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Frank Beyer

AUSZENLAND





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Anfang

Das schrille Heulen einer Alarmsirene erklang und tönte durch den unterirdischen Komplex. Augenblicklich erschien der Kopf eine junge Frau aus einem Wartungsschacht. Ohne zu zögern kletterte sie daraus hervor und rannte im nächsten Moment durch das Labyrinth der ineinander verschachtelten Korridore. Die ausweichenden Menschen nahm sie kaum wahr, sondern drängte sich lautstark fluchend durch. „Macht Platz! Zur Seite! Verdammt, geht mir aus dem Weg!“ Trotz des Alarms und der flackernden Beleuchtung bewahrten die Menschen Ruhe. Ein jeder wusste, was zu tun war. Helfer eilten dem Signal entgegen, während Mütter ihre Kinder in sichere Höhlen brachten. „Saban! Verdammt! Hat jemand meinen Bruder gesehen?“, rief die junge Frau.

„Oben bei den Leseschirmen glaube ich“, kam es von irgendwo her.

„Wo sonst?“, schnaufte die junge Frau, bog an einer Abzweigung ab und stand vor einer Rampe, die nach oben führte. „Wissenschaft sei Dank! Endlich finde ich hier raus“, stöhnte sie und stolperte die Rampe hoch. Die Wände links und rechts von ihr glänzten in mattem Chrom und auch hier flackerte zu ihrem Missfallen das Licht. Ihre Augen brauchten einen Moment, bis sie sich auf die größere Helligkeit der oberen Ebene eingestellt hatten, dann fand sie den Sicherungskasten. Ein Fausthieb und das Flackern der Beleuchtung war Geschichte. Zufrieden eilte sie weiter. Der Raum mit den letzten verbleibenden Leseschirmen lag im hinteren Bereich des Komplexes. Sie stürzte hinein und sah einen jungen Mann mit einem dunklen Zopf, der unablässig auf einen Bildschirm starrte. Für einen Moment beobachtete sie, wie er Unmengen an Text in sich aufnahm und zufrieden mit dem Kopf wippte. Schnell trat sie hinter ihn und beäugte neugierig die stumpfe Anzeige, die von mehreren kleinen Rissen durchzogen war. „Ach du liebe Güte! Theoretische Quantenmechanik? Allein der Name klingt unsagbar langweilig. Hast du nichts Besseres zu lesen?“

Der Mann erschrak und drehte sich zu ihr um. „Ach, du bist es Sallina. Hast du mich gesucht, Schwesterherz?“

„Nein, ich renne zu meinem Vergnügen durch den halben Komplex und trainiere meine Ausdauer!“ Sie wischte sich Schweiß von der Stirn und schüttelte den Kopf. „Über den Noticer habe ich dich nicht erreicht. Das verdammte Ding geht wieder mal nicht.“ Ihr Blick fiel auf das Eingabemodul an der Wand, an dem ein rotes Licht blinkte. „Hast du nicht den Alarm gehört? Du musst echt taub sein! Unten ist eine der Farmen kollabiert. Vorne nahe der Rampe bei einem der Wartungsschächte.“

„Nicht noch eine. Gab es Verletzte?“

„Ich glaube schon“, antwortete seine Schwester und pustete sich eine braune Haarlocke aus dem Gesicht. „Du hängst wieder vor diesen alten Schriften. Wo sonst! Die sind langweilig ohne Ende. Verschwendest du deine Zeit sinnlos oder konntest du was Neues herausfinden?“

Seufzend deutete er auf den unteren Teil des Bildschirms. „Es ist eine diffizile Arbeit von exorbitanter Bedeutung! Allerdings benötige ich mehr Zeit als erwartet.“

„Ausgerechnet du sagst, du brauchst mehr Zeit? Kaum zu glauben! Ich kenne keinen, der schneller liest als du. Und wie du dir das alles merken kannst, ist mir ein Rätsel.“

„Für Einiges war ich genötigt, erst eine andere Sprache zu lernen“, verteidigte er sich. „Übrigens gibt der Speicherschirm hier langsam den Geist auf. Damit bleiben noch zwei. Zu allem Unglück lässt sich die Speicherscheibe nicht mehr wechseln. Ich möchte mir nicht ausmalen, welch herausragendes Wissen verloren gegangen ist und es gibt noch viel zu entdecken. Sofern wir…“

„Du wieder! Um die Schirme kümmere ich mich später. Das dürfte leichter sein als das Problem mit dem Noticer zu beheben“, unterbrach sie ihn unsanft. „Deine Wissensgier in allen Ehren. Trotzdem verstehe ich nicht, weshalb du alles liest. In meinen Augen ist das reine Zeitverschwendung. Ich will wissen, wie Dinge funktionieren. Was ich in die Hand nehme und zerlege, das lässt sich auch wieder zusammensetzen, hoffe ich jedenfalls.“ Sie zögerte kurz und musterte ihren Bruder. „Lass uns den anderen helfen. Du weißt, Vater verlangt von uns, dass wir ein Vorbild sind. Selbst, wenn es eine Höhle der Aufrechten ist, wir dürfen uns nicht vor der Verantwortung drücken.“

Der junge Wissenschaftler war nicht bei der Sache. Die Aufrechten waren eine Fraktion, die im Gegensatz zu den Wissenschaftlern danach trachtete, den größten Teil der Technik aus ihrem Alltag zu verbannen. Zudem hatten sie noch andere merkwürdige Ansichten und der Gedanke gefiel ihm nicht, in der unteren Ebene nach dem Rechten zu sehen. Trotz allem waren es Menschen, die Hilfe nötig hatten. Er drückte einen Knopf an dem Bildschirm, woraufhin das Licht erlosch. „Hast recht. Lass uns nachsehen, ob sie Hilfe benötigen. Vater soll keinen Grund zur Klage haben.“

Farmhöhle

Im Korridor vor der Unglücksstelle herrschte ein großes Durcheinander. Verletzte lagen stöhnend am Boden, während Helfer Geröll mit der Hand bewegten und neue Stützpfeiler aufstellten. Andere trugen Kisten voller Gesteinsbrocken weg und brachten Wasser für die Helfer. Vereinzelte Laternen hüllten die Szenerie in ein düsteres Dämmerlicht.

Ein hünenhafter Mann mit kahlgeschorenem Schädel scheuchte die Helfer umher und ließ die Verwundeten in Sicherheit bringen. Als Aufseher scheute er sich nicht, mit anzupacken, als es galt, den Eingang zur Farmhöhle zu stabilisieren.

„Licht, bringt mehr Licht! Ich sehe kaum die Hand vor Augen“, rief er und wuchtete den Balken in die richtige Position.

„Drilon, die Leitungen sind durchgebrannt“, gab einer der Helfer zu bedenken. „Wir müssen erst alles…“

„Du mit deinen verdammten Ausreden! Erspar mir dein Gejammer und bringt endlich Licht! Und kümmert euch um die Leitung.“ Er deutete auf ein Bündel abgerissenes Stromkabel, die von der Decke herabhingen und Funken sprühten.

