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Hilde Willes

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80331 München

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Verstörende Fragen

  

  Hilde Willes

  

  

  

 

telegonos-publishing

 

 

 

 

 

Über dieses Buch:

Damals auf ihrem Abiball waren sie beste Freundinnen - junge Frauen mit großen Träumen, heißen Wünschen und starken Plänen. „Heute muss gefeiert werden, morgen fängt die Liebe an, und übermorgen folgt das Leben. Hands up, wir können alles, was wir wollen!“
Dreißig Jahre später planen sie ein Klassentreffen. Sie sind nicht mehr die, die sie waren: teilweise kaum wiedererkennbar, eine von ihnen bereits tot. Was ist passiert? Ratlos sucht Katja nach Antworten. An Wechseljahresbeschwerden inklusive Weltschmerz glaubt sie immer weniger, denn nach und nach treten bestürzende Dinge zutage. Plötzlich sieht sich die Journalistin nicht nur mit den Geschichten ihrer Kameradinnen konfrontiert, sondern auch mit ihrer eigenen – und entdeckt verstörende Geschehnisse.

 

Copyright © 2020 Hilde Willes – publiziert von telegonos-publishing

www.telegonos.de (Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

Cover: Kutscherdesign

 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

Kontakt zur Autorin:

 

Facebook:https://www.facebook.com/Autorin.Hilde.Willes/

Instagram: https://www.instagram.com/hildewilles/?hl=de

Twitter: https://twitter.com/HildeWilles

Telegonos-Verlag:https://www.telegonos.de/aboutHildeWilles.htm

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

Platon über die Liebe:

 

"Mich dünkt", sprach Zeus im Rat der Götter, "ich habe ein Mittel, dass es weiterhin Menschen gibt, aber sie schwächt, damit sie von ihrem wüsten Wesen ablassen. Ich schneide einen jeden mitten durch." Sprach's und schnitt die Menschen, die Mann und Weib in einem Körper waren, so der Länge nach durch, wie man Birnen zum Einlegen durchschneidet. Als nun das ursprüngliche Wesen entzweigeschnitten war, ging jede Hälfte voller Sehnsucht nach ihrem Gegenstück auf die Suche. Sie umschlangen sich mit den Armen und verflochten sich miteinander im Verlangen zusammenzuwachsen. Sehnsucht und Drang, ein Ganzes zu sein, heißt Eros.

Gastmahl 16. (Aristophanes)

 

Prolog

1985

 

Sie fühlte sich so elend wie nie zuvor. Konnte nicht mehr denken und nichts essen. Schlief kaum noch, obwohl sie ganz furchtbar erschöpft war. Verzweifelt, hoffnungslos, am Abgrund. Und TOD-müde! Alles in ihr wirbelte durcheinander, und immer wieder dieses Bild vor Augen, wie ein verzerrtes Testbild im Fernseher. Nur, dass sie das Programm nicht per Knopfdruck ändern konnte. Einfach so.

Der Körper hörte nicht mehr auf zu zittern, die Seele bebte, und dennoch war sie wie erstarrt.

So lag sie da, war nicht mehr sie selbst, eine andere geworden binnen weniger Wochen und alles war so fremd, was einmal vertraut. Diese Angst vor dem finsteren Loch, das sich vor ihr auftat. Unendlich tief. Seit jenem Freitag, als es geschah. Sogar ein Dreizehnter war es gewesen, aber Julie hatte nicht an Unglück glauben wollen, als sie zu ihm ging, sich vertrauensvoll übergab.

 

I know nothing stays the same,

But if you’re willing to play the game,

it’s coming around again.(1)

 

Neun Wochen!

Und von Tag zu Tag wurde es schlimmer. Sie ahnte, dass das auch nicht mehr aufhören würde, niemals mehr, bis zum allerletzten Tag nicht.

Neun Wochen!

Neun furchtbare Tage und Nächte trieben Prometheus‘ und Epimetheus‘ Kinder hilflos durch die wilden Fluten, die Zeus geschickt hatte, weil er so wütend und frustriert gewesen war. Über die Verdorbenheit der Menschen. Auslöschen wollte er sie, untergehen sollten sie in der gewaltigen Sündflut, ähnlich der biblischen Geschichte um Noah.
Julies ureigener Tsunami tobte nun seit neun Wochen, und sie war sicher, so furchtbar sicher, dass das erst der Anfang sein würde. Nein, zum Guten konnte es sich nicht mehr wenden. Denn sie war nicht Pyrrah, die an Deukalions Seite die Urgewalten überlebte, um hernach mit ihm ein neues Menschengeschlecht zu gründen, ein besseres ...

Neun Wochen!

Katzen sagt man im Volksmund neun Leben nach. Julie jedoch hatte nur dieses eine, und das war verwirkt.

Neun Wochen!

Neun Monate währt beim Menschen die Schwangerschaft.

Und Julies Eltern machten sich die größten Sorgen. Der Arzt, den sie riefen, konnte nichts Rechtes feststellen. Sie standen vor einem Rätsel.

„Kind, was ist denn nur mit dir?“

„Was quält dich so, Liebes? Du musst es uns sagen!“

„Wir wollen dir doch helfen!“

„Hab Vertrauen! Sprich mit uns! Julie!!!“

Aber das konnte sie nicht. Wie sollte sie es denn erklären, jenes Unaussprechliche, was alles zerstört hatte, zunichtegemacht binnen einer Stunde, nur einer wesentlichen, entsetzlichen, irren und doch irgendwo berauschenden Stunde?!

 

 

„Vielleicht nur eine pubertäre Phase“, mutmaßte der Arzt, womit er die besorgten Eltern beruhigen wollte, „sicher vorübergehend!“

„Und wenn nicht?“ Julies Vater war in heller Aufregung.

