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Prof. Dr. rer. nat. habil. Michael Macsenaere, Dipl.-Psych., ist Direktor des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) und des „Centrums für angewandte Wirkungsforschung“ in Mainz und lehrt an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, der Universität zu Köln und der Hochschule Niederrhein.

Dr. paed. Klaus Esser, Dipl.-Heilpädagoge, Erziehungswissenschaftler, ist Leiter des „Bethanien Kinder- und Jugenddorfes Schwalmtal“, außerdem im Vorstand des Bundesverbands katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen e. V. (BVkE).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ISBN 978-3-497-02562-6 (Print)

ISBN 978-3-497-60223-0 (E-Book)

2. Auflage

© 2015 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

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Inhalt

1  Einführung

2  Was ist Wirkung in der Erziehungshilfe?

2.1 Wissenschaftliche Erfassung von Wirkung in der Erziehungshilfe

2.2 Systemischer Ansatz

2.3 Wirkung aus verschiedenen Perspektiven

2.3.1 Wirkung aus Sicht der Öffentlichkeit

2.3.2 Wirkung aus Sicht der Administration

2.3.3 Wirkung aus Sicht der Professionellen

2.3.4 Wirkung aus Sicht der betroffenen Familien

2.3.5 Wirkung aus Sicht des jungen Menschen

2.3.6 Interessenkollisionen

2.4 Begriffsklärungen

2.4.1 Wirkungsdimensionen

2.4.2 Indikatoren für die Wirksamkeit von Erziehungshilfe

2.4.3 Wirkmerkmale

2.4.4 Wirkfaktoren

2.5 Wirkungsorientierung

2.6 Wirkungsorientierte Steuerung

2.6.1 Steuerung

2.6.2 Neue Steuerung

2.6.3 Steuerungsebenen in der Erziehungshilfe

2.6.4 Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII

2.6.5 Wirkungsorientierung in den Qualitätsentwicklungsvereinbarungen nach § 78 SGB VIII

2.7 Wirkungsforschung in der Erziehungshilfe

3  Was wirkt in der Erziehungshilfe?

3.1   Passung

3.2   Ausgangslagen

3.3   Indikation

3.4   Sozialpädagogische Diagnostik

3.5   Case Management

3.6   Ressourcenorientierte Hilfeplanung

3.7   Partizipation

3.8   Kooperation

3.9   Hilfedauer

3.10 Elternarbeit

3.11 Wirkungsorientierte Steuerung

4  Wie wirken die einzelnen Hilfearten?

4.1 Wie wirkt Heimerziehung?

4.1.1   Hilfedauer

4.1.2   Beziehungsqualität

4.1.3   Bindungsperson

4.1.4   Persönlichkeit und Qualifikation der Professionellen

4.1.5   Berücksichtigung bisheriger Lebenserfahrungen

4.1.6   Elternarbeit

4.1.7   Struktur- und Prozessqualität der Einrichtung

4.1.8   Ressourcenorientierte Angebote

4.1.9   Soziales Lernen und Bildung

4.1.10 Lebensperspektiven

4.1.11 Traumatisierung

4.1.12 Nachsorge und Nachhaltigkeit

4.1.13 Berufsorientierung

4.2 Wie wirkt intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung?

4.3 Wie wirkt Vollzeitpflege?

4.4 Wie wirken Tagesgruppen?

4.5 Wie wirken ambulante Erziehungshilfen?

4.5.1 Sozialpädagogische Familenhilfe

4.5.2 Erziehungsbeistand/Betreuungshelfer

4.5.3 Soziale Gruppenarbeit

4.6 Wie wirkt Erziehungsberatung?

5  Zusammenfassung und Perspektiven

Literatur

Sachregister

1 Einführung

Erziehungshilfen stellen ein bedeutsames Feld der Kinder- und Jugendhilfe dar (Macsenaere et al. 2014): Von Erziehungsberatung bis hin zur Heimerziehung wurden in 2013 von knapp über einer Millionen junger Menschen Hilfen zur Erziehung in Anspruch genommen (AKJStat 2015). Trotz dieser beeindruckenden Zahlen fällt auf, dass in diesem Bereich bis Mitte der 1990er Jahre kaum empirische Studien zur Wirksamkeit der Hilfen vorlagen. Dies hat sich in den letzten 15 Jahren sukzessive geändert, sodass aktuell über 100 Wirkungsstudien in Deutschland abgeschlossen wurden.