Unschlüssig eilte der Helfer den Korridor entlang. „Beeil dich“, rief Drilon ihm hinterher, riss einem Helfer die Laterne aus der Hand und begab sich in die Höhle. Teile der Decke hatten nachgegeben und einen Bereich mit Geröll verschüttet. „Die Lichtleitung ist hinüber, sonst würden die Deckenlampen noch leuchten. Schauen wir mal, wie schlimm es ist.“ Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und begutachtete das Ausmaß der Schäden. „Wie ich befürchtet habe, die Ernte ist hinüber! Verdammt!“ Vor ihm waren mehrere Helfer bemüht, einen Verschütteten zu bergen, der leise wimmerte. Er hatte genug gesehen und begab sich in den Korridor. Zwei Männer drängten sich an ihm vorbei und stellten einen zusätzlichen Stützbalken auf.

„Wo sind die verdammten Konstrukteure?“, brüllte der Hüne. „Sowie man einen braucht, ist wie immer keiner da.“ Er sah sich um und schüttelte den Kopf. „Schafft die Verletzten hier weg. Stützbalken dort rüber und schafft den Schutt hier weg.“ Sofort sprangen ein paar Helfer herbei und folgten den Anweisungen ihres Aufsehers. Noch herrschte reges Durcheinander, doch es war bereits ein kleiner Fortschritt zu erkennen. Überrascht beobachtete er, wie Saban und Sallina den Korridor entlangkamen.

„Hoher Besuch, wie mir scheint. Habt ihr euch hierher verirrt oder seid ihr bloß neugierig?“, begrüßte er die Beiden, die er als Kinder des Anführers der Wissenschaftler kannte. „Ihr dürft euch gerne nützlich machen. Hier ist jede helfende Hand willkommen.“

„Dafür sind wir hier“, beteuerte Saban. „Du bist offensichtlich der Wachhabende. Wie konnte das passieren?“

„Wie wohl?“, schnauzte Drilon. „Als Aufseher habe ich zwar das Sagen über die Menschen, doch die Technik hat versagt. Ist ja lebensgefährlich hier unten.“

„Kein Wunder! Welcher Stümper hat das angerichtet?“ Sallina verfolgte die funkensprühende Leitung zum nächsten Verteiler. Dort angekommen angelte sie eine Isolierzange aus ihrem Werkzeuggürtel und sperrte den Stromzufluss kurzerhand ab. Augenblicklich blieben die Funken aus. „So, das sollte reichen. Wer das hier zusammengelötet hat, war ein mieser Pfuscher. Wundert mich nicht, falls es in der Höhle ähnlich aussieht. Ihr Narren gefährdet uns alle mit eurem Schrott!“

„Sprich nicht abfällig über uns! Ihr von oben haltet euch für was Besseres, nicht wahr?“, raunzte der Aufseher sie an. „Es ist nicht die Schuld unserer Konstrukteure, dass die Decke runterkam und mehrere Leute und die Felder verschüttet hat. Die Ernte ist hin. Ihr wisst, was das bedeutet. Ach ja, die Beleuchtung hat es ebenfalls erwischt. Es dauert garantiert Wochen, die Höhle instand zu setzen.“

„Ist alles verloren?“, erkundigte sich Saban. „Nicht das kleinste bisschen zu retten?“

„Überhaupt nichts. Wir können froh sein, wenn wir die Höhle überhaupt freiräumen können. Eine Katastrophe ist das.“

Saban überlegte kurz. „Ihr habt euch weit nach Norden gegraben. Dort ist das Gestein brüchiger als im Süden. Braucht ihr allen Ernstes derart viel Fläche?“

„Klar! Die Priester verkünden die Worte unseres Anführers und er sagt, wir haben viele Mäuler zu stopfen. Ich glaube ihm. Er weiß immer, was für uns gut ist.“

„Das Ergebnis liegt vor uns“, mutmaßte Sallina forsch und inspizierte den Schaden. „Die Leitungen bekomme ich mit viel Geduld und Spucke wieder hin. Ausgraben müsst ihr die Höhle allein.“

„Höre ich Zweifel an den Worten unseres ehrwürdigen Anführers“, mischte sich ein hagerer Mann mit kurz geschorenen blonden Haaren ein. Seine helle Robe kennzeichnete ihn als einen Priester der Aufrechten.

„Ihn könnt ihr fragen“, befleißigte sich Drilon und deutete eine Verbeugung an. „Keiner kennt die Pläne von Machiel besser als Tankred.“

„Danke, jetzt gehe deiner Arbeit nach. Es gibt noch eine Menge zu tun“, erwähnte Tankred höflich, aber bestimmend und wandte sich den Geschwistern zu.

„Vermutlich vermochte ein einfacher Kerl wie Drilon nicht die wahren Worte und die Botschaft unsers Führers korrekt wiederzugeben, daher eure Zweifel und Skepsis. Gerne bringe ich euch seine Botschaft der göttlichen Ordnung näher. Glaubt mir, er plant großes und hat lediglich das Gute für uns alle im Sinn.“

„Soweit ich weiß, verweigert ihr, die Errungenschaften der Technik zu nutzen“, erwiderte Saban. „Inwiefern der Plan sinn voll sein soll, ist mir ein Rätsel.“

„Dass er es gut meint, möchte ich gerne glauben“, antwortete seine Schwester spitz. „Angesichts solch mangelhaft gesicherter Höhlen fällt es mir allerdings schwer. Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht.“

Tankred bedachte sie mit einem abfälligen Lächeln und sein Blick wanderte zu Saban. „Die Leute reden zu viel in ihrer Unwissenheit. Uns Aufrechten ist der Glauben an den Gott unserer Väter das wichtigste Gut. Wir wissen doch, ohne ein Mindestmaß an Technologie hätten wir hier im Untergrund niemals all die Jahre überlebt.“

Nickend dachte Saban daran, was er gelesen und aus Berichten erfahren hatte. Seit mittlerweile fünf Jahrhunderten bestand diese Kolonie im Untergrund. Damals hatten sie Schutz gesucht, vor dem, was an der Oberfläche geschah. Im unterirdischen Exil wollten sie abwarten und hegten die Hoffnung, eines Tages an die Oberfläche zurückzukehren.