„Dann müssen wir genauere Untersuchungen anstellen. Aber lassen wir den Dingen noch etwas Zeit. Wenn es in einer Woche nicht besser ist, bringen Sie Juliane in meine Praxis!“

Der Termin rückte immer näher, und die Angst vor der definitiven Diagnose schnürte ihr das Herz ab. Sie sah schon jetzt die Enttäuschung in Vaters Blick. Auch das würde sie nicht ertragen können, das ganz besonders.

Just im Moment fand, wie alle Jahre wieder, im Rathaus die Weihnachtsfeier statt mit den wichtigsten Bürgern des Ortes, zu denen auch der Kirchenvorstand gehörte. Als Pastorenehepaar sollten Julianes Eltern ebenfalls anwesend sein. Eigentlich gingen sie gerne unter die Leute. Diesmal jedoch wären sie lieber zuhause geblieben, weil ihr einziges Kind so krank dalag. Deshalb spielte Julie ihnen vor, dass es bergauf ginge. Denn sie musste alleine sein für diesen allerletzten Weg, den sie nun gehen würde.

„Nach dem offiziellen Teil kommen wir sofort zurück, Julie.“ Wie schrecklich Vaters Stimme geklungen hatte, so voller Sorge. Und Mutter: „Wir sind bald wieder da, Juliane.“

Also rannte ihr die Zeit davon. Und dabei behaupteten sie alle immerzu, dass das ganze Leben noch vor einem läge. Eben nicht! Jetzt nicht mehr! Und das aufgewühlte Mädchen saß im Büro der Eltern auf einem der Sessel, wo die Besucher immer Platz nahmen, wenn sie kamen. Häufig, um all ihre Sorgen loszuwerden, so ähnlich wie die Beichte bei den Katholischen. Den Blick starr auf die Wand gegenüber gerichtet, wo Jesus am Kreuz hing. Dunkelrot das Blut, das ihm übers Gesicht rann wegen der Dornenkrone, die man ihm aufs Haupt gedrückt hatte. „Seht ihn euch an, diesen grandiosen König! Den Retter der Welt! Er kann ja noch nicht mal sich selbst retten!“, hatten sie gehöhnt und dann auch noch seine Handgelenke und Füße durchbohrt.

Gleich würde warmes Rot über Julianes Handgelenk laufen. Vaters Rasierklinge war scharf, sehr scharf. Sie hatte den Cognac getrunken, der im Regal stand, weil sie Mut brauchte. Und irgendeine Art von Beistand, denn der Alkohol verwischte gnädig ihre Sinne.

„Manchmal brauchen die Leute einen kleinen Schluck, sonst können sie ihre Probleme nicht aussprechen!“, erklärte ihre Mutter jedes Mal, wenn sie eine neue Flasche hinstellte. Die Eltern tranken selten Alkohol. Sie hatten keine Probleme! Sie liebten das Leben, Gott und die Welt, Jesus, ihre Kirche … und Julie. Aber eben dieses besudelte Kind hatte keinen Mut mehr und keine Zeit, herauszufinden, wie sich genau das in wenigen Tagen wandeln würde. Dass das passierte, dessen war sich Julie absolut sicher, ergo aus ihr die personifizierte Nichterfüllung von Hoffnung und Erwartung geworden war, für ihre Eltern, für Gott und die Welt! Den Kummer in ihren stummen Blicken würde sie einfach nicht ertragen können.

Erst gestern im Religionsunterricht diskutierten sie noch über Jesus Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen. Auf dem Pausenhof war’s direkt weitergegangen. Was nur würden sie morgen alle sagen, wenn …?! Kluge Jungfrau oder törichte? Klug oder töricht - wie irrelevant - Jungfrau war sie jedenfalls keine mehr. Und Hestia schon gleich gar nicht, die von Zeus eine immerwährende Jungfräulichkeit gewährt bekam. Meine kleine Hestia, hatte ER zu ihr gesagt und sie angesehen mit diesem Blick, der so ein flaues Gefühl im Bauch machte. Ob dies ein gutes oder schlechtes Gefühl gewesen war, wusste sie jetzt nicht mehr zu sagen. Sie war eben nur Julie und keine griechische Göttin, und sie hatte sich nicht wehren können. Möglicherweise, weil sie sich gar nicht wehren wollte?!

Ihr ungläubiges Erstaunen über dieses Bewusstwerden, keinen Widerstand geleistet, sondern ES vielleicht sogar gewollt zu haben, dieser Gedanke wütete am schlimmsten in ihr. Das konnte doch nicht sein, oder?

Julie würde es nicht mehr ergründen, wollte es auch nimmer, nicht in ihrer letzten Nacht auf dieser Welt. Eine Welt, ihre Welt, die sie nicht mehr begreifen und nicht mehr klarsehen konnte, klarstellen schon gleich überhaupt nicht.

Immerhin, mit der verhassten Mathematik und fürchterlichen Mythologie würde sie sich künftig nicht mehr herumquälen müssen. Vermissen würde sie indes die Musik, deshalb summte sie noch einmal ihr Lieblingslied:

 

I know nothing stays the same,

But if you’re willing to play the game,

it’s coming around again.“ (1)

 

Nichts blieb, wie es war. Und ob wirklich alles wieder zurückkommen würde? Eines Tages? Wenn man bereit war, mitzumachen?! Juliane war es nicht mehr, deshalb schluckte sie mit dem verbliebenen Rest aus der Flasche die letzten Tabletten. Es riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Gerade noch schaffte sie es, die Rasierklinge anzusetzen, spürte kaum den Schmerz und begann, sich frei zu fühlen … leicht … unbeschwert. Die Angst verflog, weit, weit weg an einen anderen Ort.

Nein, ich fliege nicht zum Mond! Ich schwebe an ihm vorbei … direkt in den Himmel hinein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2018

Katja

 

Hey, was für eine Spelunke!