Das vorliegende Buch verfolgt das Ziel, die praxisrelevanten Ergebnisse dieser Studien zusammenzuführen. Im Zentrum steht dabei die Frage „Was wirkt in der Erziehungshilfe?“. Hierzu werden die Faktoren zusammengetragen, die sich – empirisch abgesichert – in der Praxis der Hilfen zur Erziehung als wirksam erwiesen haben. Neben der Darstellung der erfolgsfördernden Faktoren wird einführend beschrieben, was Wirkungen in den Erziehungshilfen sind, und wie sie zur Qualitätsentwicklung und Steuerung genutzt werden können. Im dritten Kapitel werden die übergreifenden Wirkfaktoren beschrieben, die sich über mehrere Hilfearten hinweg als einflussreich erwiesen haben. Hierzu ergänzend richtet das darauffolgende Kapitel den Fokus auf die einzelnen Hilfearten: Für Heimerziehung, Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung, Vollzeitpflege, Tagesgruppen, Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH), Erziehungsbeistand/Betreuungshelfer, Soziale Gruppenarbeit und Erziehungsberatung werden spezifische erfolgsfördernde Faktoren aus den analysierten Wirkungsstudien zusammengetragen. Dabei wird deutlich, dass im ambulanten Bereich bislang auf weniger Wirkungsstudien zurückgegriffen werden kann als im stationären. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und daraus Hinweise für die Praxis, Forschung und Ausbildung abgeleitet.

Zum Begriff der „Erziehungshilfe“: Erziehungshilfe, oder auch „Hilfe zur Erziehung“ als zusammengesetzte Begrifflichkeit, deutet darauf hin, dass es sich hierbei um zwei verschiedene Sachverhalte handelt. Auf der einen Seite geht es um Erziehung im eigentlichen Sinne und auf der anderen Seite um rechtlich und institutionell organisierte Hilfe und Unterstützung zur Erreichung erzieherischer Aufträge und Zielvorstellungen.

Die Erwartung der Gesellschaft wird durch ihre mediale Reaktion deutlich, wenn Erziehungshilfe an ihre Grenzen stößt. Die Fälle der beiden toten Kinder Kevin in Bremen (2006) und Chantal in Hamburg (2011) zeigen auf tragische Art und Weise, was geschieht, wenn Erziehungshilfe den Schutz von Kindern nicht sicherstellen kann. Die mediale Reaktion auf diese tragischen Vorfälle verdeutlicht, dass die Gesellschaft diese Vorfälle nicht toleriert und an das System der staatlichen Aufsicht und der erzieherischen Hilfe Erwartungen stellt. Ob und wie weit die Gesellschaft auch bereit und in der Lage ist, das dafür notwendige System zu finanzieren, ist Gegenstand der sozialpolitischen Debatte um die Kosten erzieherischer Hilfen.

Die Begriffe „erzieherische Hilfen“ und „Erziehungshilfen“ werden synonym verwendet. Der im Leitparagrafen 27 des SGB VIII verwendete Begriff „Hilfen zur Erziehung“ weist darauf hin, dass der Gesetzgeber den rechtlichen Rahmen zugunsten des Personensorgeberechtigten gegründet hat. Anspruch auf Hilfen zur Erziehung hat der Sorgeberechtigte des Kindes bzw. Jugendlichen.

„Unter Erziehungshilfen werden in der sozialpädagogischen Fachwelt heutzutage recht selbstverständlich diejenigen beratenden, begleitenden oder betreuenden sozialpädagogischen Hilfearrangements unterschiedlicher Intensität verstanden, die im vierten Leistungsbereich der Hilfen zur Erziehung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (Achtes Buch des Sozialgesetzbuches SGB VIII) differenziert beschrieben werden“ (Birtsch et al. 2001, 9).

Absicht des Gesetzgebers war es, mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) zum einen die sich entwickelnde fachliche und konzeptionelle Differenzierung gesetzlich abzusichern. Zum anderen sollte die traditionelle Dominanz der Heimerziehung zugunsten individueller, differenzierter und flexibler Hilfesysteme abgelöst werden. Nach Inkrafttreten des KJHG hat es tatsächlich einen erheblichen Ausbau der ambulanten Hilfeformen gegeben.