„Zudem verweigert ihr die Nutzung mancher Maschinen, habe ich gehört“, bemängelte Saban. Er hatte gesehen, wie Sallina ihm zugezwinkert hatte und sich Schritt für Schritt dem Eingang der Farmhöhle näherte. Daraufhin versuchte er, Tankred abzulenken und ihn in ein längeres Gespräch zu verwickeln. „Vater erzählt uns oft von den Ratssitzungen. Man bekommt einiges mit, auch wenn viele Zusammenhänge offenbleiben. Du weißt, was ich meine.“

Wie gehabt lächelte Tankred. „Und ob. Allerdings berichtet unser Anführer uns Priestern ausführlich und weist uns an, unser Wissen mit den Gläubigen zu teilen. Ohne ihn wären wir verloren. Sein Ohr gilt dem Volk und ihn kümmern die Probleme und Sorgen aller Leute.“

„Deine Erzählungen klingen nach einem großartigen Menschen“, beteuerte Saban und hielt verstohlen nach seiner Schwester Ausschau, die mittlerweile in der Höhle verschwunden war. Schon als Kind hatte er ihre Alleingänge gehasst, die sie ständig in Schwierigkeiten gebracht hatten. Im Erwachsenenalter war sie kein Deut besser geworden. „Ich bin mir sicher, er ist das leuchtende Vorbild, von dem ich immer gehört habe.“

„Wie wahr! Ist es nicht eine Freude, einen solch weisen Mann in unserem Rat zu wissen? “, lobte Tankred vollmundig. „Er lenkt unser aller Schicksal und wir konzentrieren uns auf unsere jeweiligen Aufgaben. Einzig auf diese Weise kann unser Volk bestehen.“

„Ist es nicht so, dass unsere Ressourcen begrenzt sind und wir aufgrund dessen gut überlegen müssen, ob zusätzliche Höhlen sinnvoll sind“, gab Saban zu bedenken. „Zumal es gefährlich ist. Es ist unklar, ob der Untergrund noch genug sicheren Raum bietet. Doch ich bin zuversichtlich, mit eurem Fleiß und eurer Erfahrung habt ihr euch einen vorzüglichen Lebensraum geschaffen.“

„Du darfst nicht alles glauben, was dir die Leute sagen. Wenn du solches Interesse zeigst, führe ich dich gerne durch die hinteren Bereiche der unteren Ebene. Euresgleichen zeigt sich lediglich selten bei uns. Du wirst staunen, wozu unsere Konstrukteure in der Lage waren.“

Während Saban um eine Ausrede rang, war Sallina neben ihm aufgetaucht und ergriff das Wort. „Ich bin wahrlich gespannt darauf, ob es noch mehr Kostproben eures Könnens gibt, wie bei der eingestürzten Farm. Wir nehmen dein Angebot gerne an und sind neugierig, was eure Stümper zu bieten haben. Nicht wahr, Bruderherz?“

Er biss sich auf die Zunge und nickte notgedrungen. Er bemerkte, wie Tankred für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht verzog, bevor er erneut sein Lächeln zeigte. „Gut, so sei es. Treffen wir uns morgen an der Mittelrampe. Sagen wir gegen 9 Uhr. Ich werde euch gerne alles zeigen. Jetzt entschuldigt mich, ich habe noch zu tun.“

Sofort nahm Saban seine Schwester zur Seite. „Was hast du angerichtet? Lässt du dir morgen wirklich die untere Ebene zeigen? Merkst du nicht, wie dieser Kerl dich behandelt?“

„Der Kerl ist echt ein verdammter Widerling, ein elender Speichellecker Machiels. Aber er führt uns herum. Das gehört zu meinem Plan. Bisher kenne ich bloß die unmittelbare Umgebung der Rampe.“

„Plan? Was hast du vor? Und was hast du in der Höhle gesucht? Du bist verrückt!“

Sallina verzog kurz ihr Gesicht und ignorierte die Bedenken ihres Bruders. „Unter dem Geröll ragten die alten Stützpfeiler hervor. An einem von ihnen ist mir etwas aufgefallen. Du wirst nicht mögen, was ich entdeckt habe.“

„Ich bin gespannt.“

„Es ist kein Zufall, dass diese Höhle eingestürzt ist. Mehrere Pfeiler waren angesägt.“

„Du meinst, es war Sabotage?“, hakte ihr Bruder ungläubig nach.

„Sieht mir danach aus. Dieser Bastard spielt mit dem Leben der Leute. Was hier auch vor sich geht, morgen wissen wir hoffentlich mehr.“

Unten

Die Mittelrampe bildete die Verbindung zwischen oberer und unterer Ebene. Ursprünglich bestand der Komplex lediglich aus einer Ebene, was deutlich zu erkennen war. Alle Wände und Decken waren mit verchromtem Metall ausgekleidet und boten keinerlei Möglichkeit zur Erweiterung der Höhlen. Vor 300 Jahren begann man, die untere Ebene in den weichen Tuffstein zu graben, um neuen Wohnraum zu schaffen. Die Wände dieser Ebene blieben unverkleidet und kahl, so wie sie in den Stein gegraben worden waren. Zusätzlich zu den Wohnhöhlen gab es Farmen, um die Ernährung der Menschen zu sichern. Auf einem Großteil der Anbaufläche wuchsen Obst und Gemüse. Weil es keinen Platz für die Haltung von Tieren gab, waren sie untertage von jeher darauf angewiesen, Käfer und Maden zu züchten, um die Bevölkerung mit Proteinen zu versorgen. Ein wichtiger Faktor waren die Algenfarmen. Sie waren essbar und durch eine spezielle Züchtung ließen sich daraus Stoffe anfertigen als Grundlage für Kleidung und alles andere. Eine spezielle Deckenbeleuchtung ließ Pflanzen gedeihen. All dies war durch einen geothermalen Transformator möglich, der in der Erdkruste gespeicherte Wärme in Energie umwandelte. Zu den sogenannten Betriebsräumen zählten ebenfalls die Anlagen mit den Luftaustauschern sowie den alten nuklearen Reaktoren. Unmengen an verbrauchten Brennstäben waren nahe der Mittelrampe in einer versiegelten Höhle gelagert.

 

Auf dem Weg zur Mittelrampe warnte Saban seine Schwester. „Unternimm dort unten bitte nichts Unüberlegtes.“

„Du kennst mich doch“, antwortete sie lächelnd.

„Eben deswegen sage ich es ja. Wie wir gestern erlebt haben, ist er kein großer Freund von dir. Rede am besten nur wenig, auch wenn es dir schwerfällt. Versprochen?“

„Ist gut“, versprach sie nach einem Moment des Zögerns. „Er mag niemanden. Womöglich gelingt es dir Interesse zu heucheln, das hilft garantiert. Sieh doch, er wartet bereits auf uns.“

„Welche Freude, dich zu sehen“, begrüßte Tankred Saban und nickte Sallina kurz missbilligend zu. Sie verkniff sich einen Kommentar und stupste ihren Bruder mit dem Ellenbogen leicht an.

„Wir sind überaus begierig zu sehen, was du uns zu zeigen hast“, versicherte Saban schnell.

Der Priester führte sie die Mittelrampe hinunter. Das Licht dort war weit weniger hell als in der oberen Ebene. Sallina hielt sich hier unten nur auf, weil die geothermische Anlage hier einen Wartungsschacht hatte. Links und rechts der Rampe lagen die ersten Farmen. Eine war seit dem Einsturz außer Betrieb, allerdings waren erstaunlich wenige der Aufrechten dabei, den Schutt zu entfernen. Dafür kam einer der Konstrukteure auf Tankred zu.