Zögerlich betrat Katja die Bar, die schon von außen keinen 1-a-Eindruck gemacht hatte. Zigarettenqualm und Stimmengewirr waberten ihr entgegen. Wegen der funzeligen Beleuchtung hatte sie Mühe, sich zurechtzufinden, im Besonderen, IHN zu finden. Im vorderen Bereich gab es etliche Stehtische, im hinteren Sitznischen, die aber alle schon besetzt waren. IHN konnte sie allerdings nirgends entdecken. Nur ein kleiner Tisch mit zwei gegenüberstehenden Stühlen war noch frei, auf dem ein Reserviert-Schild stand. Ob Chris vielleicht …?! Wie ist er nur auf diese Pinte gekommen?

Katja fühlte sich gemustert von neugierigen Männeraugen sowie einigen aufreizend gekleideten Geschlechtsgenossinnen, deren Blicke ihr auf dem Weg zum Tresen folgten. Offenbar wähnten sie ihren Status in Gefahr, doch Himmel, nein! Sie mussten sich keinerlei Gedanken machen, denn Katja scherte sich weder um die einen noch um die anderen. Von Geschichten und Miseren hatte sie im Augenblick genug, das stand ihr bis Oberkante Unterlippe.

Warum gerade hier?!, fragte sie sich neuerlich, während sie einen Thekenhocker mit verschlissenem Ledersitz erkletterte, erschöpft vom langen Tag, der ermüdenden Autofahrt und den Leuten, mit denen sie hatte sprechen müssen.

Von Mal zu Mal kostete es Katja mehr Kraft, sich nicht an all diesen menschlichen Schicksalen zu zerreiben. Sie fühlte sich total groggy und der Gedanke, dass es von hier aus nochmal gute zwanzig Kilometer bis nach Hause waren, ließ sie aufseufzen. Mann!

Ich hoffe, du hast ein gutes Argument, Chris, und nicht nur das in deiner Hose!, dachte Katja und musste unwillkürlich schmunzeln. Wobei ihr heute eigentlich gar nicht mehr danach war. Oder etwa doch? Weil das Kribbeln zwischen ihren Beinen, das unversehens da war, dies ganz anders sah?! Das letzte Mal, viel zu lange her! Womöglich war sie deshalb noch nicht gleich nach Hause gefahren, weil seine Nachricht … seine Bitte … sein Versprechen … sie hergelockt hatte. Und elektrisiert.

Da wohnt ein Sehnen tief in mir …

Katja bestellte einen Espresso und irgendjemand setzte die Musikbox in Gang. Jenes monophonische Teil dort hinten in der Ecke, beinahe schon antik, aber auch verdammt cool. Wenn man feste draufhaute, hörte sogar das Rauschen auf. Für ein paar Takte.

Ein Song erklang, den Katja gerne hörte, Simply falling. Iyeoka Okowawo. Und auf irgendeine Weise glückte es ihm, dem angestaubten Ambiente dieser Kneipe etwas Besonderes zu geben. An und für sich war’s hier ja gar nicht so übel, bloß, was zum Rauchen hätte man dabeihaben müssen.

 

I'm taking time to envision where your heart is
And justify why you're gone for the moment …(2)

 

Katja seufzte unwillkürlich, während sie dahockte und wartete. Ihre Augen brannten wegen des schwelenden Rauches, vielleicht lag’s auch ein bisschen an der Musik. Und sie hätte jetzt wirklich gerne eine Zigarette gehabt. Zu dem Espresso, den sie sich bestellte. Aber sie kaufte sich schon länger keine Kippen mehr, weil sie der Versuchung nicht immer widerstehen konnte. Stattdessen stellte der Barkeeper neben den kleinen Wachmacher mit haselnussbrauner Schaumschicht noch einen Caipirinha ab. „Von dem da!“ Er deutete auf einen jungen Mann, der an der Jukebox lehnte.

„Donnizetti, Winnetou!“, entfuhr es Katja und der Barmann grinste. „Wollen Sie den Drink annehmen?“

Sollte sie? Schließlich war sie mit Chris verabredet, doch der verspätete sich bereits um eine gute halbe Stunde. Nicht zum ersten Mal!

Katja prostete dem edlen Spender zu, was er ihr gleich nachmachte. Und dabei so unverschämt charmant lächelte, als er langsam auf sie zu schlenderte. Ein hübscher Kerl mit längeren dunklen Haaren, viel zu langen Haaren als das, worauf sie eigentlich stand. Schätzungsweise um die Dreißig, eher drunter, strenggenommen absolut nichts für Katja, die in einigen Monaten ein halbes Jahrhundert alt werden würde. Dennoch fühlte sie sich geschmeichelt. Logisch!

„Freut mich, dass du meinen Drink angenommen hast, schöne fremde Frau.“

Und Katja rollte innerlich mit den Augen. Er würde doch nicht auch nur so ein stupider Aufreißer sein?

„Ich sehe es an deiner Miene, irgendwas stört dich“, grinste er und interpretierte ihr Innehalten anscheinend ganz richtig. „Die schöne fremde Frau etwa?“

Doch er wusste sich zu rechtfertigen: „Glaubst du, uns Männern fällt das immer so leicht, jemanden anzusprechen, ganz besonders eine schöne fremde Frau?! Also komm, sei nicht kratzbürstig! Cheers!“

 

Na, der ist ja flockig!, huschte Katja durch den Kopf, duzt auch gleich drauflos.

Eigentlich mochte sie es nicht, derart angesprochen zu werden. Zumindest nicht mehr. Früher, ja, früher, da war vieles anders gewesen, selbst das Kokettieren. Heute empfand sie es manchmal nervig. Sinnfreies Bebalzen. Aber just in diesem Moment gefiel es ihr doch. Irgendwie. Dieser Kerl gefiel ihr und vor allem seine offene, entwaffnende Art. Gott ja, er war schon süß. Irgendwie.