Unter ambulanten Hilfeformen versteht das SGB VIII flexible und ambulante Hilfen, die unter den §§ 27 ff. subsummiert werden. Dazu gehören auch die Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31), die Erziehungsbeistände und Betreuungshelfer (§ 30), die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35) und die Soziale Gruppenarbeit (§ 29 SGB VIII). Die Erziehungsberatung (§ 28) ist als Beratungs- und Therapieangebot konzipiert; die Tagesgruppen (§ 32) sind teilstationäre Angebote, weil die Kinder im Haushalt der Eltern wohnen, während sie tagsüber von pädagogischen Fachkräften betreut werden. Die Vollzeitpflege (§ 33) gilt als Alternative zur Heimerziehung, weil die Kinder hierbei in der Pflegefamilie – wie die Kinder in der Heimerziehung – rund um die Uhr an einem anderen Lebensort als bei ihren Eltern betreut werden.

Der Ausbau insbesondere der ambulanten Formen der Erziehungshilfen, die höhere Inanspruchnahme und die daraus resultierende Kostensteigerung der Erziehungshilfen haben insbesondere die kommunalen Haushalte so belastet, dass die Bemühungen um Kostendämpfung sich aus kommunaler Sicht als logische Folge erweisen. Damit stellt sich quasi automatisch die Frage nach der Qualität der Hilfen, nach den Standards, nach Effektivität und Effizienz und damit nach den Wirkungen.

Mit diesem Buch soll ein Beitrag geleistet werden zur Wirkungsdiskussion in der Erziehungshilfe. Die Zusammenstellung der Ergebnisse der Wirkungsforschung erfasst diejenigen Wirkmerkmale und Wirkfaktoren der verschiedenen Formen der Erziehungshilfe, die in der jüngsten Vergangenheit wissenschaftlich untersucht worden sind. Diese wurden durch Ergebnisse einer Befragung von ehemaligen Heimkindern (Esser 2010) ergänzt.

Damit soll Lernenden und Lehrenden in den Praxisfeldern der Erziehungshilfe ebenso wie den in der Praxis und in der Planung und Organisation Verantwortlichen ein aktueller Überblick über die bisher untersuchten Wirkungszusammenhänge ermöglicht werden. Neu an dieser Übersicht ist zum einen, dass die erforschten Wirkungszusammenhänge quer über alle Bereiche der erzieherischen Hilfen analog der Systematik des SGB VIII dargestellt werden, und zum anderen der Versuch, die Forschungsergebnisse für praxisrelevante Entscheidungen nutzbar zu machen.

Hinweis: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde bei Berufsbezeichnungen meist die grammatikalisch maskuline Form gewählt. Natürlich sind aber immer Männer und Frauen gemeint.

2 Was ist Wirkung in der Erziehungshilfe?

Erziehungshilfe ist kein Selbstzweck, sondern ein

„gesellschaftlich finanziertes Institutionensystem, das individuell und gesellschaftlich zutage tretende soziale Belastungen merklich reduzieren helfen soll. Die Profession muss also darstellen können, dass sie Wirkungen zu erzeugen im Stande ist und welche Ressourcen sie benötigt, um die auf Wirkung ausgerichteten Handlungen und Prozesse zu realisieren“ (Merchel 2006, 4).

Der Legitimationsdruck der erzieherischen Hilfen hat somit die Wirkungsdebatte über das wissenschaftliche Wirkungsinteresse hinaus ausgelöst (Merchel 2006; Otto 2007).

Der Begriff „Wirkung“ assoziiert die Annahme von Ursache-Wirkungs-Ketten bei Interventionen der sozialen Arbeit. Er steht damit in unmittelbarer Verbindung zur Ergebnisqualität als Dimension der Qualitätsentwicklung. Die Wirkungsdiskussion und die Qualitätsdiskussion haben weitere Gemeinsamkeiten. Der Begriff „Wirkung“ ist wie der Begriff „Qualität“ positiv assoziiert. Ziel der Qualitätsentwicklung ist zum einen der Erhalt bzw. die Sicherung der Qualität und zum anderen die Verbesserung der Qualität.

In diesem Sinn wurde für die Jugendhilfe in § 78a–f SGB VIII der Begriff „Qualitätsentwicklung“ gesetzlich festgeschrieben. Fachlich anerkannte bundesweite Standards in der Erziehungshilfe sind jedoch noch nicht entstanden. Damit fehlen die vom Gesetzgeber bzw. von den Finanzierungsebenen (Kommunen) intendierten Qualitätsnachweise, die es ermöglichen, einen Kosten- und Leistungsnachweis zu erbringen. Dieses Defizit wird nun von der Wirkungsforschung und der Wirkungsorientierung bearbeitet.

