio 2018).

Unser Gehirn ist sogar ein ausgezeichneter Detektor für Muster. Wenn wir ein Wort wie „Südafrika“ lesen, werden sofort Assoziationen aktiviert – das kann Stellenbosch sein, das Weingut Muratie oder die „whale soup“ in der Bucht von Hermanus, für andere sind es vielleicht Townships, Jacob Zuma und die im ANC allgegenwärtige Korruption. Diese Erfahrungen und die damit verknüpften Assoziationen und Emotionen prägen unsere unbewussten Denkprozesse und beeinflussen so unser Verhalten. Die Waren in Supermärkten sind mit einem Barcode gekennzeichnet. Dieser enthält für den Händler eine Reihe nützlicher Produktinformationen. Punkt. Das glauben Sie doch nicht wirklich? Wenn ja, dann ist es dem Teufel erfolgreich gelungen, sie in die Irre zu führen. In Wirklichkeit ist nämlich in jedem Strichcode unsichtbar die Zahl 666 verborgen, gemäß der Offenbarung des Johannes die Zahl des Tieres. Das ist der Teufel. Über den Barcode schleicht sich Satan in die Kühlschränke und von dort in die Seelen der Menschen. Der Böse hat seine Rechnung allerdings ohne Wassilij Bojko-Weliki gemacht. Wassilij ist der Präsident von Russkoje Moloko („Russische Milch“, eig. Übers.), einer Molkerei in der Kleinstadt Ruza bei Moskau. Der Handel verlangt den Strichcode auch in Russland, das Unternehmen kann also nicht einfach darauf verzichten. Doch der gewitzte Gospodin weiß, wie er den Teufel besiegen kann: Der Strichcode wird mit einem roten Kreuz durchgestrichen, das neutralisiert den Einfluss Satans (Hans 2014). Gläubige können es auch mit dem Gottseibeiuns aufnehmen.

Es gibt also bereits auf der Ebene der einfachen Wahrnehmung eine ganze Reihe von objektiven und subjektiven Verzerrungen – die uns zu Handlungen führen können, denen die Mehrheit wohl eher kopfschüttelnd gegenübersteht. Wir machen den ersten Fehler, wenn wir glauben, dass wir unseren Augen und Ohren, unseren Sinnen ganz allgemein trauen können.

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Denkfehler: Wir glauben, dass wir unsere Umwelt gut wahrnehmen können

Image       In Wirklichkeit sehen wir nur einen winzig kleinen Ausschnitt.

Image       Unsere Wahrnehmung unterliegt eingebauten Fehlern wie Konstanz oder Tiefe.

Image       Die Wahrnehmung dieses Ausschnitts ist durch Emotionen, Erwartungen und mehr erheblich verzerrt.

Image       Manchmal nehmen wir auch Dinge wahr, die gar nicht vorhanden sind.

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Wir nehmen bei Weitem nicht alle Reize wahr, die in unserem Umfeld vorhanden sind. Die Reize, die wir wahrnehmen, unterziehen wir – immer – einer unbewussten Bewertung. Wichtig oder unwichtig, neu oder bekannt, gut oder schlecht . . . je nach dem Ergebnis dieser Bewertung werden diese Reize dann weiterverarbeitet. Rote Tomaten sind reif und süß, also lecker, also kaufe ich vielleicht ein paar. Schwarze Tomaten (zum Beispiel Black Cherry; siehe Tomaten.de 2017) können auch reif und süß und lecker sein, das weiß ich aber vielleicht nicht, und darum lasse ich sie liegen. Diese Entscheidung treffen wir unbewusst. Schon die Farbe und die Form des Tellers können den wahrgenommenen Geschmack erheblich verändern. Erdbeereis schmeckt deutlich süßer, wenn es auf weißen runden Tellern serviert wird (Metzger 2018). Ein Brot kann eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben, je nachdem, ob wir hungrig sind oder gerade gut gegessen haben. Dieselben Münzen, zum Beispiel zwei Euro-Stücke, werden als unterschiedlich groß wahrgenommen, abhängig von der Bedürftigkeit der betreffenden Person.