„Wir haben die Stützbalken entfernt, wie du angeordnet hast“, brabbelte er los. „Ich sag gleich, ohne geht es nicht. Das hält nie und nimmer! Wir…“

„Langsam, Nathan“, mahnte Tankred und sah ihn streng an. „Kennst du Saban? Er ist der Sohn von Josias.“

„Dem Anführer der Wissenschaftler? Willkommen bei uns“, erwiderte Nathan fast schon erschrocken. Sein Blick fiel auf Sallina, anschließend auf den Priester. „Was ist mit den Pfeilern? Sollen wir das umsetzen, wie du gesagt hast?“

„Du bist der Konstrukteur. Ich vertraue dir. Mach, was du für richtig hältst.“

Verwundert sah Sallina zu ihrem Bruder, der ihr andeutete, Ruhe zu bewahren. Wortlos verabschiedete sich der Konstrukteur und verschwand in der Höhle.

„Ein guter Mann und noch dazu überaus fleißig und aufmerksam“, hob Tankred hervor. „Lasst uns hier entlang gehen.“ Er bog in einen Seitengang des Hauptkorridors ab. Dort reihten sich mehrere Höhlen aneinander. Aus ihnen drang ein stetes Klopfen und Hämmern. Zielsicher steuerte Tankred auf eine von ihnen zu. „Dies sind unsere Werkstätten. Dort bauen wir Stützpfeiler, die wir für unsere neuen Höhlen verwenden. Ich zeige es euch.“

 

In der Werkstatt war ein Schmelzofen, an dem Konstrukteure flüssiges Metall in Formen gossen. Drei Männer werkelten an einer Maschine, deren Zahnräder klackernd ineinandergriffen und die Gussform ruckelnd anhob. Ein anderer Mann bearbeitete ein abgekühltes Stück Metall mit einem Hammer.

„Lasst euch nicht stören, Männer“, rief Tankred und wandte sich Saban zu. „Wie du siehst, nutzen wir eine altbewährte Technik. Von solchen Werkstätten gibt es viele. Jetzt lasst mich euch einen unserer Unterrichtsräume zeigen. Kommt mit.“

Sallina blieb noch einen Moment stehen und betrachte ungläubig das Durcheinander von rostigen Rohrleitungen, die an mehreren Stellen notdürftig geflickt waren. Die Tropfenbildung an den Verbindungsstücken ließ sie Schlimmes ahnen. Als einer der Schmiede sie musterte, eilte sie nach draußen und folgte den anderen, die auf den Weg durch den Korridor waren.

„Gleich kommen wir an ein paar Wohnhöhlen vorbei. Dort hinten haben wir eine Algenfarm und danach seht ihr, wie bei uns der Unterricht erfolgt“, erklärte Tankred, aufmerksam bedacht, die Zwillinge nicht zu verlieren.

Sallina lief bewusst langsam und betrachtete sich die Leitungen an den Wänden. Mehr als einmal juckte es sie in den Fingern, weil ihr offensichtliche Fehler auffielen. Mühsam beherrschte sie sich und verkniff sich jeden Kommentar. Ihrem Bruder schien nichts davon aufzufallen. Plötzlich kam ein junges Mädchen um die Ecke und stolperte in Saban hinein. „Hoppla, wohin so eilig?“, fragte er und fing sie auf. „Hilf mir“, hörte er zu seinem Erstaunen eine fremde Stimme in seinem Kopf. In diesem Moment erblickte das Mädchen den Priester und ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Augenblicklich riss sie sich los und rannte in einen Seitengang. Einen Moment später eilten zwei junge Männer mit Schlagstöcken herbei. Tankred deutete mit dem Kopf in die Richtung, in die das Mädchen verschwunden war. Die Männer nickten kurz und eilten weiter. Die Geschwister tauschten vielsagende Blicke aus, versuchten aber, sich nichts anmerken zu lassen.

„Ja, ja, unsere Kinder. Sind sie nicht ein Segen“, schwärmte Tankred und sah wohlwollend auf eine hochschwangere Frau, die ihnen im Korridor entgegenkam. Als sie den Priester erkannte, senkte sie den Blick und lief stumm an ihnen vorbei. „Hier befindet sich eine unserer Algenfarmen. So etwas kennt ihr sicherlich, wir gehen also nicht direkt zur nächsten Station unseres kleinen Rundgangs.“

Sallina gab ihrem Bruder einen Schubs, der daraufhin vorwärts taumelte. Den Moment nutzte sie, um einen Blick auf die Algenfarm zu werfen. Dutzende von Männern und Frauen fischten in dem Wasser und ernteten Algen ab. Die Leute wirkten ausgemergelt und entkräftet. Schnell schloss Sallina zu den anderen auf. Unterwegs kamen ihnen noch mehr hochschwangere Frauen entgegen, die sich alle Tankred gegenüber unterwürfig verhielten.

 

Am Unterrichtsraum angekommen, schob Tankred einen Vorhang zur Seite und ließ die Zwillinge eintreten. Drinnen saßen rund vier Dutzend Jungen, alle ungefähr gleich alt. Ein Lehrer in einer Priesterähnlichen Robe war mitten im Satz, als er die Besucher sah. Er senkte kurz den Kopf. „Kinder, wir haben hohen Besuch. Was geziemt sich da?“

Sofort erhoben sich die Kinder und riefen im Chor: „Willkommen in unserer Klasse, Herr!“

„Sind sie nicht allerliebst?“, sagte Tankred zu Saban, der zaghaft nickte. „Welches Fach steht auf dem Programm?“

„Schöpfungslehre. Die Jungen, ich meine die Kinder, weil das hier ist eine Jungenklasse“, druckste der Lehrer herum. „Sie erfahren alles für das Leben notwendige.“

„Gibt es auch Mädchenklassen?“ Sallina blickte neugierig in die Runde. „Und wie viele Klassen habt ihr?

Der Lehrer erstarrte und guckte fragend zu Tankred. „Wir wollen nicht länger stören“, erwiderte er, ohne auf die Frage einzugehen. „Die Kinder haben noch viel zu lernen.“

Schweigend verließ er mit seinen Gästen den Raum. Im Korridor bog er in einen Gang ab und setzte zu einer Erklärung an, da hörten sie ein lautes Klopfen und Poltern. Für einen Moment vergaß Tankred das Lächeln, bevor er sich wieder fing. „Dort entlang bitte“, wies er auf den Weg zurück und ging voran. „Ich denke, ihr habt einen Eindruck gewonnen.“ Schweigend gingen sie weiter. An der nächsten Abzweigung bemerkte er, dass Sallina fehlte. Heuchlerisch lächelnd sah er zu Saban. „Wo mag deine Schwester sein? Hat sich dieses vorlaute Weibsbild etwa verlaufen?“

„Oh, wo ist sie bloß?“, spielte Saban den Erstaunten. Er hatte bemerkt, wie seine Schwester am Unterrichtsraum in die andere Richtung gegangen war. „Bestimmt trödelt sie. Du weißt doch, wie Frauen sind.“

„In der Tat. Weiber sind oft derart hilflos und unbedarft. Besser wir sehen nach ihr, anderenfalls verläuft sie sich womöglich.“

„Nicht notwendig, sie ist bestimmt jeden Moment bei uns“, log Saban und atmete erleichtert auf, als Sallina angerannt kam. „Tschuldigung“, rief sie auf Entfernung.

Skeptisch musterte Tankred sie und deutete den Gang entlang. „Gleich sind wir am Ende unserer Tour. Bitte nach euch.“

 

Kurz darauf waren sie an der Mittelrampe angekommen. Der Priester sah den Zwillingen hinterher, wie sie nach oben gingen und entfernte sich schnellen Schrittes.

