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Anne West

Die Vorleser

und andere anonyme schmutzige Geschichten

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Anne West

Anne West ist das Pseudonym der Hamburger Publizistin Nina George, geboren 1973. Seit 1992 arbeitet sie als freie Journalistin, Dozentin und Autorin von Reportagen, Kolumnen, Sachbüchern, Krimis und Romanen. Mit ihren charmanten Büchern rund um Sexualität, Liebe und Partnerschaft gehört Anne West zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Erotika-Autorinnen.

www.annewest.de

Impressum

© 2014 der eBook Ausgabe by feelings – emotional eBooks

© 2004 bei Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © FinePic®, München

ISBN 978-3-426-42690-6

Die Vorleser

Es passierte, kurz nachdem er aus dem Stimmbruch heraus war. Arthur Lloyd Feldmann wurde mit fünfzehn von seiner Französischlehrerin verführt, während der Strafstunde, die er im Silentium-Saal des Internats am Genfer See nachsitzen musste. Er hatte es nicht lassen können, Isabella van Laack mit dem Tafelschwamm nachzusetzen, um ihn auf ihrer Jeans auszupressen, dort, wo sich Knopfleiste und Schrittnaht trafen. Bis sie ihm eine Ohrfeige gab und Frau Hoffmann ihn an seiner blauweißgestreiften Jahrgangskrawatte zu sich heranzog und aus ihrem kleinen schiefen Mund in der Farbe von dunklen reifen Pflaumen zischte: »’ör zu, Feldmann, entweder stecke ich dir den Schwamm jetzt erst in den ’intern und dann in dein unverschämtes Maul, oder du setzt dich ’eute nachmittag ’in und schreibst Isabella einen Verzeih-misch-Brief. En français! Durch alle Zeiten, compris?! Alors, setz dich, merde!«

Doch in ihren Augen blitzte nicht nur der Zorn, stellte Arthur fest. Da war noch etwas anderes. Amüsement. Neugier. Und ein Hauch Undeutbarkeit, die er bisher nur bei den Mädchen aus seiner Stufe wahrgenommen hatte, wenn sie zu ihm hinsahen und meinten, er bemerke es nicht. Er war sich seiner selbst nicht bewusst. Er registrierte weder den Charme seiner milchkaffeebraunen Haare noch den Bossa-Nova-Rhythmus seines Gangs; er wusste nicht, dass seine amarettofarbenen Augen die Farbe wechselten, durchscheinender wurden, wenn ihn die Schüchternheit überfiel, und über seinen Geruch hätte er lachen können, wenn er geahnt hätte, was für eine Anziehungskraft er besaß.

Mademoiselle Blandine ’offmann befahl ihm während des Silentiums, erst ihm und ihr den Subjonctif zu erklären und hernach eine Geschichte vorzulesen. Natürlich auf französisch. Sie legte ihm dazu das Skandalwerk der Catherine M. vor, und hieß ihn, die Seiten neunundsiebzig und achtzig laut vorzutragen. Dabei beobachtete sie ihn von ihrem Platz an der Wand aus, neben der Tafel, ein Bein wie immer angewinkelt, den Absatz des hohen Pumps an die Mauer gepresst, die Arme hinter dem Rücken zusammengeschoben, das Kreuz durchgedrückt. Sie trug einen Jeansrock, der über ihrem kleinen Bäuchlein spannte, und eine Jerseybluse mit Druckknöpfen. Das Gelb stand ihr, und es machte nichts, dass ihr Lidstrich an einem Auge bereits fein zerlief und der blutrote Nagellack an ihren Fingern splitterte.

Er kannte diese Pose an ihr, seit er mit zwölf Jahren von seinen Eltern auf diese Eliteschule geschickt worden war. Doch erst heute, an diesem Nachmittag, als alle anderen auf dem See segelten und die Flure der Schule so leer waren wie manchmal sein Kopf, wenn er an die Zukunft dachte, irritierte ihn ihre Erscheinung. Sie schien auf seine Stimme zu reagieren, wenn er atemlos las, ging ihr Atem schneller, wenn er die Stimme senkte, verlagerte sie ihr Gewicht und schob das Becken nach vorne. Er konnte nicht länger hinsehen, es verwirrte ihn.

Sie korrigierte seine Aussprache mit geschlossenen Augen. Er las und las mit gesenktem Kopf weiter und verstand nur zur Hälfte, was er da vortrug, bemerkte nicht, wie Mademoiselle Blandine ’offmann sich von der Wand abstieß, langsam auf ihn zuging, vor dem Tisch stehenblieb und sich vorbeugte.

»Baise moi«, las er in diesem Moment.

»Weißt du, was das heißt, baise moi, Feldmann?«

Er erschrak, denn ihre Mandelaugen waren nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, ihr Atem hatte seine Stirn gestreift. Er hob das Kinn, sah ihr in diese großen Augen, in die er eintauchen könnte, blau, mit einem grünen Schimmer um die Pupille herum.