Alle Reize müssen bearbeitet und verarbeitet werden – wichtig, bekannt, freundlich, gefährlich, interessant? Wir müssen Worten Bedeutung geben, Gesten interpretierten, Gesichter lesen . . . aus alldem konstruieren wir unsere Realität. Wir sind dabei keine objektiven Beobachter, wir sind aktiv beteiligt, entweder als Teil des Geschehens oder zumindest als emotional Beteiligte. Wir nehmen die „magischen“ fünf plus minus zwei Elemente wahr, die wir jeweils wahrnehmen können, und transportieren sie in unser Kurzzeitgedächtnis. Dort wird diese Wahrnehmung für maximal etwa 30 Sekunden lang gespeichert und bearbeitet. Wenn wir die Elemente nicht weiter emotional „aufladen“, verschwinden sie danach – spurlos, wie beispielsweise die Ziffern einer Telefonnummer, die Sie sich gemerkt haben, gleich nach dem Wählen aber wieder vergessen können.

1.3 Erinnerung: ein ziemlich kleines Stück Papier

Julia Shaw ist eine deutsch-kanadische Psychologin, die wichtige Arbeit auf dem Gebiet der „falschen Erinnerungen“ – memory hacking – geleistet hat. Dazu später mehr. Sie beschreibt den Prozess von unserem Umfeld über die Wahrnehmung bis zur Erinnerung sehr anschaulich (Shaw 2016): Demnach begann einer ihrer Professoren seine Vorlesung über das Gedächtnis mit einem größeren Blatt Papier in der Hand. Das Papier steht für alles, was um uns herum passiert. Dann faltete er das Blatt einmal in der Mitte – das ist, was wir wahrnehmen. Noch einmal gefaltet – das erregt unsere Aufmerksamkeit. Noch einmal gefaltet – das interessiert uns. Und noch einmal – das sind unsere Erinnerungen. Und noch einmal gefaltet – das ist uns als Erinnerung zugänglich. Ein ziemlich kleines Stück Papier – (beispielsweise) von DIN A4 (210 mal 297 Millimeter) auf etwa 50 mal 35 Millimeter – und das ist vermutlich eine optimistische Schätzung.

Unsere eng begrenzte Fähigkeit zur Aufmerksamkeit ist auch der Grund für unsere mangelhafte Begabung zum Multitasking. Niemand kann sich gleichzeitig bewusst auf mehrere Aufgaben konzentrieren. Oder versuchen Sie doch einmal, zur selben Zeit die Zutaten für Ihr Abendessen zusammenzustellen, die Kleidung für die Party morgen auszusuchen und gleichzeitig Rechenaufgaben zu lösen. Das wird nicht gelingen. Ein Grund, warum Sie vielleicht beim Auto-fahren noch einmal über das gleichzeitige Telefonieren und Schminken oder die Suche nach den passenden Münzen für die Parkuhr nachdenken sollten. Das ist im Büro nicht anders: Niemand kann zur selben Zeit aufmerksam telefonieren und seine Mails checken und . . . Lassen Sie es einfach bleiben! Konzentrieren Sie sich auf eine Sache zur selben Zeit, das geht schneller, wird besser und ist vom Ergebnis her deutlich befriedigender.

Der Mythos von der Fähigkeit zum Multitasking hat vermutlich seinen Ursprung darin, dass wir natürlich ein paar Dinge gleichzeitig erledigen können – neben der einen Aktivität, die unsere volle Aufmerksamkeit verlangt, können das dann aber nur automatisierte Abläufe sein – gehen, trinken oder Zähne putzen.

Unsere Wahrnehmungen werden in drei Schritten zu Gedächtnisinhalten geformt – Encodierung, Speicherung und Aktivierung (oder Abruf). Die Encodierung steht für ein mentales Abbild der äußeren Realität. Das kann bildhaft sein, sprachlich oder haptisch – mentale Abbilder bewahren für uns wichtige Eigenschaften des repräsentierten Gedächtnisinhalts, wie eine Skizze oder eine kurze Beschreibung des Treffens mit einem Nachbarn beim Bäcker. Dabei stellen wir auch Verbindungen mit anderen ähnlichen Gedächtnisinhalten her – Gleich und Gleich gesellt sich gern. Diese Information steht dann im Speicher für eine bestimmte Zeit zur Verfügung – abhängig davon, wie stark unsere Emotion bei der Bildung des Gedächtnisinhalts war oder wie eng sich dieser mit anderen Inhalten verknüpfen lässt oder wie oft wir den Inhalt abrufen. Das können wir jetzt nämlich mit dem gespeicherten Inhalt tun.