„Was hast du gemacht? Wir sind beinahe aufgeflogen!“

„Nicht hier“, war ihre Antwort. Sie zog ihn mit sich in einen der Betriebsräume. Der Raum war menschenleer als sie eintraten. Aus Macht der Gewohnheit warf Sallina einen Blick auf die Messtafeln und nickte zufrieden. Das gleichmäßige Wummern der Maschine sowie das Rasseln und Schnaufen der Kolben waren Balsam für ihre Ohren.

„War das nicht seltsam dort unten? Ich meine, wie blind bist du, dass du nicht merkst, was vor sich geht.“

„Lass mich überlegen, was dich mehr gestört hat? Ist es, weil sie die Farm nicht wiederherstellen? Oder weil die Menschen Tankred mit Respekt behandeln und …“

„Viel zu viel Respekt, wenn du mich fragst“, fiel sie ihm ins Wort. „Hast du nicht gesehen, was die in den Werkstätten treiben?“

„Sie bauen Stützpfeiler?“

„Ja, allerdings auf altertümliche Weise, aber das war es nicht“, erwiderte sie und ihre Stimme zitterte vor Aufregung. „Ihre Schmelzöfen zapfen die Hauptleitung an. Das beeinträchtigt die Zufuhr an Energie für die zentralen Maschinen. Und diese Narren beschweren sich über die Kälte. Was für elende Dummköpfe!“

„Verstehe. Die Transformatoren laufen auf Hochtouren, weil die hier Energie abzapfen. Seit Jahren rätseln wir darüber und die Erklärung ist ganz einfach.“

„Davon kommen die kritischen Schwankungen! Diese Trottel treiben uns noch alle in den Untergang! Sie nötigen uns dazu, die Maschinen hochtourig zu betreiben. Irgendwann kollabiert eines der Geräte. Unser Luftaustauscher hier zum Beispiel. Wenn der hinüber ist, war es das mit uns. Moment, hörst du das?“

Saban spitze die Ohren, hörte jedoch nichts Ungewöhnliches. Seine Schwester trat an die Maschine und öffnete eine Klappe. Dahinter kamen mehrere Elektrospulen zum Vorschein. Blitze leckten über die Apparatur und eine kleine Rauchwolke stieg auf.

„Darfst du das denn?“, vergewisserte er sich unsicher. „Ich meine, du bist kein ausgebildeter Ingenieur. Von daher lass lieber Vorsicht walten, bevor du…“

„Noch mag ich keiner sein“, entgegnete sie und justierte eine der Spulen mit ihrem Schraubenzieher. „Vieles weiß ich schon, allerdings ist da noch viel mehr zu lernen. Bald bin ich eine vollwertige Ingenieurin. Darauf kannst du einen lassen.“ Sorgfältig überprüfte sie die anderen Spulen. „Das hält eine Weile“, verkündete sie fröhlich und schloss die Klappe. „Wie du merkst, das hier sind Kleinigkeiten. Was die Aufrechten machen, ist weitaus schlimmer. Sie gefährden uns alle. Ich habe eine Weile darüber gebrütet. Niemals im Leben haben sie vor, die Farm zu erhalten. Und was es mit den Frauen auf sich hat, interessiert mich. Von Geburtenkontrolle halten sie nichts. Wundern die sich tatsächlich, dass es immer mehr Aufrechte gibt, wenn derartig viele Frauen schwanger sind? Und ihren Kindern lehren sie solchen Humbug wie die Schöpfungslehre.“

„Zumindest den Jungen. Von den Mädchen wissen wir es nicht.“ Er sah sie ernst an. „Ehrlich gesagt, gibt mir etwas anderes noch mehr zu denken. Du weißt, was ich meine.“

„Das mit dem Mädchen? Ist es das?“ Bislang war sie diesem Problem ausgewichen, musste sich jedoch eingestehen, es nicht ignorieren zu können. „Ich vermute, sie hat ein Gesetz missachtet. Warum hat sie uns sonst verfolgt? Sag, wie denkst du darüber?“

„Wie ich darüber denke, ist egal. Viel wichtiger ist, ich habe ihre Stimme in meinem Kopf vernommen. Verstehst du? In meinem Kopf! Sie ist eine Telepathin. Gerne hätte ich ihr geholfen. Es war unter den gegebenen Umständen nicht möglich. Verstehst du, was das bedeutet? Sie haben sie verfolgt! Das droht dir ebenfalls. Verdammt, ich habe Angst um dich!“

Wissend nickte die junge Frau. Das Phänomen von Gedankenkräften war ein ungelöstes Rätsel. Wie diese Veränderung zustande kam, war ungeklärt. Die Betroffenen verschwiegen ihre Gabe aus Angst vor Diskriminierung, weshalb keine gesicherten wissenschaftlichen Fakten existierten. Beruhigend legte Sallina ihm einen Arm auf die Schulter. „Leider habe ich sie nicht gehört.“ Sie seufzte hörbar. „Hab keine Furcht, ich verspreche dir, ich passe auf mich auf. Großes Ehrenwort!“

„Leider besitzt du diese Fertigkeit! Aber es lässt sich nicht ändern. Wenn wir bloß wüssten, warum es so ist.“

„Das erfahren wir vermutlich nie. Eines ist klar. Ich bin kein Einzelfall und unsere Zahl wächst.“

„Wie wir erlebt haben, gibt es bei den Aufrechten andere Pläne mit euch Veränderten“, gab Saban zu bedenken. „Wer weiß, was sie mit ihr machen. Die Frage ist, was unternehmen wir?“

Sallina überlegte nicht lange. „Wir müssen Vater davon berichten. Und über das, was ich noch herausgefunden habe.“

„Stimmt, du warst für einen Moment verschwunden. Wo bist du gewesen?“

„Erinnerst du dich an das Klopfen? Und wie nervös Tankred war? Dem bin ich nachgegangen. Diese Wahnsinnigen bauen an einer dritten Ebene.“

Ratsversammlung

Mit getrübter Stimmung war Josias auf dem Weg zur Versammlung des Rates. Noch immer konnte er nicht glauben, was ihm seine Kinder berichtet hatten und schimpfte sich einen Narren, so lange das Offensichtliche nicht bemerkt zu haben. Aus der Beratungshöhle drang undeutliches Gemurmel. Es dauerte eine Weile, bis jeder seinen Platz eingenommen hatte und die Helfer verschwunden waren. Einzig den Räten war es erlaubt, an den Versammlungen teilzuhaben. Zerknirscht stellte Josias fest, wie groß die Gruppe der Aufrechten war. Er zählte mehr als 20 Männer in den typischen schlichten Gewändern und jeder von ihnen repräsentierte eine Gruppe von Bewohnern. Vergleichsweise wenige Mitglieder gehörten zu der Gruppe der Wissenschaftler. Immerhin waren sie 12, auch wenn sie einen geringeren Anteil an der Bevölkerung ausmachten. Die Sicherheit im Untergrund hatte ihren Preis und an ein Wachstum der Bevölkerung war für sie aufgrund fehlender Ressourcen nicht zu denken.