„Die Frage nach der Wirkung der Hilfen zur Erziehung ist eine nahe liegende und legitime Frage der Gesellschaft, die erhebliche öffentliche Mittel für diese sozialpädagogische Leistung aufwendet. Es ist gleichfalls eine zentrale Frage für die Leistungsberechtigten (Kinder, Jugendliche, Eltern), die vor der Einwilligung in ein Hilfearrangement Aufklärung und Mitsprache über die intendierte Wirkung sowie über eventuelle Risiken und Nebenwirkungen erwarten dürfen. Die Frage nach der Wirkung ist darüber hinaus von erheblicher fachpolitischer Bedeutung für die methodische Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung, für die Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit sowie für die Zukunftsfähigkeit dieses Aufgabenfeldes“ (Struzyna 2006, 6).

Bei dem neuen Fokus auf Wirkungsorientierung müssen zwei Ziele differenziert werden, die durch die deutlichere Inbezugnahme von Interaktionen zwischen Leistungsadressaten, Leistungserbringern und Kostenträgern bedeutsam sind:

images die Effektivität des Handelns im Feld der Erziehungshilfe und

images die Effizienz im Sinne der Verbesserung der Kosten-Nutzen-Relation.

2.1 Wissenschaftliche Erfassung von Wirkung in der Erziehungshilfe

Wirkung bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch einen auf Kausalität bezogenen Begriff: Die Wirkung ist das Ergebnis ihrer Ursache. In der Pharmazie wird zudem zwischen dem erwünschten und dem unerwünschten Effekt eines Wirkstoffs unterschieden: Wirkung und Nebenwirkung. Der Begriff „Nebenwirkung“ wird auch in der Wirkungsdiskussion für unerwünschte Effekte erzieherischer Hilfen verwendet.

Die Bezeichnung Wirkung zielt auf das Verhältnis eines Impulses zu einem Zustand vor Eintreten des Impulses. Der Impuls ist dann wirksam, wenn der Zustand sich nach seinem Eintreten verändert hat und wenn davon ausgegangen werden kann, dass das nachherige Anders-Sein auf den Impuls zurückzuführen ist. Wirkung ist damit als das Resultat eines durch einen ursächlichen Impuls hergestellten bzw. sichtbar gemachten Kausalzusammenhangs anzusehen.

Das Wissen um Ursache-Wirkungs-Bezüge ermöglicht Prognosen bezüglich zukünftiger Zustände. Sichere Prognosen ermöglichen Steuerung.

Ausgehend von der Logik des Wirkungsbegriffs wird deutlich, dass angesichts des Fehlens konsistenter Ursache-Wirkungs-Bezüge in der sozialen Arbeit nur auf der Ebene von Plausibilitätsannahmen von Wirksamkeit einer Maßnahme bzw. einer Hilfe gesprochen werden kann. Je intensiver Interventionen in der Erziehungshilfe in der Lebenswelt von Adressaten verankert sind, desto komplexer sind die auf den Adressaten einwirkenden Faktoren und desto weniger lässt sich der Effekt einer bestimmten Intervention isolieren. Ferner sorgt die Bindung an individuelle Lebensgeschichten und an individuelle soziale Kontexte dafür, dass sich Situationen einerseits und Interventionsformen andererseits nur schwer typisieren und konsistent aufeinander beziehen lassen (Merchel 2006).

Andererseits fordert die Wirkungsorientierung von den Professionellen in der Erziehungshilfe das Interesse für die von ihnen erzeugten Wirkungen und die Bereitschaft zur Dokumentation ihrer Fähigkeit zur Erzeugung von Wirkungen ein. Denn ohne Aussicht auf das Herbeiführen intendierter Effekte wäre individuelles motiviertes Handeln nicht möglich, wären für Einrichtungen und Dienste die erforderlichen Ressourcen nicht mobilisierbar und wäre die für die Profession erforderliche Legitimation nicht herstellbar.

Methoden der Wirkungsmessung: Um die Arbeit der erzieherischen Hilfen zu legitimieren, müssen anerkannte Methoden der Wirkungserfassung und -messung eingesetzt werden. Welche Forschungs- und Evaluationsmethoden dazu dienen können, Wirkungserkenntnisse zu generieren, damit beschäftigt sich die wissenschaftliche Methodendiskussion. Es gibt bei den Experten auf der Praxis-Fachebene und den Wirkungsforschern unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Methoden zu validen Aussagen führen und in welchem Maße die Ergebnisse der Studien zur (wirkungsorientierten) Steuerung der fachlichen Arbeit genutzt werden können. Da die Methodendiskussion nicht ganz unwesentlich für die in diesem Buch vorgestellten Ergebnisse ist, sollen einige Argumente kurz vorgestellt werden. Nach McNeece und Thyer (2004) existiert eine Hierarchie zur Zuverlässigkeit von Wirkungsstudien (Schrödter/Ziegler 2007):

1. systematische Metaanalysen von randomisierten Kontrollstudien,

2. randomisierte Kontrollstudien (Experimentalstudien),

3. quasi-Experimentalstudien,

4. Fall-Kontroll- und Kohortenstudien,

5. pre-experimentale Gruppenstudien,

6. Befragungen,

7. qualitative Studien.