Das Gedächtnis kann dabei implizit oder explizit sein. Als „implizit“ werden die Gedächtnisinhalte bezeichnet, die wir unbewusst benutzen – dass das Bild auf Ihrem Schreibtisch von der Reinigungskraft verrückt wurde, erkennen Sie „auf einen Blick“, ohne dass Sie sich die gewohnte Position des Bildes bewusst ins Gedächtnis rufen müssen. Wenn Ihre Chefin Sie jedoch fragt, wann genau der Kunde sich zu Ihrem Angebot äußern wird, müssen Sie nachdenken und den Termin für das nächste Telefonat bewusst in Ihrem Gedächtnis aktivieren.

Wenn Sie sich an das letzte Telefonat mit diesem Kunden erinnern, dann benutzen Sie den deklarativen Teil Ihres Gedächtnisses – Sie erinnern sich an Ereignisse, vielleicht an Zahlen, Daten und Fakten oder daran, dass es an dem Tag furchtbar heiß war. Neben diesem Gedächtnis verfügen Sie noch über einen prozeduralen Teil, dort speichern Sie Ihr Wissen darüber, wie Dinge getan werden – Kaffee kochen oder eine Leiter hinaufsteigen.

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Image       Wahrnehmungen werden nur über einen komplexen Prozess zu Erinnerungen.

Image       Wir erinnern nur einen Bruchteil des Wahrgenommenen.

Image       Erinnerungen stehen uns unterschiedlich lang zur Verfügung.

Image       Erinnerungen können unterschiedliche Formen annehmen.

Image       Niemand kann Multitasking.

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1.4 Erinnern: kreativ, beeinflussbar und immer im Fluss

Unser Gehirn besteht aus Neuronen, Zellen, die sich auf Informationsverarbeitung spezialisiert haben. Es gibt mindestens 200 verschiedene Arten von Neuronen. Im Prinzip verfügen alle Neuronen über dieselbe Struktur: ein Zellkörper, von dem ein Axon ausgeht (oder mehrere). Am Ende des Axons sitzen Dendriten, das sind feine Verästelungen, die an ihrem Ende Synapsen haben. Diese Synapsen senden oder empfangen Signale an andere oder von anderen Synapsen, die diese dann wiederum über das Axon an den Zellkörper weiterleiten. Die Weiterleitung findet meist auf chemischem Wege statt, das bedeutet, dass an den Synapsen Botenstoffe ausgestoßen werden, die wiederum von den anderen Synapsen empfangen und in elektrische Impulse umgeformt werden. All das geht sehr schnell – wenn Sie sich in den Finger schneiden, spüren Sie den Schmerz beinahe sofort. Die Dauer dieses „beinahe“ macht für unsere Wahrnehmung keinen Unterschied. Diese Beschreibung ist sehr grob und schemenhaft. Wichtig ist sie zum Verständnis des Bildens von Erinnerungen: Je öfter bestimmte Nervenbahnen beansprucht werden, je öfter eine Erinnerung aktiviert wird oder je häufiger wir bestimmte Bewegungen ausführen, desto mehr Dendriten bildet die Nervenzelle, desto intensiver ist der Austausch mit den Nachbarzellen, desto mehr Nervenzellen bilden sich sogar. Sie dürfen es sich ein wenig wie einen Muskel vorstellen, der auch stärker wird, wenn wir ihn häufiger belasten. Darum erinnern wir uns besser und leichter, wenn wir bestimmte Erinnerungen häufiger nutzen, und darum können wenig oder gar nicht angesprochene Erinnerungen auch verblassen. Das nennen wir „Vergessen“.

Wenn wir uns erinnern, aktivieren wir also die entsprechenden Neuronen. Botenstoffe werden ausgeschüttet, Signale weitergeleitet, Verbindungen gestärkt, andere nicht benutzt. Es handelt sich also um eine aktive Arbeit mit der Erinnerung. Darum wird unsere Erinnerung an Ereignisse oder anderes auch jedes Mal ein wenig verändert, wenn wir das Gedächtnis aktivieren. Erinnerungen können miteinander verschmelzen, wir können neue Elemente hinzufügen – Erinnerungen sind nicht wie in Stein gemeißelte Figuren, sie sind mehr wie Figuren aus feuchtem Ton, an denen wir jedes Mal ein wenig verändern, wenn wir sie in die Hand nehmen.