„Na dann, Cheers!" Sie sah ihn an, hob ihr Glas und blickte auf seins. „Und du trinkst Kribbelwasser?“

Der nette Bursche mit dem Wasserglas in der Hand hob neuerlich in seiner so verflixt anziehenden Manier die Mundwinkel an. „Ich muss noch fahren.“

„Taxi?“

„So ähnlich, meine Schwester abholen, sobald sie anruft, falls sie anruft.“

„Ah!“

„Oh!“

„Was?!“

„Du sprichst nicht gern in ganzen Sätzen?“, fragte er mit einem Augenzwinkern und Katja schmunzelte: „Hhm!“

War es das schelmische Blitzen in seinen dunklen Augen oder der Zug um seinen Mund, der mehr Reife erkennen ließ, als man es bei einem so jungen Mann vermutete, was ihr so sympathisch war an ihm?

„Oh, Lady, sag mir, dass ich mich nicht getäuscht habe!“

„Worin?“

„In dir!“

„Kommt ganz drauf an, was du von mir willst?!“

„Halleluja! Sie redet!“ Er fuchtelte mit gefalteten Händen derart melodramatisch umher, dass Katja gar nicht anders konnte, als herzlich zu lachen. Dann klopfte sie auf den freien Barhocker neben sich und blickte ihn auffordernd an.

„Na endlich!“ Behände wie ein Äffchen kletterte er hoch. „So habe ich mir das gedacht.“

„Soso …“

„Kannst mir ruhig glauben! Nur ein bisschen neben dir sitzen und zugucken, wie du meinen Caipirinha schlürfst.“

„Das ist alles?“

„Abwarten und …“

„Wasser trinken!“, lachte sie.

„Haha, ja! Also nochmal, Cheers!“

„Prösterchen!“

„Was machst du hier so allein?“, wollte er wissen.

„Warten.“

„Warten?“

„Ja, warten!“

Das Warten vertreibt die Zeit!“, zitierte er.(3)

Dolle Weisheit! Von dir?“

„Ne, ein Zitat, ich weiß grad nicht von wem. Passt aber doch, oder?“

„Und du willst jetzt die Zeit mit mir zum Teufel jagen?“

„Lass uns lieber gen Himmel fliegen, Lady. Mit der Hölle hab ich schon mehr als genug zu tun.

„Was du nicht sagst!“

„Ich bin Sozialarbeiter.“

„Ah, okay.“

„Ein guter Job“, fuhr er ungefragt weiter, „der Beste!“ Und es klang ziemlich tiefgründig, als er noch hinzufügte: „Aber manchmal auch der Schlimmste.“

Katja ahnte, wovon er sprach. Denn genau das war ihr dieser Tage mehr als einmal bewusst geworden. Ihn dies wissenzulassen, dazu hatte sie jedoch wenig Lust. Er war ja nur ein Fremder, der ein Weilchen Zeit mit ihr verquatschte.

Wo bleibst du, Chris?

Sie nippte am Caipirinha, während sie den smarten Burschen musterte, der neben ihr saß, Hocker an Hocker, und dessen Augen so dunkel waren, dass man sich glatt darin verlieren könnte.

„Danke übrigens für den Drink!“

„Gern geschehen. Mir war so, als ob die hübsche, einsame Lady an der Bar so einen jetzt vertragen könnte.“

„Alleinsein hat nicht zwangsläufig mit Einsamkeit zu tun“, entgegnete sie trocken. „Aber okay, erzähl doch mal, warum hängst du hier ab? Ist ja nicht gerade Kulturschickeria.“

Weil seine kleine Schwester ihr Abi bestanden hatte und am Feiern war, wie er darlegte. Irgendwann würde sie anrufen, auf dass er sie abholen solle.

„Ich wohne gleich gegenüber. Deshalb bin ich öfter hier auf ῾nen Feierabenddrink. Ist doch ne῾ gemütliche Kneipe, oder nicht?! Man kann ein bisschen abhängen und trifft immer wen zum Quatschen.“

Auch zur Ablenkung, wenn’s nötig war, ja, auch das.

„Außerdem gefällt mir der alte Kasten“, lachte er und deutete auf die Jukebox. Ab und zu habe er halt so seine Momente, und dann war diese Bar genau das Richtige, und die Musik. „Wie vermutlich für viele andere ebenfalls, die hierherkommen, um irgendeine Art von Alleinsein zu verdrängen.“

Katja zuckte mit den Schultern. „Möglich …“

„Aber was führt dich her?“, fragte er abermals. „Ich habe dich hier noch nie gesehen.“

„Wie gesagt … warten.“

„Auf einen Mann?“

„Neugierig bist du nicht, oder?“

„Nö! Übrigens, ich heiße Tom.“

„Katja!“

Der Caipirinha war leer.

„Schieß ihn ab, Katja!“

„Wen?“

„Den Mann, der eine Frau wie dich warten lässt. Er ist’s nicht wert!“

Er strich seine Haare zurück, sprang vom Barhocker und schlenderte zur Musikbox. Katja war gespannt, welches Lied er als nächstes wählte.

Und Chris?! Sie kramte ihr Handy aus der Handtasche, warf einen Blick auf WhatsApp, wo tatsächlich eine Nachricht von ihm wartete, zwanzig Minuten alt: Ich kann nicht kommen. Benjamin! Und dabei hatte ich gedacht … Ach, ich hoffte, wollte … es tut mir leid! Ich melde mich! Und dahinter prangte ein dickes rotes Herz.

„Mir tut es auch leid“, flüsterte Katja und bestellte sich einen Sex on the Beach für vier Euro fünfzig. Sogar die Drinks waren günstig, sie schmeckten und Katja hatte jetzt Lust darauf, einerlei, wie es ausgehen könnte.

Noch einmal erklang dieses Lied. Simply falling. „Möchtest du tanzen?“, fragte Tom, wartete ihre Antwort aber gar nicht erst ab, sondern nahm einfach ihre Hand und zog die schöne fremde Frau hinter sich her. Zu dem marginalen Bereich neben der Jukebox, die wohl als Tanzfläche diente. Wo er sie umfasste und an sich zog.