Am zuverlässigsten sind quasi-experimentelle und randomisierte Kontrollstudien und darauf basierende Metaanalysen.

„In Anbetracht der hier postulierten Bedeutung von Kontrollstudien erstaunt es, dass in der empirischen Kinder- und Jugendhilfeforschung kaum (quasi-)experimentelle Kontrollstudien vorliegen. In der Regel wird auf die ethische Problematik, die durch die Praxis vorgegebenen Rahmenbedingungen und/oder auf den hohen methodischen und finanziellen Aufwand verwiesen. Gewählt wird stattdessen häufig ein Ein-Gruppen-Plan (,One Shot Case Study‘): Die zu untersuchende Maßnahme wird eingeführt und die darauffolgenden Veränderungen werden dokumentiert. Diese Vorgehensweise führt allerdings zu uneindeutigen Befunden, da nicht gewährleistet ist, dass die dokumentierten Ergebnisse auch tatsächlich auf die Maßnahme zurückzuführen sind. Eine Kontrollgruppenstudie kann dagegen präzisere Aussagen treffen, indem (im einfachsten Fall) zwei Gruppen miteinander verglichen werden: eine ,Experimentalgruppe‘ mit der zu evaluierenden Maßnahme und eine ,Kontrollgruppe‘ ohne diese Maßnahme. Damit ist es möglich, verzerrende Einflüsse zu erkennen und ggf. zu eliminieren“ (Macsenaere 2009, 197).

Auf der anderen Seite wird auf die Komplexität der Gesamtfaktoren der Wirkung einer sozialpädagogischen Maßnahme verwiesen. Die Ergebnisse der experimentellen Wirkungsstudien seien nur auf die untersuchten Programme und Untersuchungsgegenstände anwendbar und „lassen sich keinesfalls auf andere als die geprüften Kontexte und Programmgestaltungen übertragen“ (Otto 2007, 62). Es wird hinterfragt, ob die starren, überindividuell tragfähigen Formen der „Evidenzbasierung“ für lebensweltliche Maßnahmen, Hilfen und Leistungen in familiären Kontexten sinnvoll sind. Wolf geht noch weiter:

„Wirkungen sind ein großes Geheimnis und können nicht untersucht und nicht gemessen werden. [...] Wer die Augen vor der Komplexität verschließt, verhält sich wie der Mann, der seinen Schlüssel, den er verloren hat, dort sucht, wo es schön hell ist und nicht dort, wo er wahrscheinlich liegt. Wir würden sicher irgendetwas finden, aber wir wissen dann nicht, was wir nun eigentlich untersucht und gemessen haben“ (Wolf 2007, 23).

Er plädiert dafür, die Wirksamkeit zu untersuchen und das zu tun, „was möglichst viel nützt und möglichst wenig schadet“ und empfiehlt „ein systematisches Lernen aus Erfolgen und Misserfolgen“ (Wolf 2007, 23). Auch Finkel (2004, 32) beschreibt eine gewisse Ambivalenz bei der Suche nach den wissenschaftlich begründeten Wirkungsfaktoren.

„Obwohl es gute Gründe für die Beschäftigung mit Wirkungsfragen gibt – z. B. die Verpflichtung gegenüber den Nutzerinnen oder im Sinne eines professionellen Standards, sich auch über die Ergebnisse der eigenen Arbeit Gedanken zu machen –, beschleicht mich immer wieder die Unsicherheit, ob wir mit der Fokussierung auf Wirkungsfragen nicht doch einen unguten Weg einschlagen, angesichts der Gefahren, die darin auch liegen.“

Riskant ist für Finkel die Reduzierung der Komplexität zugunsten einer eindimensionalen Wirkungsvorstellung, die sozialer Arbeit nicht gerecht würde. Weiterhin nennt sie die Gefahr, aufgrund mangelnder Alternativen auf Methoden der Wirkungsmessung zurückzugreifen, die den komplexen Gegenstand sozialer Arbeit unzulässig reduzieren und so eine Haltung befördern können, die soziale Arbeit als Technologie und die Zusammenarbeit mit den Nutzern als linear zu steuernden Prozess ansieht. Otto konstatiert vor diesem Hintergrund:

„Es wird nun zunehmend anerkannt, dass professionelles Fallverstehen, qualitative Forschungen, systematisch aggregierte Fallstudien, Einzelfall-Experimentaldesigns, ethnographische Forschungen etc. ihre eigene Berechtigung im Kontext von Wirkungsevaluationen haben, weil jeder Zugang andere Dinge in den Blick nimmt. Es hängt vom jeweiligen Interesse an Wirkungen ab, welcher Forschungszugang zu präferieren ist“ (Otto 2007, 67).