Nachdem sich endlich alle gesetzt hatten, läutete Josias mit einem Glöckchen und bat um Ruhe. Stumm schauten alle zu ihm. Als Vorsitzender saß er an einem Tisch, neben ihm zwei seiner Vertrauten. Andere Wissenschaftler des Rates hatten es sich ebenfalls dort bequem gemacht. Ihnen gegenüber befand sich die große Gruppe der Aufrechten.

„Ich heiße euch alle willkommen“, begann der Anführer der Wissenschaftler seine Ansprache. „Schön, dass ihr alle gekommen seid. Es gibt wichtige Dinge zu besprechen.“

„Richtig, wir brauchen mehr Wohnhöhlen“, rief einer der Vertreter der Aufrechten.

„Und neue Farmhöhlen“, fügte ein Anderer hinzu.

„Mäßigt euch“, bat Machiel und sofort verstummten die Zwischenrufe. Die Aufrechten hörten auf den kahlköpfigen, hageren Mann. Er war ihr Anführer und größter Widersacher der Wissenschaftler. Lächelnd übergab er das Wort an den Vorsitzenden.

„Eure Sorgen und Nöte sind wohlbekannt“, räumte er ein. „Keinem von uns gefallen die beengten Verhältnisse in den Wohnhöhlen und das geringe Angebot an Nahrung erreicht langsam ein kritisches Niveau. Wie ihr alle mitbekommen habt, ist eine der Farmhöhlen eingestürzt. Die Aufräumarbeiten sind im vollen Gange. Trotzdem müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie es weiter geht.“

„Es war eine der alten Höhlen“, vermittelte Machiel ungefragt. „Die Technologie zerfällt und mit ihr eure Höhlen. Das ist ein Zeichen!“

„Jawohl, ein Zeichen der Götter! Es ist Ketzerei, was ihr dort betreibt“, meldete sich ein Zwischenrufer. Andere klatschten Beifall.

Zum wiederholten Male klingelte Josias mit dem Glöckchen. „Ruhe bitte! Ruhe! Hört mir zu! Ich bin bemüht, euch zu verstehen. Schenkt mir euer Gehör! Die alten Höhlen, wie ihr sie nennt, haben uns über all die Jahrhunderte ernährt. Sie waren dauerhaft im Einsatz und es ist kein Wunder, falls Dinge kaputtgehen und Höhlen einstürzen. Die Zeit geht nicht spurlos an ihnen vorüber. Und unser Wissen um die alte Technik ist begrenzt. Deswegen lässt sich nicht einmal der Noticer vollständig nutzen. Bisher ist es uns nicht gelungen, ihn bis auf die untere Ebene auszuweiten.“

Unruhe kam auf, wie jedes Mal, wenn die Problematik um das interne Kommunikationssystem namens Noticer aufkam. Die Aufrechten erhoben sich und äußerten lautstark ihr Missfallen, bis ihr Anführer aufstand und mit einer knappen, befehlenden Geste für Ruhe sorgte.

„Wir benötigen euren Noticer nicht! Die neuen Höhlen zeigen keinerlei Probleme und kommen ohne euren sogenannten technologischen Fortschritt aus“, äußerte er sich. „Ein wenig Licht und Wärme ist alles was wir brauchen. Nicht eure Wände aus Metall, eure Leseschirme und den anderen Firlefanz. Mit der Arbeit unserer Hände ernten wir die Pflanzen. Uns geht es gut.“

„Ihr habt leicht reden“, konterte der Anführer der Wissenschaftler. „Ihr bewohnt die untere Ebene und erweitert sie, wie es euch beliebt. Wir kommen nicht damit nach, euch mit Energie zu versorgen. Ohne seid ihr verloren!“

„Und ist es nicht eure Technologie, die uns in diese Lage gebracht hat? Vergiss das nicht!“, mahnte Machiel. Die Zuhörer nickten und es gab Beifall, den Josias bedrückt über sich ergehen ließ. Ihm war klar, was die Argumente seines Widersachers betraf. Aus seiner einfachen Sicht war es die Technologie, die ihre Vorfahren unter die Erde getrieben hatte. An der Oberfläche herrschte ein grausamer Krieg aller Nationen. Die Natur war außer Kontrolle geraten und die Menschheit kämpfte um die knappen Ressourcen. In der Folge fielen Bomben, Seuchen breiteten sich aus und forderten viele Opfer. Noch bevor es so weit war, bauten sie unterirdische Anlagen, um Menschen dorthin zu evakuieren und versiegelte diese Bunker. Alle Hoffnung ruhte auf einen Neuanfang, sobald der Krieg beendet und die Natur wieder bewohnbar war. All dies war vor 500 Jahren geschehen. Seitdem hatten sich die Überlebenden ihre Umgebung im Tuffstein des Untergrundes erweitert. Mit wachsender Bevölkerung war es notwendig, die unterirdischen Farmen zu vergrößern und zusätzliche Höhlen zu graben. Durch die Ausnutzung thermischer Energie konnte alles am Leben erhalten werden. Mit der Zeit war das Wissen um die Technologie verloren gegangen und die Leute suchten Zuflucht im Glauben. Genau hier lag das Problem von Josias. Die Aufrechten gewannen zunehmend an Einfluss und ihre Zahl wuchs. Kaum einer scherte sich um die Technologie, die das Leben im Untergrund erst ermöglichte.

„Darf ich euer Augenmerk auf etwas anderes richten“, versuchte er das Thema zu wechseln. „Ich komme nicht umhin euch mitzuteilen, dass die Apparaturen unserer Vorväter langsam an ihre Leistungsgrenze geraten, weil wir zu viele sind.“ Unruhe kam auf, die sofort verebbten, als Machiel sich erhob. „Was willst du damit sagen?“, erkundigte er sich unschuldig. „Stört es dich, dass Kinder zur Welt kommen?“

Josias rang mit den Worten und ahnte, alles, was er sagen konnte, würde Machiel ihm im Mund umdrehen. Dennoch wollte er es nicht unversucht lassen. „Selbstverständlich habe ich nichts gegen Nachwuchs, jedoch nicht auf Kosten unserer schwindenden Ressourcen“, unterstrich er. „Ohne ausreichend Wärme oder Luft ist das Überleben nicht möglich.“

„Papperlapapp“, fuhr ihm der Anführer der Aufrechten in die Parade. „Bisher hat es noch immer gereicht. Diese Erschütterungen der Erde sind ein Zeichen, sage ich euch allen. Es ist kein Zufall, dass Höhlen einstürzen. Der große Schöpfer zeigt sich erzürnt und das ist seine Art, es uns mitzuteilen.“ Er schaute in die Runde der Ratsmitglieder, die vor Erstaunen ruhig blieben. „Ich sage euch, es geschehen Dinge, die unser Schöpfer nicht gutheißt. Einige von euch haben es mit eigenen Augen gesehen. Ihr wisst alle was ich meine, obgleich ihr es allein hinter vorgehaltener Hand sagt. Es sind Mutanten unter uns, die der Schöpfung zuwiderlaufen. Sie sind es, die unser aller Verderben bewirken. Wir müssen achtgeben, sonst vernichten sie uns. Das konnten wir nicht länger hinnehmen und haben Gegenmaßnahmen ergriffen. Alles in allem ist unsere Situation kritisch. Deswegen beantrage ich, die Öffnung nicht länger hinauszuzögern.“