Wir werden uns niemals an all unsere Erlebnisse erinnern – „und das ist auch gut so“, um einen früheren Berliner Bürgermeister zu zitieren (Wowereit 2015). Effizientes Handeln setzt voraus, dass wir die jeweils benötigten Gedächtnisinhalte schnell aufrufen können, die wir für Entscheidungen benötigen. Alle nicht benötigten Erinnerungen sortieren wir darum aus (Richards/Frankland 2017). Dieses Vergessen wird von unserem Gehirn aktiv betrieben. Einer dieser Mechanismen ist die aktive Schwächung oder Beseitigung synaptischer Verbindungen, ebenso wie die Schaffung neuer Neuronen aus Stammzellen im Hippocampus. Damit können alte Verbindungen gewissermaßen „überschrieben“ werden.

Unter Wissenschaftlern herrscht noch Uneinigkeit darüber, ob wir alte Erinnerungen wirklich vergessen oder ob wir nur nicht mehr imstande sind, sie aufzufinden, weil die Verbindungen – Synapsen, Dendriten – zurückgebildet wurden. Ein wichtiges Merkmal für das Ausmaß von Erinnern und Vergessen ist anscheinend die Konstanz unseres Umfelds – in einem dynamischen Umfeld muss ich mich ständig auf Neues einstellen und brauche dafür entsprechendes Potenzial. In einem konstanten Umfeld hingegen muss ich mich gut an Bekanntes erinnern können.

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Image       Erinnerungen spiegeln immer Ausschnitte der Realität.

Image       Erinnerungen sind körperliche Abbildungen unserer Erfahrungen.

Image       Erinnerungen werden kontinuierlich verändert.

Image       Vergessen ist eine wichtige Bedingung für Lernen und Erinnern.

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Nicht wenige Menschen glauben, dass unsere Erinnerung wie ein Videorekorder funktioniert. Wir können uns demnach an Erlebtes ziemlich genau und reichlich detailliert erinnern. In Wirklichkeit jedoch ist Erinnern ein kreativer Prozess. Wir speichern das Erlebte je nach Stimmung ab – oder auch nicht. Wir erinnern uns an das ganze Ereignis oder an Teile davon, je nachdem, in welchem Kontext wir die Erinnerung abrufen. Und beim Abruf wird die Erinnerung selber verändert – sodass wir niemals ein zweites Mal dieselbe Erinnerung aufrufen können. Wir ergänzen alte Erinnerungen mit neuen Erfahrungen und fügen die Erinnerungen anderer mit unseren Erinnerungen zusammen. Was wir zu wissen glauben, ist immer eine Zusammenfassung eigener Erfahrungen und der gehörten oder gelesenen Erfahrungen anderer Menschen, alter und korrekter Erinnerungsbausteine sowie neuer und später hinzugefügter Elemente. Manche Erlebnisse erinnern wir sehr genau und detailreich, andere nur verschwommen und pauschal oder bruchstückhaft.

Ereignisse mit einer emotionalen Bedeutung für uns können wir besser erinnern. Vermutlich weiß niemand mehr, was am 11. September 2015 in der Welt Wichtiges geschehen ist. Hier nur einige Schlagzeilen des Tages (FAZ.net 2015): Jana Kudrjawzewa dominierte die Gymnastik-WM, Gladbach verlor 0 : 3 gegen den HSV, 120 Pariser Polizisten mussten zum Gentest, weil vier von ihnen von einer kanadischen Touristin der Vergewaltigung bezichtigt wurden, und der Exoplanet „51 Eridani b“ wurde in 96 Lichtjahren Entfernung entdeckt. Dahingegen weiß vermutlich jeder, dass am 11. September 2001 das abscheuliche Attentat islamistischer Terroristen die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York zerstörte. Es handelte sich um ein unglaubliches und sehr emotionales Ereignis – die Forschung bezeichnet das als Blitzlichterinnerung oder flashbulb memory. Die Erregung führt zu einem Adrenalinschub, der uns erlaubt, mehr aufzunehmen als gewöhnlich. Zudem hat dieses Ereignis lange die Nachrichten dominiert und unser aller Leben drastisch verändert – denken Sie nur an die trotz aller Sicherheit auch entnervenden Kontrollen vor jedem Flug.