 

There my heart goes again
In your arms I'm falling deeper

 

Und die Leute gafften, weil sonst weiter keiner tanzte. Eins-zwei-tap, Diskofox, ganz gelassen, eins-zwei-tap. Hey, Fräulein Katja, stell dich doch nicht so hölzern an!

Winnetou-Tom hingegen wusste sich wunderbar zu bewegen. Eigentlich bräuchte man sich doch nur einzufügen. Jaaa! Auch hinzugeben. Ja, doch!

Sein Lächeln. Seine Wärme. Und wie sich manchmal sein Bein zwischen ihre Beine schummelte.

 

You show me love, you show me love
You show me everything my heart is capable of
And now I can't break away from this fire that we started …(2)

 

Seine Augen. Seine Nähe. Dieser Moment, wenn ein Flirt in etwas anderes überging. In ein Ja, vielleicht

Und Katja spürte, wie sie begann loszulassen, wie sie langsam wegdriftete. In diese schillernde Seifenblase, die mit Fallenlassen einherging und das Herz schneller schlagen ließ, den Atem raubte. Mitunter gelang es sogar, einen On-Off-Schalter zu finden. Und zu drücken. Sie lehnte sich an ihn, er roch so gut, und seine Hand an ihrem Rücken brannte sich durch den Stoff des Shirts.

„Katja …“

„Pscht!“ Ihr Blick erklärte, dass er jetzt nichts mehr sagen sollte, damit sie ihre Augen schließen konnte und aufhören zu denken. Hatte Winnetou nicht erwähnt, dass er gleich gegenüber wohnte …?!

 

 

Als sein Handy klingelte, schreckte sie hoch, fühlte sich im wahrsten Sinne des Wortes wie umnachtet und kapierte im ersten Moment überhaupt nicht, wo sie eigentlich war. Wo sie lag. Bis sie die fremden langen Haare neben sich entdeckte. Dieser Kontrast, trotz des diffusen Halbdunkels, war total verblüffend, blauschwarzes Haar auf weißem Kopfkissen, wie es sich abhob. Als Katja sich hochrappelte, strich eine der dunklen Strähnen an ihrem Arm entlang. Es kitzelte. Und mit einem Mal zerplatzte die Seifenblase, die Katja umhüllt und weggetragen hatte. Nur der Knall blieb aus, den stattdessen ein Luftballon verursacht hätte, wenn es denn nicht diese fiktive Seifenblase gewesen wäre.

Oh je, nicht gut, Fräulein Katja, gar nicht gut!

Dass sie eingeschlafen war. In diesem kuscheligen Bett, neben einem über zwanzig Jahre jüngeren Mann, den sie nicht kannte und eigentlich auch nicht kennenlernen wollte. Wenngleich es aufregend gewesen war mit ihm. Und schön. Der Abend, die Nacht. Noch immer roch es nach Sinnlichkeit, nach der Lust, die sie aufeinander gehabt hatten. Ausgelebt hatten in diesen fremden Stunden einer namenlosen Nacht.

„Meine Schwester“, brummelte Tom verschlafen und tapste mit dem Telefon am Ohr aus dem Zimmer. Seine zerzausten Haarsträhnen gaben ihm etwas Verwegenes und das verschmitzte Lächeln, als er sich kurz zu ihr umdrehte, ließ kein dummes Gefühl entstehen, eher ein gutes. Aber er war zu jung für sie, so verdammt jung!

Sie streckte sich aus, bevor sie sich endgültig aus dem Bett rollte. Zeit, zu gehen, was sie schon längst hätte tun sollen.

 

Sie hakte sich gerade den BH zu, als er zurückkam, und sie fühlte seine Nähe schon, noch bevor er sich ganz dicht hinter sie stellte.

„Lass mich das für dich machen!“, raunte er ihr ins Ohr, wobei sein heißer Atem über ihre Haut zitterte. Katja schloss ihre Augen und hielt die Luft an, spürte seinen warmen Fingern nach, wie sie nach unten wanderten, über ihre Hüften strichen und kreisende Bewegungen machten.

„Du musst los, Tom!“, murmelte sie mit belegter Stimme. „Und ich auch.“

„Warum du? Es wird nicht lang dauern, allerhöchstens eine halbe Stunde. Der Kaffee läuft schon durch und das Bett ist noch warm.“

Weil ihr jedes weitere Wort fehlte, lächelte sie nur.

„Ach, bleib doch, Katja! Du musst jetzt bestimmt noch nicht zur Arbeit oder ganz gleich wohin. Ich beeile mich!“ Er küsste sie auf den Mund, zog sich das Shirt über die braungebrannte Haut und schnappte nach seinem Autoschlüssel. Gut, dass er nur Wasser getrunken hatte!

Bei Katja indes hatte sich die Wirkung der beiden Cocktails auch längst verflogen. Sie war wieder nüchtern, stocknüchtern sozusagen. Mehr eigentlich, als ihr lieb war. Einen Kaffee zum Abschied jedoch, den konnte sie jetzt gut gebrauchen.

Wie vertrauensselig er doch war, ließ eine Fremde allein in seiner Wohnung. Wiewohl sie nicht neugierig war, nicht einen Blick in das Zimmer von Toms jüngerer Schwester warf, die bei ihm lebte, und ebenfalls nicht in den Regalen und Schubladen des Wohnzimmers stöberte. Nur die Toilette benutzte sie und nahm sich Kaffee. Milch und Zucker hatte er daneben gestellt, sogar ein paar Schokoladenkekse. Damit lehnte sie nun am Küchentisch und blickte aus dem Fenster. Dachte, empfand, dass es sich eigentlich nicht schlecht anfühlte. Jetzt und hier, mit der Tasse in Händen, die ebenso wärmte wie die Gedanken an die Stunden dieser Nacht. Nachbetrachtend. Liebesakt maß zu hoch, weil es mit Liebe nicht wirklich etwas zu tun hatte. Also doch nur eine Fickstory? Das hingegen erschien zu gering. Obwohl es all das gewesen war und noch ein bisschen mehr. Gab’s noch irgendein anderes Wort dazwischen, womit man benennen könnte, was Katja fühlte? Sie lächelte still in sich hinein, fand sich und ihre Gedanken albern. Musste man denn immer alles beleuchten? Resümieren? Wem gegenüber hatte sich Katja denn zu erklären, außer einzig und allein sich selbst?! Und genau das ist wohl das Ding!