Wohl wissend, was seine Worte bewirkten, setzte der Anführer der Aufrechten sich und grinste verstohlen. Die Ratsmitglieder begannen, untereinander zu tuscheln und diskutierten stetig lauter. Josias wusste, er musste dem Einhalt gebieten. Falls die Öffnung ernsthaft zur Diskussion stand, befürchtete er, die Aufrechten könnten sich durch ihre Überzahl durchsetzen. Dass die Zeit gekommen war, daran hegte er große Zweifel. Damals, als die Bevölkerung in dem unterirdischen Komplex Schutz suchte, war der Eingang versiegelt worden und sollte erst nach Ablauf von 500 Jahren geöffnet werden. Bis dahin hoffte man, wären die Seuchen überstanden und die Strahlung auf einem tolerierbaren Niveau. Verzweifelt läutete der Anführer der Wissenschaftler mit dem Glöckchen. „Hört mich an! Noch ist es nicht an der Zeit. Unser aller Überleben steht auf dem Spiel. Nicht ohne Grund haben wir all die Zeit abgewartet. Eine zu frühe Öffnung birgt ungeahnte Gefahren.“

Darauf schien Machiel gewartet zu haben. Als er sich erhob, war die Menge sofort ruhig und hing an seinen Lippen. „Diese Gefahr, was weißt du darüber? Ist es eine Ahnung oder bloß eine Befürchtung? Die Realität zeigt, auf Dauer sind die Erschütterungen kritisch. Wie groß kann die Gefahr schon sein?“ Siegessicher nahm er Platz.

Noch bevor der Anführer der Wissenschaftler antworten konnte, kamen die ersten Rufe. „Öffnung! Öffnung!“, riefen die Aufrechten.

Fragend blickte Josias auf die anderen Ratsmitglieder der Wissenschaftler. Schulterzucken und Kopfschütteln waren die Reaktionen. „So sei es“, rief er laut. „Lasst uns abstimmen. Falls die Mehrheit für die Öffnung stimmt und sich der Gefahr bewusst ist, dann soll es sein. Darf ich um Handzeichen bitten?“

Sofort reckten sich die Arme aller Aufrechten nach oben und sogar zwei der Wissenschaftler befürworteten ihr Anliegen. Missmutig verkündete Josias die Öffnung und beendete die Versammlung, bevor er schnell den Raum verließ. Hinter sich hörte er nicht enden wollende Jubelrufe.

Familientreffen

„Bist du dir sicher? Vater hat nicht gesagt, worum es geht?“, fragte Saban, während am späten Abend mit seiner Schwester durch die Korridore schlich.

„Wenn ich es dir sage“, beteuerte sie. „Paps wirkte richtig geheimnistuerisch, selbst für seine Verhältnisse. Dermaßen angespannt habe ich ihn glaube ich noch nie erlebt.“

„Auch nicht, falls du die Sache machst? Du weißt was ich meine.“

Sallina zog die Mundwinkel für einen Moment hoch. „Und ob. Ich dachte, wir sollen nicht darüber reden.“

„Tun wir nicht. Es war bloß ein Beispiel. Das heißt, es geht um etwas Wichtiges. Es erklärt, wieso er uns um die Uhrzeit an der Algenfarm treffen will. Bald geht dort das Licht aus, um den Nachtbetrieb zu simulieren.“

„Grüble nicht länger darüber nach, Bruderherz, sonst bekommst du noch Kopfschmerzen. Wir sind gleich da, dann kannst du ihn selber fragen. Oder er sagt es uns.“

Sie betraten die Algenfarm, in der das Licht gedämpft war. Vor ihnen erstreckten sich mehrere Wasserbassins für die Algenzucht.

„Hier herüber“, erklang die Stimme von Josias. Vor einem der breiten Becken war sein Schemen sichtbar. „Ist euch irgendwer gefolgt?“

„Nein, wir haben keinen gesehen“, gab Saban zurück. „Und uns ist keine Menschenseele begegnet.“

„Um welche geheime Sache geht es?“, forschte seine Schwester neugierig nach. „Was hast du uns mitzuteilen? Geht es um die Farmen?“

„Kommt näher. Der Lärmpegel der Umwälzpumpen übertönt unser Gespräch“, erklärte Josias, der auf dem Beckenrand saß. „Falls uns jemand belauschen will, muss er nahe herankommen.“

„Manchmal frage ich mich, ob du nicht übertreibst, Paps“, meinte Sallina keck, hockte sich neben ihn und lauschte für einen Moment dem blubbernden Wasser. „Wer sollte uns hier belauschen?“

„Ich traue diesen Fanatikern alles zu. Und wir haben Wichtiges zu besprechen. Eine Angelegenheit, von der der Rat nichts wissen darf“, entgegnete er geheimnisvoll und strich sich durch seinen weißen Bart.

„Hui, das klingt spannend! Schnell rede weiter“, drängelte sie. „Du weißt, wie ungeduldig ich bin.“

„In der Tat, das weiß ich“, nickte ihr Vater. „Oft bist du schwer zu bremsen.“

„Spann uns nicht auf die Folter“, bat Saban und setzte sich auf die andere Seite seines Vaters. „Worum geht es?“

„Das interessiert mich auch brennend“, stimmte seine Schwester ihm zu. Sie bemerkte ein unregelmäßiges Blubbern und kniete sich vor die Pumpe. Mit spitzen Fingern fischte sie einen Klumpen Algen aus dem Ansaugstutzen und das Blubbern erklang gleichmäßig. „So, die tut wieder. Was hast du uns mitzuteilen?“

„Wie ihr wisst, sieht unsere Zukunft alles andere als gut aus. Nach und nach versagen die Maschinen und wir wissen nicht genug, um sie instand zu setzen“, mahnte Josias, musste sich jedoch von seiner Tochter unterbrechen lassen.

„Als ob die Ingenieure und ich nicht alles Mögliche tun“, platzte es aus ihr heraus. „Wir reißen uns den…“

„Das weiß ich, meine Tochter und ich schätze es sehr. Auf Dauer reicht das nicht aus. Zu Vieles ist in Vergessenheit geraten. “

„Da ist noch was anderes, was dir Sorgen bereitet“, kombinierte Saban. „Ich vermute, die Aufrechten oder Fanatiker, wie du sie nennst, bereiten dir schlaflose Nächte. Habe ich recht?“

„Wer sonst?“, erwiderte Josias. „Sie werden immer stärker. Mittlerweile sprechen sie sich im Rat offen gegen uns aus und versuchen, uns kleinzuhalten. Der oberste Spinner der Aufrechten wird ständig dreister und fordernder. Und da sind noch die beunruhigenden Dinge, von denen ihr mir berichtet habt. Eine dritte Ebene ist noch das geringste Problem. Die gezielte Jagd auf die mit speziellen Gaben machen, ist kein neues Phänomen. Er hat es heute angedeutet, dennoch war allen klar, was gemeint war. Und er hat sie offen als Mutanten bezeichnet.“

„Was?“, schnauften die Geschwister gleichzeitig auf.