»Küss mich«, sagte er. Und hielt den Atem an. Leckte sich unwillkürlich die Lippen. Sein Blick senkte sich reflexartig zu ihrem Pflaumenmund.

Seine Französischlehrerin zog eine Augenbraue hoch.

»Non. Das ist Slang. Es heißt … Fick mich, Feldmann. ’örst du? Fick mich.«

Gehorsamkeit war eines des Grundgesetze dieses Internats für hochbegabte, aber schwererziehbare Schüler, die zu wild, zu laut, zu anders und zu vermögend waren. Also befolgte Arthur Lloyd Feldmann die Anweisung seiner Französischlehrerin.

Sie zeigte ihm sehr genau, dass er keinen Tafelschwamm brauchte, um eine Frau zwischen den Beinen nass zu machen und die kleinen verräterischen feuchten Sonnen auf dem Dreieck des Slips aufgehen zu lassen.

In den kommenden drei Jahren verbesserte sich Arthurs Französisch ungemein. Blandine brachte ihm jeden Donnerstag alles bei, was sie wusste, sie erzählte ihm in allen Facetten über die Schönheit der Sprache, tanzte mit ihm Tango, gab ihm Gitanes zu rauchen, um seiner Stimme mehr Vibration zu verleihen, brachte ihm bei, sich und sie zu rasieren, überall – und warnte ihn davor, jemals so ein Mistkerl wie Jean Paul Sartre zu werden.

Als er mit sechzehneinhalb zusätzlich Italienisch belegte, kam auch seine Lehrerin Paola Rossi nicht umhin, seiner Stimme zu verfallen und ihm stets mittwochs la dolce vita näherzubringen. Dazu weihte sie ihn ein in die Weine ihres Heimatlandes, in die Kunst, Espresso zu brühen, sich mit ein wenig Bemühen perfekt zu kleiden und seiner Mutter zu verzeihen, die ihn weggab, als er vom Jungen zum Mann und damit unliebbar wurde. Mit siebzehn beschloss er, sich zusätzlich den slawischen Sprachen zu widmen, und vergrub sich erst in russische Dichter, hernach in die ukrainische Sprach- und Sportlehrerin Natascha Dolskaya, meist dienstags. Von Natascha lernte er die Sprache der Liebe, die Melancholie des Klezmer-Gesangs, und die beste Art, Blini, Teigküchlein, zu essen: mit Crème fraîche oder saurer Sahne, mit Kaviar, auf ihr, mit Vodka und nur mit den Fingern. Sie brachte ihm die wichtigsten Sätze bei, die Frauen hören wollen: »Ich will dich. Ich liebe dich. Du bist schön. Du bist die Begegnung meines Lebens. Du bist meine große Liebe. An deiner Seite bin ich der glücklichste Mann der Welt. Ich will der letzte Mann sein, mit dem du schläfst, und du sollst die letzte Frau sein, mit der ich schlafe. Heirate mich, wieder und wieder. Lass uns zusammen jung bleiben, bis wir steinalt sind.«

Einfache Sätze, die er aussprechen sollte, aber nur, wenn es wirklich so war.

Aus dem aufsässigen Jungen Arthur wurde der Liebhaber Feldmann. Mit seiner Stimme bezauberte er Frauen, was aus seinem Kehlkopf, seinem ganzen Körper drang, traf tief. Er hätte das Telefonbuch von Genf vorlesen können, und es hätte denselben Effekt gehabt wie seine Lippenbekenntnisse der Liebe.

Doch sein Kopf war immer noch leer, wenn er an die Zukunft dachte.

*

Verlassen wir Arthur Lloyd Feldmann für einige Jahre, mit fünfundzwanzig werden wir ihn wiedersehen. Er wird in der Zwischenzeit studieren, nach Afrika reisen, sich erfolglos als Archäologe versuchen, sehr sexy in weißen Anzügen aussehen und dekorativ an Verandabrüstungen rund um den Globus lehnen, stets mit einem Glas Rum in der Hand, zwei Fingerbreit, und einer Gitanes, der Atem von Deckenventilatoren wird ihm sein Haar kosen, er wird lernen, auf Kamelen zu reiten und sich wie Lawrence von Arabien zu fühlen, er wird Lust haben, Schauspieler zu werden, und scheitern, er wird seinen Vater zu früh verlieren und sich in Hollywood als Kellner und Steptanzlehrer durchschlagen, er wird mit Frauen schlafen und sich mit Männern prügeln; er wird nach Europa zurückkehren, in Florenz als Maurer und Sommelier arbeiten und in Paris als Gigolo und Hundeausführer, er wird in der Transsibirischen Eisenbahn fast von einem schwulen Drogenbaron vergewaltigt und sich dabei ein Ohrläppchen einreißen, er wird in London zeitweise Einläufer von handgenähten britischen Rahmenschuhen; wegen des Erbes seines Vaters wird er nicht dazu gezwungen, sich zu entscheiden, was zu tun ist, und so wird er immer noch nicht wissen, was seine Zukunft ist. Er wird taumeln und tänzeln, in der feinen Gesellschaft wie auch im Milieu, er wird sich verlieren und bis auf weiteres nicht wiederfinden. Er wird sich wider Erwarten in dunklen Kellergeschossen in Orgien aufreiben und Koks verabscheuen, er wird mit zwei dänischen Stewardessen schlafen und sich dabei merkwürdig fühlen, er wird in Pornokinos als Filmvorführer arbeiten, als Chauffeur und als männlicher Sekretär einer gefühlskalten Lady mit Hang zu devotem Getue. All das wird ihn nur mäßig beeindrucken, und die wichtigsten Sätze der Welt spricht Arthur nie zu diesen Frauen. Und brennt, verglüht weiter, rastlos, ungehörig, nicht zugehörig. Geborgen fühlt er sich nur in den Momenten, in denen sein Glied in einer Frau ruht; und zwar wirklich ruht, in der Feuchte, Hitze, Ruhe, Weichheit, allumfassenden Aufnahme und Annahme, sich nicht bewegt oder bewegt wird, aber das kommt zu selten vor, sie alle wollen tiefe Stöße und rotierende Orgasmen.