Effekte erzieherischer Hilfen entwickeln sich über lange Wirkungsketten; Wirkungen und Wechselwirkungen beeinflussen sich zirkulär gegenseitig. Um gute Ergebnisse zu erzielen und hilfreiche Aussagen über Wirkungen in den erzieherischen Hilfen machen zu können, müssen möglichst viele anerkannte Zugangswege zum Wirkungswissen genutzt werden, um die Praxis von einer „gut gemeinten“ zu einer fachlich qualifizierten, auf Wirkungswissen beruhenden und damit „evidenzbasierten“ Erziehungshilfe weiterzuentwickeln.

2.2 Systemischer Ansatz

Aus der Perspektive der Systemtheorie wird die einfache Ursache-Wirkungs-Logik als triviale Maschine bezeichnet. Aus systemischer Sicht ist der Mensch keine triviale Input-Output-Maschine, sondern ein System, das über die Verarbeitung der auf ihn einströmenden Einflüsse selbst entscheidet. Diese in der Systemischen Theorie Autopoiese genannte Wechselwirkung postuliert, dass es eine triviale Wenndann-Logik in der sozialen Arbeit nicht gibt:

„Bei diesen Interaktionen ist es so, dass die Struktur des Milieus in den autopoietischen Einheiten Strukturveränderungen nur auslöst, diese also weder determiniert noch instruiert (vorschreibt), was auch umgekehrt für das Milieu gilt. Das Ergebnis wird – solange sich Einheit und Milieu nicht aufgelöst haben – eine Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen sein, also das, was wir strukturelle Kopplung nennen“ (Maturana 1992, 85).

Daher fordert Wolf:

„Da wir die Wirkungen pädagogischen Handelns nicht unmittelbar beobachten können, benötigen wir beobachtbare (,messbare‘) Indikatoren, die eindeutig auf die zu untersuchenden Effekte verweisen. Die Funktion als Indikator für den Effekt muss und kann plausibel begründet werden“ (Wolf 2007, 22).

Bei bestimmten Wirkungsindikatoren, z. B. Lebensbewältigung im Falle stationärer Hilfen, sind zudem der Zeitpunkt der Messung und eine mögliche Langzeitwirkung zu berücksichtigen. Kurze, lineare Ursache-Wirkungsannahmen beziehen sich auf einen engen räumlichen und zeitlichen Sektor. Eine Steuerung auf beabsichtigte Wirkungen hin ist umso besser möglich,

images je genauer die Kenntnisse von Ursache-Wirkungs-Faktoren sind und

images je einfacher die Bedingungselemente bei den Ursache-Wirkungs-Ketten strukturiert sind.

Wenn man die beabsichtigte Wirkung vor dem Hintergrund eines definierten Ziels durch kalkulierte Intervention erzeugen kann, spricht man einer solchen Maßnahme „Wirksamkeit“ zu (Tornow 2005, 284). Diesem Ideal versucht man sich durch die Installierung einer evidenzbasierten Praxis anzunähern, die mittlerweile nicht nur im naturwissenschaftlichen Bereich der Medizin, sondern auch bereits für den psychosozialen Bereich der sozialen Arbeit diskutiert wird (Otto 2007; Schrödter/Ziegler 2007).