In allen anderen Fällen ist unsere Erinnerung keine Replik der Realität, es ist eine Neuschöpfung auf der Basis des seinerzeit Wahrgenommenen. Manchmal übernehmen wir auch die Erinnerungen anderer Menschen – manchmal in Teilen, dann ergänzen wir unsere Erinnerung mit den „gekaperten“ Inhalten. Manchmal erzählen wir auch die Erinnerungen anderer, als ob wir selber dabei gewesen wären. Wir können auch selber oft nicht unterscheiden, ob es sich nun um die Wahrheit – und nichts als die Wahrheit – handelt oder ob wir lediglich eine schöne Geschichte erzählen. Es gibt viele gut belegte Fälle, in denen der Erzähler selber guten Gewissens und voller Überzeugung an seine Geschichte glaubt. Denn – Sie wissen es bereits – niemand kann sich exakt an Ereignisse erinnern, und die Erinnerung bleibt ebenso wenig unverändert. Gleichwohl ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir uns wegen der stärkeren Emotionen besser an eigene Erlebnisse als an die anderer Menschen erinnern. Menschen unterscheiden sich darin, welche Reize sie wie zu Bausteinen ihrer Weltsicht machen:

„Zwei mal drei macht vier, widewidewitt und drei macht neune, ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt.“

Astrid Lindgren

Die Zeilen aus dem Pippi-Langstrumpf-Lied beschreiben den Irrtum, von der einen Wirklichkeit zu reden. Jeder Mensch erlebt seine Wirklichkeit. Diese Realität können wir sogar verändern.

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Image       Unsere Wahrnehmung ist bewusste und unbewusste Auswahl.

Image       Diese Auswahl wird vielfach bearbeitet – Encodieren, ablegen, aufrufen und bearbeiten, ablegen . . .

Image       Jeder hat sein spezielles Bild der Wirklichkeit.

Image       Wir glauben an unser Bild und richten unser Handeln daran aus.

Image       Wahrnehmung und Gedächtnis sind lücken- und fehlerhaft und damit manipulierbar.

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Man kann Menschen falsche Erinnerungen „einpflanzen“. Die bereits erwähnte Julia Shaw (2016) ist Expertin auf diesem Gebiet. Wie geht sie vor? In einem Versuch erklärte sie, den Probanden dabei zu helfen, ihre Erinnerungen aufzufrischen. Sie besprach zunächst einige allgemeine richtige Erlebnisse aus der Kindheit, dann wurden die Teilnehmer mit einer Anschuldigung konfrontiert. Shaw belehrte die Probanden, sie habe hervorragende Quellen für ihr Wissen, beispielsweise einen von den Eltern ausgefüllten Fragebogen und mehr. Demnach hätten die Personen in der Zeit zwischen ihrem elften und 14. Lebensjahr eine Straftat begangen – einen Diebstahl oder eine schwere Gewalttat. Wenn die Teilnehmer dies abstritten, wurden sie informiert, dass es vollkommen normal sei, derart gravierende Ereignisse zu verdrängen. Sie wurden freundlich aufgefordert, sich zu entspannen und noch einmal nachzudenken. Nach einiger Zeit hatten 21 von 30 Personen eine Straftat gestanden. Sie beschrieben die Tat detailliert und schilderten weitere Wahrnehmungen rund um das Geschehen – den Ort oder die Kleidung des Opfers. Bei allen Teilnehmern hatten die Eltern versichert, dass es niemals irgendeine Straftat gegeben habe. Diese Erkenntnisse rücken die Qualität unserer Erinnerungen in ein völlig neues Licht. Wenn die Suggestion eines so schwerwiegenden Vorfalls verhältnismäßig leicht gelingt (keine Kritik an Frau Shaw, der Versuch war großartig konzipiert und ausgeführt, Chapeau), wissen wir um die fragile Qualität unserer Erinnerungen.

Falsche Erinnerungen können wir selber nicht von echten unterscheiden. Beide fühlen sich gleich „authentisch“ an. Darum kommt es bei Verhören durch zu stark drängende Polizeibeamte immer wieder zu falschen Geständnissen. Je massiver auf den Beschuldigten eingedrungen wird und je schwächer sich der Verdächtige fühlt, umso eher wird er Verbrechen zugeben. Und das, obwohl die Person niemals am Tatort war.