Doch jeder hört zu, wenn er seine Stimme erhebt.

Mit fünfundzwanzig wurde Arthur zeitweise Aushilfssprecher bei einer Sexhotline für Gays in Berlin und sehr, sehr unglücklich.

*

Anders Laura.

Laura wuchs bei ihrer Patentante Margrit »Maggie« Schuster auf, einer blinden Souffleuse am Deutschen Theater in München. Lauras Eltern waren als Brükkenbauingenieure nach Afghanistan gegangen und niemals zurückgekehrt. Mit fünfzehn verlor Laura ihre Jungfräulichkeit, gänzlich unromantisch mit einem Beleuchter auf einem Stoffballen unter der Hebebühne des Theaters. Der Hauch Exotik lag darin, dass über ihnen gerade Der Widerspenstigen Zähmung geprobt wurde und der Beleuchter die ganze Zeit flüsterte: »Sag etwas, bitte, sag etwas zu mir, egal was, komm, ich hör dich so gern, sag, dass du mich willst, sag, dass du es brauchst, bitte, sag irgend etwas, sag meinen Namen …«

Tante Maggie bemerkte danach sofort die veränderte Stimmlage ihrer Patentochter.

»Schade, jetzt kannst du nie fürs Radio arbeiten«, stellte sie fest und tastete nach dem Sambuca und den Kaffeebohnen, die sie zerkaute und dabei den Schnaps trank. Anis beruhigte ihre Nerven augenblicklich. »Du klingst jetzt zu erotisch. Das irritiert bei Wetteransagen und Kriegsnachrichten aus aller Welt doch ein wenig, Kindchen, und provoziert nur zu viele Autounfälle. Komm, lies mir was vor, meine Fingerkuppen sind schon faul und rott von diesem neuen Stück, wie heißt das, Vagina-Monologe? Die Braille macht mich breh heute, breh! Liest du mir was von Anaïs Nin? Ich glaube, du bist jetzt soweit, zu erfahren, dass es weit mehr in der Welt der Liebe gibt als Beleuchter und Fünf-Minuten-dreißig-Nummern. Und vergiss das mal mit dem Radio, ja?«

Das traf sich nicht schlecht, zum Radio hatte Laura sowieso nie gewollt.

Die kommenden drei Jahre bis zu ihrem Schulabschluss tauchte Laura mit Hilfe von Maggie ein in die unergründliche Welt der Sexualität. Zwar nur auf dem Papier, aber je mehr sie las, desto größer wurde Lauras Sehnsucht nach ebensolchen Erfahrungen. Doch wenn sie sich umschaute, sah sie nur Klötze, unsinnliche Menschen, denen es auf Höhepunkte ankam und auf Schläge, auf Macht und Samenergüsse ins Gesicht. Sie hoffte, bei älteren Männern die Lust zu finden, die die Literatur versprach, sie suchte die Lady Chatterley in sich und nach einem Henry für ihre June; sie wollte Lolita sein und Pygmalions Schwarm, Homo Fabers Grund für Selbsthass, sie wollte nach den Freundinnen der O. fahnden und Justine nachfühlen können, sie wollte sich von Casanova lieben lassen und wie Madame Bovary verführen, sie wollte Katherina die Große als junges Mädchen sehen und sich an Dr. Schiwago drücken, an Rhett Butler und an den Liebhaber, der ihre innere japanische Kirschblüte verführte, sie wollte Miss Saigon sein und Jane Austen, sie wollte sich verzehren wie Erich Fried und leiden wie in Kraussers Schmerznovelle, dienen wie Arthur Goldens Geisha, herrschen wie eine Amazone.

Sie wollte alles sein, nur nicht sie selbst. Sie wollte so intensiv leben, dass es in ihr tanzte und schrie und liebte, und nach außen hin blockte sie alles ab, weil es nicht dem entsprach, was sie in Büchern inhalierte, vorlas, wenn Tante Maggie darum bat, um ihre brehen Finger zu schonen.