Wer sich dem Phänomen der Wirkung annähern und das Problem der Reduktion von Komplexität dabei gezielt lösen will, muss sich drei bestimmenden Faktoren zuwenden. Um einen Wirkungszusammenhang darstellen zu können, bedarf es

images der Beobachtung: Was und wie beobachtet wird, setzt eine vorherige fachliche Festlegung voraus. Diese Festlegung ist bereits in hohem Maß eine Reduktion von komplexen Datenmengen. Sie ist hypothesengeleitet und schließt damit eine Menge anderer konstruierbarer Zusammenhänge aus. Die Interpretation der Beobachtungsergebnisse ist eine erneute Reduzierung, weil sie durch den Beobachter vorgenommen wird. Eine Forderung, die sich aus der Bedeutung der Beobachter für die Ergebnisse stellt, ist die „Beobachtung der Beobachter“ (Lüders/Haubrich 2006, 9).

images der Zeit: Auch hinter der Entscheidung, wann, wie oft, wie lange beobachtet wird, liegen Hypothesen bezüglich der vermuteten Wirkzusammenhänge. Der Zeitfaktor spielt dabei nicht nur eine Rolle im Zusammenhang mit den Messzeitpunkten, sondern implizit auch für die Zeiträume, in denen die Wirkungen erzielt werden sollen. Die Festlegung der Beobachtungszeiten hat daher entscheidenden Einfluss auf die Ergebnisse.

images der Absicht: Nur wenn die Absicht, die hinter einer Maßnahme oder einem Programm steckt, formuliert wurde, kann zwischen intendierten und nicht intendierten Wirkungen unterschieden werden. Ob die nicht intendierten Wirkungen erfasst werden, hängt von der Breite des Beobachtungsdesigns ab.

„In der weit überwiegenden Zahl der Fälle in der Kinder- und Jugendhilfe dürfte es eine Gemengelage von Wirkungserwartungen geben, die zum einen aus den – nicht immer ganz kompatiblen – Absichten der beteiligten Akteure und zum anderen aus – zum Teil auch widersprüchlichen – gleichsam objektiv gegebenen Systemerfordernissen der beteiligten gesellschaftlichen Teilsysteme [...] resultieren“ (Lüders/Haubrich 2006, 12).

2.3 Wirkung aus verschiedenen Perspektiven

Die öffentlichen Interessen und Erwartungen in Bezug auf das Konzept der Wirkungsorientierung sind nicht notwendig identisch mit denen der betroffenen Kinder und Jugendlichen, ihrer Familien oder der Praktiker in Erziehungshilfe und Administration. Die Auswahl der Wirkungskriterien und die Interpretation der Ergebnisse sind an die Perspektive der Betrachtung gebunden.

2.3.1 Wirkung aus Sicht der Öffentlichkeit

Hilfen zur Erziehung werden aus öffentlichen Geldern finanziert. Es gibt eine Vielzahl von Erwartungen der Öffentlichkeit, was Erziehungshilfe erreichen bzw. verhindern soll. Die öffentlichen Erwartungen und Definitionen bezüglich des Erfolgs der erzieherischen Hilfen sind wandelbar, inkonsistent und oft widersprüchlich.

Die Medien spielen dabei als Einflussgröße auf die öffentliche Meinung und damit als politische Kraft eine bedeutsame Rolle. Oft werden durch sie Einzelfälle als beispielhaft stilisiert, in denen das Ergebnis der öffentlichen Erziehung missbilligt wird. Da z. B. Straffälligkeit junger Menschen eine Indikation (neben anderen) für das Eingreifen öffentlicher Erziehung ist, wird die Legalbewährung auch weiterhin ein nachgefragtes Qualitätskriterium zur Beurteilung von Heimerziehung aus dieser Perspektive darstellen. Dies erklärt sich aus der gesellschaftlichen Funktion von Heimerziehung und der Funktionsweise sozialer Kontrolle. Der Heimerziehung wird in dem Zusammenhang eine bestimmte Wirkungserwartung zugeschrieben: Heimerziehung soll erreichen, dass die in ihr betreuten Kinder und Jugendlichen keine Straftaten begehen.

Der tragische „Fall Kevin“ in Bremen hat in der öffentlichen Wahrnehmung als deutlicher Impuls der Inkompetenz und Dysfunktion der (öffentlichen) Jugendhilfe gewirkt (Esser 2007, 104). Der Aufruf zu besserer Früherkennung und Wahrnehmung des Wächteramtes ging bundesweit durch die Medien. Bei der Diskussion um straffällige und gewalttätige Jugendliche ist als Reflex der öffentliche Ruf nach mehr geschlossener Unterbringung zu hören. In der Diskussion wird deutlich, dass die gesellschaftliche Funktion der Jugendhilfe die Vermeidung von lebensbedrohlichen Gefährdungssituationen im Sinne des Wächteramtes (SGB VIII) für Kinder sein soll. Der Jugendhilfe ist damit eine komplexe Wirkungserwartung zugeschrieben.