Violette Wölkchen begrüßten den neuen Tag, der Kaffee war leer, ringsherum alles still. Als Katja im Begriff war, Toms Wohnung zu verlassen, fing ihr Handy an zu knurren. Eine Nachricht von Chris: Wo bist du? Warum fragte er sie das? Und genau das fragte sie ihn. Weil ich vor deiner Tür stehe.

Und?, tippte sie zurück. Er durfte ruhig wissen, dass sie stinkig war. War sie doch, oder? Außerdem sollte es ihm längst klar sein, dass Katja frei war. Frei! Und trotzdem sauer!

Benjamin geht es besser, erklärte er, und: Allerdings musste er über Nacht im Krankenhaus bleiben. Zur Beobachtung. Sandra ist nun bei ihm.

Okay, tippte sie ein und dachte: Jetzt hast du also Zeit für mich, was?! Im gleichen Augenblick, als Katja dies dachte, wunderte sie sich schon, denn eigentlich gab es keinen Grund, angepisst zu sein und dementsprechend zu reagieren. Diese und ähnliche Situationen waren nichts Neues, und bislang war es stets okay für sie gewesen. Warum und woher also dieser Missmut?

Katja?! Wo bist du denn?

Musste sie ihm Rede und Antwort stehen?!

Die Kneipe hat eine Jukebox, antwortete sie, so ein altes Ding von früher, aber verdammt cool!

Bist du etwa immer noch in der Bar?!, kam es prompt zurück.

Ich habe auf dich gewartet, Chris! Sollte er doch denken, was er wollte.

Ich hatte dir doch geschrieben …

Ja, ich hab’s auch gelesen.

Sei doch nicht böse, Katja, was sollte ich denn machen?

Ich bin dir nicht böse! Bin ich nie.

Komm nach Hause, bitte! Was schrieb er denn da?! Nach Hause?! Etwas krabbelte in Katja hoch, was sich anfühlte wie Wut. Und Traurigkeit zugleich. Infolgedessen tippten ihre Finger schneller, als der Kopf nachkam: Warte nicht auf mich!

Katja!!!

Was???

Sehen wir uns wenigstens übermorgen? Kommst du?

Sehr wahrscheinlich, ich bin ja eingeladen.

Bitte, Katja!

Ja!

Sie stellte das Handy ab und ging, denn Winnetou wollte sie jetzt genauso wenig über den Weg laufen.

 

Als sie zuhause ankam, war Chris weg. Daheim vermutlich, wo er hingehörte! In seinem Zuhause!

Sie duschte ausgiebig und heiß und wusch den Rest dieses Beigeschmacks weg, der sich anfühlte wie Verflucht, da habe ich wohl einen Bock geschossen! Aber es war verflucht himmlisch geiler Bockmist, dieser Ruch von einer vergangenen Nacht, die ihr trotz und allem nicht leidtat.

Und im Radio spielten sie noch einmal dieses Lied. Seltsam.

 

There my heart goes again
You have broken into my heart
Oh I'm falling deeper, I'm falling deeper (2)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nimm es leicht, das Leben und die Liebe!

 

Katjas Finger rutschten von der Tastatur und verschränkten sich ineinander, um dann auf ihren Schoß niederzusinken. Seufzend griff sie nach der bauchigen Kaffeetasse, scharrte diese aber gleich wieder über den Tisch, denn der abgestandene Rest schmeckte bitter. Schlechtweg vergleichbar mit der Stimmung, in welche sie dieser Artikel für die Kolumne neuerlich hineingedrängt hatte. Der, den sie gerade fertiggeschrieben hatte, wie alle bereits veröffentlichten. Mit Sicherheit würden die zwei, drei, die noch folgen sollten, Katja ebenfalls gehörig zu schaffen machen; das ahnte sie schon jetzt.

All diese Recherchen in den Frauenhäusern oder Frauenberatungsstellen, die oft bedrückenden Lokaltermine nebst den damit einhergehenden Gesprächen und jedes dahinterstehende Schicksal. Katja war schon klar, dass sie das nicht mehrheitlich betrachten durfte, dennoch, Gott, was war sie froh, solo zu sein und nicht solchen Problemen ausgeliefert, die einem das Leben gewiss zur Hölle machten. Und selbst wenn kein Missbrauch und keine Gewalt im Spiel war, sondern nur dieser geläufig schale Ehe-Alltags-Wahnsinn, fühlte sie sich als Alleinstehende immer noch wesentlich besser. In einem Single-Leben war zwar auch nicht alles optimal, und so mancher mochte hämisch denken: Ach, die! Die hat ja nur keinen abgekriegt!

Doch so stimmte das nicht! Eigentlich. Oder? Das meiste im Leben hatte ebent wie jede Medaille seine zwei Seiten.

Katja seufzte. Und die tickende Uhr an der Wand tadelte. Während sie den Laptop zuklappte, überrieselte sie die Erinnerung an die vergangene Nacht. Dieser schnuckelige Sozialpädagoge. Das Thema seines Berufes hatten sie nicht mehr weiterverfolgt, trotzdem wusste sie, dass Tom all das, womit Katja sich aktuell beschäftigte, nicht fremd war. Wenn’s mit ihm auch nur ein paar schöne Stunden gewesen waren, eine süße Liaison, so war ihr sein liebevoller, einfühlsamer und nicht minder ernsthafter Charakter nicht verborgen geblieben. Den würde er für seinen Job auch brauchen. Und es hoffentlich geregelt bekommen, die Dinge voneinander zu trennen, damit sie ihn nicht eines Tages übermannten.