Dasselbe Problem bereiten Zeugenaussagen. Da es die eine Wahrheit nicht gibt, kann eine Zeugenaussage niemals objektiv sein. Sie ist geprägt von der Aufmerksamkeit und der Erinnerung, von Stereotypen und Vorurteilen und vielem mehr. Polizisten, Richter oder Staatsanwälte sind oft auf die Aussagen von Zeugen angewiesen. Wenn Zeugen besonders sicher auftreten, wird ihnen fast immer geglaubt. Das muss keine bewusste Lüge sein, viele Zeugen unterliegen einer falschen Erinnerung und sind davon überzeugt, dass sie die Wahrheit sagen. Nicht immer wird allerdings hinreichend in Betracht gezogen, dass es diese eine Wahrheit nicht gibt.

Ein besonders fatales Beispiel ist der Montessori-Prozess, der Anfang der 1990er-Jahre in Münster geführt wurde (Friedrichsen/Mauz 1995). Grob beschrieben stieß eine Frau, Brigitte Turczer, bei dem Besuch eines befreundeten Ehepaares auf „Beweise“ für sexuellen Missbrauch. Da diese Dame zwar weder von Psychologie noch von Forensik irgendeine Ahnung hatte, dafür aber bei dem Verein „Zartbitter“ sehr engagiert war, ging sie der Sache nachhaltig auf den Grund. Zartbitter in Coesfeld verstand die Aufdeckung von Kindesmissbrauch als seine Mission. Leider durch engagierte, aber naive und nicht ausreichend kompetente Mitarbeiterinnen vorangetrieben. Durch vielfach wiederholte Befragungen der Kinder und durch suggestive Fragen gelang es Frau Turczer und anderen Mitarbeiterinnen von Zartbitter, Hunderte von Fällen von Kindesmissbrauch allein in diesem einen Montessori-Kinderhaus „aufzudecken“. Fast alle diese Verbrechen sollten von einem einzigen Mitarbeiter verübt worden sein, der daraufhin vor Gericht landete. Offensichtlich konnte sich auch die Staatsanwaltschaft dem entstandenen Sog an Beschuldigungen und Vorverurteilungen nicht entziehen. Erst dem Gutachter Professor Günter Köhnken, einem erfahrenen forensischen Psychologen und Professor am Institut für Psychologie der Universität Kiel, gelang es dann, dem Hokuspokus ein Ende zu bereiten. Er deckte auf, dass die Mitarbeiterinnen von Zartbitter die Aussagen provoziert hatten, weil sie eben gut zu ihrer Mission passten. Sie drangen so lange auf die Kinder ein, bis die erwünschten Antworten gegeben wurden. Durch diese suggestiven Interventionen wurden Erinnerungen geschaffen, die die Kinder in der Folge auch ungestützt wiederholten. „Die suggerierten Vorstellungen setzten sich fest wie echte Erinnerungen“ (Friedrichsen/Mauz 1995).

In den USA gibt es das „Innocence Project“, eine Organisation, die sich für die Aufklärung von Justizirrtümern einsetzt. Mehr als 350 Fehlurteile konnten bereits aufgedeckt und korrigiert werden. Die Mehrzahl war aufgrund fehlerhafter Zeugenaussagen zustande gekommen (Willems 2018).

Auch viele Kindheitserinnerungen sind nachweislich falsch. In einer Studie der City University London wurden etwa 6500 Personen nach Erinnerungen aus ihren ersten Lebensjahren gefragt (Conway/Loveday 2015). Gar nicht so wenige berichteten von Erfahrungen aus der Zeit, als sie in der Wiege lagen oder wie sie laufen lernten, manche meinten sogar, sich an ihre Geburt zu erinnern. Vor dem Alter von drei bis fünf Jahren können allerdings nachweislich keine echten, das heißt eigenen Erinnerungen entstehen. Unser Gehirn ist wegen der Charakteristiken seines Wachstums dazu nicht imstande. Wir können in so jungen Jahren auch noch keine Konzepte und Assoziationen bilden, und ohne diese können Erinnerungen nicht gespeichert und später wieder abgerufen werden. Gleichwohl glaubten vier von zehn Teilnehmern an der Studie, dass sie sich an Ereignisse im Alter von zwei Jahren oder jünger erinnern können. Entweder haben diese Personen also die falsche zeitliche Einordnung von Erinnerungen vorgenommen oder sie haben die Erinnerungen aus den Erzählungen anderer, beispielsweise von Eltern oder Geschwistern, rekonstruiert und sich angeeignet. Durch späteres häufiges Erinnern und Erzählen sind die berichteten Ereignisse dann weiter überformt worden. So wurden sie immer mehr zu eigenen Erlebnissen.