2.3.2 Wirkung aus Sicht der Administration

Die in der Administration Tätigen, z. B. in der Leitung des Jugendamtes oder der wirtschaftlichen Jugendhilfe, verbinden mit der Definition von Wirkungen in der Regel quantitative Aussagen, wie die Anzahl der jungen Menschen in der Fremdunterbringung, die Länge ihrer Unterbringung und die damit verbundenen Kosten (Pflegesätze). Eine Reduktion der Unterbringungszahlen und -längen oder der Kosten wird aus dieser Perspektive als Indikator für Erfolg gewertet.

Diese hauptsächlich statistisch bestimmten Erfolgsperspektiven müssen sorgsam interpretiert werden, da demographische Änderungen oder die Ausweitung anderer Hilfe- oder Sanktionsformen wie der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder des Jugendstrafvollzugs hinter einem scheinbaren Erfolg verborgen sein können. Ein Landkreis mit 300.000 Einwohnern ist mit ca. 80 Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung im statistischen Bundesschnitt. Wenn eine Familie mit vier Kindern, die in einem Heim untergebracht sind, aus der Zuständigkeit des Kreises verzieht, reduziert sich die Heimunterbringungsquote auf einen Schlag um 5% und der Haushalt der Kommune wird um ca. 150.000 Euro entlastet.

„Ausgelöst durch die Krise der öffentlichen Haushalte drohen in einer zunehmenden Anzahl von Kommunen die Infragestellung sozialer Leistungen, die Aushöhlung des Rechtsanspruchs sowie die Dominanz des Kostensenkungsdruckes bei der Bewilligung von Sozialleistungen. Deckelungen des Haushalts und bürokratische Hürden führen zu einem Kontrollverlust der Jugendhilfe in ihrem ureigensten Aufgabengebiet. Will die Kinder- und Jugendhilfe die Steuerung der Erziehungshilfen nicht völlig aus der Hand geben, muss sie in der Lage sein, Wirkungsnachweise zu präsentieren und effektive Steuerungsinstrumente einzusetzen“ (Struzyna 2006, 8).

Daher haben die Verwaltungen ein hohes Interesse daran, ihre eigenen Aktivitäten und die ihrer in Anspruch genommenen Dienstleister auf ihre Wirksamkeit hin zu untersuchen und die Wirkungen – z. B. gegenüber der Politik – zu belegen. Die hohen Aktivitäten der Kommunen in Bezug auf frühe Bildung und präventive und niedrigschwellige Angebote der Hilfen zur Erziehung zeigen, dass Annahmen über Wirkungszusammenhänge hohen Einfluss auf administrative Entscheidungen haben.

In der politischen Diskussion korrespondieren unterschiedliche Ziele miteinander. Es wird gefordert, nicht nur von Annahmen auszugehen, sondern von – im Idealfall neutral und wissenschaftlich – geprüften und gesicherten Zusammenhängen zwischen Wirkung und Steuerung. Dazu wird die Forderung formuliert, dass das bestehende System der Erziehungshilfe die Ressourcen wirtschaftlich sinnvoller einsetzen soll. Bei einer Neuorientierung des Systems könnten mit den gleichen Ressourcen bessere Wirkungen erzeugt werden.

2.3.3 Wirkung aus Sicht der Professionellen

Die Professionellen haben Erfolgserwartungen, die ihre eigene Arbeit betreffen. Welche Prioritäten sie dabei setzen, hängt von ihren persönlichen und professionellen Mustern der Problemdeutung und Handlungsorientierung ab. Erfolg oder Misserfolg wird primär als Effekt der professionellen Intervention verstanden (bzw. missverstanden). Die professionellen Praktiker sind sehr heterogen in ihrer Haltung und Handhabung der Wirkungsfrage.

In der Adaptation der Themen Qualitätsentwicklung und Evaluation haben die Professionellen gezeigt, dass ihnen an einem Nachweis der Wirkung ihrer Arbeit gelegen ist. Auch hier wurde schon deutlich, dass es in der Bandbreite von „Wir machen gute Arbeit, und um das zu beweisen, benötigen wir keine Beweise“ bis hin zu einem blinden Vertrauen in Standards, Verfahren oder neuen Messinstrumenten alle Haltungen zur Erfassung von Wirkung gibt.

In der Kinder- und Jugendhilfe deutet vieles darauf hin, dass die Professionellen einem einheitlichen Qualitätsmanagement, festgelegten Standards und den damit verbundenen Arbeitsinstrumenten (Checklisten, Audits, Evaluationen) eher misstrauen und auf die individuellen und persönlichen Beziehungen als besonderes Merkmal der Jugendhilfe setzen.

Otto 2007, 14