Ob er enttäuscht gewesen war, weil sie doch das Weite gesucht hatte? Vermutlich. Das tat ihr leid. Es tat ihr sogar ein bisschen weh, weil es ihr stets wehtat, jemanden zu verletzen. Nur ließ es sich leider nicht immer vermeiden. Sei’s drum, womöglich machte sie sich ganz überflüssige Gedanken. Dieser kleine, große Winnetou war jedenfalls ein Ausrutscher gewesen, ein Flüchtigkeitsfehler, wenn auch ein verdammt netter. Einem Aufwallen der Gefühle und der Situation geschuldet. Doch so, wie die Dinge lagen, war es besser gewesen, den Rückzieher zu machen. Alles Weitere würde letztlich ohnedies nur in einer komplizierten Chose enden, was sie weder ihm noch sich zumuten wollte.

Katja reckte und streckte sich und ihre verspannten Glieder. Eine Brise streifte sie, die durch die geöffnete Balkontür hereinwehte, und machte sie aufmerksam auf ein Rotkehlchen, das fröhlich tirilierend auf der Fensterbank hin und her wippte. Über der Sessellehne hing ihr Outfit für den Abend. Und das nett verpackte Geburtstagsgeschenk auf dem Couchtisch schien seinen Zeigefinger zu heben, dass es endlich loswolle … in die Hände derjenigen, die es heute noch bekommen sollte.

Doch hatte Katja wirklich Lust auf diese Party? Jetzt? Dann dürfte sie nämlich nicht mehr länger trödeln. Auf Sandra war sie bestimmt nicht scharf. Geburtstag hin oder her, auf sie könnte Katja locker verzichten. Auf Chris jedoch …

Dass er sie am vergangenen Abend versetzt hatte, daran sollte sie nicht mehr denken. Was bedeutete schon eine verpasste Chance? Sie könnte ihn ja wiedersehen, jetzt gleich, wenn sie wollte …

Schwere Gedanken und komplizierte Spekulationen brachten nichts, weshalb Katja dies stets zu vermeiden versuchte. Was aber nicht immer gelang, doch meistens konnte sie sich selbst wenigstens auf halber Strecke entgegenkommen. Immerhin! Fromme Wünsche, falsche Hoffnungen, das brachte doch alles nichts – nur Muster ohne Werte. Katja sah das recht pragmatisch, versuchte zumindest, die Dinge so zu betrachten. Schließlich war sie auch geprägt. Irgendwie. Von dem, was ihre Eltern ihr vermittelt hatten - in Sachen Liebe. Und so. Und das, was sie selbst erlebt hatte. Und erlebte. Dennoch oder gerade deshalb schwangen so oft die Worte ihres Vaters in Katjas Emotionen mit: Nimm es leicht, das Leben und die Liebe. Alles andere ist schon schwer genug! Welch eine Ironie, welch ein frommer Wunsch. Ach Papa …!

Katja blieb noch einen Augenblick länger auf dem Balkon stehen, ihrem geliebten kleinen Eiland, wo sie die wärmende Sonne dieses späten Frühlingstages genoss. Und das wildsüße Gefühl von Erwartung. Nimm es leicht, das Leben und die Liebe!

Ihr Gesicht spiegelte sich in der Fensterscheibe, da war ein sinnlicher Zug um ihren Mund und flackernde Augen, gleich dem Funkeln, das auch bei ihm aufblitzte, wenn er ihr Gesicht in seine Hände nahm und sein tiefer Blick mit ihrem verschmolz.

Es macht mich verrückt, wenn du mich so ansiehst!

Und einmal mehr war sie erstaunt, dass es noch immer da war – Gefühl, Begehren, Sehnsucht. Dass es sich noch nicht in Luft aufgelöst hatte, wie bei so vielen anderen. Nach all dieser Zeit. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie beide dieses Plain Vanilla noch nie miteinander gelebt hatten, nicht das Alltägliche, keine Beziehung von der Stange, wenn man es so nennen wollte, sondern immer nur das Besondere. Und wenn‘s bloß gelegentliche Highlights waren.

Wenn ich könnte, wie ich wollte, Katja …

Was wäre, wenn …?

Alles wäre anders! Alles!

Wäre es das wirklich?

Das Vögelchen saß noch immer auf der Fensterbank und beäugte die unschlüssige Frau, ehe es seine Flügel ausbreitete und davonflog. Katja blickte hinterher, sinnierend, das Gesicht dem strahlendblauen Himmel zugewandt.

Schließ deine Augen und atme!

Von allem und jedem einfach ablassen. Die ewig dahinrasende Zeit und alle unklugen Sentimentalitäten, die mit dem Suchen nach dem Sinn, einem Sinn, einhergingen. Das ewige Plus und Minus dieses Lebens. Würde man je eine stimmige Gewinn- und Verlustrechnung hinkriegen?!

Atme, Katja!

Ihr Handy vibrierte, und auf dem Display erschien das Profilbild ihrer besten Freundin, die auch gleich loslegte: „Hey, Sweetie! Sag, wann kommst du mich wieder besuchen?“

„Mel!“, rief Katja erfreut und strahlte wie die Sonne am Himmel. Weil Meldrit es ein ums andere Mal fertigbrachte, sie im Handumdrehen wieder ins Lot zu bringen.

Und ob Katja Lust hatte! Sie liebte Hamburg, das Flair dieser Stadt, ferner die See, das Kreischen der Möwen und die salzige Luft, die einem den Kopf so herrlich frei pusten konnte.

Seit gut fünfundzwanzig Jahren war das Meldrits neue Heimat. In all dieser Zeit hatte Katja ihre ehemalige Sandkastengefährtin weit häufiger besucht, als diese nach Hause zurückkam.