Es gibt nicht die eine Realität, an die wir uns erinnern. Es gibt nur unsere Realität, die wir uns aus vielen Versatzstücken zusammengebastelt haben.

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Image       Seien Sie auf der Hut, wenn jemand Ihre Aufmerksamkeit gezielt auf bestimmte Aspekte lenkt.

Image       Versuchen Sie, mehr Aspekte einzubeziehen.

Image       Versuchen Sie, auf anderen Kanälen wahrzunehmen.

Image       Führen Sie bei wichtigen Ereignissen Protokoll.

Image       Sichern Sie sich zusätzliche Quellen zu relevanten Situationen.

Image       Misstrauen Sie auch Ihrem eigenen Gedächtnis.

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1.5 Literatur

Chabris, C. F.; Simons, D. J.: The Invisible Gorilla. How Our Intuitions Deceive Us. New York: 2009

Chabris, C. F.; Simons, D. J.: The Invisible Gorilla. http://www.theinvisiblegorilla.com/gorilla_experiment.html, abgerufen am 16.01.2019

Conway, M. A.; Loveday, C: Remembering, imagining, false memories & personal meanings. Consciousness and Cognition 33, 2015, S. 574–581. DOI: 10.1016/j.concog.2014.12.002

FAZ.net: Artikel-Chronik. FAZ online, 11.09.2015. https://www.faz.net/artikel-chronik/nachrichten-2015-september-11/, abgerufen am 15.01.2019

Friedrichsen, G.; Mauz, G.: Mißbrauch der Strafjustiz. Spiegel online, 22.05.1995. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9184337.html, abgerufen am 18.01.2019

Hans, J.: Ein Kreuz gegen den Antichrist. Süddeutsche Zeitung, 27.05.2014

Lindgren, A.: Hey Pippi Langstrumpf. Übersetzung von Wolfgang Franke und Helmut Harun. https://efraimstochter.de/18-Pippi-Langstrumpf-Song-auf-deutsch.htm#content, abgerufen am 14.01.2019

Metzger, I.: Warum Sie Erdbeereis auf weißen runden Tellern servieren sollten. Spiegel online, 25.09.2018. http://www.spiegel.de/stil/gastrophysik-warum-sie-desserts-auf-runden-tellern-servieren-sollten-a-1229972.html, abgerufen am 30.12.2018

Proojien, J.-W. v.; Douglas, K. M.; De Inocencio, C.: Connecting the dots: Illusory pattern perception predicts belief in conspiracies and the supernatural. European Journal of Social Psychology, 4, 2018. DOI: 10.1002/ejsp.2331

Richards, B. A.; Frankland, P. W.: The Persistence and Transience of Memory. Neuron, 2017. DOI: 10.1016/j.neuron.2017.04.037

Shaw, J.: Das trügerische Gedächtnis. München: 2016

Shaw, J.: The Memory Illusion. London: 2016

Teller, J. R.: Penn & Teller Fool Us – Coins & Fish Trick. 31.07.2015. https://www.youtube.com/watch?v=9ByGtdqiUz8, abgerufen am 17.01.2019

Tomaten.de: Wann sind Tomaten reif? Infos für grüne, gelbe und schwarze Sorten. 2017. https://www.tomaten.de/wann-sind-tomaten-reif/, abgerufen am 01.02.2019

Willems, W.: Ausgetrickst von der ‚infantilen‘ Amnesie. Welt, 07.09.2018, S. 20

Wiseman, R. J.; Nakano, T.: Blink and you’ll miss it: the role of blinking in the perception of magic tricks”. PeerJ, 04.04.2016. https://peerj.com/articles/1873/, abgerufen am 16.02.2019

Wowereit, K.: Ein Zitat und seine Geschichte: ‚Ich bin schwul – und das ist auch gut so‘. Tagesspiegel, 05.04.2015. https://www.tagesspiegel.de/meinung/causa-debatte/ein-zitat-und-seine-geschichte-ich-bin-schwul-und-das-ist-auch-gut-so/11568106.html, abgerufen am 20.01.2019

2 Warum wir fest an unsere Vernunft glauben – und doch meist emotional entscheiden