„Leider ist es so. Es gibt mehrere Berichte darüber, doch uns fehlen die Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Alles was wir wissen, ist, dass es immer mehr Menschen gibt, die derartige Gaben haben. Dafür scheint es einen Auslöser zu geben. Noch wissen wir nicht, was es ist. Fakt ist, die Fanatiker sind gegen alles, was ihrer Meinung nach der göttlichen Ordnung zuwiderläuft.“ Seufzend fügte er hinzu: „Das betrifft auch dich, Sallina.“

„Weil ich anders bin?“, beschwerte sich die junge Frau. „Daran erkenne ich nichts Schlimmes. Ich finde es eher praktisch und es schadet nicht.“ Sie kramte eine Schraube aus ihrer Hosentasche hervor und ließ sie über der Hand schweben.

„Sei nicht leichtfertig“, mahnte ihr Vater.

„Hier sieht mich keiner. Außerdem brauche ich die Übung“, rechtfertigte sie sich.

„Verdammt! Ich mache mir Sorgen um dich“, schimpfte ihr Vater. „Versprich mir, dass du in Zukunft vorsichtig mit dieser Gabe bist. Und passt auf, was ihr über den Noticer redet. Wer weiß, wer mithört.“

Kleinlaut ließ sie die Schrauben in ihre Hand fallen. „Ja, Paps.“

„Gut!“ Er zeigte sich sichtlich beruhigt. „Dann ist noch die Sache mit der kollabierten Farm. Ihr habt von Sabotage berichtet. Dem bin ich nachgegangen. Es war eine der alten Farmen, in denen wie die Fanatiker sagen, gottlose Pflanzen gedeihen. Deshalb liegt der Verdacht nahe, was passiert ist.“

„Vater!“, entrüstete sich Saban. „Es sind keine gottlosen Pflanzen. Es heißt Gentechnik und hilft uns, die Erträge der Pflanzen zu maximiert und uns mit essenziellen Nährstoffen zu versorgen. Wie kann jemand dagegen sein?“

„Nicht alles lässt sich rational erklären“, sagte Josias. „Dennoch vermute ich, einer von Machiels Leuten hat die Stützen manipuliert. Sobald alles kaputt ist, müssen sie sich nicht mehr damit abgeben. Viel schlimmer ist, wozu die Aufrechten es im Rat genutzt haben. Ihr werdet es nicht glauben, sie haben die Öffnung beantragt. Und der Rat hat zugestimmt.“

„Nein!“, stöhnte Saban. „Das darf nicht sein. Die Zeit ist noch nicht gekommen. Es ist viel zu früh. Wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge…“

„Diese Erkenntnisse sind denen egal“, unterbrach ihn sein Vater. Verwundert sah er zu seiner Tochter. „Du bist ungewohnt ruhig. Was geht in dir vor?“

„Unsere Welt zerfällt, alles verändert sich“, entgegnete sie traurig. „Ich will das nicht! Wieso bleibt nicht alles, wie es ist und war?“

„Mach dir nicht zu viele Gedanken“, bat ihr Vater und fing eine Träne ab, die ihre Wange hinunterlief. „Veränderung ist nicht schlimm. Sie bietet zusätzlich Möglichkeiten. Mal sehen, was die Öffnung bringt. Momentan weiß niemand, was uns dort oben erwartet. Ist aufregend, nicht wahr?“

„Vielleicht hast du recht“, erwiderte sie und bemühte sich, zu lächeln. „Womöglich brauchen sie meine Hilfe.“

„So gefällst du mir besser“, lobte Josias und lachte fröhlich. „Wir finden eine Lösung. Egal wie sie aussehen mag, wir finden einen Weg, mit allem fertig zu werden. Was denkst du, Saban?“

Der junge Mann überlegte kurz und nickte. „Absolut. Ich habe alles über die Oberfläche gelesen, was ich finden konnte. Die Speicherscheiben bieten eine Fülle von Informationen.“

„Ohne Zweifel, mein Sohn, handelt es sich um altes Wissen und wir wissen nicht, wie es dort heute aussieht. Trotzdem stelle ich es mir fantastisch vor, die Sonne und den blauen Himmel zu sehen. Vermutlich sogar Tiere. Doch nicht alles Wissen befindet sich auf den Speicherscheiben. Die ältesten Dokumente sind noch auf Papier und ich halte sie seit Jahren unter Verschluss.“

„Was? Du weißt von meiner Forschung und sagst es mir erst jetzt nebenbei?“ Sabans Stimme bebte.

„Beruhig dich, ich habe einen guten Grund“, verkündete Josias. „Ich wollte wissen, ob das digitale Wissen dem auf den Dokumenten entspricht. Bei allem, was du gelesen hast, bist du jemals über einen Namen für die Welt gestoßen?“

„Einen Namen?“, mischte Sallina sich ein. „Das wüsste ich. Hat die Welt denn einen Namen?“

„Ich bin mir auch keiner Bezeichnung bewusst“, fügte ihr Bruder hinzu.

„Das habe ich mir gedacht“, erwiderte Josias geheimnisvoll und förderte eine verschlossene Röhre aus der Tasche hervor, die neben ihm lag. Mit geübtem Griff öffnete er den Verschluss und holte eine Schriftrolle hervor. Vorsichtig entrollte er sie und zeigte sie den Zwillingen.

„Die Schrift der Alten“, staunte Saban.

„Mir doch egal, welche Schrift das ist, kannst du sie lesen?“, drängelte seine Schwester.

„Ja doch, ich habe sie lange genug studiert. Hmm, das scheint eine Art Bericht zu sein.“

„Zu dem Ergebnis bin ich auch gekommen“, bestätigte der Vater der beiden. „Leider ist das Dokument nicht im besten Zustand. Seht her, gleich im ersten Absatz ist ein Riss. Was kannst du dort lesen?“

„Sie reden von der Oberfläche als ein Projekt mit einem Namen. Es ist schwer zu erkennen, aber ich lese da Auszenland.“

„Auszenland?“, wiederholte Sallina ehrfürchtig. „Klingt geheimnisvoll.“

„Verheimlichst du mir noch mehr solcher Dokumente?“, hakte Saban ungeduldig nach.

„Nein, das ist das einzige. Leider. Der Rest ist zerfallen.“

„Verstehe. Wann geht es los mit der Öffnung?“

„Morgen befürchte ich“, erwiderte Josias nach einer kurzen Pause. „Die Aufrechten werden keine Zeit verschwenden und alles in Bewegung setzen. Wenn ich bloß wüsste, was sie bezwecken. Noch ist nicht klar, ob wir die Versiegelung aufbekommen. Die Tunnel könnten eingestürzt sein oder es gibt andere Hindernisse. Wir lassen uns überraschen. Bevor ich es vergesse: Ich bitte euch, der Öffnung fernzubleiben. Es ist zu gefährlich.“