„Das Kaff geht mir auf die Nerven“, mäkelte Mel jedes Mal herum, wenn man ihr diesbezüglich eine gewisse Schieflage vorhielt. „Und du gehörst da auch nicht mehr hin, längst nicht mehr!“

Deshalb lockte sie wohl so gerne, wie jetzt: „Ich habe eine Überraschung!“

„Erzähl!“

„Oh nein, kein Sterbenswörtchen werde ich verraten.“

„Das ist ganz schön gemein von dir“, lachte Katja. „Und das weißt du auch! Los, mach’s nicht so spannend!“

„Komm einfach her und sieh es dir an! Wie wär’s gleich morgen?!“

„Nicht so stürmisch, meine Liebe!“

„Bingo! Hier oben bläst immer ein ordentliches Lüftchen, und ich weiß, wie sehr du das magst.“

„Ja!“, hauchte Katja sehnsuchtsvoll. „Aber so spontan kann ich mich nicht freischaufeln.“

„Schade. Denk halt drüber nach und sieh zu, was möglich ist.“

„Das mach ich. Ehrlich gesagt, ich hatte in letzter Zeit sowieso schon immer mal mit dem Gedanken gespielt …“

„Als ob ich’s gespürt hätte.“

Sie lachten. Schwestern im Geiste halt.

„Heute ist Sandras Fünfzigster!“, merkte Katja an.

„Ich weiß …“

„Warum bist du nicht hier? Ich kapier es immer noch nicht. Wir hätten so schön zusammen …“

„Wenn der Hund nicht geschissen hätte …“

„Mensch, Mel!“

„Ich bin nicht eingeladen!“

„Ja, das hattest du erwähnt, aber ich raff es trotzdem nicht. Sandra und du, ihr seid doch auch befreundet.“

„Nein!“

„Nein?! Was heißt das?“

„Sandra war nie meine Freundin, jedenfalls nicht wirklich, nicht so wie du.“

„Na ja, aber …“

„Vielleicht, weil ich der Tussi mal deutlich aufzeigte, wo der Frosch die Locken hat. Das wird sie mir übelgenommen haben, aber Scheiß drauf! Damit kann ich prima leben!“

„Hhm!“

„Ich hasse ihre hinterfotzigen Touren!“

„Na komm, so schlimm ist sie nun auch wieder nicht!“

„Und das sagst ausgerechnet du???“

„Lass doch die alten Geschichten!“

„Sorry, aber ich kann einfach nicht vergessen, wie sie euch beschissen hat!“

„Das hat sie, ja. Aber es ist lange her, und sie war es nicht alleine.“

„Allerdings! Und genau deshalb krieg ich’s nicht auf die Reihe, dass du immer noch dort bist.“

„Hier ist mein Zuhause, Mel!“

„War auch mal meins, aber die Dinge können sich ändern, selbst das, was man Heimat nennt.“

„Ganz recht, die Dinge können sich ändern und darüber hinaus die Sicht darauf.“

„But not the old stories!“

„Jeder hat seine eigenen Geschichten. Mel, was soll das denn jetzt?“ Katjas Erwiderung klang energischer als gewollt und Meldrit seufzte: „Hhm, tja, wie sagt man so schön, das Herz malt immer ein bisschen über den Rand.“

Wovon ist hier eigentlich wirklich die Rede?

Und weil Katja nichts darauf erwiderte, setzte Meldrit noch hinzu: „So tief kann man’s gar nicht in sich verbergen, als dass es nicht doch immer wieder die alten Wunden aufreißen könnte. Aber das weißt du selbst.“ Dabei sprach sie so leise, dass Katja Mühe hatte, die Worte zu verstehen.

„Mel, ich bin drüber weg und es ist gut, so wie es ist!“

„Wem willst du etwas vormachen?“

„Niemandem! Höchstens mir selbst.“

„Amen!“

Und der Augenblick verflog, kaum mehr wahrnehmbar, was schlussendlich noch im Raume stehenblieb.

„Gut, Schätzchen“, bemerkte Katjas Freundin, „wenn der Moment gekommen ist, wo meine See sämtliche dämlichen Partys dieser Welt übertrumpft, du bist immer willkommen!“

deine

„Hhm …“ Tick-tack, tick-tack, rüffelte die Uhr schon wieder. „Ich bin spät dran, muss mich fertigmachen.“

deinem

„Logisch, Sandras Mustergatte sollte auf ihrer Party schon vor Ort sein!“ Bissiger ging’s kaum noch. Sie schien es selbst zu merken und setzte ein: „Sorry, Katja …“, hinterher.

„Nein echt, ich sollte dir das nicht pausenlos aufs Butterbrot schmieren.“

„Also dann, geh zu und feiere schön!“

„Blablabla!“

„Zum Teufel nochmal!“

„Okay, ich sag nichts mehr!“ Worauf es auch nichts mehr zu erwidern gab. „Melde dich, wenn du es dir überlegt hast, ja?!“

Augenblicklich prusteten sie los. Spontan. Und aus tiefster Seele. Ganz gleich, was war, Schwestern im Geiste und eine weitere Momentaufnahme ihrer Freundschaft, eine von vielen!

Vor dem Verlassen der Wohnung warf Katja noch einen letzten Blick in den Spiegel. Fand, dass sie immer noch recht passabel aussah in dem ewig nicht mehr getragenen Etuikleid. Silberne Sterne leuchteten an ihren Ohren, das kupferrote Haar gefällig hochgesteckt.

Lächeln, alleweil nett lächeln!

Meldrit hatte letztes Jahr bereits behauptet, stolz auf ihr Alter zu sein, hatte von Reife und Balance gefaselt und davon, sich mit den Tatsachen arrangiert zu haben. Solch eine Haltung habe man in früheren Jahren noch nicht gehabt. So ganz nahm Katja ihrer Freundin das zwar nicht ab, aber … Carpe Diem!

Lass es gut sein! Du warst ja noch nie so richtig zufrieden mit dir.

Mittlerweile waren sie alle in die Jahre gekommen. Aber sie waren noch immer mittendrin! Also los! Nutze den Tag, genieße den Augenblick! Und: Nimm es leicht, das Leben und die Liebe. Alles andere ist schon schwer genug!